Menschen mit Borderline begleiten - Ewald Rahn - E-Book

Menschen mit Borderline begleiten E-Book

Ewald Rahn

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Beschreibung

Bestimmte Verhaltensmuster der Borderline-Persönlichkeitsstörung stellen die Beziehung zwischen Betroffenen und Helfenden immer wieder auf die Probe. Wie eine auch langfristig wirksame Begleitung gelingen kann, zeigt Ewald Rahn praxisnah und begegnungsorientiert. Ein schneller Wechsel von hohen Nähewünschen zu radikaler Distanz, von Idealisierungen zu tief kränkenden Abwertungen löst auch aufseiten der Helfenden heftige Emotionen aus. Dieses Buch veranschaulicht die Empfindungen und Verhaltensmuster der Betroffenen und vermittelt wichtiges Know-how zur professionellen Beziehungsgestaltung, denn nicht nur die Betroffenen müssen lernen, mit innerlich erlebtem Stress und heftigen Emotionen besser umzugehen.

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PraxisWissen

Ewald Rahn

Menschen mit Borderline begleiten

EWALD RAHN, Dr. med., ist Arzt für Nervenheilkunde und Psychotherapeutische Medizin sowie Psychotherapeut. Er arbeitet als leitender Arzt an der Psychiatrie der LWL-Klinik in Warstein und ist dort auch stellvertretender Direktor.

Die Reihe PraxisWissen wird herausgegeben von:

Michaela Amering, Ilse Eichenbrenner, Michael Eink, Caroline Gurtner, Klaus Obert, Wulf Rössler und Tobias Teismann

Ewald Rahn

Menschen mit Borderline begleiten

PraxisWissen 3

Neuausgabe 2019

ISBN-Print 978-3-88414-964-5

ISBN-PDF 978-3-88414-965-2

ISBN-ePub 978-3-88414-966-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2019

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Uwe Britten, Eisenach

Umschlagkonzeption und -gestaltung: studio goe, Düsseldorf, unter Verwendung eines Fotos von shansekala/iStock.com Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

Erschreckte Distanz, erstaunte Anziehung – Einleitung

Spannungsfelder im Verlauf der Beziehungsgestaltung

Erste Begegnungen

Loyalitätskonflikte

Der Betroffene wirkt bedrohlich und unsympathisch

Die Beschäftigung mit Traumatisierungen

Unrealistische Erwartungen

Der Blick auf die Störung

Störungsaspekt und Beziehungsgestaltung

Das theoretische Modell der Borderlinestörung

Die Rolle der Emotionen

Die Beziehung aus der Sicht des Helfers

Auswirkungen der Störung auf das Selbstbild

Erfahrungen, Emotionen und Schemata

Der Einfluss der Störung auf das Selbstbild des Helfers

Die Auswirkungen der Störung auf den Sozialraum

Die Entdeckung der Ressourcen

Häufigkeit, Erscheinungsformen und Verlauf der Erkrankung

Die Diagnose der Borderlinestörung

Die Zuordnung der Symptome zu Problembereichen

Emotional angemessen auf Situationen reagieren

Schwierigkeiten, ausgewogen zu kommunizieren

Mentalisierungsschwäche

Problematische Verhaltensmuster im Rahmen der Borderlinestörung

Selbstverletzendes Verhalten

Chronische Suizidalität

Therapiegefährdendes Verhalten

Folgen komplexer Traumatisierung

Komorbidität

Der Weg der Genesung

Die Gestaltung der professionellen Hilfe

Ressourcen aktivieren

Die Hilfevereinbarung

Struktur und Transparenz der Hilfe

Entwicklung einer helfenden Haltung

Die eigene Persönlichkeit einbringen

Elemente einer ganzheitlichen Sichtweise

Umgang mit der Diagnose

Die Ziele der Hilfe

Rolle des Teams

Hilfreiche therapeutische Strategien

Hilfe zur Selbsthilfe

Psychoedukation

Offener Dialog: Beenden des Vermeidungsverhaltens

Dialektische Strategien

Verhaltensanalyse

Übende Verfahren – Fertigkeitstrainings

Validierung

Kognitive Umstrukturierung

Imagination

Achtsamkeitstechniken

Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten

Umgang mit den Partnern und der Familie der Betroffenen

Behandlungs- und Betreuungssettings

Ambulante Versorgung

Stationäre Versorgung

Einrichtungen der Rehabilitation und der Eingliederungshilfe

Ausgewählte Literatur

Erschreckte Distanz, erstaunte Anziehung – Einleitung

Etwa 80 Prozent der an einer Borderlinestörung leidenden Menschen nehmen kurz- oder langfristig medizinische, therapeutische oder soziale Hilfen in Anspruch. Die meisten suchen von sich aus Hilfe, einige werden aber auch von anderen dazu gedrängt. Dabei ist die Störung sowohl für die Betroffenen als auch für die professionellen Helfer nicht von Anfang an ersichtlich. Akute Krisen, psychische und somatische Begleiterkrankungen, unterschiedliche Belastungssituationen oder zwischenmenschliche Konflikte können Anlässe sein, um sich Hilfe zu suchen.

Besonders irritierend können Begegnungen mit Betroffenen sein, wenn diese bereits über Erfahrungen mit verschiedenen Hilfen verfügen, vor allem wenn es sich um wiederholt negative Erfahrungen handelt. Lange Zeit galt der Umgang mit Borderlinekranken als besonders schwierig. Die Betroffenen galten als unberechenbar und manipulativ. Ihnen ging der Ruf voraus, Grenzen zu überschreiten und Helfer zu »verschleißen«. Gerade Berufsanfänger werden zur Vorsicht gemahnt, unterlegt mit mehr oder weniger dramatischen Geschichten über Selbstverletzungen und Suizidversuchen. Aber gerade wir psychiatrisch Helfende müssen zurückhaltend mit unseren Vorurteilen umgehen.

Viele dieser Vorurteile stammen aus einer Zeit, in der es kaum wirksame Behandlungsmöglichkeiten für diese Störung gab und die Anwendung tradierter therapeutischer Strategien nicht zum Erfolg führte. Viele Einrichtungen wurden weitgehend unvorbereitet mit den mit der Störung verbundenen Problemen konfrontiert. Ein Nährboden für Mythen.

Tatsächlich spielt zu Beginn der Erkrankung die Instabilität in verschiedenen Lebensbereichen eine zentrale Rolle. Dramatische Zuspitzungen sind möglich, die alle Beteiligten unter erheblichen Stress setzen können und deutlich machen: Es geht um heftige Emotionen.

Es ist nicht einfach, sich der seltsamen Faszination zu entziehen, die von diesen Erfahrungen und den damit verbundenen Geschichten ausgeht. Für die Betroffenen und ihre Helfer geht es oft genug um Grenzerfahrungen: Grenzen der Belastbarkeit, der Situationskontrolle unter Stresstoleranz und der Offenheit für zwischenmenschliche Begegnung. Gerade Berufsanfänger und wenig Erfahrene sind somit häufig hin- und hergerissen zwischen erschreckter Distanz und erstaunter Anziehung.

Das Wechselbad der Emotionen und die damit verbundene Widersprüchlichkeit gehören zur Borderlinestörung. Das gilt für die Betroffenen, aber auch für die Helfenden. Wo ist die Grenze der Belastbarkeit und wie weit kann eine menschliche Beziehung strapaziert werden? Wie bei anderen psychischen Störungen weist das Borderlineproblem damit auf Grundfragen des menschlichen Lebens hin. Bei der Borderlinestörung könnten diese Fragen lauten: Wie gehe ich mit inneren Gegensätzen um? Welche Rolle spielen bei mir Gefühle im Umgang mit mir selbst und anderen Menschen? Wie hoch ist meine Stresstoleranz? Die Beschäftigung mit all diesen Fragen kann Angst machen.

Das Ziel dieses Buches ist jedoch, dem Leser nicht Angst, sondern Mut im Umgang mit Borderlinebetroffenen zu machen. Grundlage dafür sind die eigenen langjährigen Erfahrungen. Ich selbst habe in der Arbeit mit diesen Menschen sehr viel gelernt und lerne immer noch, etwa über die Besonderheiten der therapeutischen Beziehung, den Umgang mit eigenen Grenzen, die Rolle des Respekts bei der Arbeit und die Zusammenarbeit in Teams. Ich habe gelernt, dass die oben erwähnten Dramen lediglich die Oberfläche der Störung darstellen. Unter der Oberfläche hingegen werden Menschen sichtbar, die einen hohen Leidensdruck haben, aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gleichzeitig eine hohe Motivation mitbringen, ihre Lebenssituation zu verbessern und zu gesunden. Somit kann aus meiner Erfahrung die Arbeit mit Borderlinekranken sehr positive Auswirkungen auf die eigene professionelle Entwicklung haben und dem Helfer viel Freude bereiten.

Das alles ist aber nicht selbstverständlich. Nötig ist, eine angemessene Haltung zu entwickeln, ein Verständnis für die Krankheit zu bekommen und sich hilfreiche Strategien anzueignen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist die Hilfe wirksam und kann Entscheidendes zur Gesundung und zu einer positiven Entwicklung der Betroffenen beitragen. Dieses Buch will einen Beitrag leisten, damit eine solche konstruktive Beziehungsgestaltung mit den Betroffenen gelingt.

Aber es gibt noch andere Gründe für eine intensive Auseinandersetzung mit der Borderlinestörung, denn es geht dabei auch um Verletzungen. Verletzungen, die sich Menschen gegenseitig oder sich selbst zufügen. Unweigerlich stößt man bei dieser Überlegung zur Frage nach Opfer und Täter und damit nach der ethischen Verantwortung des Menschen für und in Beziehungen. Diese ethische Fragestellung hat eine grundlegende Bedeutung für die helfende Beziehung. Hilfe kann fördern, aber auch lähmend wirken. Sie kann erwünscht sein, aber auch auf Ablehnung stoßen. Sie kann den Helfer zufriedenstellen, ihn aber auch an Grenzen führen und demütigen. Damit stoßen wir an die Grenzen der tradierten professionellen Haltungen und Herangehensweisen. Wie wird der Spannungsbogen zwischen Fürsorge und Eigenverantwortung gestaltet? Wer trägt wie Verantwortung für die therapeutische Beziehung? Wer übernimmt in der therapeutischen Beziehung die Kontrolle? Welche Erwartungen an die Mitarbeit des Betroffenen sind notwendig und gerechtfertigt? Welches Rollenverständnis von beiden Seiten ist sinnvoll?

Sicher ist, dass Borderlinekranke weder mit einer paternalistischen noch mit einer umfassend offenen Beziehungsgestaltung zurechtkommen. Sie brauchen beides. Deutlich wird das an Verhaltensweisen wie diesen: Eine Betroffene meldet sich jedes Wochenende in der Klinik und bittet wegen drängender Suizidgedanken um Aufnahme, aber wenige Stunden nach der Aufnahme fordert sie vehement die sofortige Entlassung. Die Suche nach dem richtigen Weg zwischen den beiden Standpunkten muss gemeinsam gesucht und ausgehandelt werden. Das Ergebnis dieser Verhandlung ist die Grundlage für die gemeinsame Arbeit. Ein solches Aushandeln des Beziehungsrahmens kennzeichnet das Verhältnis zu Borderlinepatienten in besonderer Weise. Es ist nicht verwunderlich, dass sich gerade Helfer mit einem positiven Berufsbild oft mit diesem Verhandlungsmodell schwertun, denn es ist nicht einfach, zugewandt und »empathisch« zu bleiben, wenn man sich gleichzeitig vom Patienten angegriffen und abgewertet fühlt. Auch kann es für Helfende einen Konflikt darstellen, sich um den Patienten zu sorgen und gleichzeitig klare Forderungen an ihn zu stellen.

Die Bereitstellung von Informationen, die Vermittlung von Wissen und Erfahrungen sowie die Darstellung möglicher Umgangsformen erhöhen die Sicherheit in der Beziehung mit den betroffenen Menschen. Sicherheit ist aber nur ein Aspekt professionellen Umgangs. Ebenso bedeutsam ist die generelle Offenheit für neue Erfahrungen, eine hohe Flexibilität bei der Bewältigung von Problemen und Krisen sowie eine von Optimismus getragene Gelassenheit bei der Gestaltung von Beziehung. Daher soll das Buch neugierig auf den Umgang mit Borderlinepatienten machen und gleichzeitig Achtung und Respekt den betroffenen Menschen gegenüber herstellen.

Eine Grundlage von Hilfe ist es, die Hoffnung und die Überzeugung zu haben, einen positiven Beitrag zur Lösung von Problemen leisten zu können. Oft genug müssen dazu eigene Ängste, Unsicherheiten und Vorbehalte überwunden werden. Auch hierzu soll das Buch einen Beitrag leisten und Zuversicht vermitteln.

Ewald Rahn

Spannungsfelder im Verlauf der Beziehungsgestaltung

Erste Begegnungen

Persönlichkeitsstörungen insgesamt haben Auswirkungen auf das gesamte zwischenmenschliche Verhalten. Deswegen bildet sich eine Persönlichkeitsstörung in den Begegnungen zu anderen Menschen ab, selbstverständlich auch zu Helferinnen und Helfern.

ANFANG  Die erste Begegnung hat oft einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Beziehungsgestaltung. Im professionellen Kontext dient die erste Begegnung oft der Informationssammlung, sie ist aber auch Beginn einer Gestaltung der »therapeutischen« Beziehung. Natürlich findet der erste Kontakt nicht in einem »luftleeren Raum« statt. Alle Teilnehmenden der Begegnung haben einen sozialen Referenzraum.

Sie verfügen über mehr oder weniger umfangreiche Vorinformationen, Vorerfahrungen, aber auch über Vorurteile. Die Interaktion ist sehr davon abhängig, ob die Borderlinediagnose bereits im Vorfeld formuliert worden ist und wie der Betroffene zu dieser Diagnose steht.

Viele Fragen sind natürlich bei der ersten Begegnung noch ungeklärt, etwa die Gründe für den Kontakt und die dahinterliegenden Motive. Auch bleiben andere beteiligte Personen und deren Erwartungen zunächst im Hintergrund. Die Interaktion erfolgt über mehrere »Kanäle«. Zusätzlich zur Erzählung erschließen sich viele Informationen szenisch, etwa wie offen die Interaktionspartner sind und auf welchem Stressniveau sich das Gespräch bewegt. Die erste Begegnung ist vielfach geprägt von Hypothesen über den jeweils anderen und über die Güte des Kontakts.

Bei Borderlinekranken spielt zusätzlich eine Rolle, in welchem »Modus« sich der Betroffene gerade befindet. Unter Modus wird verstanden, welche inneren Schemata (Handlungsbereitschaften) gegenwärtig aktiviert sind. Die aktivierten Schemata sind hauptsächlich verantwortlich für das gegenwärtige Stressniveau des Betroffenen. Subjektiv wird der Stress als innere Spannung wahrgenommen. Mit der Höhe des Stressniveaus reduzieren sich die zwischenmenschlichen Fertigkeiten und damit die (sozialen) Kompetenzen eines Menschen erheblich. Am Ende sind die möglichen Verhaltensweisen auf Flucht, Kampf und Verbergen (Totstellen) reduziert.

Die erste Begegnung kann sich daher sehr holprig gestalten und die Kontaktaufnahme erschweren. Aufgrund dieser außergewöhnlichen Stressanfälligkeit von Borderlinekranken ist es für den Helfer von großer Wichtigkeit, den gegenwärtigen Eindruck bei der ersten Begegnung nicht vorschnell zu verallgemeinern. Dabei gibt es in der Praxis unterschiedliche Konstellationen, die auf ein hohes Stressniveau hinweisen:

1. Aufgrund des hohen Spannungsniveaus fürchtet der Betroffene, die Kontrolle zu verlieren.

Diese Konstellation wird sich vor allem durch Vermeidungsverhalten zeigen. Möglich ist, dass der Betroffene nur unvollständig oder gar nicht auf Fragen antwortet, ausweicht und seine Motive und Absichten im Dunkeln lässt. Szenisch vermittelt sich der Eindruck, das Gespräch solle möglichst bald enden und vor allem sollen keine Kontroversen und schwierigen Themen angesprochen werden. Der Helfer solle doch die Motive und Wünsche erraten.

Gelegentlich gehen die Betroffenen bei dieser Konstellation auch zum Gegenangriff über, reagieren unwirsch und ablehnend. Die Reaktion des Helfers in dieser Konstellation kann verschieden ausfallen. Eigentlich ist der Helfer ja auf wichtige Informationen angewiesen, um angemessen reagieren zu können. Das Vermeidungsverhalten des Betroffenen führt aber zur Unsicherheit und möglicherweise auch zu ärgerlichen Reaktionen. Schließlich ist Hilfe nur möglich, wenn man über die notwendigen Informationen verfügt. Vor allem aber wirkt das Verhalten des Betroffenen auf den Helfer sehr befremdlich und auffällig. Die Störung kann daher viel gravierender wirken als sie tatsächlich im Alltag ist. Viele Helfer sorgen sich in einer solchen Situation, weil sie annehmen, der Betroffene verberge selbst- oder fremdgefährdende Impulse.

2. Aufgrund vielfacher Vorerfahrungen hat der Betroffene feste Verhaltensmuster entwickelt, um mit solchen Situationen umzugehen.

Diese Konstellation ist meist die Folge von chronischem Stress. Die Verhaltensmuster dienen vor allem der Reduktion des Stressniveaus, funktionieren aber nur, wenn die Verhaltensmuster rigide ausgeführt werden. Die Muster sind dabei das Ergebnis eines Lernprozesses, etwa im Rahmen stationärer Behandlungen oder anderer Hilfekontexte. Da sie nach Erfolgskriterien gelernt worden sind (jeweils bezogen auf bestimmte Situationen), nutzen die Betroffenen selten alternative Verhaltensmuster. Aber auch solche Muster dienen in der Regel der Vermeidung, nicht der Klärung. Bei einer Variante dieser Konstellation geht der Betroffene zur Vermeidung eines hohen Spannungsniveaus direkt zum Angriff über und lehnt jeden Vorschlag des Gegenübers umgehend ab.

BEISPIEL

Eine junge Frau, die in einer Wohneinrichtungen lebt, gerät dort wegen ihres gelegentlich aufbrausenden und aggressiven Verhaltens in die Kritik. Mehrfach wird ihr die Kündigung des Wohnheimplatzes wegen ihrer Verhaltensweisen angedroht. Aus ihren Vorerfahrungen hat sie gelernt, dass sie möglichen Sanktionen durch eine Klinikeinweisung ausweichen kann. Sie meldet sich daher in der Klinik und gibt als Aufnahmegrund Suizidgedanken an. Von ihren Auseinandersetzungen berichtet sie hingegen nicht, um Konfrontation mit ihrem eigenen Verhalten aus dem Weg zu gehen. Sie hält den stationären Aufnahmeaufenthalt aufrecht, bis sie erwarten kann, dass sich die Wogen im Wohnheim wieder geglättet haben.

Diese Verhaltensschemata haben entscheidend zum Ruf beigetragen, Borderlinekranke seien manipulativ. Oft wird beim Helfer dadurch Ärger erzeugt. Eine natürliche Reaktion wäre Distanzierung, die aber aus vielen Gründen oft gar nicht möglich ist, zumal sich die Betroffenen dann falsch verstanden und alleingelassen fühlen. So entsteht ein Missverständnis, weil der Betroffene sein Stressniveau senken und der Helfer der Manipulation entgegentreten möchte. In solchen Situationen ist es für den Helfer wichtig, zu wissen, dass sich Borderlinekranke durchaus der Problematik ihres Verhaltens bewusst sind, aber trotzdem sehr an dem Verhalten hängen, und zwar mangels Alternative. Grundsätzlich gilt ohnehin, dass gerade bei der Stressreduktion Borderlinekranke ihre Verhaltensmuster erst ändern können, wenn ähnlich wirksame Alternativen gefunden sind.

3. Der Betroffene hat keinen Kontakt zu sich selbst, kann nicht auf andere zurückgreifen und gerät dadurch in einen unerträglich wirkenden Spannungszustand (unangenehmes Betroffensein von Leere und Langeweile).

Wegen des fehlenden Kontakts zu sich selbst können bei einer solchen Konstellation die Betroffenen das Anliegen nicht nachvollziehbar formulieren. Sie fühlen sich weitgehend hilflos und suchen aus der Angst, alleine zu sein, den Kontakt zu anderen. Bei der Art dieses Kontakts spielt die Befürchtung, nicht ernst genommen zu werden, eine große Rolle. Viele verlegen sich in solchen Situationen darauf, ihren Zustand entweder zu dramatisieren oder Gefährdungen anzudeuten. Auch dies entspricht einer Lernerfahrung. Es geht bei dieser Konstellation um die Vermeidung des Alleinseins, um sich nicht vollends hilflos und ausgeliefert zu fühlen. Aufgrund des hohen Spannungsniveaus wird auch in dieser Konstellation der Helfer nicht als Person mit Anliegen und Wünschen wahrgenommen, sondern nur als Träger einer Funktion.

Der Helfer wird durch den Betroffenen zunächst alarmiert und dann aktiviert, vor allem, um der angedeuteten Gefährdung zu begegnen. Weil es aber nicht um Lösungen, sondern um den zwischenmenschlichen Kontakt geht, verläuft die Diskussion oft im Kreis. Nach einer gewissen Zeit fühlt sich der Helfer gelähmt und gelegentlich auch »genervt«, aufgrund der fehlenden Entwicklung des Gesprächs. Das Gesprächsergebnis ist für beide Seiten nicht befriedigend.

4. Der Betroffene sucht Hilfe, traut sich aber die aktive Mitarbeit nicht wirklich zu, weil die eigenen Lösungsstrategien vorwiegend passiver Natur sind.

In dieser Situation haben die Betroffenen vor allem Angst, dass ihre Defizite offensichtlich werden. Es ist ihr Wunsch, die Kontrolle über die Situation nicht zu verlieren. Dementsprechend werden die Strategien ausgewählt. Möglich ist etwa, den Vorschlägen des Gegenübers grundsätzlich zuzustimmen, ohne zu überprüfen, ob sie den eigenen Erwartungen entsprechen. Und es geht darum, einer drohenden Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten nicht zu entgehen, indem alle Verantwortung und Kompetenz auf den Helfer projiziert werden. Damit gehen sie Konfrontationen und damit einem steigenden Spannungsniveau aus dem Weg.

Vonseiten des Helfers werden solche Konstellationen oft mit großer Irritation aufgenommen. Die Zusagen und Zugeständnisse der Betroffenen werden als zu glatt und unglaubwürdig erlebt. Helfer fühlen sich von einer Klärung und dem Informationsaustausch abgeschnitten und wenig dazu eingeladen. So bleiben viele Fragen unbeantwortet, und der Helfer hat Schwierigkeiten, sich ein weiteres Vorgehen konkret vorzustellen.

Die beschriebenen Konstellationen weisen insgesamt auf eine unzureichende Stresstoleranz der Betroffenen hin. Sie erlauben allerdings noch nicht, Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Problematik zu ziehen, allenfalls wird der Grad des Vermeidungsverhaltens deutlich. Erhöhung der Stresstoleranz und Reduktion des Vermeidungsverhaltens sind in dieser Phase vorrangiges Ziel der Hilfe. Für eine Beziehungsklärung und weitergehende Ziele reicht die Substanz der Beziehung in der Regel noch nicht aus. Es ist deshalb sinnvoll, das Ausmaß der individuellen Spannung zu thematisieren. Dadurch erfolgt eine Fokusverlagerung von den Inhalten des Gesprächs auf die Auswirkungen der inneren Reaktion des Betroffenen. So lässt sich die Bedeutung der Verbesserung der Stresstoleranz im weiteren Vorgehen gut begründen. Außerdem signalisiert der Helfer Verständnis für die Situation des Gegenübers, zumal noch keine Alternativen im Verhalten gefunden werden können. Manchmal lässt sich vermitteln, dass die Suche nach Alternativen möglicherweise den Gesundungsprozess fördert. Oftmals bringen die Betroffenen bereits Erfahrungen mit Fertigkeiten hin zu größerer Stresstoleranz mit, allerdings wird gelegentlich die Wirkung der erlernten Techniken bezweifelt. Diese Vorerfahrungen können für die weitere Zusammenarbeit genutzt werden, indem die Anstrengungen in der Vergangenheit eine Würdigung erfahren.

Bei der ersten Begegnung spielen die stressbezogenen Modi meist die zentrale Rolle. Hat der Betroffene zusätzlich Beziehungserwartungen an den Helfer, werden sich bereits im Erstkontakt die Erfahrungen des Betroffenen mit Beziehungen widerspiegeln. Abhängig von der Entwicklung des Betroffenen sind verschiedene Konstellationen möglich. Sicherlich eine der häufigsten ist geprägt von einer weitgehenden und umfassenden Unsicherheit des Betroffenen. Sie betrifft die Selbstsicherheit, das Vertrauen in die eigene Einschätzung zur Güte der Beziehung sowie über die möglichen Reaktionen des Gegenübers und seine Glaubwürdigkeit.

BEZIEHUNGSTESTS  Bei der Entstehung dieser Unsicherheit spielt die Stressanfälligkeit der Betroffenen eine große Rolle. Sie ist aber auch Ergebnis vor allem von Bindungs- und Umwelterfahrungen im Laufe der biografischen Entwicklung. Diese Unsicherheit bewirkt Misstrauen und Passivität gleichermaßen. Daraus folgt der ängstliche Wunsch, insbesondere in sozialen Situationen die Kontrolle zu behalten. So wird nach Sicherheit in den Beziehungen gesucht. Weil die Kontrolle jedoch nur unvollständig gelingt und durch das Verhalten des anderen ständig als bedroht erscheint und infrage gestellt werden kann, sind Betroffene sehr bemüht, die Unsicherheiten durch fortlaufende Klärungen zu beseitigen. Daraus resultieren charakteristische Beziehungstests, mit denen sie Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit einer Beziehung prüfen.

Leider lassen sich in Beziehungen Verunsicherungen nicht vermeiden. Die beteiligten Personen sind nicht gleichbleibend freundlich und zugewandt, viele Fragen bleiben unbeantwortet und offen. Das gilt besonders für Konstellationen, in denen mehrere Helfer zur Verfügung stehen und unterschiedliche Beziehungsmuster zeigen. Weil Beziehungstests deswegen selten erfolgreich sind, ist am Ende die Unsicherheit nicht beseitigt, eher noch verstärkt. Noch schädlicher ist die dabei entstehende Enttäuschung, weil sie das Misstrauen verstärkt und Resignation aufkommen lässt.

BEISPIEL

Eine Frau fragt per Mail an, ob sie ihrer Therapeutin weiter Vertrauen schenken könne. Grundsätzlich sei sie von ihrer Therapeutin begeistert. Sie erlebe sie als zugewandt und verständnisvoll.

Bislang habe sie gern die therapeutischen Gespräche in Anspruch genommen und sich auf den nächsten Termin gefreut. Während eines der letzten Termine habe sie sich aufgrund der guten Erfahrungen getraut, eine Frage zu stellen, nämlich ob die Therapeutin sich vorstellen könne, zu einem Patienten auch eine private Beziehung zu knüpfen. Die Therapeutin habe geantwortet, dass sich eine private und therapeutische Beziehung in der Regel nicht miteinander vertrügen.

Mit der Antwort der Therapeutin sei sie nach dem Gespräch sehr beschäftigt gewesen. Die Antwort habe sie verunsichert, weil sie sich von der Therapeutin als Person nicht akzeptiert gefühlt habe.

Sie habe keinesfalls eine direkte persönliche Beziehung zu der Therapeutin aufnehmen wollen, sondern es sei ihr nur um eine grundsätzliche Frage gegangen. Trotzdem schmerze sie die Antwort der Therapeutin, weil sie sich auf eine unbestimmte Art und Weise selbst infrage gestellt fühle. Sie habe daraufhin versucht, das Privatleben der Therapeutin zu durchleuchten. Die Unzulässigkeit sei ihr klar gewesen und daher habe sie diese Aktionen der Therapeutin nicht offenbart. Im Rahmen der Recherchen habe sie den Eindruck gewonnen, dass die Therapeutin sehr wohl persönliche Beziehungen zu Patienten aufnimmt. Seither sei ihr Vertrauen in die Therapie verloren gegangen. Sie wisse jetzt nicht mehr, wie sie weiter verfahren solle.

Für den Helfer bedeutet dieser Modus, dass bereits bei der ersten Begegnung oftmals die Beziehung auf dem Prüfstand steht, obwohl sie ja eigentlich noch nicht begonnen hat. Deswegen muss der Klärung der Beziehungsgestaltung von Anfang an große Beachtung geschenkt werden. Der Helfer muss berücksichtigen, dass Borderlinekranke sehr auf Klarheit und Zuverlässigkeit angewiesen sind. In diesem Sinne sollten auch die manchmal sehr unangenehmen Beziehungstests verstanden werden. Die Erfahrung lehrt, dass Helfer, die ein gutes Gefühl für ihre eigenen Grenzen haben und ihre Möglichkeiten, zu helfen, gut eingrenzen und konkretisieren können, mit den Beziehungstests der Betroffenen gut zurechtkommen. Oft hilft auch eine angemessene gegenseitige Offenheit bei der Gestaltung der Beziehung. So wird es dann auch einfacher, unrealistischen Erwartungen entgegenzutreten und diese in einer positiven Form in die gemeinsamen Arbeitsziele einzubauen.

Vorsicht ist dagegen geboten, wenn der Helfer angesichts des offensichtlichen Leids meint, umfassend Verantwortung für den Betroffenen übernehmen oder ihn vor sich selbst beschützen zu müssen. Die Gefahr ist groß, damit die Passivität und Hilflosigkeit zu erhöhen. Auf die Betroffenen können umfassend kompetent wirkende Helfer bedrohlich wirken, weil sie ihnen die eigene Inkompetenz offensichtlich werden lässt (»negative therapeutische Reaktion«). Die Stärkung der Eigenverantwortung hingegen signalisiert, dass der Helfer die Probleme nicht für den Patienten lösen kann, sondern sich seine Hilfe auf Unterstützung und Begleitung beschränkt.

Beziehungstests können sich auf unterschiedliche Art und Weise zeigen. Grundsätzlich spiegelt sich hinter jedem dieser Tests der Wunsch des Patienten nach Klärung der Beziehung. Allein die hohen Maßstäbe, die die Betroffenen dabei an die Beziehung anlegen, führen oft zu negativen Ergebnissen. Immerhin ist es aber möglich, die Tests im Sinne der eigentlichen Intention zu nutzen, also zur Beziehungsklärung. Aus der Erfahrung gibt es verschiedene Varianten, die in der Praxis vorkommen: