Merkwürdige Mynthe - Dorte Roholte - E-Book

Merkwürdige Mynthe E-Book

Dorte Roholte

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Beschreibung

Mynthe ist ein normales Mädchen. Bis sie in der Nacht vor ihrem 13. Geburtstag träumt, dass sie mit einer neuen Freundin und einem Jungen, den sie nicht kennt, in einem neuen Haus lebt. Der Traum ist nur der Beginn von unzähligen Visionen. Als sie ihrer besten Freundin davon erzählt, kommt es zu einem Konflikt. Wird Mynthe einen Weg finden, mit dieser beängstigenden Fähigkeit umzugehen?-

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Dorte Roholte

Merkwürdige Mynthe

Übersetzt von Sigrid Andersen

Saga Kids

Merkwürdige Mynthe

 

Übersetzt von Sigrid Andersen

 

Titel der Originalausgabe: Mærkelige Mynthe

 

Originalsprache: Dänisch

Coverimage/Illustration: Shutterstock

Copyright ©2013, 2023 Dorte Roholte und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728259863

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Kapitel 1

Die Fliesen in der Küche glänzen blau und grün. Ein kleiner Klapptisch ist an der Wand befestigt, sodass man nur an drei Seiten sitzen kann. Mynthe sitzt an einer davon, mit dem Rücken zum großen Kühlschrank. Aus einer kleinen Kristallschale isst sie Joghurt. Es klirrt, als der Löffel das Glas berührt. Ihre Mutter sitzt am Tischende und trinkt aus einer hellblauen Tasse mit weißem Rand Kaffee. Gegenüber sitzt Jokum in seinem Hochsessel und isst seinen Haferbrei fast schon anständig. Er ist gut darin geworden und kleckert gar nicht mehr so viel. Und er ist größer geworden.

Mynthe steht auf. „Ich muss los.“

Ihre Mutter blickt auf die Uhr an der Wand über der Tür zum Wohnzimmer. Die Uhr ist mit Teakholz eingerahmt. Diesen Retrostil mag ihre Mutter gern.

„Wir müssen auch bald los. Viel Spaß in der Schule, Mynthe. Kaufst du auf dem Nachhauseweg zwei Liter Leichtmilch, bitte?“

„Okay.”

Sie stellt die Schale ins Spülbecken, denn es gibt keine Spülmaschine in der Küche.

Die Tür zum Badezimmer befindet sich direkt gegenüber den Haken an der Garderobe. Mynthe schlüpft schnell ins Bad, um zu prüfen, ob sie auch ordentlich aussieht. Ja, alles in Ordnung. Aber irgendwie sieht sie ihr Spiegelbild undeutlich.

Ihr Rucksack steht unter den Garderobenhaken. Sie nimmt ihn und schlüpft in die Stiefel, bindet sich das Halstuch um und geht los.

Der Wind weht.

Draußen sitzt ein Mädchen auf dem Plastiktraktor von Jokum. Als sie aufsteht, bemerkt Mynthe, dass sie etwas größer ist als sie selbst.

„Dachte schon, du kommst nicht mehr!“

Das Mädchen hat dunkles Haar, genau wie Mynthe. Allerdings sind ihre Haare lockig, ihre Haut ist olivfarben. Das unterscheidet sie von Mynthe. Sie heißt Yasmin und ist ihre Freundin.

Mynthe lächelt ihr zu. „Wir haben noch viel Zeit.“

Auch Yasmin lächelt. Sie hängt sich bei Mynthe ein. Beide lachen und stapfen im Gleichschritt los über den Gehsteig.

Mynthe würde so gerne springen und tanzen. Sie freut sich nämlich darauf, Markus zu sehen. Sie hofft so sehr, dass er heute zur Schule kommt.

„Du denkst an Markus, das seh ich genau, oder?“, fragt Yasmin sie neckisch. „Du rennst nämlich wie eine Irre, haha!“

„Schon“, grinst Mynthe und spürt die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen.

Sie dreht sich um und sieht zurück auf das Haus, bevor sie um die Ecke biegen. Ihre Mutter und Jokum sind noch immer nicht vor der Türe. Mynthe denkt daran, dass sie mit dem Fahrrad zur Krabbelstube fahren müssen. Etwas in ihr wundert sich plötzlich. Jokum ist doch bei einer Tagesmutter, nicht in der Krabbelstube.

Und noch etwas stimmt nicht. Das Haus ist irgendwie falsch. Es ist ein Reihenhaus mit gelben Ziegelsteinen. Und davor ist nur ein ganz kleiner Vorgarten.

„Schau!“, flüstert ihr Yasmin ins Ohr. „Da ist er!“

Mynthe vergisst das Haus und schaut. Tatsächlich. Da ist Markus. Er kommt auf seinem uralten, rostigen Klapperfahrrad angefahren, mit dem er immer fährt. Hinter ihm sieht sie das große, viereckige Schulgebäude.

Er hat dunkles Haar, das aber nicht ganz so dunkel wie das von Yasmin. Es ist länger als Mynthes Haar. Bis zu den Schultern geht es. Seine Augen sind unglaublich blau. So blau, dass Leute ihn manchmal fragen, ob er farbige Kontaktlinsen trägt. Zweifelsohne ist er der am besten aussehende, attraktivste und wunderbarste Junge auf der ganzen Welt. Aber das Beste ist, dass es ihm völlig egal ist, was andere Leute von ihm halten. Seine Schulbücher trägt er immer in einem Sack vom Supermarkt. Jeden Tag passt er auf seine kleine Schwester auf und ist unglaublich lieb zu ihr. Als Mynthe zum ersten Mal mit ihm gesprochen hatte, hatte sie ihn am Spielplatz getroffen, auf den sie manchmal mit Jokum geht. Markus war mit seiner kleinen Schwester dort und meinte, dass er ganz oft dort wäre. Und außerdem spielt er Gitarre. Er ist einfach einmalig. Und noch dazu duftet sein Haar so gut. Das weiß Mynthe, weil sie sich geküsst haben.

Viermal.

„Hallo, Mynthe“, begrüßt er sie und bleibt fast ganz stehen vor ihnen. „Und ich bin unsichtbar?“, lacht Yasmin.

Mynthe lächelt Markus an und bekommt fast keine Luft, weil sie so verliebt ist.

Sie will ihn fragen, warum er von der Schule wegfährt, bringt aber kein Wort heraus.

 

Mynthe wurde ruckartig wach. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Vermutlich hatte sie die Decke im Laufe der Nacht zu fest über den Kopf gezogen. Sie rang nach Luft und warf die Decke zur Seite. Ihr Herz pochte laut.

Was für ein verrückter Traum. Er hatte sich so echt angefühlt, aber nichts von ihrem Traum stimmte. Sie wohnte doch gar nicht in einem solchen Reihenhaus, sondern in einem großen Haus mit einem großen Garten. Auch die Küche sah ganz anders aus.

Die Einfahrt war ebenso völlig anders, und auch die Schule stimmte nicht. Und sie ging nie zu Fuß. Sie fuhr immer mit dem Fahrrad, denn der Weg zur Schule war in Wirklichkeit viel weiter als in ihrem verrückten Traum.

Mynthe drehte sich auf den Rücken. Es kam ihr so vor, als ob der Traum wie ein klebriges Spinnennetz noch immer an ihr haftete. Panik, dass sie ihn nicht loswerden könnte, überfiel sie.

Yasmin hatte das Mädchen mit den schwarzen, krausen Haaren geheißen. Aber ihre Freundin hieß doch Klara. Ihre beste Freundin. Sie hatten einander ewige Freundschaft geschworen.

Mynthe sah Klaras helles Gesicht mit den Sommersprossen vor sich und bekam fast ein schlechtes Gewissen, obwohl es doch nur ein Traum gewesen war. Klara verschwand aus ihren Gedanken. Stattdessen versuchte sie sich zu erinnern, wie Markus aus ihrem Traum ganz genau ausgesehen hatte. Sie war verrückt nach ihm im Traum. Aber genau das war ja verrückt, denn sie war ja eigentlich in Klement verliebt, dem großen Bruder von Klara. Er war fünfzehn.

Aus der Küche drangen leise Stimmen. Ihre Mutter und ihr Vater sprachen fast flüsternd miteinander.

Endlich fühlte sie sich ganz wach und fast so wie immer.

Heute war ihr Geburtstag. Sie wurde dreizehn. Und natürlich freute sie sich auf das übliche Frühstückstablett mit Kerzen, Ballons und Geschenken, mit dem sie sie gleich überraschen würden. Mynthe drehte sich schnell zur Seite, zog die Decke ein wenig hoch und schloss die Augen. Es würde sonst nicht dasselbe sein, wenn sie schon wach wäre.

Jetzt konnte sie auch Jokum hören. Er rief das einzige Wort, das er sagen konnte.

„Auto! Auto, Auto, Auto!“

„Schhhh, sei still“, meinte ihre Mutter leise. „Heute ist Mynthes Geburtstag!”

„Mynthes Morgen“, kam die Stimme ihres Vaters. Ihre Mutter antwortete nicht.

Jetzt standen sie direkt vor der Türe. Etwas Metallisches wurde gegen die Türe geschlagen.

Mynthe kannte das Geräusch. Sie wusste, dass die kleinen Autos von Jokum so klangen. Dann wurde die Türe geöffnet und alle kamen herein.

„Alles Gute zum Geburtstag, Mynthe. Jetzt bist du dreizehn!“, lächelte ihre Mutter.

„Guten Mynthe-Morgen“, lachte ihr Vater wie immer. „Nein, warte. Heute ist Guten-Geburtstag-Mynthe-Morgen. Oder Guten-Mynthe-Geburtstagsmorgen. Oder ...“

„Ja, ja, Peter, ist genug jetzt“, unterbrach ihn ihre Mutter.

Mynthe gab vor, gerade erst aufzuwachen. Sie rollte auf den Rücken, lächelte und streckte sich genüsslich.

Ihr Vater trug Jokum, ihre Mutter das Tablett. Auf dem Tablett stand eine Kerze, und ein Luftballon war daran festgebunden. Alles, wie es sein sollte. Und auch ein großes Glas Multifruchtsaft, den sie so mochte, gab es.

„Hurra, hurra, hurra, jetzt bist du ein Teenager“, lachte ihre Mutter. „Sag mal Hurra, Jokum!“

„Auto!“, rief Jokum und katapultierte das kleine Auto in Richtung Mynthes Kopf. Sie konnte gerade noch ausweichen, sodass es die Wand hinter ihr traf.

„Jetzt ist Schluss, Jokum!“, meinte ihre Mutter zornig.

Sie setzte sich auf die Bettkante und stellte das Tablett auf ihre Knie. Mynthe richtete sich im Bett auf und nahm das Glas mit Saft.

„Dein Geschenk ist in der Küche“, sagte ihre Mutter. „Und das Frühstück auch. Warum setzten wir uns nicht in die Küche und essen gemütlich?“

„Dein Geschenk ist nämlich so groß, dass es gar nicht durch die Tür passt“, meinte ihr Vater.

„Das Geschenk von Omi und Opi kommt wohl heute mit der Post“, erklärte ihre Mutter. „Das dauert immer ein wenig von Spanien nach Deutschland.“

Gleich zog Mynthe ein großes T-Shirt über ihren Kopf und ging mit in die Küche. Auf dem Boden neben ihrem Platz stand eine riesige Schachtel, die in rotes Geschenkpapier mit weißen Punkten verpackt war. Ein großes, weißes Kuvert klemmte unter der roten Schleife. Für Mynthe stand in der Handschrift ihrer Mutter darauf. Die Kerze stand vor Mynthes Platzdeckchen, an ihrem Stuhl war ein Ballon befestigt.

Jokum saß nun in seinem Hochstuhl und aß wie immer. Das hieß, dass das meiste seines Haferbreis auf dem Boden oder Tisch landete.

Plötzlich sah Mynthe ein Bild aus ihrem Traum.

„Ich habe wirklich etwas Seltsames geträumt“, sagte sie und zog den Küchenstuhl zu sich. „Es hat sich so echt angefühlt. Also, irgendwie ... und irgendwie aber auch nicht. Jokum war größer und hat nicht mehr gekleckert, und die Küche sah ganz anders aus.“

„Willst du nicht dein Geschenk aufmachen?“, fragte sie ihr Vater. „Lass ihr doch die Zeit, die sie braucht“, meinte ihre Mutter und lachte kurz, konnte aber ihre Irritation nicht verbergen.

Ihr Vater gab vor, es gar nicht zu hören.

„Du hast fünf Minuten“, bohrte er weiter. „Dann muss ich los. Ich bin einfach selbst ein unglaublich großes Kind und würde so gern dabei sein, wenn du das Geschenk aufmachst.“

„Okay.”

Mynthe lächelte, stand auf und kniete sich vor das Paket.

Jokum wollte nicht mehr im Stuhl sitzen. Er wand sich und begann, unzufrieden zu quengeln. Aus dem Augenwinkeln sah Mynthe, wie ihre Mutter ihn hochnahm und auf ihren Arm setzte. Er wollte natürlich mithelfen beim Auspacken, aber Mynthe bemerkte, dass es ihren Eltern heute wichtig war, dass nicht er das Tempo angab. Das machte er sonst immer. Nicht heute. Nicht an ihrem Geburtstag. Sie rüttelte das Geschenk und versuchte zu erraten, was darin war. Es war sehr schwer. Im Kopf ging sie ihren Wunschzettel durch.

Sie hatte sich Inlineskates gewünscht. Solche, wie Lærke aus ihrer Klasse hatte. Das könnte vielleicht von der Größe her passen. Aber waren die denn so schwer? Sie hatte eigentlich geglaubt, dass Oma ihr die schenken würde, denn sie kosteten über 100 Euro, und Oma schenkte ihr immer das Teuerste auf der Liste. Was könnte es wohl sonst noch sein? Sie hatte sich nichts gewünscht, das so schwer war.

Jokum wollte nicht mehr bei seiner Mutter sitzen bleiben. Er schrie und sah aus, als ob er gleich einen Kopfsprung auf den Boden machen würde. Ihre Mutter konnte ihn fast nicht mehr festhalten und kam aus dem Gleichgewicht. Sie verzog das Gesicht und musste ihn absetzen.

In unter einer Sekunde war er beim Geschenk und riss das Papier ab.

„Jokum!“, schimpfte die Mutter und packte ihn am Arm. „Lass ihn nur“, meinte Mynthe.

Natürlich war sie gespannt, was im Paket war, aber die Aufregung hielt sich in Grenzen. Wie noch vor nicht allzu langer Zeit. Damals, als Jokum geboren worden war, war sie elfeinhalb. Die meisten, die sie im Krankenhaus und danach zu Hause besuchen kamen, um Jokum zu sehen, hatten auch ein Geschenk für sie dabei. Sicher dachten viele, dass es für sie merkwürdig sein müsste, einen kleinen Bruder zu bekommen. Sie war ja schon so groß und so lange ein Einzelkind gewesen.

Vielleicht würde sie eifersüchtig auf ihn werden. Damals wäre sie völlig aufgebracht und wütend gewesen, wenn sie das Paket nicht in aller Ruhe auspacken hätte können.

Aber so war das nicht mehr. Ihre Mutter und ihr Vater hatten sicher gedacht, das wäre immer noch so. Aber jetzt war sie viel aufgeregter wegen der Schule. Sie wollte Klement sehen und war gespannt, ob er sich an ihren Geburtstag erinnern würde.

„Rat mal, was es ist!“, forderte ihr Vater sie auf, während Jokum kleine Stücke des Geschenkpapiers abriss.

„Ein Gutschein fürs Einkaufszentrum.“

Die Worte flogen einfach so aus Mynthes Mund heraus, ohne dass sie den Gedanken überhaupt zuerst denken konnte. Sie war genauso überrascht wie ihre Mutter und ihr Vater.

„Was?“, fragte ihre Mutter enttäuscht. „Aber ... Mynthe ... wie ...?“, stammelte auch ihr Vater.

Mynthe stand auf und gab vor, als hätte sie gar nichts gesagt. Warum sollte sie denn auch einen Gutschein fürs Einkaufzentrum bekommen. So etwas hatten sie ihr noch nie geschenkt, und sie hassten es, Gutscheine zu schenken. Endlich hatte sie das Papier von der Oberseite des Geschenks gezogen. Die Schachtel war mit viel Klebepapier zugeklebt.

„Nein, jetzt weiß ich es. Ein Raumteiler für mein Zimmer!“, rief sie, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. „Passt der denn in einen solchen Karton? Das wird schwierig, den zusammenzubauen. Kannst du mir eine Schere geben, bitte?“

Ihre Mutter nahm die Schere aus der Lade. Mynthe ermahnte Jokum, dass er auf seine Finger achten sollte.

Sie schnitt das Klebeband auf und öffnete den Karton.

Drinnen waren jede Menge Zeitungen und etwas sehr Schweres, das auch in Zeitungspapier gewickelt war. Sie hob es aus dem Karton und lächelte ihrer Mutter und ihrem Vater so zu, als ob sie es fast nicht erwarten konnte. Aber sie verstand nicht, warum sie immer noch so sicher war, dass es ein Gutschein war.

Völlig sicher.

„Was könnte es wohl sein?“, neckte ihr Vater.

„Eine Fliese?“, lachte Mynthe als sie den schweren Gegenstand ausgewickelt hatte. „Eine Bodenfliese?“

Sie nahm mehr Gegenstände heraus und packte weitere Fliesen aus. Jokum fand es jetzt nicht mehr interessant. Er ging ins Wohnzimmer und schlug fest auf sein Spielxylofon. Es klang, als ob es gleich zerspringen würde.

„Da unten ist etwas“, rief Mynthe und fischte ein weißes Kuvert heraus.

„Oh, vielen, vielen Dank!“

Ein Gutschein fürs Einkaufszentrum. Über 120 Euro.

„Vielen Dank. Ich freue mich riesig“, bedankte sich Mynthe ehrlich.

Sie freute sich wirklich. Jetzt konnte sie in den Läden des Einkaufszentrums kaufen, was sie wollte. Klara musste unbedingt mitkommen. Das würde ein wirklich abgefahrener Tag werden. Vielleicht nächsten Samstag?

„Danke, Mama, danke, Papa!“

Sie umarmte beide rasch. Zuerst ihren Vater, der bereits zweimal auf die Uhr geschaut hatte, da er eigentlich schon lange losmusste. Er arbeitete als Pädagoge in einem Hort und musste eine halbe Stunde mit dem Auto zur Arbeit fahren. Mynthe bemerkte, dass ihr Vater anders roch.

Neues Deo, dachte sie.

„Bitte, mein Schatz“, antwortete er. „Deine Mutter und ich haben uns darauf geeinigt, dass ein Gutschein wohl das Beste wäre, obwohl wir ... du weißt schon. Aber sonst hättest du ja wahrscheinlich das Geschenk umtauschen müssen. Tschüss, bis am Nachmittag! Tschüss Mette, tschüss Jokum!“

Dann schnappte er seine Tasche und stürmte zur Tür hinaus, während Jokum noch immer am Boden im Wohnzimmer saß und mit einem Plastikhammer winkte.

Ihre Mutter schenkte sich noch eine halbe Tasse Kaffee ein.

„Es war natürlich die Idee deines Vaters. Die Fliesen und das große Paket und so“, sagte sie.

„Cool“, antwortete Mynthe.

„Oder dämlich“, murmelte ihre Mutter und sah Mynthe über den Rand ihrer Tasse an: „Wie hast du erraten, was drin war?

Hast du einfach geraten oder hast du gehört, wie wir darüber geredet haben? Ich dachte eigentlich, dass du gar nicht zu Hause warst, als wir darüber geredet haben.“

„Ich habe es nicht gewusst. Ich hab einfach geraten“, antwortete Mynthe. „Ab ins Bad mit dir.“

„Okay.“

Sie nahm die alte Schale mit den Blumen, die ihre Oma bemalt hatte. Aus ihr aß sie immer ihr Joghurt morgens. Sie öffnete die Spülmaschine und drehte die Schale um, bevor sie sie in die oberste Schublade legte. Dort standen schon vier große, hellblaue Tassen mit einem schmalen, weißen Rand. Sie standen gemeinsam mit vier passenden Untertassen in Reih und Glied in der Spülmaschine.

Die hatte sie noch nie gesehen. Oder doch.

Aber nicht in Wirklichkeit. Mynthe nahm eine Tasse in die Hand und bekam ein merkwürdiges Gefühl. Die Tasse war sauber.

„Mama ... woher kommen denn die Tassen?“

„Die habe ich günstig von einem Kollegen im Büro gekauft. Ein Schnäppchen. Das Service heißt Sonja. Eigentlich sind es Teetassen. Sie sind in einer Fayence-Fabrik hergestellt worden. Aluminia hat sie geheißen. In den Dreißigerjahren waren sie wirklich angesagt, und jetzt eben auch wieder.