Metaanalyse zu Behandlungseffekten bei Störungen des Sozialverhaltens - Sacha Bachim - E-Book

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Sacha Bachim

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Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Psychologie - Sozialpsychologie, Note: 1,3, Universität Trier, Sprache: Deutsch, Abstract: Die hohen Prävalenzen von gestörtem Sozialverhalten zeigen, dass dieses Phänomen nicht mehr aus unserer Gesellschaft wegzudenken ist. Erwachsene fallen dabei genauso wie Kinder und Jugendliche durch ihr sozial unangepasstes Verhalten auf. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bezieht sich auf das Thema „Störungen des Sozialverhaltens und ihre Behandelbarkeit“. Im Einzelnen werden die verschiedenen Arten antisozialen Verhaltens definitorisch, diagnostisch, ätiologisch und epidemiologisch skizziert, sowie allgemeine Richtlinien für behandelnde Praktiker und einzelne physische, pharmakopsychologische, therapeutische und gesellschaftliche Interventionsmethoden vorgestellt. Es werden schlussendlich die gefundenen metaanalytischen Befunde resümiert und kritisch beleuchtet, sowie Implikationen, die sich aus der vorliegenden Arbeit für die zukünftige Forschung ergeben, zusammenfassend dargestellt.

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.
2. Störungen des Sozialverhaltens
2.1 Definition und Abgrenzung
2.1.1 Antisoziales Verhalten in der Kindheit und Adoleszenz
2.1.2 Die antisoziale Persönlichkeitsstörung
2.2 Diagnose.
2.2.1 ICD-10
2.2.3 Erfassungsmethoden antisozialen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen.
2.2.4 Hare’s Psychopathy Checklist
2.3 Ätiologie.
2.4 Epidemiologie
3. Interventionsmethoden.
3.1 Allgemeine Richtlinien und Differenzierungen.
3.1.1 Korrektive, strafrechtliche vs. klinische, therapeutische Maßnahmen
3.1.2 Individuelle vs. Gruppentherapie.
3.1.3 Ambulante vs. stationäre Behandlung
3.2 Vorgestellte Behandlungsmethoden
3.2.1 Physische Interventionen
3.2.2 Psychopharmakotherapie
3.2.3 Behaviorale und kognitive Verhaltenstherapien
3.2.4 Systemische Therapien
3.2.5 Klientzentrierte Beziehungstherapie
3.2.6 Psychoanalyse
3.2.7 Elterntraining
3.2.8 Gesellschaftliche Interventionen.
4. Die Metaanalyse als Forschungsmethode
4.1 Die Bedeutung von Überblicksartikeln.
4.2 Traditionelle Überblicksverfahren
4.3 Die Entwicklung der Metaanalyse
4.4 Methodisches Vorgehen bei der Metaanalyse
4.5 Vorteile und Probleme der Metaanalyse als Forschungs-methode
4.5.1 Vorteile.
4.5.2 Probleme und Kritikpunkte.
5. Ausgewählte Befunde aus vorliegenden Reviews zu Störungen des
6. Ableitung der Fragestellung
7. Methodisches Vorgehen.
7.1 Literaturrecherche
7.2 Zusammenfassung der Primärdaten
7.3 Vorstellung der einzelnen Primärstudien.
7.4 Auswertung
8. Ergebnisse
8.1 Prä/Post Behandlungseffekte
8.2 Behandlungseffekte im Vergleich mit einer Kontrollgruppe.
8.3 Langzeitbehandlungseffekte
9. Diskussion
10. Implikationen für die Forschung.
11. Literatur.
12. Anhang
Anhang A: Daten der Primäranalysen
Anhang B: Ergebnisse der Metaanalysen

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1. Einleitung

Dieses Zitat aus der Bühnenadaptation von Antony Burgess „A Clockwork Orange“ beschreibt das intensive Verlangen der Gesellschaft nach einer ebenso effektiven wie einfachen, endgültigen Lösung für den Umgang mit notorisch unverbesserlichen Straftätern. Alex, der jugendliche, antisoziale Hauptprotagonist wird einer ethisch fragwürdigen Gehirnwäsche unterzogen. „Rekonditioniert“ und mit gebrochenem Willen kann er so wieder ohne Bedenken in die Gesellschaft entlassen werden. Burgess zynischer Schockroman „Uhrwerk Orange“ (genauso wie Stanley Kubricks Verfilmung und die Theateradaptation vom Autor selbst) prangert mit unverblümter Härte die Ratlosigkeit der gesellschaftlichen Obrigkeit im Angesicht einer immer skrupelloseren Subkultur von delinquenten Jugendlichen an, deren einzige Chance auf Resozialisierung in einer totalen „Reprogrammierung“ zu bestehen scheint.

Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bezieht sich auf das Thema „Störungen des Sozialverhaltens und ihre Behandelbarkeit“. Verschiedene antisoziale Störungsbilder werden vorgestellt und die Effektivität der allgemein angewandten Behandlungsmethoden wird einer empirischen Prüfung unterzogen. Im Rahmen gesellschaftlicher Anpassungsprozesse und zwischenmenschlicher Interaktion fügen wir uns jeden Tag sozialen Normen und Gesetzen. Unter „sozialem“ Verhalten verstehen wir die, an definierte Normen und Regeln angepasste Interaktion des Individuums in einem gesellschaftlichen System. Das soziale Handeln ist „auf

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andere gerichtet und führt zu wechselseitigen Verhaltenserwartungen sowie zu Normierungen“ (Faktum Lexikoninstitut, 2000).

Entwicklungspsychologisch gesehen, ist sozial angepasstes Verhalten dabei das Endprodukt eines Lernprozesses, der seine Anfänge bereits in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres hat. Das sechs Monate alte Kind eignet sich durch Interaktionserfahrungen mit anderen Personen „soziales Wissen“ (Silbereisen & Ahnert, 2002, S. 95) an. Im weiteren Entwicklungsverlauf schwächt sich das egozentrische Selbstbild der frühen Kindheit langsam ab. Die Konsequenzen der eigenen Handlungen in zwischenmenschlichen Interaktionen werden bewusst. Das soziale Erlernen von Perspektivenübernahmefähigkeit und Empathie sind wichtige Voraussetzungen für altruistisches, prosoziales und angepasstes Verhalten (ebenda). Dem angepassten, prosozialen Verhalten steht das „antisoziale“ oder „dissoziale“ Verhalten gegenüber.

Gemäß Darwinistischer und Lamarckscher Evolutionsbiologie kann selbstsüchtiges und aggressives Verhalten in der Tierwelt durchaus seine Funktionalität haben (Calderon, 2002). Das “Survival-of-the-fittest“-Gesetz spricht demjenigen Individuum höhere Überlebenschancen zu, welches am besten an die Anforderungen seiner Umwelt angepasst ist: „[…] it follows that any being, if it vary however slightly in any manner profitable to itself, under the complex and sometimes varying conditions of life, will have a better chance of surviving“ (Darwin, 1859, S. 5). Im frühsteinzeitlichen, menschlichen Überlebenskampf setzten sich nur die Stärksten und Rücksichtslosesten durch. Die Theorie vom „egoistischen“ Gen erlaubte altruistisches Verhalten nur in Bezug auf Familienangehörige (Verwandtenselektion), die zumindest einen Teil des Erbgutes teilten (Dawkins, 1996). Erst wenn das eigene Überleben und das Wohlergehen der nahen Verwandten gesichert waren, konnte sich überhaupt erst ein Empfinden von sozialer Rücksichtnahme entwickeln. Die natürliche Selektion führt zum Überleben derjenigen Organismen, die am besten an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst sind. Setzt das soziale Umfeld, als für den Menschen sehr wichtiger Teil der ihn umgebenden Umweltbedingungen, nun ein prosoziales Miteinander voraus so sieht sich der antisoziale Einzelgänger unterlegen.

Seit den frühen Anfängen menschlicher Gesellschaftssysteme wurde das Zusammenleben von Regeln und Gesetzen bestimmt. Eine Gesellschaft von egoistischen Einzelgängern, die nur an der Befriedigung eigener Bedürfnisse

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interessiert sind, ist längerfristig nicht funktionsfähig. Zwischenmenschliche, prosoziale Interaktion stellt den Grundstein für eine erfolgreiche (Weiter)Entwicklung einer zivilisierten Gesellschaft dar.

Nach dem französischen Soziologen Durkheim (1961, nach Lamnek, 1988) stellt die Kriminalität einen „sozial-integrativen“ (S. 96) Bestandteil einer Gesellschaft dar, da sie die, innerhalb der Gesellschaft geltenden Normen vor Augen führen und bekräftigen kann. Kriminelles, abweichendes Verhalten kann demnach also (in einem bestimmten Ausmaß) auch durchaus funktional für die Gesellschaft sein. Nach Portmann (1995) wird der Mensch als „Mängelwesen“ betrachtet. Ihm fehlen, im Vergleich zu den meisten Tieren, die „instinktmäßige Koordination seiner angeborenen Handlungsprogramme mit den Anforderungen seiner jeweiligen Umwelt“ (S.89). Erst die Eingliederung des einzelnen Individuums in das übergeordnete soziale System ermöglicht die gesellschaftliche Kompensation der mangelhaften Instinktausstattung des Menschen.

Das Einhalten von sozialen Regeln und Gesetzen durch den Einzelnen ist also unabdingbar für das Funktionieren des gesellschaftlichen Systems im Allgemeinen, sowie für das erfolgreiche Partizipieren des Individuums an der Gesellschaft im Besonderen (Parsons, 1968, nach Lamnek 1988). So stellt sich die Frage: Wie kommt es zu sozial unangepasstem Verhalten bzw. wie lässt sich dieses heute erklären? Seit Jahrhunderten versuchen Anthropologen, Soziologen, Sozialwissenschaftler, Kriminologen, Ärzte und Psychologen dem Ursprung antisozialen Verhaltens nachzugehen.

Die frühen Vererbungstheorien gingen von einem „konstitutionellen psychischen Defekt“ aus (Baving, 2006, S. 2), der die „sozial gestörte“ Person von Geburt an determiniere.

Nach Konrad Lorenz, als Vertreter der These angeborener Aggression, muss „die zerstörerische Aggression, das heißt Gewalt“ als „Fehlfunktion“ eines natürlichen Aggressionsinstinktes angesehen werden (Dahlke, 2003, S.21). Der Verhaltensbiologe und Evolutionsforscher Lorenz deutete die zunehmende Jugend-Delinquenz als Zeichen eines genetischen Verfalls: „Wenn die fortschreitende Infantilisierung und wachsende Jugend-Kriminalität des Zivilisationsmenschen tatsächlich, wie ich befürchte, auf genetischen Verfallserscheinungen beruht, so sind wir in schwerster Gefahr“ (Lorenz, 2005, S. 64).

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Im 19. Jahrhundert fanden heftige Diskussionen zwischen den Vertretern der italienischen und der französischen, kriminologischen Schule statt. Die italienische Schule baute auf den Lehren Lombrosos (1876, 1878; 1889, nach Schwind, 2005) vom „geborenen Verbrecher“ (Homo delinquens) auf, der an äußeren, körperlichen Merkmalen (Stigmata) erkennbar sei und etwa ein Drittel aller Straftäter darstelle. Lombroso postulierte, dass es für den biologisch determinierten Straftäter keine Besserungsmöglichkeit und, neben lebenslanger Gefangenschaft, keine Verfahrensalternative gäbe als die Todesstrafe. Lombroso (1902, nach Strasser, 2005) unterscheidet dabei zwischen „atavistischer“ und „evolutiver“ Kriminalität. Das „atavistische“ Verbrechen ist gekennzeichnet vom „Einbruch animalischer Triebhaftigkeit in das zivilisierte Leben“, während Kriminalität dann als „evolutiv“ bezeichnet wird, wenn „ihre Motivierung der Kompliziertheit und Fragilität zivilisierter Verkehrsformen angepaßt ist“ (Strasser, 2005, S. 43). Im Gegensatz dazu führte die französische Schule, zu deren Vertretern u. a. Montesquieu und Rousseau zählen, antisoziales, kriminelles Verhalten nicht auf einen biologischen Ursprung, sondern auf soziale Einflüsse zurück (Schwind, 2005). Der Mensch stellt nach Rousseau „un être naturellement bon“ dar (Rousseau, 1755, nach Marceau, 1971, S. 30) und wird erst von der Gesellschaft korrumpiert. Die Lehre vom „geborenen Verbrecher“ stelle demzufolge einen Mythos dar. Der antisoziale Straftäter wird stattdessen als Produkt seiner Umwelt angesehen. Diese frühen, eindimensionalen Theorien zur Genese antisozialen und delinquenten Verhaltens wurden, im Verlauf des letzten Jahrhunderts, weitgehend durch multivariate, ätiologische Modelle ersetzt. Es herrscht heute in der Forschungsliteratur allgemeiner Konsens darüber, dass antisoziales Verhalten in den meisten Fällen auf eine Kombination aus Umwelt- und Erbfaktoren zurückgeht (siehe Kapitel 2.3). Die hohen Prävalenzen von gestörtem Sozialverhalten zeigen, dass dieses Phänomen nicht mehr aus unserer Gesellschaft wegzudenken ist. Erwachsene fallen dabei genauso wie Kinder und Jugendliche durch ihr sozial unangepasstes Verhalten auf. Die Straftaten von Kindern und Jugendlichen scheinen jährlich zu steigen (siehe Kapitel 2.4). Auch scheint das Ausmaß der Verbrechen in immer extremere Dimensionen aufzusteigen, wie die rezenten Amokläufe von Gymnasialschüler in Deutschland und Norwegen auf ein Neues deutlich gemacht haben. Die gesellschaftlichen Implikationen sind beträchtlich. Die Störungen des Sozialverhaltens zählen mit zu den kostspieligsten psychischen Störungen. Die

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enormen finanziellen Kosten beziehen sich sowohl auf die materiellen Konsequenzen (Schäden, die durch Vandalismus, Brandstiftung etc. entstehen), als auch auf die Ausgaben, die durch psychologische und psychiatrische Behandlung, Arbeit in sozialen Programmen oder Inhaftierungsmaßnahmen der antisozialen Jugendlichen und Erwachsenen anfallen (Kazdin, 1987).

Strafrechtlich gesehen ist die klinische Diagnose antisozialen Verhaltens (sowohl von Erwachsenen als auch von Jugendlichen) mit ethischen Problemen verbunden. Die Frage der Unzurechnungsfähigkeit der psychisch gestörten, antisozialen Straftäter führt immer wieder zu Streitgesprächen der Experten darüber, wie mit den Angeklagten zu verfahren ist. Kann eine psychisch gestörte Person für ihre Taten strafrechtlich haftbar gemacht werden oder sollte sie nicht eher psychiatrisch versorgt werden? Doch wie sollte eine Behandlung konkret aussehen? Die Forschungsberichte zur Behandlung von gestörtem Sozialverhalten, vor allem was die Therapierbarkeit der antisozialen Persönlichkeitsstörung (im Folgenden ASPS abgekürzt - im Englischen wird die Abkürzung ASPD: „antisocial personality disorder“ benutzt) angeht, zeichnen ein eher pessimistisches Bild. Die große Mehrheit der vorliegenden Studien zur Behandlung von ASPS stellen Fallbeispiele oder unkontrollierte Quasiexperimente dar und liefern ein sehr unschlüssiges Bild der empirischen Befundlage ab. Die Störungen des Sozialverhaltens gelten in der Forschungsliteratur im Allgemeinen als sehr schwer behandelbar. D'Silva, Duggan und McCarthy (2004) fassen in einem Review-Artikel mehrere Studien zusammen, welche tendenziell darauf hindeuten, dass eine Behandlung bei Psychopathen sogar zu einer Verschlechterung des Störungsbildes führen kann. Kaylor (1999) zieht den frustrierenden Schluss: „Probably the only consensus on treating ASPD is that it is difficult to treat“ (S.253).

Die vorliegende Arbeit beabsichtigt einen Überblick über die gängigen Behandlungsmethoden bei bestimmten Störungen des Sozialverhaltens zu liefern. Die aktuelle Forschungslandschaft soll porträtiert werden und eine Metaanalyse soll übergreifende Befunde zu Behandlungseffekten bei gestörtem Sozialverhalten liefern. Im Einzelnen werden zunächst die verschiedenen Arten antisozialen Verhaltens definitorisch, diagnostisch, ätiologisch und epidemiologisch skizziert. Anschließend werden allgemeine Richtlinien für behandelnde Praktiker, gefolgt von einzelnen, physischen, pharmakopsychologischen, therapeutischen und gesellschaftlichen Interventionsmethoden vorgestellt. Es wird dann kurz auf die Bedeutung und

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Methodik von Überblicksartikeln und Metaanalysen eingegangen. Es folgt anschließend eine kurze Vorstellung ausgewählter Befunde aus anderen Überblicksartikeln zu dem hier interessierenden Forschungsthema. Im Anschluss daran wird die spezifische Fragestellung der hier vorliegenden Metaanalyse erläutert, gefolgt von einer Beschreibung des methodischen Vorgehens und der anschließenden Erörterung der gefundenen Ergebnisse. In einem Diskussionsteil werden schließlich die Befunde resümiert und kritisch beleuchtet. Abschließend werden die Implikationen, die sich aus der vorliegenden Arbeit für die zukünftige Forschung ergeben, zusammengefasst.

2. Störungen des Sozialverhaltens

2.1 Definition und Abgrenzung

Die Bezeichnung der Störung des Sozialverhaltens als psychische Krankheit geht ursprünglich auf Pinel (1801, nach Frosch, 1983) zurück und wurde von Prichard (1835, nach The Quality Assurance Project, 1991) weiter entwickelt, der das Syndrom „moral insanity“ als ein Versagen der Impulskontrolle und eine emotionale Instabilität in Abwesenheit von Wahn und Halluzinationen definierte.

Die Laiendefinition von antisozialem Verhalten bezieht sich auf gezeigtes, sozial deviantes Verhalten. Eine Person erweist sich als „antisozial“, „dissozial“ oderalltagssprachlich - „asozial“1, wenn sie soziale Regeln, Gesetze und Normen verletzt. Als Bedingung für diese Definition muss allerdings keine psychische Störung vorliegen. Baving (2006) beschreibt sozial gestörtes Problemverhalten wie folgt: „Dissoziales Verhalten verletzt die sozialen Regeln und Prinzipien der Gesellschaft, das Verhalten wird jedoch nicht notwendigerweise in einem gesetzlichen Zusammenhang beurteilt“ (S. 6).

Es gibt verschiedene Definitionsansätze um antisoziales Problemverhalten zu beschreiben. Der Eigenschaftsansatz situiert Ausprägungen von antisozialem Verhalten auf einem Kontinuum, das von eher trivialen Verhaltensweisen wie

1Der Begriff „asozial“ ist in der Alltagssprache mit einer starken (Ab-)Wertung verbunden und erweist sich daher im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses zur Beschreibung von Sachverhalten als problematisch.

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Ungehorsam zu schwerwiegenderen Handlungen wie körperlichem Angriff reicht (Patterson, 1982, nach Patterson, Dishion & Chamberlain, 1993). Eine andere Möglichkeit der Definition antisozialen Verhaltens liegt darin, Schwellenwerte als Kriterien für das Vorliegen antisozialen Verhaltens festzulegen. Nach diesem kategorischen Ansatz wird eine Person erst dann als klinisch antisozial diagnostiziert, wenn sie höhere Scores erreicht, als diese festgelegten Werte (Patterson et al., 1993).

In der Literatur findet sich folgende Unterteilung in Subtypen von aggressivem und antisozialem Verhalten, zu der sich die wissenschaftlichen Meinungen allerdings teilen (z.B. Schmeck, 2004).

Das „instrumentell-dissoziale Verhalten“ ist durch das Streben nach materiellem Gewinn und Macht gekennzeichnet. In der Regel verspürt die sozial gestörte Person dabei keinen Leidensdruck und es ist auch keine Veränderungsbereitschaft zu erkennen. Diese Art des antisozialen Verhaltens wird allerdings in vielen gesellschaftlichen Randgruppen toleriert und im Sinne eines natürlichen Konkurrenzkampfes gedeutet.

Das „impulsiv-feindselige“ Verhalten ist charakterisiert durch eine ineffektive Handlungskontrolle, eine geringe Frustrationstoleranz und kognitive Verzerrungen seitens der Person. Die aggressiven, antisozialen Handlungen der Person sind meistens reaktiv, spontan und nicht reflektiert. Die Konsequenzen für die Person sind dabei, im Gegensatz zum instrumentellen antisozialen Verhalten, meistens negativ (kein finanzieller Gewinn oder Machtzuwachs).

Das „ängstlich-aggressive Verhalten“ trifft vor allem auf solche Personen zu, die im Alltag introvertiert, schüchtern und depressiv erscheinen, in Extremsituationen allerdings aggressive Ausbrüche an den Tag legen, welche das Gewalttätigkeitsausmaß der anderen beiden Subgruppen oft noch übersteigen können. Diese ängstliche Variante von aggressivem Verhalten wird allerdings nicht zu den „Störungen des Sozialverhaltens“ gezählt.

Im Alltag findet sich wohl am häufigsten eine Mischung der ersten beiden Subtypen. Moffitt (1993) unterscheidet zudem zwischen stabilem, „lebenslang überdauernden“ („life-course-persistent“) und temporärem, „adoleszenzbegrenzten“ („adolescencelimited“), antisozialen Verhalten (S.674).

Die „lebenslang antisozialen Personen“ zeigen im Verlauf ihrer Entwicklung, vom frühen Kindes- bis ins späte Erwachsenenalter immer wieder antisoziale

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Verhaltensweisen. Sie stellen nach dem Autor fünf bis zehn Prozent der verhaltensauffälligen Personen dar und zeichnen sich für die meisten und extremsten kriminellen Handlungen verantwortlich.

Die „adoleszenzbegrenzt antisozialen Personen“ zeigen sich nur in einer bestimmten Phase ihres Lebens verhaltensauffällig. Sie stellen mit 95 % die große Mehrheit der verhaltensauffälligen Personen dar. Diese Gruppe ist insgesamt gekennzeichnet durch weniger und minder kriminelle Handlungen pro Person. Bis zum Alter von 15 Jahren sind die „adoleszenzbegrenzt antisozialen“ Jugendlichen allerdings mit den „lebenslang Antisozialen“ vergleichbar, was die Variabilität und die Häufigkeit gezeigter Gesetzbrüche anbelangt.

Es kann zudem zwischen „offenen“ und „verdeckten“ antisozialen Verhaltensweisen unterschieden werden. Offenes, antisoziales Verhalten hat dabei oft einen konfrontativen Charakter und summiert Verhaltensweisen, wie Kämpfen und Streiten, während z.B. Lügen und Brandstiftung zu den verdeckten, antisozialen Handlungen gezählt werden (Kazdin, 1987).

Der Begriff der „Delinquenz“ bezieht sich nach Baving (2006) auf die „Verletzung oder Missachtung von strafrechtlichen Normen, unabhängig davon, ob der Handelnde dafür strafrechtlich belangt werden kann“ (S. 6). Der Delinquenzbegriff wird oft benutzt um das unangepasste Verhalten von Kindern oder Jugendlichen zu bezeichnen: „Delinquency is sometimes used to refer to those child and adolescent behaviours such as lying and defiance that meet with adult disapproval“ (Wells, 2001, S.129).

Der Begriff der „Kriminalität“ ist im Gegensatz dazu jenen Gesetzesbrüchen vorbehalten, die auch wirklich strafrechtlich sanktioniert werden (Baving, 2006). Unter diese Kategorie fallen nur jene Jugendlichen die ein gesetzlich vorgeschriebenes Mindestalter erreicht haben und als zurechnungsfähig gelten. „Abweichendes Verhalten“ stellt nach Lamnek (1988) eine „Teilklasse des Verhaltens“ dar und „deckt sich nur zum Teil mit kriminellem oder delinquentem Verhalten, das als Verstoß gegen kodifizierte Normen definiert ist“ (S.284). Nach Montada (2002) liegt eine Straftat dann vor, wenn eine Tat, oder die Unterlassung einer Tat, einem rechtlich definierten Strafbestand entspricht, Strafmündigkeit des Täters vorliegt, der Täter praktisch anders hätte handeln können und ein dementsprechendes, anderes Handeln ihm zumutbar gewesen wäre.

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Anhand anerkannter Diagnosekriterien können die Störungen des Sozialverhaltens wissenschaftlich eingegrenzt und definiert werden. Gestörtes Sozialverhalten kann sich dabei in, zum Teil, sehr unterschiedlichen klinischen Diagnosen manifestieren (siehe hierzu Kapitel 2.2). Die Diagnose „Störung des Sozialverhaltens“ nach dem DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der „American Psychiatric Association“ kann z.B. in der Kindheit und Jugend vergeben werden, während bei einer Diagnose der ASPS im Erwachsenenalter ein Mindestalter von 18 Jahren bei der betreffenden Person gegeben sein muss.

Im Folgenden soll eine Differenzierung zwischen den Störungen des Sozialverhaltens in Kindheit und Adoleszenz einerseits und im Erwachsenenalter (vor allem repräsentiert durch die ASPS) andererseits erfolgen, welche auch die bestehende Aufteilung von empirischen Studien zu diesen zwei Bereichen in der Fachliteratur widerspiegelt.

2.1.1 Antisoziales Verhalten in der Kindheit und Adoleszenz

Im DSM-IV-TR wird die „Störung des Sozialverhaltens“ unter den Störungen, „die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert werden“ (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003, S. 65) aufgelistet. Antisoziales Verhalten ist die häufigste Ursache, wieso Kinder und Jugendliche in psychiatrische Anstalten eingewiesen werden und macht in den Vereinigten Staaten sogar mehr als die Hälfte dieser Einweisungen aus (Chamberlain & Smith, 2003). Zusammen mit dem antisozialen und aggressiven Verhalten, treten bei den Jugendlichen oft auch Defizite der Problemlösekompetenzen auf. „Young offenders tend towards concrete rather than abstract thinking, showing great rigidity in the way they deal with problem situations” (Wells, 2001, S. 132). Auch sind solche Jugendliche eher dazu geneigt, Verhalten von anderen Personen als feindselig aufzufassen und sind weniger fähig zu Perspektivenübernahme und Generierung von adäquaten Lösungen bei Problemsituationen (Kazdin, 1987). Petermann (2005a) beschreibt eine beeinträchtigte Interpretation sozialer Situationen bei aggressiv-dissozialen Kindern: „Typisch für die soziale Wahrnehmung dieser Kinder ist, dass sie über weniger alternative Lösungen für interpersonelle Probleme