Mensch Professor - Atilla Vuran - E-Book

Mensch Professor E-Book

Atilla Vuran

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Beschreibung

Als Professor Max Urban an jenem Morgen aus dem Taxi stieg, wollte er seinen Augen kaum trauen. Sechs Jahre war es nun her, dass er seine Ferdinand-von-Kohlheim-Universität das letzte Mal betreten hatte. Der renommierte Professor für Physik erkannte sein ehemaliges Wirkungsfeld kaum wieder was hatte sich in dieser Zeit getan! Doch das sollte bei Weitem nicht die einzige Überraschung sein, die Urban erwartete ... Begleiten Sie Professor Urban auf seinem faszinierenden Weg im Spannungsfeld von Führungsaufgabe, Forschung und Lehre und erleben Sie an seiner Seite eine erstaunliche und unterhaltsame Entwicklung, bis zum verblüffenden Ende des Buches. DIESES BUCH IST NICHT EINFACH NUR EIN SPANNENDER ROMAN; ES GIBT ANSTÖSSE ZUR REFLEXION DER EIGENEN FÜHRUNGSROLLE.

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Atilla VuranGunnar Seide

MenschProfessor

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Im Vertrieb von: Jünger Medien Verlag + Burckhardthaus-Laetare GmbH, Offenbach

Lektorat: Anja Hilgarth, Herzogenaurach

Überarbeitung der Geschichte: Alexander Natter, Wendelstein

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen, www.martinzech.de

Autorenfotos: Foto Danner e.K., Jestetten

Satz und Layout: ZeroSoft, Timisoara

Druck und Bindung: Salzland Druck, Staßfurt

1. Auflage 2018

www.mensch-professor.de

© 2018 by Atilla Vuran und Gunnar Seide

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Über den Autor

1. Kapitel

„Entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht … sind Sie nicht Professor Max Urban? Der Professor Urban? Der berühmte Physiker?“, fragte der Taxifahrer erstaunt. „Ich weiß zwar nicht genau, was Sie mit ‚DER’ meinen, aber ich heiße Max Urban, ja!“, antwortete Max Urban. Er saß auf dem Rücksitz des Taxis. Genau so, dass er den Gesichtsausdruck des dunkelhaarigen Fahrers im Rückspiegel sehen konnte. Der drückte eine Mischung aus Freude, Anerkennung und Bewunderung aus. Verständlich, denn Max Urban war nicht nur über viele Jahre Inhaber des Lehrstuhls für Physik an der Ferdinand-von-Kohlheim-Universität in Nürnberg, kurz FKU genannt, gewesen. Vielmehr war er eine Koryphäe auf seinem Gebiet mit einer Reputation, um die ihn viele Kollegen nur beneiden konnten. Sein Ruf in der Fachwelt war grandios und reichte weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Max Urbans Forschungsarbeiten wurden in aller Welt mit großem Interesse verfolgt. Überall, wo er auftrat, waren die Säle voll. Und wo er hinkam, schlug ihm eine Welle der Sympathie entgegen.

„Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Herr Professor Urban!“

„Wirklich?“

„Ja, von meiner Tochter!“, antwortete der Fahrer stolz. „Sie studiert nämlich hier an der Ferdinand-von-Kohlheim-Universität. Physik!“

„In welchem Semester?“

„Das weiß ich gar nicht so genau. Ich kenne mich mit diesen Semestern nicht aus. Barbara studiert nun seit einem knappen Jahr.“

„Dann ist sie im zweiten Semester! Damit hat sie deutlich nach meiner Zeit dort begonnen. Seit mehr als sechs Jahren bin ich nicht mehr hier gewesen“, meinte Urban und schaute etwas wehmütig aus dem Fenster. Das Taxi bog gerade um die Ecke und nun konnte man die Uni schon sehen.

„Das weiß ich!“, sagte der Taxifahrer. „Meine Tochter hat es mir erzählt. In der Uni wird wohl viel darüber gesprochen. Eine tragische Geschichte, wirklich. Das tut mir leid für Sie!“

„Das braucht es nicht!“, antwortete Max Urban. Er hasste es, bedauert zu werden. „Mir geht es gut!“

„Das freut mich!“, meinte der Taxifahrer, als er in die Parkbucht vor dem Eingang der Uni fuhr. Während Max Urban sein Kleingeld zusammensuchte, das er loswerden wollte, erzählte der Taxifahrer von den vielen Neuerungen hier an der Uni, von denen ihm seine Tochter berichtet hatte. Max Urban aber hörte ihm gar nicht richtig zu. Genau genommen interessierte ihn das alles auch nicht. Schließlich hatte Urban sein halbes Leben und nahezu seine ganze wissenschaftliche Karriere hier verbracht. Wenn einer die Ferdinand-von-Kohlheim-Universität in Nürnberg kannte wie seine Westentasche, dann er. Was sollten die denn schon groß erneuert haben? Gut, die Fassade vielleicht. Das Gebäude war damals ja schon eine alte Bruchbude gewesen. Also ging alles, was der redselige Taxifahrer von sich gab, zu einem Ohr Urbans hinein und postwendend zum anderen wieder hinaus. Ein Fehler! Zu diesem Zeitpunkt ahnte Max Urban noch nicht, dass er im Laufe der nächsten Stunden sein blaues Wunder erleben würde.

„Stimmt so!“, sagte Urban und drückte dem Taxifahrer alles an Kleingeld in die Hand, was er in seiner Geldbörse gefunden hatte. Dieser bedankte sich und wünschte ihm einen schönen und ereignisreichen Tag. Das Grinsen des Taxifahrers hätte manch ein Beobachter auch als schelmisch, vielleicht sogar als schadenfroh bezeichnen können. So als wüsste er bereits, welche Überraschungen auf den Professor an diesem Vormittag warteten.

Max Urban stand vor seiner alten Wirkungsstätte. Zugegeben: Er war etwas nervös und hatte gehöriges Lampenfieber. Und er war überrascht: Die Fassade der Universität war tatsächlich neu verputzt worden und sah einfach toll aus. Die Fenster hatte Urban viel kleiner und vor allem älter in Erinnerung. Ja, die hatten da ganz neue, moderne und vor allem größere Fenster eingesetzt. Max Urban erinnerte sich noch gut, wie er an manchen Tagen, wenn es draußen düster war, den ganzen Tag das Licht brennen lassen musste, weil kaum Tageslicht durch die winzigen Butzenscheiben fiel. Ach, und der alte Anbau aus der Zeit des Nationalsozialismus, Max Urban stets ein Dorn im Auge, war weg. Da stand nun ein hypermoderner Glaskomplex mit einem gläsernen Aufzug. Fasziniert und erstaunt beobachtete Urban, wie eine Kabine mit fünf jungen Leuten langsam nach oben fuhr. Damals, vor vielen Jahren, war er es gewesen, der die Idee gehabt hatte, den alten Anbau abzureißen und etwas Neues zu bauen. Etwas, das der Uni und vor allem den Studierenden Vorteile brachte. Urban war mit dieser Idee damals offene Türen eingerannt und die Stadt Nürnberg hatte sogar zugesagt, den Umbau zu finanzieren. Aber irgendwie, erinnerte sich Urban, waren nie wirklich Nägel mit Köpfen gemacht worden. Immer war irgendetwas dazwischengekommen. Und dann war die ganze Sache irgendwann im Sande verlaufen.

„Nein so was! Der Professor Urban!“, riss ihn eine ihm bekannte männliche Stimme aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und sah Frank Dutschke auf sich zustürmen. „Welch eine Freude, Sie zu sehen! Warten Sie, ich helfe Ihnen!“ Frank Dutschke, ein kräftiger und ziemlich sportlich wirkender älterer Herr um die sechzig, fasste Urban am rechten Arm. So wie man das macht, um einem gebrechlichen Menschen beim Erklimmen einer Treppe zu helfen.

„Was soll denn das, Dutschke?“, zischte Urban barsch und wehrte Dutschke ab. „Ich bin doch kein Invalide. Ich kann selbst laufen!“

Frank Dutschke ging einen halben Schritt zurück. „Entschuldigung, Herr Professor! Ich wollte Ihnen nur helfen. Meine Güte, Sie habe ich ja eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen denn?“

„Danke!“, antwortete Max Urban knapp. „Mir geht es gut. Und Ihnen?“

„Alles bestens, Herr Professor!“

Urban musterte Dutschke und machte ein anerkennendes Gesicht. „Das sieht man Ihnen an. Sie haben abgenommen, nicht wahr?“

„Ja, Herr Professor. Zehn Kilo!“, antwortete Dutschke stolz und erzählte Urban, dass er bereits vor Jahren seinen Lebensstil drastisch geändert habe. Er hatte seine Ernährung umgestellt, aß nun viel weniger Fleisch und hatte mit dem Nordic Walking begonnen. „Heute laufe ich mindestens dreimal die Woche.“

„Aha!“, antwortete Urban beeindruckt. Er konnte sich noch gut erinnern: Früher war Dutschke zwar nicht dick, aber doch gut genährt gewesen. Mit einem untersetzten und ziemlich träge wirkenden Äußeren. So wie er selbst. Genau das Gegenteil von dem gepflegten, sportlichen Mann, der in diesem Moment vor Max Urban stand. Und der dunkelblaue Arbeitsanzug von einem bekannten Markenhersteller für Berufskleidung, den Dutschke trug, wirkte überaus zweckmäßig und hatte einen Hauch von praktischer Eleganz.

„Ich wurde gar nicht informiert, dass Sie uns heute besuchen.“

„Das war ein spontaner Entschluss von mir“, meinte Urban. Er wunderte sich, dass Frank Dutschke dies monierte. Normalerweise informierte die Leitung einer Universität doch nicht den Hausmeister, wenn sie Gäste zu einer Veranstaltung einlud. „Zu Hause fällt mir einfach die Decke auf den Kopf. Und da ich demnächst hier zu einem Kolloquium eingeladen bin, konnte ich die Vorbesprechung dafür ganz gut mit einem Besuch in meiner alten Arbeitsstätte verbinden.“

Wahrhaftig, das war ganz und gar nicht gelogen. Nach seiner Genesung und den anschließenden Weltreisen saß Urban seit einem halben Jahr zu Hause herum und versuchte sich irgendwie zu beschäftigen. Aber Rasen mähen, spazierengehen, Ausflüge machen und andere diverse Beschäftigungsmaßnahmen befriedigten ihn selbstverständlich nicht. Für ihn, einen Wissenschafter durch und durch, einen Mann, der in seiner Arbeit aufgegangen und für den Physik nicht nur ein Beruf, sondern ein Lebensinhalt war, mutete das Frührentnerdasein wie Einzelhaft an.

„Eine sehr gute Idee!“, erwiderte Frank Dutschke und musterte Urban von Kopf bis Fuß. Dann bemerkte er mit einem amüsierten und etwas abfälligen Lächeln: „Wie ich sehe, haben Sie sich kaum verändert. Immer noch genauso chic wie früher.“

Natürlich war das eine gezielte Anspielung auf Urbans Standardkleidung: Unter dem dunkelgrauen Wollmantel trug er ein kariertes Flanellhemd und ausgewaschene Jeans. In Farben, die nicht wirklich dem aktuellen Modetrend entsprachen. Dazu schwarze Halbschuhe mit Klettverschluss und dicker Komfortsohle, für die außer ihrer Bequemlichkeit nun wirklich gar nichts sprach. So hatte man ihn auch früher gekannt, hier an der Uni. Das Haar des mittlerweile Ende 50-Jährigen war dunkelblond, aber schon ziemlich grau meliert. Und: Nicht gekämmt. Auch dafür war er schon früher bekannt gewesen. Max Urban hatte schon immer ausgesehen, als habe er verschlafen und sei gerade erst aufgestanden. Allüren? Fehlanzeige! Max Urban hatte das nicht nötig. Er war stets „einer von uns“ gewesen. So beschrieben ihn diejenigen, mit denen er nicht unbedingt beruflich zu tun hatte. Vor allem, wenn sie nicht wussten, welch wissenschaftliches Großkaliber da vor ihnen stand. Professor Urban machte nur wenig bis gar nichts aus sich, seiner Person und seinem Status. Dazu passte seine Kleidung! Wer ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekam, dachte keineswegs, dass da ein Universitätsprofessor von Weltrang vor ihm stand. Damals, als die Urbans ihr Einfamilienhaus in dem kleinen Ort vor den Toren Nürnbergs bezogen, dachten die Nachbarn, er sei Verkäufer in einem Baumarkt.

„Kommen Sie, Herr Professor, ich begleite Sie.“

„Nein, lassen Sie nur, Dutschke!“, winkte Urban ab. „Sie haben doch sicher eine Menge zu tun!“

„Nein, nein, Herr Professor, das ist kein Problem! Das kann ich auch meinen Corpas machen lassen!“

„Ihren was?“

„Meinen Corpas!“, antwortete Dutschke selbstbewusst. „Mein Corporate Assistent. Stefan Deiniger! Wir nennen unsere Assistenten nur Corpas.“

„Aha!“, entfuhr es Max Urban wieder und er wunderte sich nicht schlecht, als er hörte, dass der Hausmeister jetzt einen Assistenten hatte.

„Für Sie nehme ich mir gerne Zeit und zeige Ihnen alles!“

„Zeigen?“, fragte Urban bissig. „Darf ich Sie daran erinnern, dass ich ein Vierteljahrhundert in dieser Universität dem Fortschritt und der Wissenschaft gedient habe? Ich denke nicht, dass ich einen Fremdenführer brauche. Aufs Klo muss ich gerade nicht, und wo die Sicherungskästen sind, interessiert mich nicht wirklich! Außerdem sollte sich der Hausmeister um diese Zeit doch in der Nähe der Hörsäle befinden. Für den Fall, dass man ihn für die Technik braucht.“

Frank Dutschke lachte lauthals und antwortete: „Immer noch der alte Professor Urban. Es ist wirklich besser, wenn ich Sie begleite. Glauben Sie mir das einfach. Hier ist nichts mehr so, wie es einmal war. Die Zeiten haben sich geändert.“ Und wieder lachte Frank Dutschke. Diesmal amüsiert, nett und verständnisvoll. „Aber ich befürchte, Sie haben sich nicht geändert.“

„Was soll das denn heißen?“, fragte Urban noch eine Spur bissiger.

„Hausmeister gibt es hier nicht mehr!“, erklärte Frank Dutschke, ohne sich beleidigt zu fühlen, griff an das linke Revers seiner blauen Jacke und machte mit der anderen Hand Max Urban auf das gestickte Logo aufmerksam. Urban las.

„Facility Manager?“

„Yep!“, antwortete Dutschke. „Das Facility Management managt jetzt die gesamte Verwaltung der Liegenschaften und die benötigten Dienstleistungen an der FKU. Wir sind untergliedert in fünf Bereiche und kümmern uns um alles im Haus, was nicht zu den jeweiligen wissenschaftlichen Bereichen gehört. So ist gewährleistet, dass sich jedes Institut und letztlich jeder einzelne Mitarbeiter auf das konzentrieren kann, was das eigentliche Aufgabengebiet ist: gute Forschung und Lehre.“

„Oh, das ist ja …“ Urban verlor den Faden. Ihm fehlten glatt die Worte. Hatte er das richtig gehört? Dem wissenschaftlichen Bereich wurden alle administrativen Dinge abgenommen, sodass sich jeder nur auf seine Sache konzentrieren konnte. „… vorbildlich!“

„Ich leite mittlerweile den technischen Support“, erklärte Dutschke.

„Klingt professionell! Und was macht dieser technische Support?“

„Wir sorgen dafür, dass jedes Gerät hier an der Uni, jeder Computer, jeder Laptop, jeder Beamer, jeder Versuchsaufbau, jedes Messgerät, also alles, was Wissenschaftler und Studierende benötigen und benutzen, stets einwandfrei läuft und jeder damit perfekt zurechtkommt.“

„Dafür sind Sie der Richtige, Dutschke“, bestätigte Urban. „Das weiß ich noch aus meiner Zeit. Wenn Sie was gebaut haben, dann hat das auch funktioniert.“

„Guten Morgen, Herr Dutschke!“, rief eine Stimme und Frank Dutschke drehte sich um. Ein eleganter Herr mittleren Alters hatte ihn begrüßt.

„Morgen, Herr Müller!“, erwiderte Dutschke. „Die neuen Tastaturen sind bereits angeschlossen!“

„Perfekt!“, rief Daniel Müller. Man sah ihm deutlich an, wie er sich über diese Nachricht freute.

„Das war Herr Müller“, erklärte Dutschke Urban überflüssigerweise. „Er leitet unsere Ghostwriter-Abteilung und hat neue Tastaturen bekommen. So flache, mit denen man schneller schreiben kann.“

„Ghostwriter-Abteilung?“, fragte Urban erstaunt.

„Ja, die haben wir schon seit knapp vier Jahren. Die Leute dort kümmern sich um alles Schriftliche hier im Haus. Presseerklärungen, Lehrmaterialien und so weiter. Ein Teil von denen betreut die einzelnen Fakultäten. Unterstützt zum Beispiel Studierende bei ihren Facharbeiten oder Doktoranden bei ihren Dissertationen. Die bringen ihnen bei, wie man ordentlich formuliert, Texte gliedert und so was. Uns nehmen die Ghostwriter natürlich auch den ganzen Schreibkram ab und für die Wissenschaftler schreiben sie z. B. Berichte oder Fachbücher.“

„Was Sie nicht sagen.“ Max Urban zweifelte langsam, ob er überhaupt in der richtigen Einrichtung war.

„Unsere Ghostwriter bringen den Wissenschaftlern bei, wie man alles das, was sie wissen und forschen, auch ordentlich formuliert und kommuniziert“, erklärte Dutschke. „Früher mussten sich die Professoren selbst darum kümmern. Hatten dafür aber kaum Zeit. Aber das wissen Sie noch besser als ich, oder, Herr Professor?“

„Was? Ich? Äh … Ja, natürlich, Dutschke. Natürlich weiß ich das!“

„Dr. Gerke hat das durchgesetzt!“

„Gerke?“ Der Name traf Urban wie ein eiskalter Blitz und ging ihm durch Mark und Bein. Das bemerkte wohl auch Frank Dutschke.

„Ja! Dr. Raphael Gerke!“, wiederholte Dutschke dennoch. „Sie erinnern sich doch an ihn, nicht wahr?“

Und ob sich Max Urban erinnerte. Raphael Gerke war so etwas wie sein Ziehkind, sein Lieblings-Doktorand gewesen. Hochtalentiert und in Urbans Augen ein vorbildlicher Wissenschaftler. Gerke war als designierter Nachfolger Urbans für den Lehrstuhl gehandelt worden. Alles war mehr als perfekt gelaufen. Der Professor und der Doktorand hatten sich blendend verstanden. Fachlich sowieso, und auch menschlich. Doch dann war diese Beziehung in einer mittleren Katastrophe geendet. Warum es so weit hatte kommen müssen, war Max Urban bis heute ein Rätsel. Es hatte wohl einfach nicht funktioniert. Und dann war da dieser leidvolle Donnerstag gewesen. Der Super-Gau! Urban war nie wirklich darüber hinweggekommen, hatte immer wieder nach dem Grund für das Zerwürfnis gesucht, das auch ihn fertig gemacht, sein Leben und seine Karriere entscheidend verändert hatte. Leider zum Schlechten!

„Natürlich erinnere ich mich an Raphael Gerke“, antwortete Urban leichthin. „Schlimme Sache damals! Ist er denn wieder hier?“

„Ja, Gerke ist wieder da!“, antwortete Dutschke. „Ein gutes halbes Jahr, nachdem Sie weg waren, kam er zurück. Ihre Nachfolgerin, Frau Professor Steiner, hat ihn geholt. Gerke habilitiert gerade und ist Steiners rechte Hand. Wie bei Ihnen damals! Und er engagiert sich vehement für die gesamte Universität. Ist in vielen Gremien und hat viel verändert, der Dr. Gerke. So, und jetzt kommen Sie, Herr Professor!“

„Steiner, soso!“, murmelte Urban nur und folgte Dutschke. Der begleitete Max Urban bei seinem Weg zu der überdimensional großen Drehtür, dem neuen Eingang der Uni. Die hatte etwa sechs bis acht Meter Durchmesser und drehte sich ganz langsam. Solche Drehtüren zieren meist die Eingänge großer Einkaufszentren. Dieses Ding beeindruckte Max Urban. Früher, erinnerte er sich, war da eine ganz normale Doppel-Flügeltür aus uraltem, schwerem Holz gewesen. Zwar auch recht groß, aber nicht so ein Monster wie das hier. Kurz vor der Drehtür blieb Dutschke stehen und zeigte auf den neuen Glasanbau der Uni.

„Diesen Anbau haben wir auch Gerke zu verdanken!“

„Wirklich?“

„Ja. Der wird übrigens in zwei Monaten eingeweiht. Und wissen Sie was? Unser Glasbau soll Ihren Namen tragen. Zumindest, wenn es nach Gerke geht.“

Urban traute seinen Ohren nicht. „Meinen Namen?“

„Ja!“, bestätigte Dutschke. „Gerke sagte mal zu mir, dass das ursprünglich Ihre Idee war. Deswegen habe er sich bei Präsidium, Senat und der Stadt dafür stark gemacht, dass dieser Anbau nach Ihnen benannt werden soll. Stimmt das? Ich meine, das mit der Idee?“

„Ja“, antwortete Max Urban, ging aber nicht näher darauf ein. Ihn überkam gerade ein schwer zu beschreibender Gefühlsmix. Eine Mischung aus Scham, Freude, Glück, Stolz und Anerkennung. Letzteres für Dr. Gerke. „Das mit der Idee stimmt wirklich.“

„In diesem Glaspalast sind jetzt unsere Personal Development Areas untergebracht“, sagte Dutschke.

„Was für Dinger?“

„Personal Development Areas!“, wiederholte Dutschke und lachte. „Das sind die Bereiche, ‚Areas‘, wie wir sie nennen, in denen wir unsere Studierenden, Doktoranden, Habilitanden, Professoren, aber auch die Mitarbeiter der nicht-wissenschaftlichen Gebiete schulen und ihnen helfen, sich bestmöglich zu entwickeln. Ich sagte doch: Es hat sich viel verändert, seit Sie nicht mehr da sind! Ich sehe schon, Herr Professor, Sie brauchen doch jemanden, der Sie da durchführt und Ihnen alles zeigt.“

Die Tür zu dem kleinen Büro flog auf und eine junge, etwas mollige Frau mit einer runden Nickelbrille auf der Nase schneite herein. „Herr Dr. Gerke, Sie werden es nicht glauben!“

„Wie wäre es mit Anklopfen?“, fragte Raphael Gerke trocken. Der gut aussehende Physiker mit dem südländischen Teint sah mürrisch auf, denn er war gerade in Unterlagen vertieft gewesen, aus denen er einfach nicht schlau wurde.

„Entschuldigung, Herr Dr. Gerke, aber das müssen Sie aus erster Hand vor mir erfahren“, meinte die junge Frau leicht atemlos und schloss die Tür hinter sich. Gerke seufzte leise. Er kannte die Studentin Sabine Bauer nur allzu gut, schließlich betreute er sie. Sie war sehr wissbegierig und vor allem neugierig und verteilte Klatsch und Tratsch gerne und ausführlich an jeden.

„Na, dann schießen Sie mal los, Sabine!“, sagte Gerke resigniert und lehnte sich in seinem Bürosessel bequem zurück. Er wusste, das konnte jetzt dauern. „Was gibt es denn so Wichtiges?“

„Sie haben mir vorgestern von Ihrem früheren Doktorvater erzählt, von Professor Urban.“

„Ja und?“

„Der ist im Haus!“

„Was?“ Gerke traf fast der Schlag. Binnen eines Sekundenbruchteils sprang er aus seiner lässigen Sitzposition auf. „Urban ist hier? Sind Sie sicher?“

„Das hat mir gerade der alte Bernbacher von der Verwaltung erzählt. Er hat ihn unten vor dem Eingang mit Dutschke stehen sehen.“

Gerke eilte zum Fenster und spähte nach unten. Doch von seinem Bürofenster aus konnte man nur einen kleinen Bereich des Eingangs überblicken. Und da war weit und breit kein Urban zu sehen.

„Danke, Sabine!“, sagte Dr. Gerke und streifte mit der rechten Hand mehrmals über seinen gepflegten Dreitagebart. Das machte er immer, wenn er nervös, besorgt, sehr konzentriert oder anderweitig erregt war. Abgesehen davon ließ es sich der junge Physiker nicht anmerken, dass ihn diese Nachricht innerlich aufwühlte. Er setzte sich betont ruhig wieder an seinen Schreibtisch und tat so, als wolle er sich wieder seinem Aktenstudium widmen. Doch Sabine Bauer wollte sich so schnell nicht abschütteln lassen und sah Gerke erwartungsvoll an.

„Soll ich vielleicht für Sie in Erfahrung bringen, wo sich Professor Urban im Haus aufhält?“, fragte die Studentin eifrig.

„Nein danke, Sabine“, antwortete Gerke. „Das ist nicht nötig.“

„Vielleicht wollen Sie ihn ja begrüßen“, fuhr die Studentin unbeirrt fort und es hatte den Anschein, als platze die junge Frau gleich vor lauter Neugierde und Erwartung.

„Nein, das will ich nicht!“

„Es ist in der Fakultät doch ein offenes Geheimnis, dass Sie zu Professor Urban ein besonderes Verhältnis hatten. Deswegen haben Sie doch auch angeregt, dass …“

„Ich sagte nein!“, fiel Gerke der Studentin jetzt barsch ins Wort. Gleich darauf hatte er sich wieder im Griff und setzte hinzu: „Danke Sabine, aber ich habe zu tun. Und jetzt schließen Sie bitte die Tür hinter sich.“

Die Studentin hatte endlich verstanden und verließ enttäuscht den Raum, nicht ohne die Tür demonstrativ schwungvoll hinter sich zu schließen. Sofort stand Raphael Gerke wieder auf und ging nervös im Zimmer auf und ab. Die Tatsache, dass sein früherer Doktorvater plötzlich hier aufgekreuzt war, beschäftigte ihn so sehr, dass er sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Etwas mehr als sechs Jahre lag er schon zurück, jener „schwarze Donnerstag“, wie er ihn für sich nannte, und die schlimmste Phase seines noch jungen Lebens, dem er beinahe selbst ein Ende gesetzt hätte. Anfangs hatte er seinen Doktorvater noch gehasst, hatte ihn für alles verantwortlich gemacht. Anfangs … Gerke sah aus dem Fenster. Einfach so, mit leerem Blick und ohne Ziel. Dann kamen einige Rückblenden und Erinnerungen hoch. Gute, und leider auch unschöne.

Als Max Urban hinter Frank Dutschke durch die große Glastür das Foyer betrat, schaute er sich staunend um. „Donnerwetter“, dachte er beeindruckt, „hier hat sich ja wirklich einiges verändert.“ Das letzte Mal, als Urban das Foyer der Ferdinand-von-Kohlheim-Universität von innen gesehen hatte, war hier alles noch düster und grau in grau gewesen. Und jetzt stand er in einer hellen, freundlichen, von Licht durchfluteten Halle. Wo früher die uralten Kronleuchter von der vergilbten Decke hingen, sorgte jetzt eine große Glaskuppel dafür, dass das Sonnenlicht hereinscheinen konnte. Entsprechend hell war es auch. Und dann dieser elegante, glänzende Boden aus grauem Marmor … Einfach toll sah das aus. Max Urban war hin und weg und bemerkte gar nicht, dass Frank Dutschke ihn etwas fragte.

„Herr Professor, ich habe Sie was gefragt!“, wiederholte Dutschke energisch und blieb demonstrativ stehen. Max Urban ging alleine noch ein paar Schritte weiter und konnte sich nicht sattsehen an diesem einladenden Foyer, das mehr an die Empfangshalle einer Großbank erinnerte als an eine Universität.

„Was denn?“, antwortete Urban abwesend, als er bemerkte, dass Dutschke ihm nicht mehr folgte. Gerade faszinierten ihn die durchsichtigen Aufzüge.

„Aus welchem Grund sind Sie heute hier?“

„Ja!“, antwortete Urban, ohne den Facility Manager dabei anzusehen. Er war auch geistig überhaupt nicht bei seinem Gesprächspartner. Diese Aufzüge und das Innenleben des Glasanbaus interessierten ihn viel mehr. „Sagen Sie mal Dutschke, wie viele Personen gehen denn in so eine Gondel rein?“

Frank Dutschke antwortete nicht. Er stand einfach nur da und schaute Max Urban fragend an. Nach einer Weile wandte sich Urban zu ihm.

„Wie viele Leute passen denn nun in so eine Aufzuggondel, Dutschke?“, wiederholte er. Doch Frank Dutschke gab erneut keine Antwort und schaute Urban nur mit einem freundlichen Lächeln an, sodass sich dieser auf den Arm genommen fühlte. „Herr Dutschke? Habe ich mich unverständlich ausgedrückt?“

„Habe ich mich unverständlich ausgedrückt, Herr Professor?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Urban verblüfft. Er wusste wirklich nicht, wie er das Verhalten Dutschkes interpretieren sollte. „Ich habe Sie doch nur etwas gefragt.“

„Ich habe Sie auch etwas gefragt“, konterte Dutschke ruhig und mit dem gleichen weichen, freundlichen Lächeln auf seinem Gesicht. „Und keine Antwort bekommen!“

Urban schaute den früheren Hausmeister an und dachte kurz nach. „Ja, der hat wirklich was gefragt“, fiel ihm ein. Aber was? Urban hatte es vergessen. Oder richtig formuliert: Er hatte es gar nicht zur Kenntnis genommen.

„Lieber Herr Professor Urban!“, fuhr Dutschke fort und hörte sich dabei an wie ein Lehrer. Es fehlte nur noch der erhobene Finger. „Sie haben mir wieder nicht zugehört!“

Urban schaute Dutschke fragend an. „Was meinen Sie damit?“, wollte er wissen.

„Das war schon früher so typisch für Sie!“, erinnerte sich Dutschke. „Wissen Sie noch … Ihr letzter Arbeitstag, dieser Donnerstag?“

Und ob Urban das wusste. Sofort wurde er von seinen Erinnerungen eingeholt. Sie sorgten für ein schlechtes, drückendes Gefühl in der Herzgegend. Eine Mischung aus schlimmer Erinnerung und Angst. Ja, das war der Tag gewesen, bevor er zusammengebrochen war.

„Ich habe diesen Tag nicht vergessen!“, sagte Dutschke. „Damals habe ich in einem der alten Hörsäle einen neuen Projektor installiert. Vor Ihrer Vorlesung wollte ich Ihnen die technischen Details dazu erläutern. Aber Sie haben mir – wie immer – nicht zugehört. Und dann …, ja dann haben Sie Ihre Vorlesung gehalten und nicht gecheckt, wie der neue Projektor funktioniert.“

Max Urban erinnerte sich. Zwar nicht an dieses Detail mit dem Projektor, aber an besagten Donnerstag und den darauffolgenden Freitag. Keine angenehme Erinnerung. „Burnout“, hatten die Ärzte damals diagnostiziert.

„Daran, dass Sie mir den neuen Projektor erklärt haben, kann ich mich nicht mehr erinnern!“, gab Urban dann auch ehrlich zu. „Verzeihen Sie, Dutschke. Ich glaube, da habe ich tatsächlich nicht zugehört. Damals wie heute. Was wollten Sie wissen?“

„Ich habe Sie gefragt, welchen Grund Ihr heutiger Besuch hat.“

„Nun“, antwortete Urban, „Professor Mayr hat mich für ein Kolloquium eingeladen.“

„Mayr! Ach ja, das ist der Neue am Institut für Theoretische Physik. Haben Sie denn einen Termin mit ihm?“

„Ja! Um halb zwölf!“

„Oh, das ist aber schlecht“, meinte Dutschke.

„Warum ist das schlecht?“

„Weil sich Professor Mayr heute früh krankgemeldet hat. Grippe! Hat das Sekretariat den Termin denn nicht abgesagt?“, wunderte sich Dutschke.

„Nein!“

„Dann wird wohl einer seiner Assistenten den Termin für ihn wahrnehmen“, überlegte Dutschke und fügte hinzu: „Zu Ihrer Frage, Herr Professor: In so eine Kabine passen acht bis zehn Leute rein. Vorausgesetzt, die sind nicht zu dick!“

Die beiden Männer gingen weiter durch das helle große Foyer. Je weiter sie in das Innere der Universität kamen, desto besser konnte man das Innenleben des Glasanbaus erkennen. Wie die gesamte Uni hatte er insgesamt vier Stockwerke, die allesamt über diese faszinierenden Aufzüge oder aber durch ein innenliegendes Treppenhaus erreichbar waren. Max Urban staunte nicht schlecht. Das alles wirkte auf ihn ziemlich futuristisch und hatte so gut wie gar nichts mehr mit der Uni zu tun, die er von früher kannte.

„Darf ich Ihnen erst einmal einen Kaffee anbieten, Herr Professor?“, fragte Dutschke. „Es ist ja noch früh. Dann sehen Sie gleich einmal unser neues Bistro-Restaurant. Anschließend führe ich Sie durch unsere PDAs. Einverstanden?“

„Was für Dinger?“

„PDAs!“, wiederholte Dutschke. „Das ist die Abkürzung für die Personal Development Areas.“

„Ach so!“ Urban hatte nichts dagegen, und zu einem frischen Kaffee sagte er nie nein. Und so ging er mit dem Facility Manager den langen Gang entlang, an dessen Ende sich früher die Mensa befunden hatte. Auf der rechten Seite lag der Zugang zum Auditorium Maximum, dem repräsentativen großen Hörsaal der FKU. Der Hörsaal befand sich immer noch hier, wenngleich er einen neuen Eingang bekommen hatte. Die frühere Mensa ähnelte aber viel mehr einem großen Restaurant, so wie man es beispielsweise von großen Möbelhäusern kennt. Modern, freundlich und alles hell beleuchtet. Mit einem großen Buffet, das nahezu alles bot, was das Herz begehrte. Kein Vergleich zu der trostlosen Mensa, die Urban noch kannte. Hier bekam man allein schon vom Hinschauen Appetit. Um diese Zeit am Morgen war natürlich nicht viel los und die 800 Plätze waren nahezu leer. Nur vereinzelt saßen ein paar junge Leute an den Tischen. Urban war begeistert und steuerte gleich auf die Abteilung des Buffets zu, an der es die süßeren Köstlichkeiten gab.

Raphael Gerke saß wieder an seinem Schreibtisch und widmete sich dem Aktenstudium. Eine Arbeit, die nicht wirklich zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Aber seine Chefin, Frau Professor Steiner, hatte ihm eine Menge Papierarbeit zugeteilt, und die musste diese Woche unbedingt fertig werden. Da klingelte Gerkes Telefon.

„Ja, Gerke hier!“, meldete er sich.

„Hallo Raphael, hier ist Micha“, klang es vom anderen Ende der Leitung. Micha, das war Michael Schröder, ein Kollege. Auch Dr. Schröder gehörte zur Fakultät für Physik. Er war Assistent bei Professor Mayr. „Raphael, wir haben ein Problem und brauchen deine Hilfe.“

„Wie kann ich euch denn helfen?“, fragte Gerke und signalisierte seine Hilfsbereitschaft. Er wusste ja noch nicht, was sein Kollege von ihm wollte.

„Den Mayr hat die Grippe erwischt. Der hat sich heute früh krankgemeldet.“

„Ach der Ärmste!“, antwortete Gerke, stand auf und ging zum Fenster und schaute nach draußen. „Und was hat das mit mir zu tun?“

„Der hätte heute um halb zwölf einen Termin“, erklärte Michael Schröder. „Es geht um die Einladung zum Kolloquium in zwei Wochen. Der Gastredner ist heute im Haus. Wegen der Vorbesprechung. Kannst du das übernehmen?“

„Ich bin aber nicht eingeweiht!“, versuchte sich Gerke zu drücken.

„Macht nichts! Es geht nur um die Formalitäten. Termin, Uhrzeit, Dauer und so weiter. Ich bereite dir das alles vor. Ist keine große Sache und dauert auch nicht lange!“

Gerke überlegte einen Moment. Er hatte zwar eine Menge Aktenarbeit zu erledigen, aber eine halbe Stunde war schon drin. „Gut, ich mach das! Wer kommt da eigentlich?“

„Eine echte Koryphäe, kein Geringerer als Professor Max Urban! Danke, Raphael“, sagte Schröder am anderen Ende der Leitung.

„Was?“, entfuhr es Gerke. „Ich soll mit dem Urban sprechen? Micha, warte mal …“ Aber dieser hatte schon aufgelegt.

Der Aufenthalt im Bistro der Uni dauerte eine knappe halbe Stunde. Urban lobte den Geschmack des Kaffees und vor allem den der Schokohörnchen, von denen er gleich zwei verdrückt hatte. Süße Sachen gehörten eindeutig zu den Schwächen des Professors. Das hatte wohl auch Frank Dutschke nicht vergessen und grinste, als Urban gierig seine Kalorienbomben verdrückte. Urban ignorierte das Grinsen, wischte sich die Hände an der Serviette ab und sah auf die Uhr. An sich hatte er noch gute zwei, ja sogar zweieinhalb Stunden Zeit bis zu seinem Termin. Urban war viel zu früh in die Uni gekommen, er hatte es einfach nicht mehr ausgehalten zu Hause.

„Ich würde sagen, Sie zeigen mir jetzt schnell mal diesen Glasbau“, meinte Urban und war überzeugt, dass der Rundgang durch den Anbau in maximal 30 Minuten erledigt war.

„Schnell geht nicht, Herr Professor!“, antwortete Dutschke mit einem amüsierten Lächeln.

„Ich will dort keine Wurzeln schlagen, sondern nur mal durchmarschieren und mir ansehen, was da so gebaut wurde.“

„Das geht aber nicht schnell!,“ wiederholte der Facility Manager bestimmt.

„Dann schau ich mir die eben das nächste Mal an! Ich glaube nicht, dass ich etwas Weltbewegendes verpasse.“

„Sie sollten sich die Zeit nehmen, Herr Professor. Wirklich!“

„Sprechen Sie nicht in Rätseln, Dutschke! Was ist denn dort so Wichtiges? Haben meine Nachfolger das Rad neu erfunden?“

„So ähnlich, Herr Professor, so ähnlich. Warten Sie es einfach ab.“

Als die beiden Männer das Bistro verließen, gingen gerade zwei Damen mittleren Alters hinein. Es war jetzt kurz nach neun und langsam aber sicher füllte sich das Bistro-Restaurant. Eine ganz normale Zeit für die erste Kaffeepause und für viele auch das erste Frühstück.

„Professor Urban?“, sprach ihn eine der beiden Damen an. Urban drehte sich um.

„Ja?“

„Wusste ich doch, dass Sie es sind. Ich habe Sie gleich erkannt!“, sagte die Frau, die sich als Gisela Palluch vorstellte. Urban gab ihr artig die Hand, kannte sie aber überhaupt nicht. Frau Palluch erklärte, dass sie die Nachfolgerin von Silke Mönius war, Urbans früherer langjähriger Sekretärin. An die konnte er sich natürlich sehr gut erinnern. Fast 20 Jahre lang war Frau Mönius so etwas wie die gute Seele seines Lehrstuhls gewesen. Urban wurde ein bisschen wehmütig ums Herz, als er an seine tüchtige und stets hilfsbereite Sekretärin dachte.

„Es hat mich sehr gefreut, Frau Palluch“, verabschiedete sich Urban und drückte der schlanken, braunhaarigen Dame in dem eleganten Kostüm fest die Hand. „Ich muss leider weiter!“

„Dann ist also deine jetzige Chefin die Nachfolgerin von Urban?“, fragte Gisela Palluchs Begleiterin Sonja Bergmann. Die beiden hatten sich je einen Kaffee und ein Sandwich geholt und an einem der Tische im Bistro Platz genommen.

„Ja!“, bestätigte Gisela Palluch. „Aber dem Urban kann die Steiner niemals das Wasser reichen.“