Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten - Martin Reker - E-Book

Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten E-Book

Martin Reker

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Beschreibung

Zur Abstinenz motivieren Alkoholsucht ist ein stets präsentes, oft frustrierendes Thema für alle, die in psychosozialen Berufsfeldern arbeiten. Das Buch bietet eine kompakte Einführung in das Thema mit Fallbeispielen und praktischen Tipps, wie sich die Motivation zur Abstinenz oder Reduktion anschieben und stützen lassen. Auch Angehörige finden im Buch hilfreiche Impulse. Praxisnah und kompetent erleichtert der Autor den Zugang zur subjektiven Seite des süchtigen Alkoholkonsums, zur biografischen Dimension der Sucht und zu somatischen und sozialen Folgen ihrer Verfestigung. Das Buch weckt Verständnis für die Art der Störung und erläutert professionelle Handlungsoptionen. Dabei zielen die Behandlungsstrategien und -möglichkeiten auf die Unterstützung der Betroffenen bei der persönlichen Zielfindung, der Ressourcenorientierung und durch positive Verstärker. Möglichkeiten der Online-Beratung werden ausführlich dargestellt; Aktualisierungen betreffen die Eingliederungshilfe, die epidemiologischen Zahlen sowie das Thema »Sucht und Arbeit«.

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Praxis Wissen

Martin Reker

Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten

MARTIN REKER, Dr. med., ist Leiter der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel. Arbeitsschwerpunkte sind gemeindeorientierte Suchtkrankenbehandlung, evidenzbasierte Suchtbehandlungskonzepte wie der Community Reinforcement Approach, Fragen zur Implementierung innovativer Behandlungsstrategien und anthropologische Medizin.

Die Reihe PraxisWissen wird herausgegeben von:

Michaela Amering, Andreas Bechdolf, Michael Eink, Caroline Gurtner, Klaus Obert und Tobias Teismann

Martin Reker

Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten

PraxisWissen 13

Neuausgabe 2022

ISBN: 978-3-96605-182-8

ISBN E-Book (PDF): 978-3-96605-183-5

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-96605-184-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-db.de abrufbar.

Die Handelsnamen der besprochenen Medikamente sind mit dem Zeichen® gekennzeichnet. Aus dem Fehlen dieser Kennzeichnung darf aber nicht auf die freie Verwendbarkeit eines Medikamentennamens geschlossen werden, es kann sich um gesetzlich geschätzte Warenzeichen handeln, die nicht ohne weiteres benutzt werden dürfen.

© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2022

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Uwe Britten, Eisenach

Umschlagkonzeption und -gestaltung: studio goe, Düsseldorf, unter Verwendung dreier Fotos von Janine Lamontagne/istockphoto.com, Max2611/istockphoto.com und sabelskaya/istockphoto.com

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

Die subjektive Seite des süchtigen Alkoholkonsums

Der Reiz des Rausches

Der Wunsch, das Rauscherleben (immer wieder) zu wiederholen

Willensfreiheit und Rauscherleben

Rauschmittel und das verletzte Selbst

Rauschmittel in sozialen Bezügen

Geschlechtsspezifische Aspekte

Alkoholkonsum in verschiedenen Kulturen – Hintergründe migrierter Personen

Alkoholismus als Krankheit: Definitionsversuche

Alkoholbedingte Veränderungen im Körper und ihre Verhaltensfolgen

Der Weg des Alkohols durch den menschlichen Körper

Das Belohnungssystem im Gehirn

Zentralnervöse Veränderungen bei chronischem Alkoholkonsum

Alkoholkonsum und psychiatrische Komorbidität

Wechselbeziehung von Sucht und seelischer Störung

Der Alkoholkonsum und seine somatischen Folgen

Alkohol und Medikamente – Wechselwirkungen

Die biografische Dimension der Sucht

Frühe Erfahrungen und ihre Auswirkungen

Das Bedingungsgefüge süchtigen Verhaltens

Der Suchtkranke als Symptomträger eines gestörten Systems

Menschen mit Alkoholproblemen unter historischer Perspektive

Suchtspezifische Handlungsoptionen

Die Entgiftung vom Alkohol

Der Entzug

Aufrechterhaltung von Abstinenz

Kontrolliertes Trinken

Das Göttinger ALITA-Programm für chronisch suchtkranke Patienten

Stationäre Intervallbehandlungen bei fehlender Abstinenzfähigkeit

Online-Therapie der Alkoholabhängigkeit

Leben gelingen lassen:Ressourcenorientierung als Strategiekonzept

Alkohol und Erwerbstätigkeit

Alkohol und Wohnen

Alkohol und persönliche Mobilität

Alkohol und persönliche Freiheit

Haftvermeidung

Strafverfolgung und Klärung der Schuldfähigkeit

Unterbringung im Maßregelvollzug

Vorbereitung auf die Gerichtsverhandlung

Haftentlassung

Alkohol und Sorgerecht

An den Grenzen der Selbstbestimmung: Betreuung und Unterbringung

Selbstbestimmung

Betreuung

Als Helfende im professionellen Hilfesystem: eine Schlussbetrachtung

Ausgewählte Literatur

Die subjektive Seite des süchtigen Alkoholkonsums

Der Reiz des Rausches

Wer mit Menschen arbeitet, denen Alkoholprobleme zugeschrieben werden, muss auf kontroverse Sichtweisen gefasst sein, wenn er mit den Betroffenen ins Gespräch kommt. »Alkoholiker« haben oft eine ganz eigene Sicht auf das Thema »Alkoholkonsum«, und zwar eine ganz andere als die vielen Wohlmeinenden um sie herum, die denken, dass eine Verhaltensänderung zwingend notwendig sei. Viele professionelle Helferinnen und Helfer mit einem weitgehend geordneten Umgang mit Alkohol denken, es lohne sich nicht, mit den auffällig gewordenen Menschen darüber in einen Realitätsabgleich zu kommen, weil es nun mal Teil der Alkoholkrankheit sei, dass die Betroffenen die Wirklichkeit nicht mehr so wahrnehmen könnten, wie sie »wirklich« ist.

Für den Anfang mag es hier genügen, festzuhalten, dass es nicht viel wert ist, als professionell Tätiger die Wirklichkeit bestimmen zu wollen, wenn der Klient seine Situation völlig anders wahrnimmt und bewertet. Die »Wirklichkeit« ist immer subjektiv konstruiert. So oder so: Seitdem im Rahmen der »Bemündigung« psychisch und suchtkranker Menschen in den letzten Jahrzehnten die Möglichkeiten, Personen mit Alkoholproblemen zu entmündigen und/oder geschlossen unterzubringen, massiv eingeschränkt worden sind, kann Veränderung nur gemeinsam mit den Betroffenen gelingen.

Jeder, der mit suchtkranken Menschen arbeitet, muss sich vor Augen halten, dass es nur wenige andere Störungen der Gesundheit gibt, bei denen eine so hohe Verfügbarkeit über das Krankheitssymptom (= die Selbstintoxikation) besteht wie beim Alkohol. Seitdem auf die totale Kontrolle über den suchtkranken Menschen durch geschlossene Hospitalisierung weitgehend verzichtet wird, gibt es keine Chance mehr, einen suchtkranken Menschen zur Beendigung des Konsums zu bewegen und ihm Alkohol vorzuenthalten – wenn er das nicht will. Wenn Angehörige oder Professionelle auf das Konsumverhalten Einfluss nehmen wollen, geht es nicht ohne ein tiefgreifendes Verständnis für die subjektive Sichtweise des Klienten, unabhängig davon, ob man sie teilt oder nicht. Hierin liegt die große Herausforderung für Helfende in unserer Zeit.

Menschen mit der Krankheit »Alkoholabhängigkeit« haben in einer offenen Gesellschaft eine extrem hohe Verfügbarkeit über ihr prominentestes Krankheitssymptom: den Rückfall in den Alkoholkonsum. Allein schon deswegen geht keine Veränderung ohne den Klienten!

Wer das Wagnis riskiert, mit einer Haltung interessierter Neugier verstehen zu wollen, warum sich Menschen mit Alkoholproblemen so verhalten, wie sie es tun, muss die Welt durch die Brille der Betroffenen sehen. Das gelingt am ehesten in einer vorübergehenden Identifikation mit ihnen, indem man sich konkrete Ereignisse schildern lässt, die charakteristisch für das Problemverhalten sind. So kann es als Erstes um Trinkereignisse gehen.

BEISPIEL

HELFERIN »Herr Müller, ich habe Sie in einer für Sie sehr schwierigen Lebenssituation kennengelernt. Ihr Alkoholkonsum scheint dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Ich habe verstanden, dass Sie ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Alkohol haben. Einerseits sind Sie beschämt wegen der letzten Entgleisungen, für die der Alkoholkonsum eine wichtige Ursache war, andererseits gibt es auch etwas, was Sie immer wieder zum Alkohol zurückführt. Würden Sie mir beispielhaft die letzte Situation schildern, als Sie wieder mit dem Trinken angefangen haben?«

KLIENT »Wissen Sie, mir ist meine Arbeit sehr wichtig. Sie strengt mich aber auch unglaublich an. Vor allem mein aktueller Vorgesetzter übt sehr viel Druck auf mich aus – so empfinde ich das zumindest.

Letzten Donnerstag bin ich spät aus dem Büro rausgekommen. Ich war total erschöpft, aber auch frustriert, weil mein Chef mich ›angemacht‹ hatte, dass ein Auftrag immer noch nicht abschließend bearbeitet sei. Aus meiner Sicht konnte ich gar nichts dafür, aber das wollte der nicht hören. Als ich mit dem Bus nach Hause fuhr, war ich sehr angespannt und dachte immer, dass ich mich anstrengen kann, wie ich will, ich werde nie den Anforderungen genügen. Ich habe mich nach Ruhe gesehnt und mir gleichzeitig vorgestellt, dass mein Vorgesetzter morgen wieder dastehen und Druck auf mich ausüben würde. Als ich zu Hause das Rad in den Keller gestellt hatte und noch etwas Mineralwasser mit hochnehmen wollte, habe ich gesehen, dass da noch die Weinflasche stand, die mir ein alter Schulfreund letztens zum Geburtstag mitgebracht hatte: ›Wenn du dir mal was Gutes tun willst!‹, wie er damals gesagt hat. Na ja, und da habe ich gedacht: Das ist jetzt eigentlich der richtige Moment dafür. Ich habe erst noch kurz gezögert, weil ich mir, meinen Kollegen und auch meinem Suchtberater versprochen hatte, ich würde jetzt sicher nichts mehr trinken, weil mir die Arbeit so wichtig ist. Ich habe dann aber gedacht: Ich brauche das jetzt und es steht mir auch zu. Da habe ich die Flasche mit hochgenommen, habe es mir im Sessel richtig gemütlich gemacht und habe an dem Abend die ganze Flasche ausgetrunken. Na, und schon nach dem ersten Glas war mir viel leichter, und geschlafen habe ich auch viel besser als die Nacht zuvor.

Wie es am folgenden Tag weitergegangen ist, das wissen Sie ja schon: der Sturz auf der Treppe, der Ärger am Arbeitsplatz. Und jetzt die Peinlichkeit, dass ich Ihnen das alles erzählen muss.«

In der diagnostischen Abklärungsphase dienen sogenannte Verhaltensanalysen als geeignetes Instrument, um solche Konsumsituationen systematisch zu betrachten und durchzusprechen (siehe Abbildung 1). In sehr kleinschrittiger, chronologischer Folge werden die betreffende Situation, die Gedanken, Gefühle und die damit verbundenen körperlichen Empfindungen in Erinnerung gerufen, dokumentiert, differenziert und für den weiteren Prozess nutzbar gemacht.

Es hat verschiedene Versuche gegeben, Trinkmotive zu kategorisieren. In der modernen Wissenschaft werden drei klinische Trinkmotivlagen unterschieden: Belohnungs-, Vermeidungs- und Gewohnheitstrinken.

Belohnungstrinker Diese Trinker orientieren sich am Genuss. Sie erleben das einzelne Trinkereignis als Höhepunkt im Tagesverlauf und können sich schwer vorstellen, darauf zu verzichten. Wein- und Sekttrinker gehören häufig dazu. Sie zelebrieren den Genuss und empfinden es als geradezu unanständig, wenn man dabei auf die problematischen Seiten des Alkoholgenusses zu sprechen kommt. Viele Belohnungstrinker (auch: »Reward-Trinker«) lieben den Rausch, spüren genussvoll das Anfluten des Alkohols im Körper und empfinden das Betrunkensein als ekstatisches Erlebnis.

Vermeidungstrinker Dieses Trinken (»Relief-Drinking«) hingegen soll über den Konsum unangenehme Gefühle und Gedanken vermeiden helfen. Oft benutzen diese Personen den Alkohol wie eine Selbstmedikation, sei es gegen Angst, Depressionen, Einsamkeit, Schmerzen oder Schlaflosigkeit. Viele Menschen mit Alkoholproblemen können Kränkungen und Frustrationen schlecht ertragen und benutzen dann den Alkohol, um die seelischen Verletzungen nicht mehr spüren zu müssen.

Gewohnheitstrinker Diese Menschen haben den Alkohol fest in ihren Alltag eingebaut. Der Alkohol gehört immer dazu: wenn Essen auf dem Tisch steht, wenn der Fernseher läuft, wenn man Durst hat, wenn man mit seiner (Männer-)Clique unterwegs ist oder wenn man auf dem Fußballplatz steht. Diese Personen haben immer einen mehr oder weniger hohen Alkoholspiegel und eine hohe Alkoholtoleranz. Sie spüren den Alkohol dann oft nur noch, wenn er nicht mehr da ist und es zu Entzugssymptomen kommt. Unter Alkoholeinfluss wirken die Betroffenen demgegenüber fast normal.

Obgleich diese Unterscheidung eine gewisse Orientierung gibt, lassen sich Menschen mit Alkoholproblemen meist nicht eindeutig einer Gruppe zuordnen. Viele Belohnungstrinker nutzen Alkohol auch, um unangenehme Affekte zu vermeiden, gleichzeitig gibt es viele Gewohnheitstrinker, die sich situativ mit größeren Alkoholmengen »belohnen«. Letztlich gilt, dass jeder Klient individuell verstanden sein will.

Für die spätere Handlungsplanung ist es zum Verständnis der Trinksituationen wichtig, zu unterscheiden zwischen den internen und externen Auslösern vor dem Konsum und den negativen oder auch positiven Konsequenzen nach dem Konsum (siehe dazu die Abbildung zur Verhaltensanalyse). Individuell sind es häufig ähnliche Auslöser, die den Wunsch, zu trinken, stimulieren. Im Fallbeispiel waren das die Frustgefühle und die Anspannung als interner »Trigger« sowie die scheinbar zufällig angetroffene Flasche Wein im Keller als externer Auslöser.

Für die Aufrechterhaltung des Konsums sind eher die kurzfristigen Konsequenzen des Konsums entscheidend. Im Fallbeispiel war es die entlastende und entspannende Funktion des Alkohols auch im Hinblick auf den Schlaf. Die langfristigen negativen Konsequenzen, im Fallbeispiel die Probleme am Arbeitsplatz und der Sturz im alkoholisierten Zustand, treten hinter den kurzfristigen Konsequenzen zurück und wirken in der Situation weniger verhaltenssteuernd.

Kein Alkoholkonsument trinkt ohne Grund, auch nicht der süchtige. Wer mit Suchtkranken zu tun hat, muss das Bedingungsgefüge und den Sinn des Alkoholkonsums verstehen.

ABBILDUNG 1

Konsum- und Verhaltensanalye

Zeitablauf

Situation

Körperempfinden

Gedanken

Gefühle

Do., 18:30 Uhr

Verlassen des Büros

Erschöpfte Muskulatur Kopfschmerzen

»Was kann ich dafür, dass der Auftrag noch nicht fertig ist!« »Immer lädt der Chef seinen Frust bei mir ab!«

Frust, Anspannung, Unruhe, Niedergeschlagenheit

18:50 Uhr

Einstieg Straßenbahn

Zeichen der Erschöpfung, Anspannung

»Ich kann machen, was ich will, ich werde doch immer der Sündenbock bleiben!«

Frust, Anspannung, Unruhe, Niedergeschlagenheit

19:10 Uhr

Ausstieg Straßenbahn

Noch erschöpfter, weil ich in der vollen Bahn stehen musste

»Wie komme ich bloß etwas zur Ruhe!« »So kann das nicht weitergehen!«

Unruhe, Abgeschlagenheit

19:20 Uhr

Fahrrad, das noch vor der Tür stand, in den Keller gestellt, wollte dann Mineralwasser holen

Gefühl der Gefühllosigkeit, Unruhe

»Du musst jetzt irgendwie abschalten!«

Leeregefühl, wie betäubt

19:25 Uhr

Weinflasche im Keller vorgefunden

Anspannung

»Tu dir was Gutes!« »Das steht dir jetzt zu!« »Mach keinen Quatsch!«

Kurze Freude, dann Unsicherheit

19:30 Uhr

Weinflasche mit hochgenommen, Sessel im Wohnzimmer zurechtgestellt, schönes Weinglas geholt

Anspannung hat schon nachgelassen, leichte Vorfreude kommt auf

»Das kommt jetzt gerade recht!« »Das wird dir guttun!«

»Alle anderen können mich mal …!«

Leichte Vorfreude, beginnende Erleichterung

Erster Schluck vom Wein

Entspannung, Wärmegefühl

»Das tut gut!«

Entspannung, Kopf wird freier

Später Abend

Auf dem Sofa eingeschlafen

Entspannung

Tiefer Schlaf

Keine Gefühle mehr

Freitag-morgen

Sturz im Bad, später Ärger am Arbeitsplatz wg. Fahne am Morgen

Körper fühlt sich ganz zerschlagen an, Kater

»Du Versager!«

»Wie soll ich das meinem Berater erklären!«

Scham

Der Wunsch, das Rauscherleben (immer wieder) zu wiederholen

Menschen, die Erfahrungen mit Alkohol gemacht haben, ziehen daraus ganz unterschiedliche Schlüsse. Am leichtesten haben es jene, denen der Alkohol nicht schmeckt oder die ihn gar nicht vertragen. Dazu gehören zum Beispiel viele Menschen aus dem ostasiatischen Raum. Bei ihnen ist das Enzym Alkoholdehydrogenase, das für einen zügigen Alkoholabbau sorgt, genetisch bedingt weniger stark ausgebildet. Menschen, bei denen das Enzym vermindert aktiv ist oder fehlt, bekommen vegetative Unverträglichkeitssymptome wie Übelkeit, Schwitzen oder Gesichtsrötung (»Flush«). Das gilt auch für viele Frauen. Wer diese Erfahrung früh gemacht hat, kommt kaum in Gefahr, in größeren Mengen Alkohol trinken zu wollen.

Umgekehrt konnten wissenschaftliche Studien belegen, dass insbesondere diejenigen jungen Männer besonders gefährdet sind, eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln, die schon in der Jugend viel Alkohol vertragen.

Wer bei einem Klienten verstanden hat, warum er situativ gerne zum Alkohol greift, kann in der Regel besser verstehen, warum er auch in Zukunft in Versuchung kommen wird, wieder Alkohol zu sich zu nehmen.

Menschen, die als »Belohnungstrinker« mit dem Alkoholgenuss zunächst angenehme Konsequenzen verbinden, werden in den entsprechenden Versuchungssituationen Mühe haben, sich zu distanzieren, selbst wenn sie es der Familie oder dem Arbeitgeber »versprochen« hatten.

BEISPIEL 1

Eine junge Frau entstammt einer Familie, die Wein und Weingenuss immer schon als etwas Besonderes stilisiert hat. Zu einem guten Essen gehörte auch immer ein guter Wein, bei Besuchen lehnte man einen guten Wein nie ab. Als sie merkt, dass ihr zunehmend die Kontrolle verloren geht, hat sie das Gefühl, auf etwas verzichten zu sollen, was für ein gelingendes Leben unentbehrlich ist.

BEISPIEL 2

Ein junger Mann ist es gewohnt, sich für besondere Leistungen mit Alkohol zu belohnen. Nach dem Examen gibt es Sekt für alle, nach einem gewonnenen Fußballspiel eine Kiste Bier für die ganze Mannschaft. Er hat das immer genossen. Verzicht auf Alkohol scheint ihm zu bedeuten, sich nicht mehr belohnen und freuen zu dürfen.

Ähnliche Kämpfe müssen Klientinnen und Klienten mit sich austragen, die den Alkohol bislang eingesetzt hatten, um damit negative Gefühle zu betäuben oder zu beseitigen.

BEISPIEL 1

Der Arbeitnehmer, der nach einer Alkoholentwöhnungstherapie wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, hat in einer vergleichsweise fürsorglichen Umgebung in der Klinik wenig Mühe gehabt, abstinent zu bleiben. Als am Arbeitsplatz die ersten Vertretungssituationen mit Mehrbelastungen anstehen, steigt abends das Bedürfnis, erneut Alkohol zu nutzen, um zu Hause zur Ruhe zu kommen und danach schlafen zu können.

BEISPIEL 2

Ein Bühnenkünstler hat regelmäßig mit Lampenfieber zu kämpfen. Er macht die Erfahrung, dass Alkohol ihn ruhiger macht. Seine Auftritte erlebt er unter einem gewissen Alkoholspiegel viel entspannter. Viele seiner Kollegen handhaben das ähnlich. Vor jedem Auftritt nimmt er sich vor, dass das nun das letzte Mal sein soll. So geht es schon seit Jahren.

Gewohnheitstrinker merken oft erst, dass etwas nicht stimmt, wenn sie durch äußere Umstände zu einer Konsumunterbrechung gezwungen werden.

BEISPIEL 1

Ein berenteter Handwerker kommt nach einem Entzugskrampfanfall in die Klinik. Er hatte wegen einer Magenverstimmung zuletzt wenig gegessen und getrunken und war dann in den Entzug geraten. Ihm selbst mochte ein Zusammenhang zunächst nicht einleuchten. Er habe regelmäßig über den Tag verteilt vier bis sechs Flaschen Bier getrunken, habe sich aber nie betrunken gefühlt. Deswegen wolle er auch in Zukunft auf sein Bier nicht verzichten.

BEISPIEL 2

Ein Außenhandelsvertreter ist viel auf Auslandsreisen. Er ist es gewohnt, mit seinen Kunden unterwegs zu sein und mit ihnen Alkohol zu trinken. Für ihn bedeutet dies einen Teil seines Berufs, selbst wenn er an manchen Abenden durchaus angetrunken ist. Als er nun nach einem Blechschaden von der Polizei kontrolliert wurde, hatte er noch so viel Restalkohol im Blut, dass er seinen Führerschein abgeben musste. Vorläufig hat er sich einen Fahrer organisiert. Seinen Konsum will er nicht ändern, wenn sein Anwalt dafür sorgt, dass er berufsbedingt »den Schein« zurückbekommt.

Alle geschilderten Personen entwickeln in Situationen, in denen sie mit vertrauten Triggern konfrontiert werden, Suchtdruck (»Craving«). Das Craving ist umso schwerer zu kontrollieren, je angenehmer die Konsequenzen sind, die die Person beim Alkoholkonsum zu erwarten hat. Zu solchen positiven Konsequenzen gehört dann auch das Verschwinden von unangenehmen Gedanken und Gefühlen. > Craving, Seiten 85, 88, 95

Wer nicht nachempfinden kann, was Suchtdruck bedeutet, kann vermutlich Menschen mit Alkoholproblemen nicht verstehen. Häufig begegnet man Äußerungen wie: »Die Flasche hat er sich doch selbst an den Hals gesetzt. Wie konnte er sich und uns das antun?!« Oder: »Hat er denn nicht verstanden, dass er so krank ist, dass ihn das das Leben kosten kann, wenn er weiter säuft?!«

Um dem Nichtalkoholabhängigen Suchtdruck verständlich zu machen, möchte ich eine Analogie zur Selbstbelohnung bzw. Selbsttröstung durch Schokolade nutzen.

? Stellen wir uns vor, am Abend nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause zu kommen. Eigentlich waren wir gut in den Tag gestartet, weil wir solide vorbereitet waren, doch dann lief alles schief. Letztlich hat der Chef, der wohl auch einen schlechten Tag hatte, uns für alles verantwortlich gemacht. Der Weg nach Hause ist von Gedanken begleitet wie: »Ist eigentlich auch egal, was ich mache, der Chef ist sowieso nie zufrieden. Auf die Anerkennung, die ich eigentlich verdient habe, kann ich noch ewig warten!« In der Hoffnung, die Partnerin oder der Partner zu Hause würde unsvielleicht wieder in Schwung bringen, treffen wir auf eine leere Wohnung. Auf einem kleinen Zettel hat die oder der andere hinterlassen, was alles unbedingt heute noch gemacht werden müsse. Der gedeckte Abendbrottisch, auf den wir uns eigentlich gefreut hatten, ist leer. So stehen wir da und überlegen, was nun am besten zu tun ist. Was können wir uns selbst Gutes tun, wenn es schon kein anderer tut? Auf der Suche nach Trost werden wir in der Speisekammer fündig: eine Tafel Schokolade. Zuerst denken wir, dass die Schokolade mit unseren aktuellen Plänen, Diät zu halten und etwas abzunehmen, eigentlich nicht vereinbar ist. Noch am Morgen hatte uns unsere Partnerin oder der Partner einen dezenten Hinweis gegeben, dass Hemd oder Bluse spannen würde über dem Bauch.

Nach kurzem Zögern greifen wir uns die Schokolade, reißen sie auf, brechen uns einen Riegel ab. So viel wollten wir eigentlich gar nicht nehmen. Eigentlich. Ach, egal. Nach diesem Tag noch große Verzichtsübungen zu bestehen, das muss nicht sein. Ausgerechnet heute? Ach, nur dieses eine Stück …

Als der erste Riegel Schokolade gegessen ist, hoffen wir darauf, dass die Lust auf Schokolade vorbei ist. Ein Fehlschluss. Wir sitzen im Sofa, sehen fern, müssen aber die ganze Zeit an die restliche Schokolade denken. Und irgendwie zieht es uns dann wieder hin zur Speisekammer. Das Hin und Her in unserem Kopf führt dazu, dass wir gar nicht mehr richtig denken. Wie getrieben, ja, wie ferngesteuert gehen wir zur Schokolade, reißen sie erneut auf und nehmen einen zweiten Streifen. Das wird sich am Abend noch zweimal wiederholen. Dann ist die Schokoladentafel aufgegessen. Der letzte Riegel hat uns schon gar nicht mehr wirklich geschmeckt, eigentlich waren wir satt. Als die Frau oder der Mann am späten Abend nach Hause kommt, verspüren wir auch noch ein tiefes Schamgefühl in uns.?

Die geschilderte Situation ist für viele Menschen leichter nachvollziehbar als eine Rückfallgeschichte, bei der es sich um Alkohol dreht. Und doch wird schnell erkennbar, dass an der Stelle von Schokolade (wahlweise Kartoffelchips) auch Bier oder Wein gestanden haben könnte.

Das Drang- und Triebhafte, das im Suchtdruck steckt, ist vielen Betroffenen peinlich, weil es etwas Unreifes zu verkörpern scheint. Im Umgang mit Suchtdruck geht es darum, Bedürfnisse aufschieben, gegebenenfalls sogar ganz verzichten zu können. Kindern fällt das bekanntermaßen schwer. Erwachsene versuchen ihren Kindern das Wartenkönnen beizubringen, wenn sie im Supermarkt mit ihnen an der Kasse vorbeigehen wollen, ohne die dort noch platzierten Süßigkeiten zu kaufen. Das Aufschieben der Befriedigung von Bedürfnissen ist aber eben nicht nur für Kinder, sondern auch für viele Erwachsene schwer, sei es im Umgang mit Alkohol, sei es beim Essen oder beim Ausgeben von Geld für Konsumgüter.

Das Besondere an der Suchterkrankung ist, dass sie subjektiv durch den Rausch bzw. durch die betäubende Wirkung auch einen sehr schönen Teil hat, der auf Wiederholung drängt. Abstinent zu leben und Suchtkrankheit zu bewältigen hat deswegen auch immer etwas mitVerzichtzu tun. Das sollten wir in unserer Arbeit auch so benennen.

Willensfreiheit und Rauscherleben

Solange Menschen sich mit dem Thema »Sucht« beschäftigen, so lange fragt man sich, in welcher Wechselbeziehung der freie Wille eines erwachsenen Menschen und der »süchtige« Konsum von Alkohol zueinander stehen. Kann man einen süchtigen Menschen für seinen Alkoholkonsum verantwortlich machen, wenn doch das Süchtige genau darin besteht, dass der Mensch die Kontrolle darüber verloren hat?

Obgleich die beiden Positionen Freiheit versus Abhängigkeit scheinbar gar nicht miteinander zu vereinbaren sind, so spürt doch jeder, der nur ein wenig Erfahrung mit dem Thema hat, dass Menschen vom Grundsatz her einen freien Willen haben und trotzdem alkoholabhängig sein können. Für spätere Handlungskonzepte ist die Frage sehr bedeutsam, ob wir dem Menschen mit Alkoholproblemen eine eigene Entscheidung über seinen Umgang mit Alkohol zubilligen oder ob wir ihn für quasi willenlos halten und daraus das Recht ableiten, mehr oder weniger über ihn zu bestimmen.

Die Erfahrung im Hinblick auf süchtigen Alkoholkonsum zeigt, dass es einen Anteil im betroffenen Menschen gibt, dem er passiv ausgesetzt zu sein scheint und für den er zumindest unter den aktuellen Bedingungen nur schwer verantwortlich zu machen ist. Die Verhaltenstherapeuten sprechen hier von der »Organismusvariablen«. Es geht dabei zunächst um unterschiedliche Bedürfnislagen. Manche Menschen verspüren überhaupt nicht das Bedürfnis, vermehrt Alkohol zu trinken. Das ist vermutlich kein Verdienst der Betroffenen, sondern eine Frage der Disposition und des lebensgeschichtlichen Lernens. Andere entwickeln beim Umgang mit Alkohol früh ein sehr starkes Bedürfnis danach, häufiger und größere Mengen Alkohol zu trinken.

BINDUNGSBEDÜRFNISSE Die Tiefenpsychologie hat diese Beobachtung traditionell damit in Zusammenhang gebracht, dass in der Biografie der Betroffenen frühe Bindungsbedürfnisse in der Kindheit (»orale Bedürfnisse«) nicht ausreichend befriedigt worden sind. Wenn aber diese drängenden Konsumbedürfnisse (also der Suchtdruck) vorliegen, woher auch immer sie stammen, dann geht es in einem zweiten Schritt für die Betroffenen darum, den Druck auszuhalten sowie den Konsum aufzuschieben oder sogar ganz auf den Alkohol zu verzichten. > Vertrauen, Seiten 45, 63

Das wiederum gilt ebenfalls als eine Anforderung, die nur von sehr »reifen« Menschen geleistet werden kann. Viele Menschen können das Aufschieben über längere Zeit oder den Konsumverzicht offenbar nicht aushalten, sei es, weil ihnen diese Disposition so in die Wiege gelegt worden ist, sei es, dass sie es nicht gelernt haben, sei es, weil sie es nicht wollen können.

SUCHTDRUCK Es gibt also Menschen, die in sich ein starkes Bedürfnis nach Alkoholkonsum verspüren. Unter diesen finden sich viele, die nur sehr eingeschränkte Fähigkeiten haben, dem inneren Drängen etwas entgegenzusetzen. Dieses Phänomen könnte man als den »krankhaften« Anteil süchtigen Verhaltens bezeichnen.

Wenn wir nun mit Menschen zu tun haben, die ein solches Verlangen nach Alkohol (entwickelt) haben, so gibt es darunter auch jene, die den Suchtdruck bewusst spüren, dabei um Kontrolle ringen und dann erleben, dass sie immer wieder von dem bestehenden Druck überwältigt werden. Solche Menschen leiden sehr unter ihrem »Sosein«, also unter dem, was wir eine Suchterkrankung nennen mögen. Sie erleben ihr Konsumverhalten als »ich-dyston«, als ich-fremd. Diese Personen sind »dankbare« Patientinnen und Patienten, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Krankheitsverläufen.

Es gibt aber auch andere, die spüren ebenfalls ein starkes Bedürfnis, vermehrt Alkohol zu trinken, erleben das aber als »ich-synton«. Sie versichern immer wieder, dass sie nicht suchtkrank seien, sondern dass sie Alkohol trinken würden, weil sie Alkohol trinken wollten. Sie könnten auch aufhören, wenn sie wollten, und hätten das auch immer wieder für eine begrenzte Zeit unter Beweis gestellt. Die Zuschreibung einer Suchterkrankung mit externem Hilfebedarf lehnen sie ab. Es fällt nicht schwer, die Klienten mit ich-dystonem Konsummuster als »krank« anzusehen, zumindest als unterstützungsbedürftig. Schwieriger ist es bei der Gruppe mit ich-syntonem Konsum.