Merkel - Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft - Philip Plickert - E-Book
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Merkel - Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft E-Book

Philip Plickert

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Beschreibung

Jan Böhmermann: »Haha, meine Twitter-Blockliste hat ein Buch geschrieben!« Am Ende von 16 Jahren Kanzlerschaft stellt sich die Frage nach Angela Merkels politischer Bilanz und ihrem Erbe. Wie wird sie in die Geschichtsbücher eingehen? Als Riese oder Scheinriese? In dieser überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe des Bestsellers ziehen 24 Professoren und Publizisten eine Bilanz der Ära Merkel. Der Herausgeber, FAZ-Redakteur Philip Plickert, hat renommierte Autoren versammelt, die das politische Wirken und die Person Merkels analysieren. Mit dabei sind so profilierte Köpfe wie der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz, die deutsch-türkische Soziologin Necla Kelek, die Publizistin Cora Stephan, die Historiker Dominik Geppert und Michael Wolffsohn, der Bestsellerautor Thilo Sarrazin, der Wirtschaftspublizist Roland Tichy, die Feminismuskritikerin Birgit Kelle, der Jurist Joachim Steinhöfel, Ökonomie-Professoren wie Justus Haucap sowie Politologen und Journalisten aus England, Amerika und Osteuropa. Das Fazit: Die Kanzlerin hat sich mehrere gravierende Fehler zuschulden kommen lassen. Angefangen beim Lavieren in der Eurokrise und der kopflosen Energiewende über die unkontrollierte Massenmigration in der Flüchtlingskrise bis hin zu den Versäumnissen in der Corona-Krise: Sie hinterlässt Probleme, an denen die Deutschen noch lange schwer zu tragen haben.

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Seitenzahl: 422

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MERKEL

DIE KRITISCHE BILANZ VON 16 JAHREN KANZLERSCHAFT

PHILIP PLICKERT (HRSG.)

Mit Beiträgen von Norbert Bolz, Necla Kelek, Alexander Kissler, Thilo Sarrazin, Joachim Steinhöfel, Cora Stephan, Roland Tichy und weiteren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

2. Auflage der komplett überarbeiteten und erweiterten Taschenbuchausgabe, 2021

Das Buch ist erstmals 2017 unter dem Titel Merkel: Eine kritische Bilanz als Hardcover mit der ISBN 978-3-95972-065-6 erschienen.

© 2017 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Korrektorat: Anja Hilgarth

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: 2017 Getty Images / Sean Gallup

Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-514-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-979-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-980-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

INHALT

Philip Plickert

Vorwort

Merkel als Scheinriese

Norbert Bolz

Merkels Erfolgsgeheimnis

Über den autoritären machtpolitischen Stil der Kanzlerin

Werner J. Patzelt

Merkels Erbe

Die Kanzlerin hat ihre Partei in eine äußerst schwierige Lage gebracht

Wolfgang Ockenfels

Das hohle C

Über Angela Merkels politisches Christentum

Ralf Georg Reuth

Merkels doppelte Biographie

Welche Folgen haben ihre DDR-Prägungen bis heute?

Dominik Geppert

Die Illusion der deutschen Thatcher

Zwischen der Kanzlerin und der Eisernen Lady liegen Welten

Daniel Koerfer

Der verlorene Kompass

Angela Merkels Abkehr von Ludwig Erhard und der Sozialen Marktwirtschaft

Alexander Kissler

Im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen?

Merkels Corona-Management als letzte Belastungsprobe und symptomatischer Schlussakkord ihrer Kanzlerschaft

Cora Stephan

Folgenreiches Versagen in der Flüchtlingspolitik

Merkel hat sich im entscheidenden Augenblick weggeduckt

Thilo Sarrazin

Anmerkungen eines Nicht-Hilfreichen

Wie man die fatale Migrationspolitik korrigieren müsste

David Marsh

Die Widersprüche der Euro-Krise

Über deutsche Macht und Ohnmacht in der Währungsunion

Henning Klodt und Stefan Kooths

Vom Rückenwind zur Flaute

Eine makroökonomische Bilanz mit schweren Krisen und wenigen Aktivposten

Justus Haucap

Deutschlands teurer Irrweg in die Energiepolitik

Gefährlich steigende Stromkosten bei minimaler Klimaschutzwirkung

Roland Tichy

Lyssenko oder Apollo?

Die ideologisch-planwirtschaftliche Technologiepolitik der Kanzlerin

Birgit Kelle

Vergeudung weiblicher Potenziale

Die Sozialdemokratisierung der CDU-Familienpolitik

Michael Wolffsohn

Populus und Pöbel

Angela Merkel und die Populisten – kein Nachruf

Rafael Seligmann

Bei aller Sympathie

Merkel, die Juden und Israel: Moral versus Macht

Necla Kelek

Das Märchen von der Integration

Verlorene Jahre unter der Merkel-Regierung

Joachim Steinhöfel

Meinungsfreiheit in der Merkel-Ära

Die fatale Dynamik des NetzDG

Anthony Glees

Bye-bye Britain

Wie Angela Merkel den Ausschlag zum Brexit gab

Boris Kálnoky

Entfremdung von Deutschland

Merkels Bilanz aus mitteleuropäischer Sicht

Andreas Unterberger

Mutti Germaniae oder Minusfrau?

Wie Merkel in Österreich gesehen wird

Christopher Caldwell

Ungleiche Paare

Bush, Obama, Trump und Biden: Merkels Verhältnis zu den amerikanischen Präsidenten

Erich Vad

Angela Merkel und das Dilemma deutscher Sicherheitspolitik

Zwischen Pazifismus und maroder Bundeswehr

Die Autoren

Über den Herausgeber

PHILIP PLICKERT

Vorwort

Merkel als Scheinriese

Am Ende von 16 Jahren Kanzlerschaft stellt sich die Frage nach Angela Merkels politischer Bilanz und ihrem Erbe. Wie wird sie in die Geschichtsbücher eingehen? Als Riese oder Scheinriese? Strahlt ihr Bild in der Galerie der deutschen Nachkriegskanzler?

So lange wie Helmut Kohl hat sie regiert, den sie auf dem Weg zur Macht vom Sockel der CDU stieß. Länger als Konrad Adenauer, der in der Nachkriegszeit die CDU formte. Adenauer ist als Architekt der Westbindung in die Geschichte eingegangen, Kohl als Kanzler der Wiedervereinigung. Als Willy Brandts wichtigste Leistung gilt die Neue Ostpolitik; Helmut Schmidt riskierte und verlor wegen der von ihm als richtig erkannten NATO-Nachrüstung den Rückhalt in seiner Partei. Gerhard Schröder hat in verzweifelter Lage sozial- und wirtschaftspolitische Reformen gewagt und diesen seine Kanzlerschaft geopfert, aber die Grundlage für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands gelegt.

Was bleibt von Merkel? Sie wird als Krisenmanagerin in die Geschichtsbücher eingehen. Ihre 16 Jahre Kanzlerschaft waren geprägt von einer Abfolge unerwarteter und schwerer Krisen: die Finanzkrise 2007 bis 2009, ab 2010 die Euro- und Staatsschuldenkrise, 2015/2016 die Migrationskrise, zuletzt die Corona-Pandemie. Wie gut Merkel Deutschland durch diese Krisen hindurchmanövrierte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Noch im Sommer 2020 veröffentlichte der britische Journalist John Kampfner eine Lobeshymne in Buchform mit dem Titel Why the Germans Do it Better.

Inzwischen bewundern nicht mehr viele Deutschland, vielmehr wundert sich das Ausland über ein Land, das einst für sein Organisationstalent berühmt war, nun aber vermehrt mit Pannen, Inkompetenz und einer schwerfälligen Verwaltung in der Corona-Krise auffällt. Im zweiten Corona-Jahr wurde viel kritisiert, dass die Impfstoffbeschaffung schlecht gelaufen war und die Impfkampagne im Winter und Frühjahr 2021 zunächst nur sehr schleppend vorankam, während Bürger und Wirtschaft unter immer neuen, teils willkürlich verhängten Lockdowns und Restriktionen litten.

Deutschland erscheint hochgradig nervös, das Vertrauen in das Krisenmanagement hat gelitten. Im Frühsommer gewann die Impfkampagne zwar deutlich an Tempo. Im Vergleich mit Ländern wie Israel oder Großbritannien, die viel schneller und effizienter geimpft haben, erscheint die Bilanz aber keineswegs glänzend. Dieses Versagen gefährdet Tausende Existenzen.

»Nach fast 16 Jahren Merkel ist Deutschland in vielen Bereichen ein Sanierungsfall«, meinte der frühere Linde-Topmanager Wolfgang Reitzle im April 2021 in einem Interview. Eine im Fax-Zeitalter steckengebliebene Bürokratie in Gesundheitsämtern, der eklatante Digitalisierungsrückstand, fehlendes schnelles Internet, massive Mängel in der Infrastruktur und marode Schulen seien Beispiele für Defizite, »die für ein führendes Industrieland beschämend sind«.

Dass Merkels Nachfolger als CDU-Chef, Kanzlerkandidat Armin Laschet, nun »ein Modernisierungsjahrzehnt« verspricht, wirkt wie ein unfreiwilliges Eingeständnis von anderthalb Jahrzehnten Modernisierungsversäumnissen. Auch seine Partei erscheint als Sanierungsfall. Nach dem schlechtesten Wahlergebnis seit 1949 für die Union bei der Bundestagswahl 2017 mit 32,9 Prozent droht ihr im September 2021 ein noch tieferer Absturz.

Eine Karriere scheinbar aus dem Nichts

»Sie kennen mich« – mit diesem Satz warb Angela Merkel vor acht Jahren für ihre Wiederwahl. Doch wer ist Merkel wirklich? Was sind ihre Überzeugungen, was ist Opportunismus? Die ewige Kanzlerin ist eine verschlossene, vorsichtig agierende Politikerin, sie bleibt vielen Beobachtern rätselhaft. Was sie denkt, wissen nur wenige Vertraute. Über ihre frühe Biographie ist kaum etwas bekannt. 1989 tauchte sie scheinbar aus dem Nichts auf der politischen Bühne auf, machte eine Blitzkarriere, die sie ins wichtigste Regierungsamt der Republik geführt hat. In ihrer Partei galt sie jahrelang als »alternativlos«. Doch was sind ihre Verdienste, was waren ihre größten Fehler? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander.

Merkels politische Karriere erscheint im Rückblick unglaublich. Geboren 1954 in Hamburg als Angela Kasner, Tochter eines »roten« Pfarrers, der mitsamt Familie in die DDR überwechselte, hat die DDR-Zeit sie wohl tiefer geprägt, als viele annehmen. In der DDR konnte sie Physik studieren und arbeitete dann an der Akademie der Wissenschaften. Sie blieb scheinbar politisch unauffällig. Im Wendejahr 1989 wurde Merkel plötzlich auf die große politische Bühne katapultiert. 1990 trat sie in die CDU ein, schon zwei Jahre später saß sie als »Kohls Mädchen« im Bundeskabinett. Ende 1999 stürzte sie in der Spendenaffäre ihren politischen Ziehvater vom Sockel und eroberte die CDU-Spitze. 2005 gewann sie, allerdings knapp, die Bundestagswahl und wurde als erste Frau Bundeskanzlerin. Nach 16 Jahren wird sie das Kanzleramt im September 2021 verlassen. Kein anderer Regierungschef der westlichen Welt hat sich in stürmischen Zeiten so lange halten können.

Für ihre Fans war Merkel lange eine Lichtgestalt. Als »letzte Verteidigerin des liberalen Westens« bezeichnete die New York Times sie nach der Wahl Donald Trumps Ende 2016. Die Brüsseler Ausgabe von Politico verstieg sich zur selben Zeit zu der Überschrift, Merkels neuer Job sei »global savior« (globaler Heiland). Solch überzogene Erwartungen sind gefährlich, denn zwischen Schein und Sein klaffte eine Lücke. Je mehr man Merkels politisches Wirken näher untersucht, desto brüchiger wird der Heiligenschein, den ihr manche Journalisten andichteten, desto mehr schrumpft die politische Riesengestalt. Merkel ist ein Scheinriese, eine gewiefte, aber überschätzte Politikerin.

Lässt man die 16 Merkel-Jahre Revue passieren, findet man mehrere planlose Entscheidungen und abrupte, opportunistische Wenden – mit gravierenden Konsequenzen für Deutschlands gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand. Das von ihren Spin Doctors gezeichnete Bild einer Kanzlerin, die alle Dinge »vom Ende her denkt«, die kühl-naturwissenschaftlich die Konsequenzen, Chancen und Risiken abwägt, ist Fiktion. Vielmehr hat Merkel in entscheidenden Phasen – in der Euro-Krise, bei der Energiewende und in der Asylkrise – ohne Plan gehandelt. Sie fuhr »auf Sicht« und hat sich dabei mehrfach verirrt. Bei der Energiewende ließ sie sich von Ängsten in Medien und Bevölkerung leiten. In der Migrationskrise hat sie kopflos gehandelt und nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa ein gewaltiges Problem aufgeladen.

In der Corona-Krise schien sich Deutschland 2020 zunächst gut zu schlagen. Dann aber traf Merkel die Fehlentscheidung, die Impfstoffbeschaffung der EU-Kommission zu übertragen, die dafür keine Kompetenzen und keine Erfahrung in Verhandlungen mit globalen Pharmakonzernen besaß. Brüsseler Beamte feilschten über Monate mit potenziellen Impfstoffherstellern über Preise, Haftungsfragen und Mengen. Der bürokratische Einkauf führte dazu, dass Europa später und schlechter mit Vakzinen versorgt wurde. Dazu kam, dass die Immunisierungskampagne anfangs sehr inflexibel und schlecht organisiert war. Wertvolle Monate wurden verspielt, das hat weitere Menschenleben gekostet und volkswirtschaftliche Milliardenschäden verursacht. Das planlose Agieren der Politik bei der Bekämpfung der Seuche zog immer neue repressive Maßnahmen, serielle Lockdowns und Freiheitseinschränkungen nach sich, wie der Journalist Alexander Kissler in diesem Band analysiert.

Enttäuschung im liberal-konservativen Lager

In diesem Buch nähern sich renommierte Wissenschaftler, Publizisten und Publizistinnen dem Phänomen Merkel in seinen verschiedenen Facetten. Sie liefern differenzierte, kritische Analysen ihres Wirkens. Die 24 Autoren entstammen einem liberal-konservativen intellektuellen Milieu, sind eigentlich Sympathisanten einer bürgerlichen Regierung; einige sind CDU-Mitglieder. Doch ist die Irritation bei vielen groß. Durch opportunistische Kehrtwenden und die Linksverschiebung der Union hat Merkel zur Entfremdung des klassischen Bürgertums von der CDU beigetragen, es in Teilen politisch heimatlos gemacht. Die vorliegende Merkel-Bilanz ist somit auch ein Dokument der Enttäuschung konservativer und liberaler Kreise über die Kanzlerin.

Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz befasst sich im ersten Text des Bandes mit ihrem politischen Stil. Merkels modische Unauffälligkeit, ihre kolportierte Uneitelkeit, ihr Fleiß und intelligenter Opportunismus, die Rolle als »Mädchen« in Kohls Kabinetten, das von allen Konkurrenten unterschätzt wurde, die Merkel-Raute als Erkennungszeichen, die vage Rhetorik, das »Schweigen als Waffe«, der Mythos der Naturwissenschaftlerin – all dies sind für Bolz Elemente des merkelschen Erfolgsrezepts. Er zeigt, dass die Kanzlerin einen autoritären Politikstil betrieb, der nicht auf einem offenen, demokratischen Diskurs beruhte, sondern auf der Verweigerung von Debatten.

Ein Dauerbegleiter von Merkels Kanzlerschaft war die Euro-Krise. Das Projekt der europäischen Einigung bekam tiefe Risse. Dazu hat die deutsche Regierungschefin beigetragen. De facto ist die Bundesrepublik Zahlmeister, wird aber im Süden wie ein Zuchtmeister wahrgenommen. Noch folgenreicher war Merkels Alleingang in der Flüchtlingskrise mit ihren Signalen zur unbegrenzten Aufnahme von Asylbewerbern. Dies hat nicht nur ihre Partei und Europa gespalten, wie mehrere Autoren dieses Buches kritisieren, sondern beim britischen EU-Referendum das Brexit-Lager zum Erfolg geführt – so der Londoner Politikwissenschaftler Anthony Glees. Mit dem Brexit verlor Deutschland einen wichtigen Verbündeten in der EU. Während Merkel in der Euro-Krise auf Dutzenden Gipfeltreffen darum kämpfte, das kleine, periphere Griechenland an Bord zu halten, zeigte sie den Briten die kalte Schulter.

Die Flüchtlingskrise 2015/2016 ist die eigentliche Zäsur ihrer Kanzlerschaft gewesen. Von »Merkel-Dämmerung« war plötzlich die Rede. Die CDU hat danach in mehreren Landtagswahlen schwere Niederlagen erlitten. Schon zuvor hatte es Merkel zugelassen, dass eine Partei rechts der Union aufsteigt: Die AfD wurde als Protestpartei gegen Merkels Euro-Politik gegründet, den richtigen Schub bekam sie durch ihre Flüchtlingspolitik. Damit zeichnet sich eine langfristige tektonische Verschiebung in der parteipolitischen Landschaft ab, analysiert der Politologe Werner Patzelt.

Mit ihrer Politik der anfangs unbegrenzten und unkontrollierten Aufnahme von Asylbewerbern und Migranten hat Merkel nicht nur Deutschland und die Unionsparteien, sondern ganz Europa gespalten, schreiben die Journalisten Andreas Unterberger und Boris Kálnoky in diesem Band. »Merkel, die bis dahin als nüchterne, gefühllose Pragmatikerin gegolten hatte, wurde in Mittelosteuropa zum Inbegriff überheblich moralisierender Inkompetenz am Steuer des mächtigsten Landes in Europa«, bemerkt Kálnoky. Während die Balkanländer die Hauptroute der Migranten schlossen, was Merkel kritisierte, fädelte sie etwas später den umstrittenen Deal mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdoğan ein. Damit wurde Deutschland abhängig von einem autoritären Neo-Sultan.

Die starke Wirtschaft als Erbe früherer Reformen

Wahlen werden oft mit Wirtschaftsthemen gewonnen oder verloren. »It’s the economy, stupid«, sagte einmal ein Berater des früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Auch die CDU verwies gerne auf die angeblich bärenstarke Wirtschaftsbilanz der Kanzlerin. Anders als in vielen Ländern Europas, besonders im Süden, ist die deutsche Arbeitslosigkeit niedrig. Das Land glich – vor Corona – einer Insel der Seligen inmitten eines Meeres von Euro-Schulden, chronischer Arbeitslosigkeit im Süden und stagnierender Einkommen. Die wirtschaftliche Stärke Deutschlands wurde im Ausland bewundert – und gefürchtet. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nannte sie im Wahlkampf »unerträglich«.

Man muss allerdings die Frage stellen, ob die starke Wirtschaft Merkels Verdienst ist. Henning Klodt und Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft zeigen in ihrem Beitrag, dass Merkel vor allem von der Arbeit der Vorgängerregierung profitierte. Das »Beschäftigungswunder« ist größtenteils den Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder, seiner »Agenda 2010«, zu verdanken, der dafür mit seinem Amtsverlust bezahlte. Hinzu kommt die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), deren Nullzins- und sogar Negativzinspolitik der Konjunktur einen Extraschub gibt, den Sparern aber Milliardeneinbußen beschert.

Die Haushaltskonsolidierung unter den Finanzministern Schäuble und Scholz geschah größtenteils über die Einnahmeseite – durch eine steigende Steuer- und Abgabenlast. In den Merkel-Jahren ist die Abgabenquote kontinuierlich gestiegen und zählt für Normalverdiener zu den höchsten unter den OECD-Staaten. Gleichzeitig wurden Investitionen in die Infrastruktur über Jahre vernachlässigt, Deutschland lebte von der Substanz, indem der Staat weniger in Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude investierte, als durch Verschleiß verlorenging. Die Bürger zahlen hohe Steuern, es bleibt wenig für den Vermögensaufbau. Auch wirtschaftlich kann daher die »reiche« Bundesrepublik zum Teil als Scheinriese gelten, der für angeschlagene Euro-Länder mithaftet.

Die Euro-Krise ist zudem noch nicht überstanden, wie der britische Währungsexperte David Marsh schreibt. Griechenland, obwohl aus den Schlagzeilen verschwunden, ist weiterhin ein Sorgenkind des Euroraums. Bei realistischer Betrachtung wird ein Großteil der an das Land vergebenen dreistelligen Milliarden-Hilfskredite abzuschreiben sein. Das kostet Deutschland einen zweistelligen Milliardenbetrag. In der Euro-Krise nach 2010 hat sich der Charakter der Währungsunion schleichend in eine Haftungsunion verwandelt. Das »No Bailout«-Prinzip als Sicherung gegen eine Schulden- und Transferunion, das die deutsche Politik beschwor, als Helmut Kohl die widerstrebenden Deutschen in die Währungsunion führte, ist ausgehöhlt worden. »Was kostet uns der Euro?«, hieß es auf einem inzwischen legendären CDU-Wahlplakat zur Europawahl 1999. »Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen? – Ein ganz klares Nein.« Aufgrund der Maastricht-Stabilitätskriterien könnten »die Euro-Teilnehmerstaaten … auf Dauer ohne Probleme ihren Schuldendienst leisten«. Soweit das Versprechen, das nicht eingehalten wurde.

Die Kanzlerin leistete in der Euro-Krise zwar Lippenbekenntnisse zum »No Bailout«-Prinzip. Faktisch kam es aber doch zu einer Vergemeinschaftung der Schulden, wie David Marsh beschreibt. Zum einen über die Rettungskredite, zum anderen über das Target-Zahlungssystem, eigentlich ein bloßes Zahlungsabwicklungssystem der Notenbanken, das aber seit Ausbruch der Euro-Krise für gigantische Überziehungskredite der Südländer genutzt wird. Im Corona-Jahr 2020 stiegen die Target-Schulden der Krisenländer weiter; die deutschen Target-Forderungen belaufen sich erstmals auf mehr als 1.000 Milliarden Euro. Fraglich ist, wie es um die demokratisch-rechtliche Legitimation der Euro-Rettungspolitik steht, die von Merkel als »alternativlos« durchs Parlament gepeitscht wurde.

Planwirtschaft statt Marktwirtschaft

Als zweites Milliardengrab entpuppt sich die sogenannte Energiewende. Kurz nach dem Fukushima-Unglück im März 2011 verkündete Merkel einen abrupten Schwenk hin zu einem beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie. Kein anderes Land der Welt folgte ihrem Beispiel, selbst Japan nicht, das von dem Unglück unmittelbar betroffen war.

Deutschland reist mit der Energiewende in eine ungewisse Zukunft. Der frühere Umwelt- und heutige Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat die Gesamtkosten auf 1 Billion Euro geschätzt. Eine Studie des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie DICE um den Ökonomen Justus Haucap kommt allein bis 2025 auf mehr als 500 Milliarden Euro Kosten zulasten der Verbraucher. Haucap kritisiert den energiepolitischen Sonder- und Irrweg in diesem Buch vor allem deshalb, weil er planwirtschaftlich angelegt ist und damit übermäßig hohe Kosten verursacht.

Das Absurde dabei ist, dass die klimapolitische Wirkung der deutschen Energiewende praktisch gleich null ist. Keine Tonne CO2 wird in Europa eingespart, denn die Gesamtmenge der CO2-Emissionen ist durch den europäischen Emissionshandel gedeckelt. Verbraucht Deutschland weniger CO2-Zertifikate, fällt deren Preis, und andere Länder und Industrien kaufen mehr Zertifikate: Die Gesamtmenge der Emissionen bleibt absolut gleich. Die Kanzlerin, die sich von den Medien als »Klimakanzlerin« feiern ließ, ist hier eindeutig ein Scheinriese.

Der Publizist Roland Tichy vergleicht die Energiewende mit anderen technologiepolitischen Großprojekten wie dem amerikanischen Apollo-Raumfahrtprogramm und der sowjetischen Agrarforschung. Für ihn ist die deutsche Energiepolitik vor allem von Ideologie getrieben. Auch der von Merkel forcierte Plan zur Elektromobilität mit der bis heute nicht erreichten Zielvorgabe, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf die Straße zu bringen und dafür hohe staatliche Kaufsubventionen zu zahlen, atme planwirtschaftlichen Geist.

Im direkten Vergleich mit Ludwig Erhard, dem Gründervater der Sozialen Marktwirtschaft, schneidet die Kanzlerin miserabel ab, resümiert der Historiker Daniel Koerfer. Merkel fehle der ordnungspolitische Kompass. Die wirtschaftlichen Grundprinzipien der Bundesrepublik – individuelle Freiheit und Verantwortung, Wettbewerb und stabiler staatlicher Rahmen – seien in ihrer Kanzlerzeit beschädigt worden. Die Steuer- und Abgabenquote liegt in Deutschland mit über 50 Prozent Grenzbelastung für einen Normalverdiener auf dem zweithöchsten Niveau aller Industrieländer. Aus liberaler Perspektive seien die Merkel-Jahre verlorene Jahre. Auch im Vergleich mit Margaret Thatcher, der früheren britischen Premierministerin, schneidet Merkel schlecht ab. Während die Britin als »Eiserne Lady« stets zu marktwirtschaftlichen Prinzipien stand, sei Merkel flexibel bis zur Beliebigkeit, schreibt der Historiker Dominik Geppert.

Im Migrationschaos: Wie »Mutter Angela« die Flüchtlinge einlud

Besonders aufgewühlt hat die Deutschen und alle Europäer Merkels Flüchtlings-, Migrations- und Integrationspolitik. Mehrere Beiträge in diesem Band analysieren, was bis heute falsch läuft und welche Verantwortung Merkel daran trägt. Die Publizistin Cora Stephan kritisiert ein eklatantes Regierungsversagen. Aus Angst vor »unschönen Bildern«, wenn Flüchtlinge und Migranten zurückgewiesen würden, scheute Merkel davor zurück, den schon vorliegenden Befehl an die Bundespolizei zur Grenzsicherung im Herbst 2015 zu unterzeichnen. Bis heute sind ihre Motive für die Flüchtlingspolitik umstritten. Merkel habe ein angeblich »warmes Herz« über den kühlen Verstand gestellt, meint Stephan, wohl auch, weil sie die medial inszenierte Willkommenseuphorie falsch einschätzte. Auch als die Stimmung längst gekippt war, hielt die Kanzlerin noch monatelang an ihrem »Wir schaffen das«-Kurs fest.

Für einen fundamentalen Kurswechsel in der Migrations- und Asylpolitik plädiert der frühere SPD-Politiker Thilo Sarrazin. Die langfristige finanzielle Belastung durch die Flüchtlinge schätzt er auf bis zu 1 Billion Euro. »Für noch schwerwiegender als die finanziellen Kosten halte ich die sozialen Kosten und die langfristigen Risiken einer millionenfachen Einwanderung aus islamischen Ländern«, schreibt Sarrazin. Nötig wäre ein radikaler Schwenk – hin zu einer nach Qualifikation steuernden Einwanderungspolitik und einem Asylsystem, das nicht länger faktisch ein Einfallstor für unkontrollierte Zuwanderung ist.

Aus einer anderen Perspektive beurteilt der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn die Entscheidungen der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise. Zwar kritisiert er, dass sie eine chaotische Immigration zugelassen habe. Dennoch, so betont Wolffsohn, leitete Merkel ein »humanitärer Imperativ«. Das sei lobenswert, gerade angesichts der deutschen Geschichte. Allerdings kritisiert auch er, dass die heutige Asylpolitik zu neuen Problemen führe. Man importiere mit der muslimischen Massenimmigration die Konflikte des Orients, neue Integrations- und Sicherheitsprobleme. Wer das aber kritisiere, werde als »Populist« rasch in die rechte Ecke gestellt und diffamiert.

Der deutsch-jüdische Schriftsteller Rafael Seligmann erklärt, dass viele Juden in Deutschland mit Blick auf Merkels Flüchtlingspolitik gemischte Gefühle haben: Einerseits unterstützen sie die Absicht, Verfolgten zu helfen, doch angesichts der muslimischen Massenimmigration fürchten viele das Konfliktpotenzial und zunehmenden Antisemitismus. Noch deutlicher wurde der Philosoph Alain Finkielkraut in einem Interview mit der ZEIT: »Ich habe Angst vor Merkels Gesinnungsethik.« Die Deutschen unter Merkel seien blind für die mit einer muslimischen Masseneinwanderung verbundene Gefahr der Islamisierung, warnte der Philosoph aus Frankreich, das mit muslimisch-arabischen Parallelgesellschaften in seinen Vorstädten schlimme Erfahrungen macht. Islamistische Attentate kosteten in Frankreich seit 2015 mehr als 250 Todesopfer.

Die türkisch-deutsche Soziologin Necla Kelek analysiert in ihrem Beitrag die Entwicklung der Integration in Deutschland in den Merkel-Jahren. Ihr hartes Urteil: Es waren »verlorene Jahre«. Die Integration der Muslime sei zu einem großen Teil missglückt. »Integration ist das Fake-Wort des Jahrzehnts, die einzige Lüge, für die es eine eigene Beauftragte der Bundesregierung gibt«, schreibt Kelek. Die »Islamkonferenzen« wurden von Islamverbänden mit problematischem Hintergrund und fragwürdiger Verfassungstreue dominiert. Der türkische Präsident Erdoğan spielte sich auf, als wäre Deutschland seine Provinz. Mit Blick auf die hiesigen Türken beklagt Kelek sich verfestigende Parallelgesellschaften. In zahlreichen Moscheen werde gegen die Integration gepredigt. Die Regierung Merkel habe das zu lange geduldet.

Linksverschiebung, verflachtes Profil, offene Flanke

Zu Merkels bleibendem Erbe zählt die Verschiebung des Parteienspektrums. Eine Zeit lang war die als »Modernisierung« bezeichnete Linksverschiebung der Union und die Strategie der »asymmetrischen (De-)Mobilisierung« (eher linke Themen wurden übernommen, um linke Wähler einzuschläfern) für die Union wahltaktisch erfolgreich. Doch auf die Dauer hat Merkel damit viel Raum rechts neben der CDU gelassen. In diese Repräsentationslücke ist die AfD als neue Konkurrenz von rechts vorgedrungen. Nun rächt sich, dass Merkel den rechten Flügel der Union verdorren ließ. Enttäuschte CDU-Mitglieder gehörten zu den AfD-Mitgründern. Was CSU-Übervater Strauß verhindern wollte – die Etablierung einer demokratisch legitimierten Partei rechts der Union –, ist unter Merkel Realität geworden. Außerdem fremdelte die sozialdemokratisierte CDU in der Koalition mit der FDP und sah deren Absturz 2013 ungerührt zu – eine bittere Erfahrung für die Liberalen.

Auch das C-Profil der Union hat sich unter Merkel stark verwässert, kritisiert der Sozialethiker Wolfgang Ockenfels in seinem Beitrag. Aus dem hohen C drohe ein »hohles« C zu werden. Über die Sozialdemokratisierung der CDU-Familienpolitik schreibt die Publizistin Birgit Kelle. Den Lebensentwurf von Müttern, die sich auf die Erziehung der Kinder konzentrieren und keine Erwerbsarbeit ausüben, bezeichnete Merkel in anmaßender Weise als »Vergeudung weiblicher Potenziale«. Faktisch habe die CDU ihr altes Familienbild entsorgt und sich der SPD-Familienpolitik mit (meist staatlicher) Fremdbetreuung der Kinder angepasst. Es drohe eine »DDR 2.0«, meint Kelle.

Von der DDR-Prägung Merkels, ihrer »doppelten Biographie«, handelt der Beitrag des Historikers Ralf Georg Reuth. Merkel spreche nicht ehrlich über die Zeit vor der Wiedervereinigung. Reuth hat aus Archivquellen und Zeitzeugenbefragungen ein Bild ihres »ersten Lebens« rekonstruiert, das Merkel als eine intelligente Opportunistin im SED-Regime zeigt. Im Wendejahr 1989 schloss sie sich dem »Demokratischen Aufbruch« an, einer Partei von Reformsozialisten, die die DDR reformieren, nicht abschaffen wollten. Erst als diese Illusion platzte, wechselte Merkel das Vehikel, das sie zur Macht bringen sollte. Reuth bezweifelt, dass die Kanzlerin tiefe Grundüberzeugungen habe; sie sei vielmehr eine extrem wendige Frau, die Politik als kalkuliertes Machtspiel betreibt.

Der Jurist Joachim Steinhöfel analysiert in seinem Beitrag, wie das von der Merkel-Groko verabschiedete Netzwerkdurchsuchungsgesetz (NetzDG) eine fatale Dynamik in Gang gesetzt hat und die Meinungsfreiheit in den Sozialen Medien durch exzessives Blockieren und Löschen legaler Meinungsäußerungen gefährdet.

Ein schwieriges Erbe

Am Schluss des Buches werfen zwei Beiträge einen Blick auf die weltpolitische und sicherheitspolitische Lage. Der amerikanische Publizist Christopher Caldwell beschreibt die vier ungleichen transatlantischen Paare Merkel-Bush, Merkel-Obama, Merkel-Trump und Merkel-Biden. Mit Obama war das Verhältnis eng, mit Trump hatte sie es schwer. Ironischerweise war die Kanzlerin an Trumps Wahl nicht ganz unschuldig, ihre Flüchtlingspolitik hat ihm im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 als Negativbeispiel genutzt. Trump warnte, Hillary Clinton wolle »Amerikas Angela Merkel« sein und das Land mit Fremden fluten. Nicht wenige Medien beschrieben Obamas Abschiedsbesuch in Berlin Anfang 2017 als eine Staffelübergabe des scheidenden »Führers der freien Welt« an seine Nachfolgerin.

Aber es war natürlich eine Illusion, dass Merkel eine Weltführerin sein könnte, gar die »letzte Verteidigerin des liberalen Westens«, schreibt General Erich Vad, der mehrere Jahre lang führender sicherheitspolitische Berater im Kanzleramt war. Dafür sei Deutschland militärisch und außenpolitisch viel zu schwach. Deutschland fehle eine sicherheitspolitische Strategie, die marode Bundeswehr sei kaum einsatzbereit. Persönlich hat er die Kanzlerin als erstaunlich unerschrocken erlebt, etwa als ihr Hubschrauber einmal im afghanischen Grenzgebiet von Taliban mit Raketen beschossen wurde. Die Kontrolle über ihre Emotionen hat Merkel oft genutzt; in zentralen politischen Krisen hat sie die Kontrolle jedoch verloren und kopflos gehandelt.

Merkel war ein »Chamäleon der Macht«, das spielend seine Farbe wechselte und sich der Umgebung anpasste, sodass sie in der Bundesrepublik eine erstaunliche Karriere machte. Als Machiavellistin und geschickte Machttaktikerin hat sie sich 16 Jahre im Kanzleramt gehalten, Gegner und Konkurrenten kaltblütig abserviert, auf pragmatische, sehr flexible Weise inhaltliche Überzeugungen abgelegt, der politischen Konkurrenz Themen und Programmpunkte gestohlen, die CDU sozialdemokratisiert und vergrünt. Zu ihrem Erbe zählt eine vordergründig »modernisierte«, aber letztlich profillose, inhaltlich entkernte und beliebig gewordene Partei, die sich nur noch als Kanzlerwahlverein verstand und wenig profilierte und talentierte Nachwuchsköpfe hervorbrachte.

Das Bild von Angela Merkel, das die Autoren und Autorinnen dieses erweiterten und aktualisierten Bandes zeichnen, ist nicht schmeichelhaft. Sie sehen eine Politikerin, die trotz mancher Leistungen auch gravierende Fehler gemacht hat. Ihre Partei ist in eine äußerst schwierige Lage geraten. Merkel nutzte, dass die SPD nur schwache Herausforderer aufstellte. Der kurze Medien-Hype um den SPD-Kandidaten Martin Schulz im Frühjahr 2017 verpuffte, sein »Schulz-Zug« entgleiste.

Doch schon 2017 hatte Merkel den Zenit ihrer Macht überschritten. In der Endphase ihrer Kanzlerschaft nahmen die Konflikte in der Schrumpf-Groko und in ihrer Partei zu. Immer dringlicher wurde die Frage diskutiert, wer nach ihr kommt, denn nichts und niemand ist alternativlos. Nach der CDU-Niederlage bei der Landtagswahl in Hessen im Oktober 2018 erklärte sie ihren Rücktritt als Parteivorsitzende. Die von ihr geförderte Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Vorsitzende seit Dezember 2018, erwies sich als blasse, glücklose Parteichefin, die angesichts des orientierungslosen Sinkflugs der Partei machtlos erschien.

Der letzte Akt des AKK-Trauerspiels kam im Winter 2020 mit der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten in Thüringen. Dieses überraschende Wahlergebnis, zustande gekommen auch mit AfD-Stimmen (Merkel: »unverzeihlich«, »sofort rückgängig machen«), und die Reaktion der Landtagsfraktion in Erfurt auf AKKs Eingreifen zeigten die innere Zerrissenheit der CDU und den Autoritätsverlust der Parteivorsitzenden. Am 10. Februar kündigte AKK – nach nur 14 Monaten als CDU-Vorsitzende – ihren Rücktritt vom Parteiamt an. Ihr Scheitern war auch Merkels Scheitern, der es somit nicht gelungen war, die handverlesene Wunschnachfolgerin dauerhaft zu installieren. Nach coronabedingter Verschiebung gab Kramp-Karrenbauer endlich Anfang 2021 den Parteivorsitz ab. Der Merkelianer Armin Laschet besiegte (mit Unterstützung Merkels hinter den Kulissen) seinen (und ihren) Konkurrenten Friedrich Merz und konnte sich mit Ach und Krach gegen Markus Söder als Kanzlerkandidat von CDU und CSU durchsetzen.

Am Ende von Merkels Kanzlerschaft ist sogar ein Totalschaden der Union nicht ganz auszuschließen: eine Wahlniederlage im September 2021 und der Verlust des Kanzleramts. In einigen Umfragen ist die Union nach der Nominierung Laschets als Kanzlerkandidat hinter die Grünen mit ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gerutscht. Auf die CDU-Kanzlerin, die ihrer Partei schon einen Großteil grüner Agenda injiziert hatte, könnte tatsächlich eine Grünen-Kanzlerin folgen. Die Union dürfte dann nur noch als Juniorpartner fungieren. Das wäre eine Demütigung für die langjährig die Bundesrepublik dominierende Partei, ein Schock, der ihr Ende als letzte verbliebene Volkspartei einleiten könnte.

Der von vielen Medien befeuerte Grünen-Hype entspringt dem Traum des linksliberalen, ökosozialen Juste Milieu, unterstützt vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und angegrünten bürgerlichen Zeitungen. Erstaunlicherweise machte Merkel keine Anstalten, ihrer Partei zu helfen. Sie werde keine Wahlkampfauftritte absolvieren, hieß es aus dem Adenauer-Haus.

Auch wenn die Umfragewerte der Grünen nach dem extremen Höhenflug im April und Mai wieder etwas sanken, erscheint die Union schwer angeschlagen. Sie taumelt orientierungs- und hilflos, innerlich zerrissen. Selbst wenn sie das Szenario Machtverlust vermeiden kann, stehen der Union in der Zeit nach Merkel quälende Konflikte und Fragen nach ihrem künftigen Profil bevor.

London, im Mai 2021

Philip Plickert

NORBERT BOLZ

Merkels Erfolgsgeheimnis

Über den autoritären machtpolitischen Stil der Kanzlerin

Wie konnte aus Helmut Kohls »Mädchen« die mächtigste Frau der Welt werden? Um diese Frage zu beantworten, muss man beim Äußerlichen anfangen, nämlich ihrer Unauffälligkeit. Angela Merkel hat vor allem eines nicht: Charisma. Deshalb hat man sie von Anfang an unterschätzt. Als sich dann, nach ihrer erstaunlich dauerhaften Selbstbehauptung an der Machtspitze, weder die Politiker noch die Journalisten weiter trauten, sie als »Mädchen« zu belächeln, wurde sie Deutschlands »Mutti«. Aber auch durch diese ironisch-respektvolle Umetikettierung änderte sich das Entscheidende nicht.

Nach wie vor liegt der Akzent auf ihrem asexuellen Auftritt. Das hat Christine Eichel in ihrem schönen Buch über das deutsche Pfarrhaus als Hort des Geistes und der Macht überzeugend herausgearbeitet: »Die modische Zurückhaltung der Kanzlerin wirkt auch deshalb adäquat, weil sie mit ihren immer gleichen farbigen Blazern und schwarzen Hosen im Grunde die Uniform der Dienenden trägt. Nicht die Staatslenkerin steht am Rednerpult, sondern die Staatsdienerin. Keine modische Übertreibung, keine Weiblichkeit, keine Koketterie lassen das Amt hinter der Person zurücktreten. Sie gibt sich so asexuell, wie man die Frauen in Pfarrhäusern gern hatte. Schon in der Schule hieß es, sie hätte keinem Jungen die Augen verdreht. Uniformen wie auch der Talar des Pfarrers vermitteln eine Botschaft: Ich nehme mich nicht wichtig, ich gehe in meinem Berufsstand auf und ordne ihm Persönliches unter.«

Die Mutti eines neuen Biedermeiers

Am Beginn ihrer politischen Karriere war Angela Merkel nicht nur eine uninteressante Erscheinung, sondern geradezu auffallend unauffällig. Ihr Image hatte deshalb nur zwei Entwicklungsdimensionen: Fleiß und Selbstbeherrschung. Dass dies von den Deutschen als authentischer, überzeugender Auftritt empfunden wurde, kann man aber nur verstehen, wenn man sich daran erinnert, gegen wen sich das Pfarrhausmädchen aus der DDR durchgesetzt hat. Angela Merkel hatte das Glück, einen doppelten Kairos zu erwischen. Zum einen gab es mit dem Spendenskandal der CDU die unverhoffte Möglichkeit, den Koloss aus Oggersheim zu stürzen. Zum anderen hatte die »Agenda 2010« die rot-grüne Regierung in eine Krise gestürzt.

Durch diese Krise wurden zwei Figuren demontiert, die bisher souverän die politische Szene beherrscht hatten. Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren Glamour-Boys mit männlichem Sex-Appeal, denen das Regieren Spaß machte. Schröder war der Genosse der Bosse, der gerne im Brioni-Anzug und mit Cohiba-Zigarre auftrat. Er war ein echtes politisches Tier, das ganz von unten kam und erfolgreich am Gitter des Kanzleramts gerüttelt hatte. Unvergessen ist sein »Basta!«, mit dem er im Herbst 2000 der Gewerkschaft ÖTV die Riester-Rente einbläute. Schon zwei Jahre zuvor hatte Schröder mit der flapsigen Formel »Familie und Gedöns« für das Familienministerium eine Probe seiner Macho-Rhetorik gegeben. Ähnlich faszinierend war auch der Auftritt des ehemaligen Taxifahrers und Straßenkämpfers Fischer, der zunächst als hessischer Turnschuh-Minister die Medienöffentlichkeit entzückte und schließlich als Außenminister für alle deutlich sichtbar die Last der Welt auf seinen Schultern trug. Angela Merkel war die exakte Gegenfigur zu diesen Machos Schröder und Fischer. Nach den Rock’n’Rollern und Streetfighting Men kam die Mutti eines neuen Biedermeier.

Nach dem Fall der Mauer betrat ein analytischer Kopf die politische Bühne. Sie war fleißig und diszipliniert, kinderlos, geschieden und, seien wir ehrlich, manchmal hässlich. Aber gerade das schützte sie vor der Eitelkeit, die Schröder und Fischer zu Fall gebracht hat. Unter der kommunistischen Diktatur war Merkel keine Widerstandskämpferin gewesen. Aber sie hat den Zusammenbruch des Kommunismus sofort entschlossen für einen Sprung in die Politik genutzt. Nun könnte man vermuten, dass ihre Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus sie für die Partei der reinen Gesinnungsethiker disponieren würde. Aber Angela Merkel stammte eben nicht nur aus einem protestantischen Pfarrhaus, sondern aus einem in der DDR. Von Kindesbeinen an hatte sie einen intelligenten Opportunismus im Verhältnis zur DDR eingeübt. Man könnte auch sagen: die Kunst des Überlebens. Und deshalb war ihr Machiavelli genauso nah wie die Bergpredigt.

Dafür gibt es ein interessantes Symptom. Wenn wir davon ausgehen, dass in der Medienwirklichkeit der Auftritt, die Performanz zählt, dann muss sich unsere Aufmerksamkeit auf Merkels berühmte eingefrorene Geste richten: die Raute. De facto resultiert sie aus dem Versuch, einen stabilen Platz für die Arme zu finden, mit denen sie nichts anzustellen weiß. Mittlerweile aber ist sie zum weltweit bekannten Symbol geworden. Für was? Für Ruhe und Kraft, Harmonie und Zusammenführung, Besonnenheit und Status quo – you name it!

Wille zur Macht und alternativlose Politik

Für die CDU war die Raute schließlich das Nonplusultra des Wahlkampfs. Aber man kann in Angela Merkels Raute auch eine Demutsgeste sehen, die ihren Machiavellismus verdeckte. Und aus dieser Perspektive können wir schon eine erste Antwort auf unsere Ausgangsfrage geben: Der Aufstieg von Kohls »Mädchen« zur mächtigsten Frau der Welt war deshalb so verblüffend, weil man Angela Merkel aufgrund ihres bescheidenen, unprätentiösen Auftretens eines am allerwenigsten zugetraut hätte: einen gewaltigen Willen zur Macht.

Demokratie muss man üben, und Menschen, die in der freien Welt aufgewachsen sind, haben gute Chancen, sie von Kindesbeinen an zu lernen. Aber Angela Merkel hatte vor ihrem Sprung in die westdeutsche Politik nur unter der SED-Diktatur gelebt. Da konnte sich Freiheitsverlangen bilden, aber kein alltägliches Demokratieverständnis. Demokratie hat sie sich buchstäblich angelesen. Ihre analytische Schärfe und ihre Durchsetzungskraft werden ja weltweit bewundert, aber sie gehen mit der autoritären Attitüde einher, stets die absolut richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wer das in Zweifel zieht, wird aus dem Verkehr gezogen oder mundtot gemacht. Diese Rhetorik der Alternativlosigkeit hat für viele Menschen natürlich einen Entlastungseffekt. Man musste nur Mutti folgen, dann ordnete sich die Welt. Aber diese Rhetorik hat eben auch den Effekt, dass sich innerhalb der CDU und der Regierung gar kein Alternativenbewusstsein mehr bilden konnte. Deshalb war es gar nicht überraschend, dass sich angesichts der Euro-Krise und des Griechenland-Debakels, als Angela Merkel erstmals penetrant behauptete, es gebe zu ihrer Politik keine Alternative, eine neue Partei bildete, in deren Namen schon das ganze Programm steckte: Alternative für Deutschland. Was auch immer aus dieser neuen Partei geworden sein mag – ihr Gründungsimpuls war zutiefst demokratisch.

Alternativlos präsentierte sich aber nicht nur Merkels Politik, sondern auch ihre Person. Die seltenen Talkshows mit ihr, in denen sie natürlich der einzige Gast war, verwandelten sich in unterwürfige Hofberichterstattung. Als Merkel ein einziges Mal explizit einen Fehler zugab – nach dem Chaos um die zwangsverlängerten »Osterruhe-Tage« im Corona-Jahr 2021 (»Das war einzig und allein mein Fehler«) –, da priesen Medien ihre Größe, einen Fehler zuzugeben und ihn auf sich zu nehmen. In Peter Altmaier verfügte sie lange Zeit über eine rhetorische Dampfwalze, die den Weg ihrer alternativen Politik planierte. Und wer sonst noch als Christdemokrat öffentlichkeitswirksam auftreten wollte, musste sich der Schar der Schmeichler und Mutti-Anhänger anschließen. Über die meiste Zeit ihrer Kanzlerschaft wagte es fast niemand, gegen sie aufzustehen. Auch der damalige CSU-Chef Seehofer bildete da keine Ausnahme. Obwohl er mit seiner Forderung einer Obergrenze für den Flüchtlingszustrom 2015 bis 2017 die schärfste Antithese zur Politik von Angela Merkel formulierte, musste er sie dann doch als einzig mögliche Kanzlerin der nächsten vier Jahre anpreisen.

Es war Merkels größte Stärke, ihre Schwächen in Stärken verwandeln zu können. Wie geschickt sie ihre Unscheinbarkeit als Statement von Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit inszenierte, haben wir bereits gesehen. Ähnliches galt für eine weitere Schwäche, die für einen Politiker eigentlich fatal sein müsste: Angela Merkel kann nicht gut reden. Max Weber hatte ja noch die Vorstellung, Politik sei Kampf, und dieser Kampf werde als Redeschlacht im Parlament ausgetragen. Davon haben wir uns mit der Pfarrerstochter aus der DDR unendlich weit entfernt. Doch wie kann man aus der Schwäche, nicht gut reden zu können, eine Stärke machen? Die Antwort findet sich bei dem antiken Philosophen Sokrates. Er hat die Rhetorik der Antirhetorik erfunden: Ich kann nicht gut reden, ich kann nur die Wahrheit sagen. Und genau so präsentierte sich Angela Merkel. Zu ihrem Kult der Einfachheit gehörte auch das Schweigen als Waffe. Es erstickte Debatten im Keim – ob innerparteilich, parlamentarisch oder kulturell. Viele empfanden dieses neue Biedermeier als durchaus angenehm. Mutti schwebte über den Parteien und behielt mit der Raute das letzte Wort.

Ein radikaler Umbau der Traditionspartei

Am Anfang war der Vatermord. Helmut Kohl hatte Angela Merkel als sein »Mädchen« aufgezogen und musste plötzlich erfahren, dass er eine Schlange an seinem Busen genährt hatte. Den tief in die CDU-Parteispendenaffäre verstrickten Altkanzler, der sein Ehrenwort über das Aufklärungsinteresse des Parlaments stellte, hat Merkel im Alleingang politisch ermordet. Das war scheinbar motiviert von protestantischer Rechtschaffenheit, aber gnadenlos machiavellistisch exekutiert. Seither liebte sie es, Alpha-Tiere abzuservieren. Es kann deshalb nicht überraschen, dass es über die meiste Zeit ihrer 16 Jahre im Kanzleramt für sie keine ernstzunehmenden Herausforderer gab, weder in der Partei noch im Parlament. Geräuschlos wurden innerparteiliche Gegner kleingehalten. Roland Koch und Friedrich Merz waren nur die bekanntesten Namen auf einer langen Opferliste. Ihre Nachfolgerin als Parteivorsitzende, Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK), blieb glücklos, der nächste Parteivorsitzende wurde Anfang 2021 Armin Laschet. Es war Merkels machiavellistischer Geniestreich, Merz zu verhindern und Laschet zu installieren, damit wollte sie den Merkelismus auf Dauer etablieren. Doch als Unions-Kanzlerkandidat 2021 blickt Laschet auf schlechte Umfragewerte, es dürfte knapp werden.

Die unbequeme Situation der Union liegt auch daran, dass im 16. Jahr der Kanzlerschaft Angela Merkels wenig Politiker von Format übrig sind. Indem sie alle Kritiker ausschaltete, machte sie sich selbst alternativlos. Das hatte allerdings auch zur Folge, dass sich in der CDU niemand mehr profilieren konnte. Wer Karriere machen wollte, hatte nur noch die Option, in den Chor der Schmeichler einzustimmen. Deshalb machte sich auch niemand mehr über die unbeholfene Pfarrerstochter lustig. Denn jeder wusste, dass es lebensgefährlich war, sie zu unterschätzen. Tatsächlich hat Merkel eine eigentümliche Souveränität des Auftritts erreicht. Diese Souveränität zeigte sich in dem müden Blick, mit dem sie jedem Kritiker oder Gegner Langeweile und Verachtung zugleich signalisierte.

Nach dem politischen Vatermord hat Angela Merkel eine rigorose Strategie der Modernisierung der CDU verfolgt – mit so durchschlagendem Erfolg, dass man heute beim besten Willen nicht mehr sagen kann, was konservativ an dieser Partei sein soll. Seither waren die konservativen Bürger in Deutschland heimatlos. Durch eine konsequente Sozialdemokratisierung und Vergrünung hat Merkel die CDU entkernt. Machtpolitisch betrachtet war das ein genialer Schachzug. Da die SPD-Basis immer schon größte Vorbehalte gegen Schröders »Agenda 2010« gezeigt hat, war es für Merkel ein Leichtes, sich selbst als deren Verteidigerin zu positionieren. Dies – und nicht erst die Große Koalition – hat es der SPD fast unmöglich gemacht, sachliche Kritik an einer Kanzlerin zu artikulieren, die praktisch sozialdemokratische Politik exekutierte.

Gleichzeitig hat Angela Merkel den Grünen alle wesentlichen Themen weggenommen. Mit der Entscheidung, aus der Atomenergie auszusteigen, war das jedem deutlich geworden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Kanzlerin gerade unter Grünen-Politikern viele Fans hatte. Zuletzt hat die Vergrünung der Union, ihre Übernahme vieler Themen der Grünen, jedoch den Weg zum sagenhaften Aufstieg der Grünen in Umfragen im Frühjahr 2021 geebnet, sodass sogar gut möglich erscheint, dass die Grünen bei der Bundestagswahl im September 2021 stärker als die Union werden und nach dem Kanzleramt greifen.

Der radikale Umbau der Union, eigentlich einer Traditionspartei, unter Merkel war nur möglich, weil Angela Merkel immer ein Fremdkörper in der CDU gewesen ist. Die bürgerlich-konservative Geschichte dieser Partei war für sie unverbindlich. Gerade deshalb konnte sie sich als politische Dialektikerin bewähren. Das Bild, das sie den Bürgern vermittelte, sah so aus: Sie präsentierte die ursprünglich ja einmal konservative CDU als die eigentliche zukunftsorientierte Partei, während die ursprünglich ja einmal reformorientierte SPD gegen ihre eigene »Agenda 2010« zurück in die Vergangenheit wollte. Wer dieser Dialektik nicht folgen konnte und einfach nur christdemokratisch wählen mochte, stand ratlos vor dem Wahlzettel.

Der Mythos der nüchternen Naturwissenschaftlerin

Auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis von Angela Merkel stoßen wir schließlich auf den Mythos von der nüchternen Naturwissenschaftlerin. Dass sie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig zur Physikerin ausgebildet wurde und heute mit einem Physikochemiker verheiratet ist, weckte die Erwartung von Sachlichkeit und analytischer Intellektualität. Und tatsächlich stand sie zunächst für eine durchaus ideenfreie Politik des Opportunismus und der »resilience«. Man muss wohl beide Begriffe angesichts der Komplexität der politischen Welt mit einem positiven Vorzeichen versehen, denn Opportunismus ist ja eigentlich nur der Sinn für die günstige Gelegenheit, die rechtzeitig zu ergreifen gerade den guten Politiker ausmacht. Und »resilience« ist der nicht elegant übersetzbare englische Begriff für die Fähigkeit, auf Unvorhergesehenes geistesgegenwärtig und elastisch zu reagieren. Es spricht also vieles für Charles Lindbloms Definition der Politik als Wissenschaft vom Sichdurchwursteln. Dass man nur »auf Sicht« fahren kann und die »Visionen« besser den Propheten überlässt, hat Angela Merkel anfangs überzeugend verkörpert.

Doch alles änderte sich am 11. März 2011 mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima. Fügen wir hier gleich hinzu, dass schon zuvor und verstärkt dann 2012 in Griechenland Merkel aufgrund ihrer Euro-Politik mit Hitler verglichen wurde. Beides muss sie traumatisiert haben. Denn von nun an startete sie Alleingänge in Europa, ja in der Welt – ein Alleingehen, das natürlich als Vorausgehen interpretiert wurde. Mit der »Energiewende« nach Fukushima und der »Willkommenskultur«, die 2015/2016 mehr als eine Million Flüchtlinge vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Deutschland gebracht hat, sind zwei emotionale Großentscheidungen gefallen, die unser Land in unabsehbarer Weise verändert haben und weiter verändern.

Wohlgemerkt: emotionale Großentscheidungen. Denn man kann nicht von Strategie, sondern nur von Hysterie sprechen, wenn ein Land aufgrund einer Havarie auf der anderen Seite des Globus plötzlich entscheidet, aus der Atomenergie auszusteigen, während die restliche Welt bis heute weiter Atomkraftwerke betreibt und neue baut, teils auch die Nachbarn Deutschlands, und eben auch nach wie vor Japan. Dieser deutsche Alleingang zwingt uns zu der Interpretation, dass wir die einzig Vernünftigen in einer Welt von Verblendeten sind. Das Gleiche galt für die Flüchtlingskrise. Kein anderes europäisches Land dachte auch nur im Traum daran, Flüchtlinge in ähnlicher Zahl wie Deutschland aufzunehmen. Mussten wir daraus schließen, dass wir die einzig Guten waren, der Rest der Europäer aber herzlos ist?

Man müsste tief in der deutschen Nachkriegsseele loten, um zu erklären, warum diese emotionalen Großentscheidungen fast widerstandslos akzeptiert wurden. Was sie Merkel politisch gebracht haben, ist allerdings leicht zu sagen. Mit der »Energiewende« hat sie das stärkste grüne Oppositionssymbol »Atomkraft? Nein danke« aus der Welt geschafft. Und mit der »Willkommenskultur« setzte sie sich an die Spitze der Gutmenschenbewegung. Die asexuelle Physikerin entpuppte sich als Mutter Teresa. Dass sie genau das kommunizieren wollte, machten die berühmten Selfies mit Flüchtlingen klar.

Das größte Selbstopfer seit dem Zweiten Weltkrieg: »Wir schaffen das«

Mit ihren emotionalen Großentscheidungen hat Angela Merkel den Deutschen das größte Selbstopfer seit dem Zweiten Weltkrieg zugemutet. Wer nach den Gründen fragt, wird zwangsläufig zum Hobbypsychologen. Hatte sie der Vergleich mit Hitler in Griechenland getroffen? Hatten sie die Bilder der weinenden syrischen Kinder erweicht? Man kann aber auch etwas härter und zynischer fragen: Spekulierte sie auf den Friedensnobelpreis? Es war ja leicht erkennbar, dass der Spruch »Wir schaffen das«, mit dem sie in die Geschichte eingehen wird, eine deutsche Kopie von Barack Obamas Wahlkampfslogan war. Aus dem »Yes, we can«, das dem amerikanischen Präsidenten schon kurz nach Amtsantritt, also ohne dass er schon etwas geleistet haben konnte, den Friedensnobelpreis einbrachte, wurde das merkelsche »Wir schaffen das«.

Diese Formel war erfolgreich, weil zwei Fragen nicht gestellt wurden. Erstens: Wer ist das »Wir«? War es der Pluralis Majestatis der Kanzlerin, die diese einsame Entscheidung getroffen hatte? Oder war die politische Verantwortung der Großen Koalition gemeint? Oder war es das »Wir« des deutschen Volkes, dem seine Kanzlerin gut zuredete, dass es die Folgelasten schon tragen können werde? Und die zweite Frage, die nicht gestellt wurde, lautete: Wollen wir das überhaupt schaffen? Der Merkel-Slogan mochte suggerieren, dass nicht die Kanzlerin allein, sondern wir alle diese Jahrhundertentscheidung getroffen hätten, mehr als eine Million Flüchtlinge und Migranten weitgehend unkontrolliert ins Land zu lassen. »Wir schaffen das« war das Spitzenprodukt einer Rhetorik der Alternativlosigkeit.

Natürlich gab es auch kritische Stimmen, aber sie waren in den Mainstream-Medien kaum präsent. Die politische Korrektheit hat sie von Anfang an als »rechtspopulistisch« marginalisiert – und das galt nicht nur für die AfD, sondern auch für die Regierungs-Schwesterpartei CSU. Dennoch war es erstaunlich, dass auch die prominenteste dieser kritischen Stimmen kaum Gehör fand. Auf Veranlassung des Freistaats Bayern legte der Verfassungsrechtler Udo di Fabio ein Gutachten vor, das Merkels Politik fortdauernden Rechtsbruch bescheinigte. Indem sie die in Ungarn befindlichen Flüchtlinge nach Deutschland schleuste, setzte Angela Merkel das Dublin-Verfahren der EU und eine wirksame Kontrolle der eigenen Landesgrenzen außer Kraft. Als hätte die Pfarrerstochter über die Realpolitikerin gesiegt, galt humanitaristische Moral mehr als Verfassungsrecht.

Wir können dahingestellt sein lassen, ob di Fabios Gutachten zutreffend war oder nicht. Viel wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang die Frage, warum dieser gravierende Vorwurf des Rechtsbruchs keine ernsthafte öffentliche Diskussion auslöste. Warum ließen sich die Massenmedien die Chance einer Skandalisierung entgehen? Die Antwort kann man an ähnlichen, aber kleinformatigeren Fällen ablesen, zum Beispiel Manfred Stolpe, der mit seiner Stasi-Vergangenheit konfrontiert wurde, und Joschka Fischer, dem man die aktive Teilnahme an gewalttätigen studentischen Demonstrationen nachweisen konnte. Der Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat sehr schön gezeigt, dass die Skandalisierung in diesen Fällen scheiterte, weil ihr die politischen Interessen der Journalisten selbst im Weg standen. Das gilt eben auch für Angela Merkel. Sie repräsentierte die humanitaristischen Positionen der meisten Journalisten. Dafür gab es weltweit Beifall, der allerdings von Heuchelei kaum zu unterscheiden war. Wer hierzulande naiv genug war, sonnte sich seither in dem Wohlgefühl: Wir sind Weltmeister im Guten.

Mit ihren Jahrhundertentscheidungen – Atomausstieg, Masseneinwanderung, EU-Schuldenunion – hat Angela Merkel sich selbst in die Geschichtsbücher geschrieben. Deutschland hat das mehrheitlich beifällig aufgenommen und sich damit als das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten präsentiert. In den 16 Jahren der Merkel-Regierung ist sein Charakter eines paternalistischen Wohlfahrtsstaates deutlich geworden, in dem sich die Regierenden als Erzieher verstehen, ja wie Eltern unmündiger Kinder sehen. Nur vor diesem Hintergrund ist auch die Corona-Politik von Frau Merkel zu verstehen: Die Pandemie ist der Ausnahmezustand, die Katastrophe, durch die »Mutti« ihre Untertanen hindurchführt. Damit das nicht übermäßig autoritär oder gar totalitär wirkt, werden »Experten« bemüht, die oft längst getroffene Entscheidungen und Maßnahmen wissenschaftlich begründen oder drapieren sollen. Und was den Deutschen für die Pandemie vorgebetet wird, wird wohl dann auch für den Klimawandel gelten: Wir sollen der Wissenschaft folgen – die jeden Kritiker zum Schweigen bringt. Dieser neue politische Stil wird Merkel überleben.

WERNER J. PATZELT

Merkels Erbe

Die Kanzlerin hat ihre Partei in eine äußerst schwierige Lage gebracht

Wie wird in 20, 30 Jahren ein Nachruf auf Angela Merkel klingen? Wird man ihre beispielhafte Pflichterfüllung rühmen, sie als Meisterin umsichtiger Staatskunst loben, sie ein Vorbild an Verantwortungsethik und Weitblick nennen? Eine zu ihrer Zeit unangreifbare Anführerin Europas? Oder wird man von Merkels Anteil am Auseinanderdriften Europas, an der finanziellen und emotionalen Überforderung des guten Willens der deutschen Einwanderungsgesellschaft, an der Entprofilierung der CDU, am Zulassen einer dauerhaften Konkurrenzpartei rechts der Union sprechen?

Eine durchwachsene Bilanz

Es ist keine geringe außenpolitische und menschliche Leistung der Kanzlerin, das wiedervereinigte Deutschland, den aufs Neue großen Machtblock in Europas Mitte, weiterhin gerade nicht zum billigen Schreckgespenst deutschlandkritischer Nachbarn gemacht zu haben. Es ist lobenswert, dass Angela Merkel stets ohne das Alphatier-Gehabe eines Gerhard Schröder auftrat, weshalb man ihr gern das Fehlen von Charisma in der Art Willy Brandts nachsah. Bewundernswert war, mit welchem Gespür für den richtigen Augenblick eigenen Machtzugriffs sie ihren Förderer Helmut Kohl und ihren Rivalen Friedrich Merz abservierte. Nachahmenswert ist ihre Selbstdisziplin, die sie jahrzehntelang vor Skandalen und Lächerlichkeit bewahrte. Ohne großes politisches Können bleibt man nicht 18 Jahre lang Parteivorsitzende und 16 Jahre lang Bundeskanzlerin.

Dennoch fällt bei Angela Merkels Partei- und Regierungsbilanz auch der von ihr angerichtete Schaden ins Gewicht. Hinsichtlich ihrer Außenpolitik muss ein faires Urteil zwar berücksichtigen, dass man für internationale Beziehungen Mitspieler braucht, die man sich aber – wie Trump oder Putin – nicht aussuchen kann. Indessen hat Angela Merkel aus eigenem Entschluss das Nordstream-II-Projekt unterstützt, es auch ganz realitätsfern der deutschen Öffentlichkeit als »rein wirtschaftlich« verkauft – und auf diese Weise einen Riss zwischen Deutschland und seinen Verbündeten geschaffen. Obendrein hat die Kanzlerin mit diesem Projekt bewirkt, dass sich die geopolitische Lage der Balten, Polen und Ukrainer stark verschlechtert, zugleich ermöglicht es dem autokratisch regierten Russland auf lange Zeit verlässliche Milliardeneinnahmen für seine weitere Aufrüstung.

Außerdem hat die Kanzlerin mit ihrer Übernahme von Haftungsrisiken gegenüber chronisch verschuldeten Euro-Ländern der deutschen Haushalts- und Finanzposition große Risiken eingebracht und den Einstieg in eine EU-Schuldenunion zugelassen – erst mit dem ESM-Fonds in der Euro-Krise, dann mit dem 750-Milliarden-»Wiederaufbaufonds« in der Corona-Krise, nun erstmals mit eigener Kreditaufnahme der EU-Kommission, die laut den Verträgen eigentlich keine eigenen Schulden aufnehmen sollte. Diese Schuldenunion bedeutet einen weiteren Schritt hin zu einer solchen europäischen Zentralisierung, der keine wirkungsvolle öffentliche Kontrolle des Brüsseler Regierungshandelns gegenübersteht.

Deutschlands Industrie hat die Merkel-Regierung durch Vernachlässigung infrastruktureller Innovationen, durch recht hohe Steuern sowie durch das Aufbürden von immer mehr sozialstaatlichen und bürokratischen Pflichten und Vorgaben geschwächt. Und der klar stimmungsgetriebene, letztlich grünpopulistische sowie ganz plötzliche Beschluss zum Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie hat unserem Land hohe Strompreise, Netzwerkinstabilität und die Abhängigkeit von Energieimporten verschafft – Letzteres auch noch mit der Pointe, dass die importierte Energie von Kernkraftwerken stammt oder aus Erdgas besteht, also gerade nicht erneuerbar ist.

Übel sind auch die gesellschaftspolitischen Erblasten von Merkels Regierungszeit. Ihre Migrationspolitik war gekennzeichnet durch eine programmatische Kehrtwendung, realitätsblinden Moralismus und Unredlichkeit. 2015 ließen sich angeblich unsere Grenzen keinesfalls gegen unerwünschte Massenmigration sichern – bei der Abwehr eines Virus dann aber doch. Europapolitisch isolierte Merkel unser Land gegenüber den längst nicht so zuwanderungseuphorischen Nachbarn. Und sozialpolitisch führte die Massenimmigration – vor allem, doch nicht nur – aus dem Nahen und Mittleren Osten zur Schaffung einer neuen Unterschicht, die von Sozialtransfers lebt und kulturell großenteils nicht wirklich integriert ist. Das hat uns den explosiven französischen Verhältnissen nähergebracht. Zudem wurde unser innenpolitisches Klima vergiftet, als ohne Widerstreben der Kanzlerin ihre Claqueure als zentralen politischen Glaubenssatz durchsetzten: »Nur wer Merkels alternativlose Politik vertritt, ist anständig oder klug genug, um ernst genommen zu werden.«

Vor allem für die letzteren Fehler bezahlt das Land bis heute – und die Union erst recht. Merkels Politik schürte nämlich das Verlangen nach einer »Alternative für Deutschland«. Von der Merkel-CDU vergraulte Konservative schufen eine genau so benannte Partei und leiteten sie anfänglich. In deren Schoß nisteten sich aber bald schon radikale Rechte und viele Spinner ein, die mehr und mehr tonangebend wurden. Leider überließ die CDU in dieser Lage – auf maßgebliches Betreiben der besonders gern auf SPD und Grüne hörenden Kanzlerin – auch die Vernünftigen unter jenen, die sich von der Union abwandten, der AfD mit der leichtfertigen Behauptung, da entstehe ohnehin nichts weiter als eine Partei von Rechtradikalen; die aber begäbe sich ganz von selbst in die politische Bedeutungslosigkeit, wenn man sie nur nicht durch Beachtung ihrer Themen aufwerte. Jedenfalls stellte Merkels CDU sämtliche Bemühungen ein, ja verurteilte sie sogar, abdriftende Rechte vielleicht doch noch an die Union zu binden, also an eine in der politischen Mitte verankerte Partei, die obendrein alle halbwegs vernünftigen, demokratischen Rechten anziehen und vor dem Absturz in den völkisch-populistischen Sumpf bewahren wolle. Doch gerade so, wie die Realo-SPD eines Helmut Schmidt den Freiraum für die Entstehung und den Aufstieg der Grünen links der SPD schuf, machte Angela Merkels CDU rechts der rechten Mitte ein von eigenen Dominanzversuchen ausgenommenes politisches Spielfeld verfügbar.

Merkel und die CDU