Mentalisieren im psychiatrischen Alltag - Thomas Bolm - E-Book

Mentalisieren im psychiatrischen Alltag E-Book

Thomas Bolm

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Beschreibung

Auch bei Stress offen und auf Augenhöhe bleiben Schwierigkeiten und Konflikte im Alltag lassen sich mit einem guten Verständnis für die Situation aller Beteiligten besser lösen. Die Fähigkeit, sich ein differenziertes Bild von dem eigenen Erleben, dem Erleben anderer und der Beziehungen zueinander zu machen, wird »Mentalisieren« genannt. Ein gezieltes Fördern von Mentalisierungsprozessen und der Orientierung am Gegenüber kann nachhaltig die Kommunikation und das Verhalten verbessern. Auch die Zusammenarbeit im Team wird für alle Beteiligten befriedigender. Mit diesem Praxiswissenband wird ein psychotherapeutisches Konzept für alle Akteure im psychiatrischen Alltag kompakt, leicht verständlich und anhand von zahlreichen Beispielen aus Klinik und Alltag nutzbar gemacht. Das Buch verdeutlicht, wie Mentalisieren in angespannten Zuständen gelingen kann. Ein Fokus des Buchs liegt auf der neugierigen und offenen Haltung, mit der schwierige Situationen in Behandlung und Beratung gemeistert werden können.

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Praxis Wissen stellt in konzentrierter Form zentrale Aufgaben der psychiatrischen Versorgung dar. Fachlich bewährte therapeutische Grundsätze werden vermittelt und immer auch in ihrer praktischen Umsetzung gezeigt. So können psychiatrisch Tätige den Klientinnen und Klienten das geben, was sie für die Bewältigung psychischer Krisen brauchen.

 Seite 18 Die Mentalisierungsfähigkeit wird insbesondere in den ersten Lebensjahren angelegt, sie bleibt allerdings auch im weiteren Lebensprozess veränderbar.

 Seite 37 Die kognitiv-emotionalen Mentalisierungsschritte müssen zu schaffen sein – nicht immer sofort und nicht immer leicht, aber in einem für den Erlebenshorizont einer Person angemessenen Rahmen.

 Seite 43 Eine mentalisierungsbasierte therapeutische Haltung und Kommunikation fördert Authentizität und Bezogenheit im Umgang miteinander. Dadurch wird das Vertrauen in die Wahrnehmung, Interpretation und letztlich Bedeutsamkeit zwischenmenschlicher Kommunikation und Beziehung gestärkt.

 Seite 68 Das psychodynamische Mentalisierungskonzept lässt sich auch beim Einsatz von verhaltenstherapeutischen Techniken sehr gut nutzen, vor allem in Zusammenhang mit Expositionen, aber auch mit achtsamkeitsfokussierenden Methoden. Allerdings unterscheidet sich die Gesprächsführung beträchtlich von einem sokratischen Dialog oder einer Interpretation.

 Seite 99 Challenge-Strategien sollten nicht aus einem dominanten Gegenübertragungsgefühl von Frustration, Ärger und dem Impuls heraus stattfinden, den Patienten loswerden zu wollen. Die Basis für Challenge sind eine Vertrauensbasis zwischen Patient und Therapeut und dessen positive Zugewandtheit. Diese zeigt sich aber nicht in stützenden, hilfreich gemeinte Nähe fördernden Interventionen.

 Seite 105 (Körper-)Symptome können bei manchen Menschen die Brücke zum Sicherheit gebenden anderen sein. Erst wenn Körperbeschwerden präsentiert werden, wird gehofft, von anderen Hilfe zu bekommen.

DR. THOMAS BOLM ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Gruppenanalytiker. Nach mehreren Leitungstätigkeiten im In- und Ausland ist er seit 2013 Chefarzt von MentaCare, Zentrum für psychische Gesundheit, in Stuttgart.

PraxisWissen

Thomas Bolm

Mentalisieren im psychiatrischen Alltag

Die Reihe PraxisWissen wird herausgegeben von:

Michaela Amering, Andreas Bechdolf, Karsten Giertz, Caroline Gurtner, Klaus Obert, Tobias Teismann und Maike Wagenaar

Thomas Bolm

Mentalisieren im psychiatrischen Alltag

PraxisWissen 16

1. Auflage 2024

ISBN-Print: 978-3-96605-170-5

ISBN epub: 978-3-96605-247-4

ISBN-PDF: 978-3-96605-246-7

Weitere Bücher zu psychiatrischen Störungen finden Sie im Internet:

www.psychiatrie-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2024

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlages vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Uwe Britten, Eisenach

Umschlagkonzeption und -gestaltung: studio goe, Düsseldorf

Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein

Typografie und Satz: Barbara Hoffmann

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Mentalisieren im psychiatrischen Alltag

Mentalisieren: Behandlungsergebnisse verbessern – Vorwort

Wenn Menschen irren

Mentalisieren – eine komplexe Funktion für komplexe Situationen

Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit

Innere Repräsentanzen

Der Äquivalenz-, der teleologische, der Als-ob- und der reflektierende Modus

Verbundenheit, Nichtwissen und Neugier

Umsetzung im Alltag

Die verborgenen Anteile der Seelenlandschaft

Mentalisieren bei verschiedenen psychiatrischen und psychosomatischen Krankheitsbildern

Depression und Manie

Manische Zustände

Psychosen

Angst- und Zwangsstörungen

Persönlichkeitsstörungen

Soziale Dynamiken

Dissoziales Verhalten

Essstörungen

Stoffgebundene und Verhaltenssüchte

Rückfälle

Psychosomatische Symptome

Posttraumatische Belastungsstörungen

Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen

Demenzen

Mentalisieren in Gruppen

Notfallsituationen

Drohender Therapieabbruch

Suizidalität

Selbstverletzungen

Gewaltandrohungen

Angehörigenarbeit

Mentalisieren als interkulturelle Notwendigkeit

Mentalisieren in psychiatrischen Institutionen und Teams

Mentalisieren: Neugierig und auf Augenhöhe bleiben

Ausgewählte Literatur

Mentalisieren im psychiatrischen Alltag

Mentalisieren: Behandlungsergebnisse verbessern – Vorwort

Psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Tätigkeiten sind sehr vielfältig. Früher oder später werden die eigenen emotionalen oder kognitiven Grenzen spürbar, auch mit Sicht auf das eigene Erleben und Verhalten. Deshalb gehört es in diesen Berufsfeldern dazu, das eigene Erleben und Verhalten zu reflektieren. Dabei ist die Sicht auf das Mentale wichtig, die Welt der oft nur teilweise bewussten persönlichen Sichtweisen, Gefühle und Bedürfnisse aller Beteiligten. Es geht darum, sich ein differenziertes inneres Bild von dem eigenen psychischen Innenleben, dem anderer und der Beziehungen zueinander zu machen. Dies wird mit dem Begriff »Mentalisieren« zusammengefasst. Doch leider ist das Mentalisieren genau dann, wenn es am nötigsten ist, nämlich unter großer Anspannung und starkem Stress, bei vielen Personen, Gruppen und Teams stark eingeschränkt. Hier kann ein gezieltes Fördern von Mentalisierungsprozessen bei Patientinnen und Patienten sowie bei professionell Helfenden den Therapieerfolg nachhaltig verbessern und die Arbeit für alle Beteiligten befriedigender machen.

Die bisherige Literatur zeigt neben dem Blick auf die philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen des Mentalisierungskonzepts vor allem und auch sehr gut die Haltung und konkrete Interventionstechnik in der Mentalisierungsbasierten Therapie (MBT), also die Anwendung im Rahmen einer spezialisierten intensiven Psychotherapie bei einzelnen Störungsbildern und die Datenlage zur Wirksamkeit. Überzeugend am Mentalisierungsmodell ist, wie wirksam und nachhaltig sich mit seiner Hilfe Behandlungsprozesse verbessern lassen, wie sich die Grundstimmung zwischen Patienten und Behandlerinnen verändert und wie es nicht nur in der spezialisierten Psychotherapie, sondern auch in sehr viel niederschwelligeren Anwendungsfeldern nutzbringend angewendet werden kann. Das Fördern von Mentalisieren ist in allen psychiatrischen Settings hilfreich.

Im Laufe der nunmehr 25-jährigen intensiven Beschäftigung mit dem Mentalisierungsmodell ist mir immer das Gefühl erhalten geblieben, wie praxisnah es entwickelt wurde, gerade auch für die Zusammenarbeit mit nicht intensiv psychotherapeutisch ausgebildeten Berufsgruppen. In unzähligen Schulungen und Seminaren auf Tagungen und vor allem in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken und anderen Behandlungsinstitutionen hat sich mein Eindruck bestätigt, dass vor allem das praktische Training an konkreten Fällen am effektivsten war und ist, manchmal nicht nur im Rollenspiel, sondern sogar unter Beteiligung realer Patienten und Patientinnen.

Das vorliegende Buch soll das Mentalisierungskonzept für ein breites Feld psychiatrisch tätiger Berufsgruppen mithilfe vieler Beispiele plastisch und praxisnah verdeutlichen. Vorausgeschickt werden einige Abschnitte zum Grundverständnis von Haltung und Interventionen, aber dann folgen die daraus abgeleiteten Anregungen für die alltägliche Arbeit. Die Beispiele stammen zum Teil aus meiner eigenen Erfahrung als Behandler und Leiter von Einrichtungen. Zum Teil sind sie auch den Supervisionen und den Berichten von Workshopteilnehmenden entnommen. Teilweise entstammen sie genauen Gesprächsprotokollen, teilweise handelt es sich um ungefähr erinnerte Narrative. Alle Details sind aber immer so verfremdet, dass die Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten gewahrt sind.

Dieses Buch ist mit einem Ziel geschrieben: Es soll Behandelnden, Beratenden und Pflegenden Lust auf das Mentalisieren machen. In diesem Sinne wünsche ich mit den oft gehörten Worten meiner MBT-Lehrer Peter Fonagy und Anthony Bateman: Good Mentalizing!

Thomas Bolm, im Frühjahr 2024

Wenn Menschen irren

»Ich habe mal gezählt: In den letzten drei Jahren hatte ich wegen meiner psychischen Erkrankung Kontakte mit zehn Ärzten und Therapeuten. Alle haben immer wieder betont, wie gut sie mich verstehen. Nur einer hat das nie gesagt: Er ist der Einzige, mit dem eine wirkliche Beziehung zustande gekommen ist« (Dörner u. a. 2017, S. 20). In der Psychiatrie stehen heute ganz verschiedene Entwicklungen nebeneinander: Das Verhältnis von biologischer, psychotherapeutisch orientierter und sozialer Psychiatrie wechselt zwischen gegenseitiger Befruchtung, Unverständnis und Ablehnung. Ein letztlich aus der Körpermedizin in die Psychiatrie übertragenes Menschenbild beförderte die fortschreitende Standardisierung der Diagnostik und Behandlung mithilfe biologischer Marker, Leitlinien, Testbatterien und Therapiemanualen. Aus dem Bestreben heraus, wissenschaftlich fundiert die bestmöglichen Behandlungserfolge zu erreichen, hat dieses Vorgehen neben allgemein anzuwendenden Empfehlungen zu einer überraschenden Konsequenz geführt, nämlich der Wiederentdeckung einer personalisierten Medizin, also einer auf das jeweilige Individuum abgestimmten Strategie.

Lange Zeit gab es mit der zunehmend neurobiologischen Ausrichtung der akademischen Psychiatrie keinen Platz für eine Sicht auf Menschen als Beziehungswesen. Was im einzelnen Gehirn und in der einzelnen Nervenzelle stattfindet, stand im Fokus der meisten dieser Wissenschaftler. Erst mit fortgeschrittenen neurowissenschaftlichen Untersuchungsmethoden wie der funktionellen Bildgebung wurde die Reaktion des Gehirns auf soziale Einflüsse wieder interessant. Auch die Hinweise auf neurobiologische Effekte der Psychotherapie haben in der biologischen Psychiatrie das Potenzial eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses wieder gestärkt. > Neurobiologie, Seiten 17, 34 f., 77

Von psychotherapeutischer Seite aus ist seit Langem eine Annäherung an neurobiologische und psychologische Forschung zu verzeichnen, die manche traditionellen psychotherapeutischen Erklärungsmodelle bestätigt. Aus systemischer und schon seit etlichen Jahrzehnten auch aus psychodynamischer Perspektive ist der Schritt von der Einpersonen- zur Mehrpersonenpsychologie vollzogen. Ebenso ist bei vielen Kollegen und Kolleginnen inzwischen ein von Intersubjektivität (Fonagy & Target 2007) geprägtes Menschenbild vorhanden. Diesem folgend, erlangen Personen – durch ihre subjektive Sicht gefärbt – lediglich begrenztes Wissen über andere Menschen, denn sie haben kein objektivierendes »psychisches Röntgenbild« vom anderen. Sie sind deshalb auf das von diesem anderen ihnen Gesagte und Gezeigte, auf den Austausch angewiesen. Selbst mithilfe diverser Fragebogen oder umfangreicher Gegenübertragungsanalysen bleibt das letztlich so. Deshalb können sich Menschen im anderen irren oder im Extremfall von ihm sogar aktiv getäuscht werden. Das gilt auch für die eigene Person, zum Beispiel wenn die Rede ist vom »sich etwas vormachen« oder »sich über etwas hinwegtäuschen« oder wenn das Selbstbild infrage gestellt werden muss. Die eigene Person, das eigene Leben und andere Menschen werden subjektiv erfahren.

INTERSUBJEKTIVITÄT Die Schlussfolgerung aus der Anerkennung der Intersubjektivität ist nicht nur, dass wir, allgemein gesprochen, alle Irrende sind. Vielmehr hat sich die Bedeutung des Buchtitels Irren ist menschlich (Dörner u. a. 2017) erweitert.

Gekoppelt an die menschliche Individualität und an den subjektiven Ausgangspunkt von Erkenntnis macht im heutigen Verständnis das Irren einen untrennbaren Teil des Menschseins aus. Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, dass einige psychische Erkrankungen, bei denen sich die Betroffenen in Bezug zu ihrer Umwelt oder in ihrem Menschsein als verstörend verändert erleben, zentral damit verbunden sind, dass sie sich keinen Irrtum mehr zugestehen. Stattdessen meinen sie, objektiv über sich oder andere Bescheid zu wissen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an wahnhafte Erkrankungen, an depressive Überzeugungen, an katastrophisierende Gedanken bei Posttraumatischen Belastungsstörungen, bei Angst- und Zwangsstörungen, an wütende Attacken mancher persönlichkeitsgestörter Personen oder an die Körperwahrnehmung bei der Anorexie. Die eigene Sicht ist für die Betroffenen zumindest in den angespannten Momenten »objektiv« und zudem eine mehr oder minder unverrückbare Wahrheit. In ihrer Sicht auf das Geschehen gibt es zeitweise keinen Platz für andere Perspektiven und Interpretationen. Die Fähigkeit zum Mentalisieren ist verloren gegangen.

Mentalisieren – eine komplexe Funktion für komplexe Situationen

Die Londoner Arbeitsgruppe um Peter Fonagy (Bateman & Fonagy 2004; Fonagy u. a. 2002) war seit Mitte der 1990er-Jahre Ausgangspunkt für die Konzeptausarbeitung und für Forschungen zum Mentalisieren. Im Englischen meint »mental« etwas Ähnliches wie im Deutschen »psychisch«. Mentalisieren umfasst aber neben dem unmittelbaren psychischen Geschehen auch eine Metaebene, eine innerpsychisch verankerte Theoriebildung über das Psychische (»Theory of Mind«, initiiert durch Baron-Cohen u. a. 1985), denn beim Mentalisieren wird ein inneres Bild von den psychischen Zuständen und Vorgängen entworfen, die das Erleben und Verhalten bei einem selbst und bei anderen bestimmen. Das bedeutet nicht nur, das unmittelbar Beobachtbare zu betrachten und zu interpretieren, sondern auch die dahinterliegende »mentale« Ebene von Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen und Motivationen sowie die Art und Weise, wie diese psychische Ebene funktioniert – bei einem selbst und bei anderen.

DEFINITION Mentalisieren ist die Fähigkeit, das eigene Denken, Fühlen und Handeln mit differenzierten inneren Vorstellungen darüber zu verbinden, wie die eigene Psyche, die einer anderen Person und die Beziehungen zueinander funktionieren. Mentalisieren ist aber keinesfalls eine rein kognitive Leistung, sondern schließt auch die gesamte Gefühlswelt, die Fähigkeit zum Erleben und Interpretieren von Körperempfindungen sowie den Umgang mit der Außenwelt, insbesondere die Beziehungsgestaltung, mit ein.

Mentalisieren richtet sich sowohl auf die eigene Person als auch auf andere und erlaubt dadurch Perspektivwechsel. Ein griffiges Schlagwort hierfür ist »Playing with reality« (Fonagy & Target 1996). Mentalisieren erlaubt es, sich selbst auch einmal von außen zu betrachten und sich in den anderen hineinversetzen zu können. Eigene Gefühle, Bedürfnisse und Impulse, aber auch körperliches Erleben werden »mentalisierend« wahrgenommen. Dadurch können sie so reguliert und moduliert werden, dass sie in komplexen und stressigen sozialen Interaktionen unterstützen und nicht etwa behindern.

Energie und Selbstbewusstsein entstehen aus dem Gefühl heraus, nicht in den eigenen dysfunktionalen Mustern gefangen zu sein. Auch das Denken, Fühlen und Handeln anderer Personen kann durch Verstehen der verursachenden mentalen Prozesse besser nachvollzogen, eventuell auch vorhergesagt oder mit den eigenen Erlebens- und Verhaltensweisen in Bezug gesetzt werden. Dabei kann die Perspektive des Gegenübers erklärt und empathisch geteilt werden, ohne dabei den Blick auf das Eigene zu verlieren. Dadurch entsteht Raum für neue Erfahrungen, statt immer wieder dieselben »Beziehungsfallen« miteinander zu wiederholen. Mentalisierung bewirkt also:

• neugierig zu bleiben den eigenen Gefühlen, Gedanken und Absichten gegenüber sowie anderen Personen Aufmerksamkeit zu widmen;

• sich klarzumachen, wie das eigene Denken und Fühlen abläuft, aber auch, wie die Psyche anderer funktioniert;

• eigenes und fremdes Erleben und Verhalten besser zu verstehen, Perspektiven wechseln, spielerisch und kreativ sein zu können;

• sich selbst »von außen« sehen und sich in den anderen hineinversetzen zu können.

Marie-Louise Althoff (2017, S. 18) hat an einer Alltagsszene verdeutlicht, wie Mentalisieren in Gang kommt:

BEISPIEL

»Stellen Sie sich vor, Sie beobachten in einem Café ein Paar, das sich in einem lautstarken Wortwechsel befindet. Sie können die Worte nicht verstehen, weil die beiden eine fremde Sprache sprechen. Sie beobachten heftiges Gestikulieren und ernste Mienen. Was denken und fühlen Sie? Sie vermuten vielleicht, dass die beiden sich streiten und unterschiedliche Positionen haben. So weit lässt sich die Vermutung erst einmal aus dem beobachtbaren Verhalten, den Zeichen ableiten. Aber es kann sein, dass sich bei Ihnen automatisch Vermutungen über die inneren Zustände der beiden Personen einstellen und Sie selbst Gefühle entwickeln, von denen Sie denken, dass sie den Gefühlen der beiden entsprechen könnten. Es könnte sein, dass Sie denken, dass das Paar sich in einer Krise befindet und dass Sie Gefühle von Traurigkeit, Angst empfinden und sich Erinnerungen an selbst erlebte Konfliktsituationen einstellen. Dann lächeln beide Partner von einer Sekunde zur anderen; sie stehen auf, nehmen sich in den Arm und gehen Hand in Hand aus dem Café. Sie bleiben verwirrt zurück, und wenn Sie Glück haben, klärt Sie ein Sprachkundiger darüber auf, dass die beiden keinen partnerschaftlichen Streit oder gar eine Krise hatten, sondern einen Disput über das, was Mentalisierung eigentlich meint, geführt haben. Mentalisieren ist im Alltag allgegenwärtig und stellt sich normalerweise auch automatisch ein, so wie Sie in dem Café sich sofort und ohne bewusste Absicht vorgestellt haben, was wohl los sei.«

Beispiele für Mentalisieren im psychiatrischen Alltag sind:

• einen Mitpatienten zu trösten,

• zwischen Berufsgruppen zu vermitteln,

• einen Irrtum bei der Einschätzung der Problematik einzugestehen,

• sich eine Kritik an der Behandlung auch aus der Perspektive des unzufriedenen Patienten anschauen zu können,

• ein Gruppenereignis mit der individuellen Vorgeschichte Einzelner oder mit den letzten Gruppensitzungen in Verbindung zu bringen.

Im deutschsprachigen Bereich wurde und wird das Mentalisierungskonzept seit 2004 (Bolm 2007 a; Bolm u. a. 2006) von verschiedenen Arbeitsgruppen umgesetzt, verbreitet und zum Teil weiterentwickelt (Bolm 2009 b, 2014 b, 20152021 b; Kirsch u. a. 2016; Schultz-Venrath 2022; Taubner 2015).

Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit

Menschen, wie alle Säugetiere, haben in ihrer Kindheit ein enges Verhältnis zu ihren Eltern, besonders zur Mutter. Dabei geht es um körperliche Nähe, um Nahrung, Wärme, Sicherheit und emotionale Geborgenheit. Doch mit zunehmender Mobilität wird diese Nähe immer öfter vom Kind verlassen. Dann geht es um das Lernen, wie der Umgang mit der Umwelt auch mit Abstand zu den Eltern gelingen kann. Ein Teil dieses Wissens wird im direkten Kontakt mit und von den Eltern oder anderen Personen aus dem sozialen Umfeld erlernt. Ebenso wichtig ist dabei das eigenständige Sich-Entfernen und Sich-Ausprobieren des Kindes. Doch bei Verunsicherung, gar Gefahr wird – über den Affekt Angst vermittelt – reflexhaft wieder die körperliche Nähe zu den Eltern gesucht.

Die Präsenz der Eltern ermöglicht dem Kleinkind neben physischem Schutz auch das Erleben ihrer Resonanz in einer Situation. Die elterliche Reaktion gibt dem Kind eine Orientierung, wie ernst die Lage ist, was sie für eine Vorstellung von der Psyche des Kindes haben und was sie ihm zutrauen, aber auch, wie bezogen und feinfühlig die Eltern sind. Damit versorgt, verhält sich das Kind entsprechend, es beginnt aufs Neue seine Expedition von den Eltern weg oder aber bleibt lieber in ihrer Nähe.

Die Mentalisierungsfähigkeit wächst überwiegend erfahrungsabhängig, und zwar vor allem in den ersten fünf Lebensjahren. Dieser Prozess ist am Ende der Adoleszenz zum größten Teil abgeschlossen, bleibt aber weiterhin für korrigierende Erfahrungen zugänglich.

Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit wird gefördert durch hinreichend präsente, verlässliche und gut eingestimmte Bezugspersonen, meist die Eltern. Diese müssen allerdings in der Lage sein, sich hinreichend mentalisierungsförderlich zu verhalten. Sehr kurz und vereinfacht zusammengefasst, kann gesagt werden, dass die Kinder nicht lange andauernd unter massiver psychosozialer Überforderung, zum Beispiel wegen einer schweren psychischen Erkrankung der Eltern oder anderen schwierigen Lebensumständen, leiden sollten, sodass eine gute Feinabstimmung und ein lebendiger Austausch mit dem Kind möglich sind.

Innere Repräsentanzen

Eltern sollten eine hinreichende Fähigkeit zum Mentalisieren mitbringen und diese im Umgang mit ihrem Kind auch zeigen können. Kurz andauernde Mentalisierungsstörungen kommen in jeder Familie vor und werden in den allermeisten Situationen schon bald wieder aufgelöst. Dann erlebt ein Kind seine Eltern wieder präsent und offen für seine Perspektive und Bedürfnisse. Dadurch vermitteln die elterliche Empathie und Resonanz auf das Kind nicht nur Verbundenheit, sondern auch Modulationsfähigkeit und Selbstwirksamkeitserleben angesichts von Stress. Diese sich ständig wiederholenden Erfahrungen werden mit der Zeit als sogenannte innere Repräsentanzen verinnerlicht und können dem Kind als sichere Basis für den Umgang mit künftigen irritierenden oder belastenden Erfahrungen dienen. Die elterliche Mentalisierungsförderung übt damit für das Kind einen nachhaltig protektiven Einfluss im Sinne der Resilienzförderung aus.

Eine alltägliche Situation soll den elterlichen Einfluss auf das Mentalisieren des Kindes verdeutlichen:

BEISPIEL

Sohn,zehn Jahre alt, kommt weinend von der Schule nach Hause: »Papa, der Max hat mich gehauen und mir den Füller weggenommen!«

Vater: »Das klingt ja heftig! Komm mal her und setz dich zu mir. Erzähl mal: Was ist denn passiert?«

Sohn,weint weiter: »Der war so fies zu mir, erst hat er mich dauernd genervt, dann gab’s Streit, und dann hat er mich gehauen.« Vater nimmt ihn in den Arm, Sohn weint aufgelöst weiter.

Sohn: »Der Max ist einfach so gemein!«

Vater: »Weißt du was? Ich hol uns jetzt mal einen Tee, und dann erzählst du’s mir genau, okay?« Er kommt mit zwei Teetassen zurück. »So, jetzt mal eins nach dem anderen. Der Max ist doch eigentlich dein Freund, oder? Wie kam es denn zu eurem Streit?«

Sohn,nach einem Schluck Tee: »Das war in Deutsch, ich hatte meinen Füller vergessen und Max hat mir seinen gegeben.«

Vater: »Das klingt aber nett. Für meinen Freund hätte ich das auch gemacht.«

Sohn: »Ja, aber …« Fängt wieder an zu weinen. »Der ist so gemein, der ist nicht mehr mein Freund!«

Vater: »Das muss ja schlimm weitergegangen sein, wenn der eigene Freund einen schlägt …«

Sohn: »Irgendwann wollte er den Füller wiederhaben, aber ich war noch gar nicht fertig mit Schreiben. Und dann hat er immer wieder gesagt, ich soll ihm endlich den Stift wiedergeben. Der Max ist einfach blöd!«

Vater: »Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, da wäre ich ziemlich unter Druck gewesen, um ganz schnell meinen Text fertigzukriegen.«

Sohn: »Ja, darum konnte ich gar nicht mehr richtig schreiben, ich war so sauer. Als der Max seine Hand nach dem Füller ausgestreckt hat, habe ich ihn zur Seite gedrückt.«

Vater: »So unter Druck machen wir alle ja manchmal was, was uns hinterher leidtut.«

Sohn: »Ja, tut mir auch leid. Aber er darf mich doch nicht einfach so hauen!«

Vater: »Das finde ich auch.« Sohn wirkt entspannter.

Vater: »Hast du denn eine Ahnung, warum das Max das gemacht hat?«

Sohn: »Der war bestimmt auch sauer auf mich, er konnte ja gar nichts mitschreiben.«

Vater: »Das war also richtig übel für euch beide?«

Sohn: »Ja, und er hätte mir ja den Füller gar nicht ausleihen müssen.«

Vater: »Stimmt. Was meinst du, wie das für ihn und für dich wäre, wenn du dich für den Füller bedankst und ihr euch beide für euer Verhalten beim anderen entschuldigt?«

Sohnseufzt: »Dann könnten wir wieder Freunde sein.«

Wenn es im weiteren Leben zu stressvollen Situationen und zum Anstieg der Anspannung kommt, hängt die Mentalisierungsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit zum kreativen Problemlösen von der Zugänglichkeit der verinnerlichten, Sicherheit vermittelnden Repräsentanzen ab. Sie können das Stressniveau wieder auf ein Maß reduzieren, das differenzierte Wahrnehmung und Nachdenken ermöglicht. Übersteigt die Anspannung jedoch ein bewältigbares Niveau, wie bei extremer Angst oder anderen massiven Gefühlsüberflutungen, dann werden Menschen »kopflos«, »wissen nicht mehr, wo oben und unten ist«, sind »ganz außer sich«. Wahrnehmung und Interpretation der Realität werden holzschnittartig, manchmal auch grob verzerrt. Automatisch bekommen stereotype, nicht hinterfragte Sichtweisen die Oberhand. Dann werden Außenstehende benötigt, deren Präsenz und Handeln Sicherheit vermitteln, beruhigen und den Zugang zur Mentalisierungsfähigkeit wieder erleichtern können. Ist jedoch niemand verfügbar, so entsteht existenzielle Not.

HIRNAREALE Tobias Nolte und Kollegen (2010) haben ein neurobiologisch untermauertes Modell entworfen, das die Art des Mentalisierens mit der Anspannung und den beteiligten Hirnarealen verknüpft. So sind beim impliziten, automatischen und schnellen (Prä-)Mentalisieren unter hoher Anspannung der posteriore Kortex und subkortikale Areale aktiv. Dagegen ist beim expliziten, sehr differenzierten, aber langsameren Mentalisieren vor allem der präfrontale Kortex beteiligt. Mit zunehmender Anspannung verschiebt sich die neuronale Aktivität vom präfrontalen zum posterioren Kortex und tritt als automatisches und wenig differenzierendes Mentalisieren in Erscheinung. Im Rahmen der Evolution hat sich diese Fähigkeiten zum schnellen Reagieren auf Gefahr erhalten.

Wenn der posteriore Kortex und tiefer liegende Hirnregionen sehr schnell und mit ihren einfachen Entscheidungen dominieren, geht es häufig um Kampf oder Flucht oder, wenn beides nicht möglich ist, um ein Sich-Totstellen. Die komplexeren Fähigkeiten des präfrontalen Kortex sind meist erst wieder zugänglich und auch vorherrschend, wenn die Anspannung abgeklungen ist. Lebenserfahrungen können allerdings den Umschlagpunkt zwischen beiden Systemen verändern. Das kann sowohl in Richtung erniedrigter Alarmschwelle als auch erhöhter Stressresistenz erfolgen.

Die Mentalisierungsfähigkeit wird insbesondere in den ersten Lebensjahren angelegt, sie bleibt allerdings auch im weiteren Lebensprozess veränderbar.

Der Äquivalenz-, der teleologische, der Als-ob- und der reflektierende Modus

Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit ist ein dynamischer Prozess. Auch wenn dieser mit zunehmendem Erwachsenwerden an Tempo nachlässt, so gibt es doch über die gesamte Lebensspanne hinweg zum Teil schnelle Wechsel in der Qualität des Mentalisierens. Das reicht von massiven Beeinträchtigungen der gesamten Mentalisierungsfähigkeit bis hin zu Ausfällen einzelner Teilqualitäten. Entscheidend für das Ausmaß dieser Störungen sind die biografisch gewachsene Grundausstattung an stabiler Mentalisierungsfähigkeit, die aktuell herausfordernde Situation, zum Beispiel soziale Probleme, psychische oder körperliche Krankheit, Hunger, Krieg und vieles andere mehr, außerdem die Verfügbarkeit stärkender Ressourcen.

Die Frage nach der Mentalisierungsfähigkeit berührt direkt die Persönlichkeit und bei professionell Helfenden die fachliche Qualifikation, denn keiner ist in der Arbeit mit schwer psychisch oder psychosomatisch beeinträchtigten Personen davor gefeit, seine Mentalisierungsfähigkeit zumindest zeitweise oder partiell zu verlieren. Erfahrene Behandelnde und Pflegende wissen das.

Die Art des Mentalisierens bzw. seiner Vorstufen lässt sich in mehrere charakteristische Typen oder Modi aufteilen. Diese Einordnung hilft dabei, den momentanen psychischen Zustand und den Spielraum einer Person oder einer Gruppe zu verstehen und bei der Behandlung zu berücksichtigen. In der Realität finden sich aber nicht selten Überlappungen oder Mischtypen dieser Modi.

ABBILDUNG 1

Die vier Modi der Realitätswahrnehmung

Äquivalenz-, teleologischer, Als-ob- und reflektierender Modus wechseln einander ab, und zwar je nach äußerer oder innerpsychischer Situation. Sie sind aber auch kulturell geprägt und können ganz unterschiedlich erwünscht sein, zum Beispiel kommt der Als-ob-Modus bei bestimmten rituellen Trancezuständen vor oder im lange gepflegten Zerrbild vom »Indianer«, der vermeintlich keinen Schmerz kennt.

Überschäumende Fantasie und auch Dissoziationen können in bestimmten Lebenslagen funktionell sein. Über die Krankheitswertigkeit entscheidet der Grad der resultierenden Alltagsbeeinträchtigung. Die wiederum ist nicht nur von der direkt betroffenen Person abhängig, auch das Ausmaß sozialer Unterstützung bestimmt den Spielraum für regressive, mentalisierungsgeminderte Zustände.

ÄQUIVALENZMODUS Als Äquivalenzmodus wird im Mentalisierungskonzept die Wahrnehmung und Interpretation der Realität bezeichnet, bei der psychische Prozesse wie Fantasien, Erinnerungen oder einfach nur Gedanken mit der äußeren Realität oder einer »objektiven« Wahrheit gleichgesetzt werden. In diesem Modus können die Innenwelt und die äußere Realität in ihrer Bedeutung nicht voneinander unterschieden und dadurch auch nicht relativiert werden.

Die eigene Realitätswahrnehmung und deren Deutung wird für die objektive und für die einzig richtige Sichtweise gehalten. Typische Gedanken im Äquivalenzmodus sind: »Es gibt nur (m)eine Wahrheit!« und »Was ich fühle, das ist so!«. Im Äquivalenzmodus schlagen die Erfahrungen der äußeren Realität ungefiltert in die innere Welt durch, ohne Modulation durch eine relativierende innere Repräsentanz.