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Bereits in 7. Auflage Berufliches Können braucht zentrale, auch wissenschaftlich begründbare Arbeitsregeln. Oft fehlt Praktikern, aber auch den Studierenden das Rüstzeug für die Planung und Nachbereitung ihrer Arbeit. Berufliches Handeln erfolgt überwiegend intuitiv und mit Rückgriff auf Erfahrungen und Routinen. Ob und warum dieses aber in einer gegebenen Situation angemessen ist, bleibt unklar. Das Buch zeigt hier Auswege auf, indem es Anregungen für ein systematisch geplantes und am wissenschaftlichen Vorgehen orientiertes methodisches Handeln bietet. Es begründet und beschreibt Arbeitshilfen, die die berufliche Handlungsstruktur und die für Soziale Arbeit relevanten Wissensbestände in einen reflexiven Zusammenhang bringen. Unter Mitarbeit von Benedikt Sturzenhecker. utb+: Ergänzend zum Buch erhalten Leser:innen als digitales Zusatzmaterial Arbeitshilfen, Checklisten und Vorlagen, um das erlernte Wissen praxisnah anzuwenden. Erhältlich über utb.de.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Prof. Dr. Hiltrud von Spiegel, lehrte an der FH Münster, Fachbereich Sozialwesen; Schwerpunkte: Theorien der Sozialen Arbeit, methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit (incl. Qualitätsentwicklung und Selbstevaluation)
Auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages und der UTB GmbH finden Sie bei der Darstellung dieses Titels alle Arbeitshilfen aus dem Buch als nicht ausgefüllte Kopiervorlagen im DIN A4-Format zum Herunterladen: www.reinhardt-verlag.de, www.utb-shop.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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UTB-Band-Nr.: 8277
ISBN 978-3-8252-8798-6 (Print)
ISBN 978-3-8385-8798-1 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-8463-8798-6 (EPUB)
7., durchgesehene Auflage
© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Inhalt
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
Vorwort zur 7. Auflage
Vorwort
I Grundlagen methodischen Handelns
1 Das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit
1.1 Gesellschaftliche Aufträge und disziplinäre Positionen
1.1.1 Historische Herausbildung des Handlungsfeldes
1.1.2 Funktion und Gegenstand Sozialer Arbeit
1.2 Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur
1.2.1 Doppeltes Mandat
1.2.2 Subjektorientierung
1.2.3 Technologiedefizit
1.2.4 Koproduktion
2 Soziale Arbeit als wissenschaftlich fundierte Praxis
2.1 Soziale Arbeit als Profession
2.1.1 Zum Ertrag der neueren Professionalisierungsdebatte
2.1.2 Profession und Disziplin
2.1.3 Zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis
2.2 Wissensbestände für methodisches Handeln
2.2.1 Wissenschaftliches Wissen
2.2.2 Beschreibungswissen
2.2.3 Erklärungswissen
2.2.4 Wertwissen
2.2.5 Veränderungswissen
3 Handlungskompetenzen für die Soziale Arbeit
3.1 Individuelle und institutionelle Voraussetzungen für den Beruf
3.1.1 Persönlichkeitsmerkmale und professionelle Handlungskompetenz
3.1.2 Fehlerquellen beruflichen Handelns
3.1.3 Individualisierte Professionalität
3.2 Dimensionen professioneller Handlungskompetenz
3.2.1 Kompetenzdimensionen
3.2.2 Kompetenzen in der Dimension des Wissens
3.2.3 Kompetenzen in der Dimension der beruflichen Haltung
3.2.4 Kompetenzen in der Dimension des Könnens
4 Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit
4.1 Methodisches Handeln: Definition und Werkzeugkasten
4.1.1 Einschätzungen von Praktikern
4.1.2 Eklektisches und collagenhaftes Handeln
4.1.3 Werkzeugkasten für methodisches Handeln
4.1.4 Konstruktionsprinzipien der Arbeitshilfen
4.2 Handlungsbereiche methodischen Handelns
4.2.1 Analyse der Rahmenbedingungen
4.2.2 Situations- oder Problemanalyse
4.2.3 Zielentwicklung
4.2.4 Planung
4.2.5 Handeln in Situationen
4.2.6 Evaluation
II Der Werkzeugkasten für methodisches Handeln
5 Arbeitshilfen für die Gestaltung von Situationen
5.1 Einführung: situatives Handeln
5.2 Analyse der Arbeitsaufträge
5.3 Situationsanalyse
5.4 Zielbestimmung
5.5 Checkliste zur Handlungsplanung
5.6 Auswertung der eigenen Handlungen
6 Arbeitshilfen für die Hilfeplanung
6.1 Einführung: Hilfeplanung
6.2 Auftrags- und Kontextanalyse
6.3 Problemanalyse
6.4 Aushandlung von Zielen
6.5 Operationalisierung von Hilfezielen
6.6 Evaluation eines Hilfezeitraums
6.7 Selbstevaluation eines Hilfeplangesprächs
7 Arbeitshilfen für die Konzeptionsentwicklung
7.1 Einführung: Konzeptionsentwicklung
7.2 Analyse der Ausgangssituation
7.3 Erwartungssammlung
7.4 Bildung konzeptioneller Ziele
7.5 Operationalisierung konzeptioneller Ziele
7.6 Von der Operationalisierung zur Konzeption
7.7 Konstruktion von Schlüsselsituationen
8 Arbeitshilfen für Projektplanung und Selbstevaluation
8.1 Einführung: Selbstevaluation
8.2 Erarbeitung der Aufgabenstellung
8.3 Vertiefte Problemerklärung
8.4 Differenzierung der Projektziele
8.5 Erstellung der Projektkonzeption
8.6 Vorbereitung der Evaluation
8.7 Konstruktion des Erhebungsinstruments
8.8 Auswertung und Präsentation der Ergebnisse
III Anhang
Glossar
Literatur
Sachregister
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
In diesem Lehrbuch werden wichtige theoretische und praktische Grundlagen für methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit dargestellt. Zur leichteren Orientierung sind in der Randspalte Stichwörter und Piktogramme benutzt worden, die folgende Bedeutung haben:
Beispiele
Literaturhinweise, weiterführende Lektüre
➔ Definitionen wichtiger Fachbegriffe: Im Text finden Sie wiederholt Pfeile in Verbindung mit zentralen Fachbegriffen. Diese Begriffe werden im Glossar definiert und erläutert.
Alle Arbeitshilfen aus dem Buch gibt es als nicht ausgefüllte Kopiervorlagen unter www.reinhardt-verlag.de und www.utb-shop.de.
Vorwort zur 7. Auflage
Hiltrud v. Spiegel ist am 22.9.2019 nach langer Krankheit verstorben. Sie hat mich gebeten, das vorliegende Buch weiter zu betreuen.
Hiltrud v. Spiegel hat einen Großteil ihres Berufslebens der Entwicklung methodischer Hilfestellungen systematischen Planens und Reflektierens des fachlichen Handelns in der Sozialen Arbeit gewidmet. Sie hat ihre Positionen und Vorschläge nicht nur durch eine fundierte wissenschaftliche Kenntnis entwickelt und untermauert, sondern auch auf ihre Erfahrung als Praktikerin im Beruf bezogen und sich zudem neben ihrer Tätigkeit als Professorin und Dekanin des Fachbereichs Sozialwesen der Fachhochschule Münster immer weiter in Praxisprojekten der Sozialen Arbeit engagiert.
Hiltrud v. Spiegel hat Sozialarbeit studiert und begann 1973 ihr Berufsleben in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. 1981 übernahm sie die Leitung des Praktikantenamtes der Fachhochschule Bielefeld und wurde dort Fachlehrerin für Sozialpädagogik. Sie schloss ihr Diplom-Pädagogikstudium ab und promovierte zu Fragen der Selbstevaluation bei C. W. Müller.
Von 1997 bis 2010 war Hiltrud v. Spiegel als Professorin für „Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit“ am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster tätig, von 1998 bis 2005 als Dekanin.
In dem hier vorliegenden Handbuch des Methodischen Handelns hat sie 2004, und in der ausführlichen Überarbeitung 2013, zusammengefasst, was sie in Praxis, theoretischer Diskussion und empirischer Forschung, in Modellprojekten und in Auseinandersetzung mit Studierenden und Kolleginnen und Kollegen, in Praxisberatungen und Fortbildungen, als zentral für professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit erkannt hat.
Hiltrud v. Spiegel zeigt in ihrem differenziert begründeten Konzept von Professionalität in der Sozialen Arbeit, wie Professionelle in Bezug auf wissenschaftliches Wissen und in einer systematisierten Reflexion und klar strukturierten Entwicklung der Entwürfe ihres fachlichen Handelns die Autonomie der Lebensführung ihrer Adressatinnen und Adressaten unterstützen können. Das geschieht immer in Bezug auf die konkreten Themen und Problemstellungen des Lebens der Adressatinnen und Adressaten. Hiltrud v. Spiegels Anleitungen des methodischen Arbeitens ermöglichen Fachkräften der Sozialen Arbeit Professionalität im Sinne eines „Wissen, was man tut“. Die Planungsmethoden maximieren die Reflexivität der Professionellen und bringen so errungene Handlungsperspektiven wieder in den Dialog mit den Adressatinnen und Adressaten ein. Diese erproben und entscheiden, wie sie – auf diese Weise unterstützt – in ihrem Leben handeln wollen.
Mithilfe der hier vorgeschlagenen methodischen Schritte können Fachkräfte, von alltäglichen Schlüsselsituationen bis hin zu großen Qualitätskonzepten für ganze Arbeitsbereiche, ihr Handeln planen, reflektieren und evaluieren. Studierende können sich mithilfe des Buches die grundsätzlichen Arbeitsweisen professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit aneignen. Das Buch ermöglicht Fach- kräften und solchen, die es noch werden, die eigene Professionsidentität zu klären und sie im Alltag zu realisieren. Genau das macht das Buch so nutzbar und erfolgreich.
Bielefeld, im Februar 2021
Benedikt Sturzenhecker
Vorwort
Das berufliche Handeln in der Sozialen Arbeit wird durch den reflexiven Einsatz der eigenen „Person als Werkzeug“ verwirklicht. Methodisch zu handeln bedeutet, die spezifischen Aufgaben und Probleme der Sozialen Arbeit zielorientiert, kontextbezogen, kriteriengeleitet sowie strukturiert und gleichzeitig offen zu bearbeiten. Dabei sollte man sich an Charakteristika des beruflichen Handlungsfeldes sowie an der wissenschaftlichen Vorgehensweise orientieren. Der Begriff des methodischen Handelns beschreibt eine besondere Art und Weise der Planung und der Auswertung des beruflichen Handelns, die sich vom Alltagshandeln unterscheidet. Professionelle müssen ihre Situations- und Problemanalysen, die Entwicklung von Zielen und die Planung ihrer methodischen Vorgehensweise verständigungsorientiert, mehrperspektivisch und revidierbar gestalten – immer zusammen mit den Adressaten. Es wird von ihnen erwartet, dass sie ihre Handlungen transparent und intersubjektiv überprüfbar halten, und dass sie diese berufsethisch rechtfertigen und unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher und erfahrungsbezogener Wissensbestände begründen können.
Diese kompakte Anforderungsliste an methodisches Handeln wird in diesem Buch genauer betrachtet: Was bedeutet es, im beruflichen Alltag strukturiert und offen zu arbeiten? Wie kann man sich ein verständigungsorientiertes, mehrperspektivisches und revidierbares Vorgehen vorstellen? Was sind Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur und inwiefern kann man sich an ihnen orientieren? Wie kann es möglich werden, die vielen verschiedenen Aspekte des beruflichen Handelns zu berücksichtigen, ohne subjektiv handlungsunfähig zu werden? Und wie gelingt das alles in Verständigung mit den Adressaten? Welche Vorschläge liegen hierzu schon vor?
Mit der Verlagerung der Ausbildung für die Soziale Arbeit an die Hochschulen wurden in den 1970er Jahren Fragen des methodischen Handelns für fast 20 Jahre von der Tagesordnung genommen. Man diskutierte stattdessen über die Positionierung der Sozialen Arbeit im Sozialstaat, über die Professionalisierung des Berufes und seine Verwissenschaftlichung. Erst in den 1990er Jahren wandte sich die Fachwelt wieder dem Thema „Methodisches Handeln“ zu. Es schien an der Zeit, das berufliche Alltagshandeln von Fachkräften neu in den Fokus zu nehmen. Seitdem wurden erfreulich viele und differenzierte Vorschläge zum methodischen Handeln veröffentlicht. Man kann sich mittels dickleibiger Handbücher in grundlegende Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit einarbeiten, z.B. mit dem „Grundriss Soziale Arbeit“ (Thole 2010a) oder dem „Handbuch Soziale Arbeit“ (Otto et al. 2018). Es gibt umfassende Handlungstheorien (Staub-Bernasconi 2007) und auflagenstarke Übersichten über „Methoden der Sozialen Arbeit“ (Galuske 2011; Geißler / Hege 2007; Kreft / Müller 2019). Hinzu kommen Einführungen, wie die „Grundlagen des Methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit“ (Stimmer 2012), „Sozialpädagogisches Können“ (Müller 2012) oder die „Didaktik / Methodik Sozialer Arbeit“ (Schilling 2020) sowie eine Vielzahl von Büchern, die ein spezifisches Methodenkonzept differenziert darstellen (z.B. „Systemische Modelle für die Soziale Arbeit“, Ritscher 2005) oder Arbeiten, die eine besondere Aufgabe fokussieren, wie Schwabe (2008) für die Hilfeplanung. Wozu dann noch dieses Buch?
Die meisten Konzepte sind so aufgebaut, dass sie ein besonderes Ziel, eine spezifische Adressatengruppe, einen Problemtypus oder eine Methode in den Mittelpunkt stellen und um diese herum einen schlüssigen Wirkungszusammenhang entwerfen. Im Unterschied dazu nimmt methodisches Handeln im hier beschriebenen Sinne die Aufgaben, Probleme oder Situationen, an denen Fachkräfte in ihrer Praxis ansetzen, zum Ausgangspunkt. Diese wählen ihre Vorgehensweise mit Blick auf die Anforderungen aus, die sich ihnen in dieser Situation stellen. Dazu nutzen sie Theorien, Konzepte und auch verschiedene Methoden und Techniken aus ganz unterschiedlichen Traditionen. Sie gehen notwendigerweise eklektisch (auswählend) vor, denn das u.U. notwendige relevante wissenschaftliche Wissen und die Komplexität der einzubeziehenden Bedingungen sind so weitreichend, dass sie unmöglich alle berücksichtigt werden können. Dieser Ansatz entstand in der Zusammenarbeit von Maja Heiner, Marianne Meinhold, Hiltrud von Spiegel und Silvia Staub-Bernasconi, die sich zu Beginn der 1990er Jahre über ihre Erfahrungen und Ideen für die Gestaltung der Seminararbeit mit Studierenden austauschten. Im Jahr 1994 veröffentlichten sie unter weitgehendem Verzicht auf eine theoretische Grundlegung ihre ersten Vorschläge, indem sie sog. Basics des methodischen Handelns in Checklisten /Arbeitshilfen ausformulierten (Heiner et al. 1998).
Mit diesem Buch legte ich im Jahr 2004 meine Zwischenbilanz nach zehn weiteren Jahren in Lehre und Fortbildung zum Thema „methodisches Handeln“ vor. Ich hatte mir vorgenommen, die Mitte der 1990er Jahre im Grundriss entworfenen Arbeitshilfen in einen theoretischen Zusammenhang und in eine praktikable Systematik zu bringen. Sie sollten flexibel einsetzbar, einfach zu handhaben und doch theoretisch fundiert sein. Die Grundidee war, eine Brücke zwischen vorliegenden Ansätzen für das methodische Handeln zu schlagen. Inspiriert durch die sog. common factors im Therapiebereich, also den Wirkfaktoren, die allen Therapie- und Behandlungsformen gemein sind (Frank 1981), und die Ansätze amerikanischer Autoren zum Entwurf eines generischen Handlungsmodells für die Soziale Arbeit (z.B. Pincus / Minahan 1980; Specht / Vickery 1980) durchsuchte ich klassische und zu dieser Zeit aktuelle Methodenlehren auf ihre Gemeinsamkeiten (Spiegel 1993). Es sollte kein neues, geschlossenes Modell entstehen (und schon gar nicht eine Gesamttheorie), sondern ich wollte das Gemeinsame und zugleich das „Beste“ zusammentragen und dieses mit Wissensbeständen für die Soziale Arbeit unterfüttern. Es sollte ein „Gerüst“ mit Kriterien und Leitlinien entstehen, mithilfe dessen Professionelle die vielfältigen Konzepte und Wissensbestände hinsichtlich ihrer praktischen Aufgaben durchsuchen und ausnutzen könnten. Darum gründet mein Buch nicht auf eine spezielle Theorie oder eine besondere (systemische, klienten- oder lösungsorientierte) Methodenlehre, sondern es hat viele „Paten“. Die Inhalte für dieses Gerüst kann und möchte ich nicht vorschreiben; das ist den Fachkräften vorbehalten, die es nutzen. Bei der Suche nach einer Systematik der Darstellung habe ich mich – wie fast alle Methodenlehren – an Phasen oder Schrittfolgen orientiert. Ich benutze hierfür den Begriff der „Handlungsbereiche“, weil er weniger die Assoziation weckt, man müsse die Schrittfolgen in der Reihenfolge der Darstellung praktizieren. Methodisches Handeln ist ja keine lineare, sondern eher eine spiralförmige oder zirkuläre Abfolge von Handlungen: Man steigt an irgendeiner Stelle in den Prozess ein und geht – je nach Erfordernis – vor und zurück, bis die notwendigen Klärungen und Entscheidungen erfolgt sind. In diesem Sinne sollen auch die Arbeitshilfen eingesetzt werden.
2013 habe ich das gesamte Werk noch einmal gründlich überarbeitet. Ich konnte vertiefte Erfahrungen mit dem methodischen „Werkzeug“ sammeln und erhielt viele Rückmeldungen von Studierenden und Praktikern sowie auch von Kolleginnen. Sie alle halfen mir, die Systematik zu vereinfachen und Bezüge klarer darzustellen. Die wissenschaftlichen und empirischen Wissensbestände für die Soziale Arbeit sind weiter gewachsen, was auch meinen theoretischen Ausführungen zugute kam. Zudem verändern sich ständig gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen für die Soziale Arbeit, was sich erkennbar auf die Realisierung fachlicher Standards auswirkt. Schien es in den 1990er Jahren und im Gefolge der Umstrukturierung der öffentlichen Verwaltung zunächst noch so, dass die Profession mit ihren besonderen Strukturmerkmalen aufgewertet würde, lässt sich derzeit feststellen, dass die professionelle Kunst vor dem Hintergrund der fiskalischen Prioritäten abgewertet oder gar missachtet wird. Angesichts dieser Entwicklungen wird es noch wichtiger, sich der Spezifika des Berufs zu vergewissern und berufspolitisch Position zu beziehen. Ich habe darum auf diesem Gebiet einen weiteren Schwerpunkt gesetzt.
Das Buch besteht aus zwei großen Teilen. Im Grundlagenteil beschreibe ich Voraussetzungen und Bedingungen, die das methodische Handeln konstituieren. Aus den Themenkreisen „Handlungsfeld“, „Wissenschaft“ und „Persönlichkeit“ arbeite ich Essenzen heraus, die das methodische Handeln begründen. Dieser Teil bildet die Grundlegung für den Werkzeugkasten, der aus vier Arbeitshilfenreihen für verschiedene Planungstypen des methodischen Handelns besteht.
Der Aufbau des Buches ist ebenfalls am Prinzip des Werkzeugkastens orientiert. Je nach Lerntyp („theoretisch“ oder „praktisch“) und Interesse ist es daher selektiv zu nutzen. Man kann sich zuerst den theoretischen Teil erarbeiten, um den Hintergrund der Arbeit mit den Arbeitshilfen besser zu verstehen. Man kann aber auch „pragmatisch“ – nach der Lektüre des hierfür grundlegenden vierten Kapitels – eine oder mehrere Reihen von Arbeitshilfen erproben, wobei sich Fragen auftun, die zu den ersten Kapiteln führen. Auch die Auflistung der Kompetenzen für die Soziale Arbeit interessiert nicht jede / n gleichermaßen; sie ist keine unabdingbare Voraussetzung für den Einsatz der Arbeitshilfen. Eine verbindende Funktion übernimmt das ausführliche Glossar. Hier sind die Definitionen der Begriffe untergebracht, die scheinbar selbstverständlich im Text auftauchen, aber doch intensiver geklärt werden müssen. Hierzu laden die Pfeile ➔ vor den Glossarbegriffen ein. Viele bedeutsame Diskussionsthemen konnten im Rahmen dieses Buches nur kurz gestreift oder benannt werden. Daher erscheint zu diesen Themen zumindest ein Literaturtipp, der als Wegweiser dienen und zur Vertiefung animieren soll. Zugunsten der Lesbarkeit habe ich auch weitgehend auf Zitate verzichtet und eher allgemein auf die den Ausführungen zugrunde liegenden Veröffentlichungen verwiesen.
Zum Umgang mit dem leidigen, aber wichtigen Thema der geschlechtsspezifisch eingefärbten deutschen Sprache ist anzumerken, dass weibliche und männliche Formen nach dem Zufallsprinzip verwendet wurden. Dies ist eine Notlösung zur Vermeidung des – für meinen Geschmack – unästhetischen „I“. Einem ähnlichen Umstand verdanken sich auch die Begriffe „Fachkräfte“ bzw. „Professionelle“. Sie vermeiden neben der unästhetischen Schreibweise auch die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, dass man die Bezeichnung „Soziale Arbeit“ nicht in eine griffige Berufsbezeichnung verwandeln kann: Die „Sozialarbeiterin“ wird unabweisbar mit der Tradition der „Sozialarbeit“ und eben nicht mit der „Sozialpädagogik“ in Beziehung gesetzt. Die Profession tut sich auch mit der Bezeichnung ihrer „Klientel“ schwer. Eine Auswahl unter den gängigen Begriffen – von Klienten über Kundinnen bis zu Nutzern sozialer Dienstleistung – fällt schwer. Im Rahmen des vorliegenden Buches wird der Begriff „Adressatin“ verwendet, ohne dass damit eine inhaltliche Botschaft verbunden ist. Die Praxisbeispiele sind weitgehend dem Kontext der Kinder- und Jugendhilfe entnommen, es ist aber ohne große Schwierigkeiten möglich, sie durch Beispiele aus anderen Arbeitsfeldern zu ersetzen.
Das Buch richtet sich in erster Linie an Studierende der Sozialen Arbeit. Da die Arbeitshilfen überwiegend in Fortbildungszusammenhängen entstanden sind bzw. erprobt wurden, sollten sie auch für Praktikerinnen interessant sein. Es fasst Ergebnisse der Fachdiskussion derart zusammen, dass sie in Lehre und Fortbildung vermittelbar sind (so hoffe ich). Ich habe mich bemüht, komplexe Zusammenhänge so einfach wie möglich darzustellen, ohne diese zu simplifizieren. Das Buch soll helfen, einen Handlungsprozess zu strukturieren. Anfallende Arbeitsschritte werden benannt und gekennzeichnet, aber nicht bis auf den Einsatz spezifischer Fertigkeiten, Techniken und Vorgehensweisen konkretisiert. Das wäre weder sinnvoll noch möglich. Für die Lehre gilt Ähnliches: Das Buch gibt Hinweise darauf, was gelehrt werden sollte, ersetzt aber nicht didaktische Überlegungen dazu, wie dies geschehen kann. Hierfür braucht es mehr als Vorlesungen und das Abprüfen von Wissen durch Multiple-Choice-Klausuren im hochschulischen Massenbetrieb. Obwohl es vielfältige Erkenntnisse und Vorschläge zu Lernprozessen allgemein und speziell zur Hochschuldidaktik gibt, muss eine Anleitung hierfür anscheinend noch erfunden oder doch aufgeschrieben werden. Lehrende sind gefordert, ihre Studierenden ebenso als „Koproduzentinnen“ zu betrachten, wie das für Fachkräfte im Umgang mit Adressaten erwartet wird. Auch ein Arrangement förderlicher Rahmenbedingungen, z.B. zur Verknüpfung von theoretischen und praktischen Anteilen des Studiums müsste hinzukommen.
Abschließend möchte ich auf den sog. Technologie-Verdacht eingehen, unter den man als Autorin leicht gerät, wenn man zu „praktisch“ wird. Wissenschaftliche Forschung ist vielfach darauf ausgerichtet, der Wirklichkeit „über die Schulter zu schauen“, um besser zu verstehen, welche Prozesse wie ablaufen. Das gewonnene Wissen soll für die Zwecke der Sozialen Arbeit und somit die Konstruktion von Ziel-Mittel-Zusammenhängen genutzt werden. Die Bezugsdisziplinen verfügen inzwischen über ein beachtliches Detailwissen zu den wesentlichen Aspekten Sozialer Arbeit: Es gibt Wissensbestände zu gesellschaftlichen, institutionellen / organisationellen, umweltbezogenen, kommunikativen Prozessen u.v.a.m. Die wichtigste Erkenntnis scheint aber zu sein, dass man aus all den Variablen keine stabilen Verknüpfungen bilden kann, die man als Programme zur Verhaltensoder Verhältnisänderung einsetzen kann. Die Variablen sind zu vielfältig, sie verändern sich ständig selbst und interagieren in einer unvorhersehbaren Weise. So wie sich soziale Prozesse verändern, verändern sich auch die großen Konstellationen: Gesellschaft, Organisation, Wissensbestände, Adressaten und Soziale Arbeit als Profession und Disziplin. Zudem ist es immer die individuelle Fachkraft, die „Person als Werkzeug“, die die Wirklichkeit interpretiert und ihr Vorgehen plant. Sie kann es aber niemals allein realisieren, sondern ist auf die Koproduktion mit den Adressaten angewiesen, die ihrerseits ebenso agieren. Aus diesen Gründen scheitert die Durchsetzung einer noch so gut konstruierten Technologie an den Realitäten des „Produktionsprozesses“ in der Sozialen Arbeit. Die Sorge so mancher Kritiker, dass Studierende und Fachkräfte die hier vorgestellten Arbeitshilfen im Sinne einer Technologie verstehen und abspulen würden wie ein Waschmaschinenprogramm, teile ich deshalb nicht. Wenn es mithilfe dieses Buches gelingen könnte, überhaupt erst einmal Orientierungslinien in ein anscheinend unübersichtliches Gelände zu ziehen, wäre schon viel gewonnen.
Danksagung
Das Buch ist das Ergebnis ungezählter Erfahrungen: Inhalte und Arbeitshilfen wurden in der Lehre und in verschiedenen Projekten der Fortbildung von Fachkräften der Sozialen Arbeit immer wieder eingesetzt, kritisiert und weiterentwickelt. Ich danke an dieser Stelle Studierenden und Praktikerinnen aus verschiedensten Arbeitsfeldern – v.a. aber aus der Kinder- und Jugendhilfe – für ihre Bereitschaft, sie auszuprobieren und für kritisch-konstruktive Rückmeldungen.
Das vorliegende Buch ist zugleich Ergebnis vielfältiger Dialoge über das methodische Handeln. Ohne Maja Heiner, Silvia Staub-Bernasconi, Marianne Meinhold und C. Wolfgang Müller wäre diese Konzeption des methodischen Handelns nicht entstanden. Ich profitierte von den Diskussionsrunden der ehemaligen „Methoden-AG“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), und auch im „OWL-Salon“ fand ich ein kritisches Forum für sozial- und professions-politische sowie methodische Fragen. Allen voran danke ich Benedikt Sturzenhecker, der mich mit seinen kritischen Einwänden und kreativen Ideen immer wieder zum Nachdenken brachte.
Ich widme dieses Buch meinem Mann (Carl-Maria) und meinen Kindern (Moritz-Maria und Meret-Sophie), die mich über die Jahre mit Kräften unterstützt haben. Unvergesslich bleibt mir die Beteuerung meines damals 12-jährigen Sohnes: „Du darfst ruhig arbeiten; ich muss dich nur sehen können!“
Meine dankbare Erinnerung gilt darüber hinaus meiner Freundin und Mentorin Maja Heiner, die 2013 (viel zu früh) gestorben ist.
Preußisch Oldendorf, August 2013
Hiltrud von Spiegel
1Das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit
Das erste Kapitel thematisiert Strukturelemente des Handlungsfeldes, auf die sich das methodische Handeln bezieht. Diese konstituieren den Kontext, innerhalb dessen sich die Soziale Arbeit vollzieht. Im ersten Teilkapitel (Kap. 1.1) werden vorwiegend gesellschaftliche Faktoren wie Aspekte der historischen Herausbildung des Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit und deren Position im Kanon der sozialstaatlichen Aufgaben skizziert. Die gesellschaftliche Funktion wird von Wissenschaftlerinnen vielfach analysiert, bewertet und in Theorien der Sozialen Arbeit überführt. Das spiegelt sich in Vorschlägen für einen spezifischen Gegenstand der Sozialen Arbeit, auf den sich ➔ Disziplin und Profession beziehen können und der zur Ausbildung einer beruflichen Identität der Berufsangehörigen beitragen kann, wider. Im zweiten Teilkapitel (Kap. 1.2) werden die Besonderheiten der beruflichen Tätigkeit charakterisiert, die sich als gesellschaftlich organisierte, institutionalisierte Hilfe zwischen den beiden Polen der sozialstaatlichen Auftragserfüllung und der Bearbeitung individueller Problemlagen bewegt. Sie kann nicht auf Technologien zurückgreifen und ist daher im höchsten Maße auf eine dialogische Verständigung und eine ➔ Koproduktion mit ihren Adressaten angewiesen. Im vorliegenden Buch werden diese Besonderheiten als „Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur“ bezeichnet, auf die das methodische Handeln abgestimmt sein muss.
1.1 Gesellschaftliche Aufträge und disziplinäre Positionen
Das vorliegende Kapitel skizziert die historische Herausbildung des heterogenen Handlungsfeldes (Kap. 1.1.1) und thematisiert anschließend die Bedeutung und die spezifischen Schwierigkeiten, Funktion und Gegenstand der Sozialen Arbeit zu bestimmen. Um den Nutzen solcher theoretischen Arbeiten für die Klärung des Selbstverständnisses von Professionellen zu verdeutlichen, wird je eine einflussreiche Funktions- und Gegenstandsbestimmung in ihrem theoretischen Kontext vorgestellt (Kap. 1.1.2).
1.1.1 Historische Herausbildung des Handlungsfeldes
Die Abgrenzung der Sozialen Arbeit zu anderen sozialen Berufen fällt schwer, und auch die Berufsbilder der verwandten Berufe (Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Diplompädagoge, Erzieherin, Sozialtherapeutin, Heilerziehungspfleger u.a.) überschneiden sich. Das gesamte Handlungsfeld bildet keinen systematisch strukturierten Bereich, sondern ist aus verschiedenen „Wurzeln“ und Traditionen zusammengewachsen, die im Folgenden kurz dargestellt werden.
Herausbildung staatlicher Institutionen
Institutionen und methodische Vorgehensweisen der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik haben sich im Zusammenhang der modernen Gesellschaft herausgebildet (Thiersch 1996; Münchmeier 2018). Mit der Weiterentwicklung der Produktionsformen entstanden neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und neue soziale Ungleichheiten. Parallel und immer auch in Reaktion auf diese Entwicklungen entzündeten sich Proteste (z.B. die Arbeiterbewegung), die gewachsene Herrschafts- und Produktionsverhältnisse bedrohten und die Angst vor sozialen Unruhen schürten. Um die individuellen Folgen für die arbeitenden Menschen (z. B. mangelnde Ausbildung, Verelendung, Deklassierung) und auch die gesellschaftlichen Folgen (soziale Unruhen) abzufedern – und nicht zuletzt, um den wachsenden Ansprüchen der Industrie an die Qualifikation der Arbeitskräfte gerecht zu werden – wurden dem Staat als „Vermittlungsinstanz“ zwischen Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr Aufgaben übertragen. Folgende Tendenzen lassen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verzeichnen:
■Der Staat definierte sich als Sozialstaat mit dem Anspruch, den Bürgern Gleichheit, Freiheit und Solidarität zu ermöglichen.
■Die Gesellschaft akzeptierte nach und nach bestehende Probleme als gesellschaftlich zu bearbeitende Aufgaben und entwickelte rechtliche, institutionelle und professionelle Konzepte für deren Bewältigung.
■Die sozialstaatliche Bearbeitung der Probleme und Aufgaben wurde schrittweise rechtlich festgeschrieben und von gesicherten Institutionen und wissenschaftlich fundierten Berufen wahrgenommen.
Zeitlich versetzt bildeten sich folgende Institutionen heraus:
■Der Staat organisierte und finanzierte das schulische Ausbildungssystem, um den differenzierten Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden.
■Im Hinblick auf vorhersehbare Grundrisiken in verschiedenen Lebenslagen (Krankheit, Unfall, Altersversorgung, Arbeitslosigkeit, Verelendung und Pflegebedürftigkeit) etablierten sich die Sozialversicherungen, die auf der Basis einer individuell erworbenen Anspruchsberechtigung agieren.
■Hinzu kam die Sozialhilfe im engeren Sinne als materielle Unterstützung derjenigen, die von diesen Versicherungssystemen nicht erfasst werden.
■Unvorhersehbare und unversicherbare Risiken der Lebensführung wurden und werden zunehmend durch personenbezogene Hilfen der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik bearbeitet (Thiersch 1996).
Dies wird von Sachße / Tennstedt (1991) als „Doppelstruktur des Sozialstaates“ beschrieben: die Sozialpolitik ist für die Absicherung der Lebensrisiken sowie auch sozial gerechte Chancen zuständig, während die Soziale Arbeit sich auf personenbezogene Dienstleistungen konzentrieren kann (n. Münchmeier 2018).
Sozialarbeit und Sozialpädagogik blicken auf unterschiedliche Traditionslinien zurück: Ausgangspunkt der Sozialarbeit war die massenweise materielle Verelendung der Arbeiter im Zusammenhang mit der Industrialisierung. Armut galt zuvor als ein gesellschaftlicher Status, der auf Unterstützung angewiesen war und von den Armen Demut und Abhängigkeit forderte. Im Kontext sozialer Bewegungen veränderte sich dieser Status zögerlich und immer auch mit Einschränkungen zugunsten eines Anspruches auf Hilfe durch die Gesellschaft. Sozialarbeit etablierte sich nach Thiersch (1996) als Hilfe zur Selbsthilfe angesichts materieller Verelendung, als Unterstützung und Beratung bei psychosozialen Problemen und der Alltagsgestaltung sowie als Förderung und Stabilisierung in menschenwürdigen Verhältnissen. Das Armutsproblem wurde insofern pädagogisiert, als dass man die Probleme der Armen „als Störungen der Entwicklung, des Lernens, der Motivation oder Moral“ definierte (Münchmeier 2018, 532). Die Sozialarbeit sollte eine Verhaltensänderung der Armen bewirken, damit sie ihre Probleme selbst lösen könnten – wodurch dann auch das Phänomen der Armut verschwände.
Annäherung der Traditionen
Die Sozialpädagogik entstand im mittelalterlich-frühneuzeitlichen Waisenwesen in Form von Konzepten der Armenerziehung. Thiersch (1996) kennzeichnet die Sozialpädagogik mit Bezug auf Natorp und Nohl als gesellschaftliche Reaktion auf die „Entwicklungstatsache“, also auf das Phänomen, dass Menschen in ihrem Heranwachsen unterstützt werden müssen. Daraus ergab sich ein Anspruch auf Erziehung und Bildung, insbesondere für Kinder in belasteten Lebensverhältnissen. Im Gesamtrahmen der allgemeinen Erziehung / Pädagogik entwickelte sich die Sozialpädagogik als Unterstützung bei der Bewältigung von Anpassungsund Normalitätserwartungen der Moderne und als Hilfe für das Individuum bei der Entfaltung seiner Bildungs- und Entwicklungschancen.
Die eigenständigen Traditionen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik näherten sich einander und verbanden sich in den 1960er Jahren. Der Begriff „Soziale Arbeit“ bestätigt das Ergebnis dieser Entwicklung, denn
Verbindung der Traditionen
■Sozialarbeit als Arbeit mit materiell Verelendeten befasst sich zwangsläufig mit Problemen der Entwicklung von Handlungs- und Bewältigungskompetenzen der Betroffenen, wie sie auch in der Erziehung und Bildung diskutiert werden, und
■Sozialpädagogik blickt stärker auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die für Erziehung und Bildung vorausgesetzt werden müssen und auch auf allgemeine Fragen der Hilfe, Unterstützung, Beratung und Förderung (Thiersch 1996).
Die unter diesen Aspekten gewachsene Soziale Arbeit gewann zusätzlich Bedeutung durch die Vergesellschaftung weiterer Lebensbereiche sowie den Trend zur Individualisierung der Lebensführung und zur Pluralisierung der Lebenslagen (Beck 1986). Diese Entwicklungen bergen neue Chancen, aber auch neue Belastungen für die Menschen. Die Aufgaben der Lebensbewältigung werden anspruchsvoller, schwieriger und riskanter. In einer sich individualisierenden Gesellschaft kann prinzipiell jeder an der Bewältigung seiner Lebensaufgaben scheitern, und die generellen Risiken des Lebens können unabhängig von Schichten und gesellschaftlichen Gruppen Krisen und Hilfebedarf auslösen. Neben den herkömmlichen Aufgaben der Sozialarbeit (im Kontext von Armut, Verelendung und Ausgrenzung) und der Sozialpädagogik (als Erziehung und Bildung in belasteten Verhältnissen) gibt es nun auch Angebote der Unterstützung und Beratung bzgl. der alltäglichen Schwierigkeiten der Lebensgestaltung und -bewältigung. Die Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit expandieren seit den 1970er Jahren und differenzieren sich immer noch weiter aus (Übersicht in Bieker / Floerecke 2011).
zusätzliche Aufgaben für die Soziale Arbeit
Soziale Arbeit als Teilbereich der Sozialpolitik
Soziale Arbeit ist heute ein „notwendiger und selbstverständlicher Bestandteil der modernen sozialen Infrastruktur“ (Thiersch 1996, 11). Sie agiert als Teil der Sozialpolitik im Zusammenhang der o.g. Hilfe- und Unterstützungssysteme, die auf unterschiedliche Weise zur Bewältigung heutiger Probleme der Lebensgestaltung beitragen. Ihre spezifischen Zwecke und Aufgaben werden im jeweils gegebenen politischen und finanziellen Rahmen ausgehandelt: Beispielsweise hatte in der Nachkriegszeit (ausgehende 1940er sowie 1950er Jahre) die wirtschaftliche Hilfe absoluten Vorrang, während in Zeiten des „Wirtschaftswunders“ (1960er und 1970er Jahre) die Bedeutung der Beratung und Unterstützung bei psychosozialen Problemen und bei der Gestaltung des Alltags stieg. In den 1980er Jahren waren es zunächst von Ausgliederung bedrohte Einzelne und spezielle Gruppen, auf die sich Integrations- und Partizipationsbemühungen richteten. Seit Mitte der 1990er Jahre sind wieder ganze Bevölkerungsgruppen strukturell benachteiligt, womit erneut die Hilfe in wirtschaftlich prekären Lebensverhältnissen in den Vordergrund rückt. Die gesellschaftlichen Aufträge und in ihrer Folge auch die Berufspraxis verändern sich fortwährend mit der sozialen Wirklichkeit und ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sodass sich die Soziale Arbeit auch insgesamt immer wieder neu positionieren muss (Staub-Bernasconi 2010).
Soziale Arbeit als institutionalisierte Hilfe
Soziale Arbeit ist gesellschaftlich organisierte Hilfe, also Hilfe, die – anders als im Alltagsleben – nicht auf Gegenseitigkeit beruht, sondern berufsmäßig durch ausgebildete Fachkräfte erbracht wird, die von dafür geschaffenen Institutionen bezahlt werden. Die Grundlage des Helfens ist in der Regel ein „Problem“, also etwas, das von der „Normalität“ abweicht. Mit Offe (1987, 175) lässt sich die Soziale Arbeit als „Gewährleistung gesellschaftlicher Normalzustände“ beschreiben, wobei einerseits die Besonderheit und die Individualität der Adressatinnen zu wahren, zu respektieren und zu bestätigen ist und andererseits allgemeine Regeln sowie Ordnungs- und Wertvorstellungen zum Maßstab genommen werden müssen. In ihrer gesetzlichen und institutionellen Verfasstheit ist die Hilfe in ihrer Form und ihrer Bandbreite vorstrukturiert, was voraussetzt, dass der zu bearbeitende soziale Hilfebedarf gesellschaftlich definiert und als solcher politisch anerkannt ist (Rauschenbach / Züchner 2010). Um staatliche Unterstützung zu erhalten, müssen Adressaten ihre Anliegen und Probleme so beschreiben, dass die jeweilige Organisation mit ihren Zuständigkeitskategorien berechtigt und in der Lage ist, hierauf zu reagieren (Gildemeister 1983). Die öffentlichen und freien Träger der Sozialen Arbeit bieten teilweise verschiedene und teilweise vergleichbare Leistungen an. Ihre Arbeitsteilung orientiert sich nicht systematisch an den Problemen der Adressaten; sie basiert vielmehr auf dem Subsidiaritätsprinzip, einem historisch gewachsenen Prinzip der Verteilung von Aufgaben auf die Trägerinstitutionen, das einen weltanschaulich organisierten Pluralismus bei der Aufgabenerfüllung gewährleisten soll (Merchel 2008; Bieker / Floerecke 2011).
Müller, C. W. (2009): Wie Helfen zum Beruf wurde. Juventa, Weinheim.
1.1.2 Funktion und Gegenstand Sozialer Arbeit
Die umfangreiche Diskussion um die Notwendigkeit und den Nutzen einer Funktions- und / oder einer Gegenstandsbestimmung für die Soziale Arbeit kann hier nicht geführt werden; bisher ist es nicht gelungen, verbindliche Bestimmungen zu finden (Krieger 2011). In diesem Abschnitt wird stattdessen je eine einflussreiche Funktions- und Gegenstandsbestimmung, die auch für das methodische Handeln von Bedeutung ist, in ihrem theoretischen Kontext vorgestellt. Als Beispiel für eine ➔ Funktionsbestimmung wird nun die Theorie von Bommes und Scherr (1996) vorgestellt. Sie fußt auf dem systemtheoretischen Paradigma, das weitgehend auf den Arbeiten des Soziologen Niklas Luhmann beruht.
Eine exemplarische Funktionsbestimmung: Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeidung, Exklusionsverwaltung
Bommes und Scherr nehmen an, dass man (u.a. mit Hillebrand 2010) Soziale Arbeit als organisierte Hilfe bezeichnen kann. Wer hilfebedürftig ist, bestimmen nicht Einzelne; dies ist vielmehr die Entscheidung „definitionsmächtiger Instanzen des politischen Systems“, beispielsweise der Arbeitsmarkt-, Jugend- und Sozialpolitik oder auch der Organisationen der Sozialen Arbeit selbst. Was jeweils bearbeitet wird, ist demzufolge ein Produkt gesellschaftlicher Aushandlungen, an denen Fachkräfte zwar auch, aber nicht maßgeblich beteiligt sind (Bommes / Scherr 1996, 96 f.).
Soziale Arbeit als ,organisierte Hilfe‘
Bommes und Scherr setzen diese „soziale Konstruktion sozialer Hilfsbedürftigkeit“ in Bezug zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme und speziell seiner Analyse von Exklusions- und Inklusionsmodi in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften (Luhmann 1995). Sie interpretieren diese Theorie „als Radikalisierung (und Bereinigung) des Marx’schen Grundgedankens […], dass der gesellschaftliche Zusammenhang sich gegenüber den Individuen verselbstständigt hat“ (Bommes / Scherr 1996, 99). Die Gesellschaft organisiert sich nicht entlang der physischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse der Menschen, sondern an den „Erfordernissen der Wertvermehrung“. Eine so organisierte Gesellschaft bezieht die Menschen nicht als Ganzes mit der Gesamtheit ihrer Bedürfnisse ein, sondern sie besteht aus vielen großen und kleinen Funktionssystemen (Arbeit, Familie, Schule, Gruppe), wobei jedes System besondere Zugangsbedingungen und auch Möglichkeiten des Ausschlusses entwickelt hat. Es gibt in der Gesellschaft keinen sozialen Ort (auch nicht die Familie), der die sozialen Möglichkeiten des einzelnen Menschen umfassend definiert. Jeder Mensch befindet sich zunächst außerhalb aller Funktionssysteme (auch jenem der Familie) und muss daran arbeiten, Zugang zu den Funktionssystemen zu erlangen, denen er angehören möchte oder soll. Er orientiert sich an den Zugangsbedingungen (Regeln) des Systems oder weicht von ihnen ab. Erst wenn er in ein System einbezogen ist, ist er oder sie Arbeitnehmerin, Konsument, Patientin, Schüler, Studentin usw.
Exklusions- und Inklusionsmodi in modernen Gesellschaften
Selbstsozialisation
Die neuere Systemtheorie versteht Sozialisation als Selbstsozialisation. Demnach sind die Menschen nicht als „Produkte“ ihrer Umwelt zu begreifen, sondern Sozialisation gilt als ein kommunikativer Prozess, in dem die Menschen ständig selbst entscheiden (müssen), ob sie „Konformität oder Abweichung, Anpassung oder Widerstand“ zeigen (Luhmann 1995, zit. in Bommes / Scherr 1996, 103). Probleme entstehen nicht nur aus dem Scheitern der Menschen an Anforderungen der kapitalistischen Ökonomie, sondern auch aus der Selbstexklusion (also dem selbst verursachten Ausschluss aus dem rechtlichen System, der organisierten Erziehung, der Familie oder etwa der Politik).
Soziale Arbeit als Auffang- und Zweitsicherung
Der Wohlfahrtsstaat bearbeitet generelle Exklusionsrisiken seiner Funktionssysteme (des Arbeitsmarktes, des Erziehungs-, Rechts-, Politik- und Gesundheitssystems sowie der Familiensysteme) durch generalisierte Sicherungspotenziale (des Sozialversicherungssystems) (Kap. 1.1.1). Die Soziale Arbeit übernimmt demgegenüber eine Auffang- und Zweitsicherung für die Menschen, die aus diesen Sicherungssystemen herausfallen. Die Hilfe der Sozialen Arbeit ist individuell, also auf die spezifischen Fälle zugeschnitten. Sie setzt ein, wenn generalisierte Absicherungen nicht greifen oder einsetzende Exklusionsdynamiken (Ausgrenzungsprozesse) nicht aufzuhalten sind.
drei Funktionen der Sozialen Arbeit
Bommes und Scherr arbeiten drei Funktionen der Sozialen Arbeit heraus: im Vordergrund steht die Inklusionsvermittlung als Unterstützung der Adressaten beim Erwerb der Fähigkeiten und der Motivation, die Zugangsbedingungen der Funktionssysteme zu erfüllen (das klassische Arbeitsfeld der Sozialpädagogik). Demgegenüber ist die Exklusionsvermeidung als Hilfe zu verstehen, den Ausschluss abzuwenden (das klassische Arbeitsfeld der Sozialarbeit). Darüber hinaus gibt es immer mehr Menschen, deren Exklusion verwaltet werden muss, weil sie dauerhaft aus den Funktionssystemen herausgefallen sind bzw. auch keinen neuen Zugang erhalten sollen (Bommes / Scherr 1996, 95; s. auch Noack 2006).
Die Autoren meinen, dass es mit dieser Funktionsbestimmung auf einem sehr abstrakten Niveau möglich sei, zu beschreiben, was Soziale Arbeit ist, ohne dass dieses eine Bewertung impliziere. Die Definition ist also dem Anspruch nach „wertfrei“. Jeder Professionelle muss hierzu persönlich Position beziehen und selbst entscheiden, mit welcher beruflichen Haltung und Zielsetzung er diese Funktionen in seinem Arbeitsfeld ausübt, was auch zu Identitätsproblemen führen kann.
Eine exemplarische Gegenstandsbestimmung: soziale Probleme
Staub-Bernasconi kritisiert, dass Funktionsbestimmungen vielfach bei der Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stehen bleiben, und dass diese – weil gesetzlich vorgegeben – als unveränderbar betrachtet werden. Die fremd definierten Aufgaben werden im Auftrag der Träger ausgeführt, was zu technologischen Handlungskonzepten führen kann, für die man keine wissenschaftliche Analyse, Begründung und Reflexion braucht (Staub-Bernasconi 2006, 14 ff.). Nach ihrer Überzeugung muss geklärt werden, wie diese Aufgaben ethisch-moralisch zu bewerten sind und welchen Stellenwert das disziplinäre Wissen einnimmt. Die Wissenschaft hat auch die Aufgabe, die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit von einem begründeten Standpunkt aus zu beurteilen. Im Folgenden wird ihre Bestimmung des ➔ Gegenstands der Sozialen Arbeit dargelegt.
Einen solchen Standpunkt bilden nach ihrer Überzeugung die individuellen und kollektiven Bedürfnisse von Menschen – als psychische und soziale Tatbestände, die unabhängig von politischen Definitionen existieren. Die Lebenslagen, Lebensweisen und Deutungsmuster von Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft unfähig sind, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, Lernprozesse zu bewältigen und / oder ihr Leben aufgrund eigener Ressourcen zu gestalten, bilden die Kriterien für eine Positionierung gegenüber den jeweils herausgearbeiteten gesellschaftlichen Funktionen der Sozialen Arbeit (Staub-Bernasconi 2006, 26).
individuelle und kollektive Bedürfnisse
Im Zentrum ihrer Theorie steht die Unterscheidung von Bedürfnissen und Wünschen. Biologische, psychische und soziale Bedürfnisse sind allen Menschen gemeinsam, also universell, wobei die Formen und Mittel ihrer Befriedigung an den jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext gebunden sind. Bedürfnisse müssen befriedigt werden, unabhängig von (sozial-)politischen Konjunkturen. Wünsche können dagegen begrenzt oder unbegrenzt, legitim und illegitim sein. Sie sind legitim, wenn sie zur Gesundheit und zum psychischen Wohlbefinden des einzelnen Menschen beitragen und die Bedürfniserfüllung anderer Menschen nicht beeinträchtigen. Wenn Menschen aber ihre Wünsche auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung anderer realisieren oder die ökologischen Systeme als Voraussetzung des Überlebens von Menschen, Tieren und Pflanzen gefährden oder gar zerstören, sind diese Wünsche illegitim.
Bedürfnisse und Wünsche
Staub-Bernasconi postuliert als Gegenstand der ➔ Wissenschaft Soziale Arbeit „Soziale Probleme“. Diese bezeichnet sie als Folgen
Gegenstand: soziale Probleme
■nicht erfüllter Grundbedürfnisse und legitimer Wünsche und damit unzureichender Ausstattung von Menschen bei gleichzeitiger überdurchschnittlicher Ausstattung anderer Menschen und Gruppen;
■asymmetrischen Gebens und Nehmens und damit von Austauschbeziehungen, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhen;
■behindernder Machtverhältnisse und
■ethisch-moralischer Dilemmata und Asymmetrien im Hinblick auf die Ausbalancierung von Pflichten und Rechten gegenüber sich selbst und anderen Mitgliedern der Gesellschaft (Glossar in Heiner et al. 1998, 324).
Die Definitionsmacht darüber, wer mit welchen Problemen als hilfebedürftig anerkannt wird, muss allen Beteiligten gleichermaßen zugesprochen werden: sowohl „den Adressaten, den Trägern als Repräsentanten der Gesellschaft als auch den Fachkräften aufgrund ihres wissenschaftlichen Wissens und ihrer Professionsethik. Professionelle Diagnose bestimmt, an welchen Punkten interveniert wird (Individuum oder System)“ (Staub-Bernasconi 2010, 53).
Erklärung sozialer Probleme
Zur Erklärung Sozialer Probleme zieht Staub-Bernasconi alle Grundlagendisziplinen und wichtigen Kulturtheorien heran. Soziale Probleme können nicht nur als Folgen psychischer oder sozialer Strukturen und Prozesse verstanden werden, sondern auch von Natur-, Umweltverschmutzungs- und Hungerkatastrophen, von Krankheiten und körperlichen oder geistigen Behinderungen verursacht werden. Staub-Bernasconi sucht daher nach „transdisziplinären“ Erklärungen, die die mikro- und die makrosoziale Ebene verknüpfen. Hinsichtlich der moralischen Beurteilung Sozialer Probleme geht sie davon aus, dass sich individuelle Werte (Freiheit oder Autonomie) und soziale Werte (Zusammenhalt, gesellschaftliche Stabilität und Ordnung, Solidarität und Loyalität) gegenseitig bedingen. Ein Bezugspunkt müssen daher Normen sein, „die eine sachgerechte Kombination von Selbst- und Fremdbestimmung, Individual- und Sozialrechten sowie Pflichten ermöglichen“ (Staub-Bernasconi 2002, 252).
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
Staub-Bernasconi knüpft damit auch an die UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948 an und bezeichnet die Soziale Arbeit als „Menschenrechtsprofession“ (s. hierzu auch die internationale Definition der International Federation of Social Workers (IFSW) 2000, die zwischen Fachkräften bzw. Berufsverbänden aus rund 70 Nationen ausgehandelt wurde und die unverkennbar Staub-Bernasconis Handschrift trägt). Gemäß dieses Postulats muss es die Aufgabe beruflicher Sozialer Arbeit sein, „Menschen zu befähigen, ihre Bedürfnisse so weit wie möglich aus eigener Kraft, d.h. dank geförderten und geforderten Lernprozessen zu befriedigen“ und andererseits „darauf hinzuarbeiten, dass menschenverachtende soziale Regeln und Werte – kurz, dass behindernde Machtstrukturen in begrenzende Machtstrukturen transformiert werden – so weit sie der Sozialen Arbeit zugänglich sind“ (Staub-Bernasconi 2002, 254). Die Analyse von Machtstrukturen und der Auswirkungen von Macht sind ihr ein besonderes Anliegen: Sie thematisiert und problematisiert immer wieder die beiden Begriffe „Macht“ und „Hilfe“ und ihre Unvereinbarkeit bzw. Kombination (Staub-Bernasconi 1998). Neben vielfältigen traditionellen Arbeitsweisen zählt sie auch die Einflussnahme auf Wirtschaft, Bildungssystem, (Sozial-)Politik und Rechtssystem zum professionellen Instrumentarium. Eine wissenschaftsbasierte Profession wie die Soziale Arbeit muss „ihr Wissen über Soziale Probleme für öffentliche Entscheidungsträger zugänglich machen und sich in die (sozial-)politischen Entscheidungsprozesse über mögliche Problemlösungen einmischen“ (Staub-Bernasconi 2002, 254).
Bezugspunkt systemistisches Paradigma
Staub-Bernasconi benutzt die Kategorie „Soziale Probleme“ als Ausgangspunkt für eine „transdisziplinäre human- und sozialwissenschaftliche Theorieentwicklung“ und versucht, dieses theoretische Wissen als Begründung für das Veränderungs- und Professionswissen Sozialer Arbeit fruchtbar zu machen. Ihr Bezugspunkt ist das „systemistische“ Paradigma nach Bunge und Obrecht, und ihre Definition Sozialer Probleme integriert „sowohl Probleme von Individuen als auch Probleme im Zusammenhang mit einer Sozialstruktur und Kultur“ (Staub- Bernasconi 2002, 250; zur Pluralität systemischer Ansätze in der Sozialen Arbeit s. Krieger 2010).
Die Gegenstandsbestimmung von Staub-Bernasconi wurde ausgewählt, weil sie m.E. plausibel ausgearbeitet ist und dazu auffordert, sich selbst eine berufsethische und berufspolitische Position gegenüber den Funktionszuschreibungen zu erarbeiten. Insgesamt hat die Soziale Arbeit seit ihrem Entstehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Anzahl von Theorien und darin eingebettete Funktions- und Gegenstandsbestimmungen (eine korrekte Unterscheidung findet man in der vorliegenden Literatur nicht) hervorgebracht, die die Diskussion sehr bereichert haben. Die Theorien fokussieren sehr unterschiedliche Zugänge, Fragestellungen und Denkansätze. May unterscheidet in seiner Übersicht alltags-, lebenswelt-, lebenslagen- und lebensbewältigungsorientierte Ansätze sowie professionstheoretische, systemtheoretische, diskursanalytische und psychoanalytische Ansätze. Er bemängelt, dass diese Ansätze beziehungslos nebeneinander stehen. Selbst bei großen Ähnlichkeiten der Denkfiguren gibt es weder Kritik noch wechselseitige Verweise (May 2008), was zu beklagen ist, denn das könnte die Diskussion sehr befruchten.
Entwicklung einer eigenen Position
Gemein ist allen Theorien über Soziale Arbeit, dass sie die wechselseitige Bedingtheit von staatlichem Auftrag, institutioneller Organisation und personenbezogener Arbeit mit den Adressaten betonen. Und alle fokussieren mehr oder weniger ausdrücklich eine Arbeit an Problemen (und der Stärkung der Ressourcen) mit dem Ziel der „Normalisierung“, sodass sich die Konturen der Sozialen Arbeit hiermit gut umreißen lassen. Die scheinbare „Unübersichtlichkeit“ der Theorien liegt in der Eigenart der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion. Es wird, kann und sollte nicht die eine, allumfassende Theorie der Sozialen Arbeit geben; jede Theorie expliziert einen anderen Aspekt der umfänglichen Materie. Einen Überblick über klassische Theorien sowie Kurzfassungen modernerer Theorien bietet Thole (2010a); s. auch Füssenhäuser (2018).
notwendige Vielfalt der Theorien
Thole, W. (2010a): Grundriss Soziale Arbeit. Leske und Budrich, Opladen
1.2 Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur
In diesem Teilkapitel werden verschiedene Aspekte der beruflichen Handlungsstruktur thematisiert. Die Darlegungen beginnen mit einer Skizze der gesellschaftlich-institutionellen Verfasstheit der Sozialen Arbeit, wonach Fachkräfte zwischen den bürokratischen Anforderungen ihrer Institution und den individuellen Problem- und Lebenslagen der Adressatinnen balancieren müssen (doppeltes Mandat, Kap. 1.2.1). Es folgen gesellschaftsanalytische, philosophische und auch biologisch-psychologische Ausführungen, die alle auf ihre Weise eine Subjektorientierung begründen (Kap. 1.2.2). Weiterhin wird das strukturelle Technologiedefizit der Sozialen Arbeit beschrieben, das Folgen für den Umgang mit Planung und Evaluation zeitigt (Kap. 1.2.3). Das sog. „uno actu-Prinzip“, also der Zusammenfall von Produktion und Konsumtion, gilt auch für die Soziale Arbeit, weshalb Fachkräfte auf eine Koproduktion mit ihren Adressaten angewiesen sind (Kap. 1.2.4). Diese vier Besonderheiten werden als „Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur“ bezeichnet, weil sie die Art und Weise der Berufsausübung entscheidend beeinflussen.
1.2.1 Doppeltes Mandat
gesellschaftliche Aushandlung von Hilfebedarf
Das ➔ doppelte Mandat entsteht u.a. aus dem Umstand, dass die Soziale Arbeit eine „staatsvermittelte“ Profession ist. Der Staat fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen der Profession und ihrer Klientel, indem festgelegt wird, welchen Zielgruppen welche Leistungen und welche Ressourcen zuteilwerden. Dabei werden Bedürfnisse und Rechtsansprüche der Adressaten auseinanderdividiert: bearbeitet wird nicht jede Bedürfnisäußerung, sondern nur, was als Aufgabe der Sozialen Arbeit ausgehandelt und gesetzlich verankert ist (Kap. 1.1.1). Auf diese Weise werden die Bedürfnisse der Betroffenen in politisch akzeptierten und finanzierten „Bedarf“ verwandelt. Die Aushandlung von Hilfebedarf geschieht in der politischen Öffentlichkeit und ist in den Medien zu verfolgen. Im Bereich der Sozialversicherungsleistungen gibt es hierzu immer wieder öffentliche Diskussionen; im Bereich der Sozialen Arbeit erfolgt das Ganze geräuschloser – und meist auch ohne Beteiligung der ➔ Profession.
Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen
Dabei werden tendenziell strukturelle, gesellschaftliche Problemlagen definitorisch in individuelle Fälle umgewandelt, die von Fachkräften mit den Mitteln der Sozialen Arbeit bearbeitet werden können. Damit ist der implizite Auftrag verbunden, die individuellen Motive und Handlungsorientierungen der Adressaten in der Annahme / Hoffnung zu verändern, dass damit auch die verursachende Gesellschaftsstruktur aus dem Fokus verschwindet (Böllert 2018). Als Strategien gelten sowohl Hilfekonstruktionen als auch kontrollierende Interventionen, wenn Hilfe nicht greift.
Parteilichkeit als Identitätsstrategie
Diese Doppelstrategie von Hilfe und Kontrolle wurde besonders in den 1970er Jahren als „Grundwiderspruch“ analysiert und thematisiert. Die konstruierte Dualität forderte Fachkräften scheinbar eine Entscheidung ab: für eine Identifizierung mit der Institution (Kontrolle) oder für die stellvertretende Durchsetzung von Adressateninteressen (Hilfe). Politisch-moralisch gesehen war das für viele „kritische Sozialarbeiter“ keine Frage, weshalb das Konzept der Parteilichkeit großen Einfluss gewann. Im Kern ging es darum, den wohl verstandenen Bedürfnissen und Interessen der Adressaten gewissermaßen „undercover“ und gegen die Kontrollinteressen der staatlichen Institutionen zu ihrem Recht zu verhelfen. Hierfür sollten die vorhandenen institutionellen Handlungsspielräume genutzt werden, die sich aus der ➔ technischen Autonomie der Fachkräfte ergaben (White 2000). Teile der Frauenbewegung arbeiteten das Konzept der Parteilichkeit offensiv aus, was möglich war, weil sie ihre Arbeit außerhalb der staatlichen Institutionen ansiedelten (z.B. autonome Frauenhäuser oder frei getragene feministische Mädchenarbeit).
Gefahr durch Parteilichkeit
Das Prinzip der Parteilichkeit birgt jedoch die Gefahr, dass Fachkräfte ihre professionelle Identität auf die von ihnen gesellschaftsanalytisch herausgearbeiteten Interessen und Bedürfnisse ihrer Adressatinnen gründen, ohne diese direkt zu beteiligen. Das kann zur Vermischung von Interessen und zum Verlust der professionellen Distanz führen. Adressatinnen fühlen sich in solchen Settings eher als Objekte und verweigern die Mitarbeit, was wiederum zur Enttäuschung der engagierten Fachkräfte beiträgt. Zudem sind Fachkräfte eigenständige Akteure. Sie können nicht parteilich arbeiten, denn sie bewegen sich in einem sog. „Leistungsdreieck“ von Leistungsempfängern (Adressaten / Nutzerinnen), Kostenträgern (Auftraggeber / Kommune) und Leistungsträgern (Einrichtungen und Dienste) und verfolgen immer auch eigene Interessen gegenüber allen Beteiligten.
Eine andere Idee, den „Grundwiderspruch“ zu entschärfen, war es, sich – wie in den USA – als selbstständige Professionelle niederzulassen und somit nur den Bedürfnissen und Interessen der Adressaten verpflichtet zu sein (Kap. 2.1.1). Diese Frage stellte sich in Deutschland – und auch in der Schweiz und in Österreich – allerdings nur theoretisch, denn nur Psychotherapeuten bzw. Psychologinnen können sich in freier Praxis niederlassen und selbst mit den Klienten abrechnen. Es gibt zwar mehr und mehr Fachkräfte, die ihre sozialen Dienstleistungen unabhängig von den klassischen Trägern Sozialer Arbeit anbieten, aber die Struktur der Arbeit verändert sich nicht wesentlich. Die institutionelle Verfasstheit der Sozialen Arbeit ist Realität, und die Fachkräfte werden eben nicht von ihren Adressaten bezahlt, sondern von staatlich finanzierten Trägern. Daher ist Soziale Arbeit keine reine Dienstleistung, und Adressaten können keine Kunden oder Mandanten sein. Sie kaufen die angebotenen Leistungen nicht,
Anwaltschaft in freier Praxis?
„weil erstens für viele ,Produkte‘ der kommunalen Sozialverwaltung kein Markt existiert und weil zweitens Sozialpolitik – als Politik eben – das Angebot der als notwendig erachteten Leistung normativ bestimmt“ (Ortmann 1996, 65).
Für viele Leistungen der Sozialen Arbeit würden sich auch keine Käufer finden, weil sie mitunter gegen den erklärten Willen von Adressatinnen erfolgen, wie z.B. die Sicherstellung des Kindeswohls nach SGB VIII (Kap. 1.2.4).
Eine Entscheidung für die eine oder andere Seite des Grundwiderspruchs wurde Fachkräften in Wirklichkeit nie abgefordert, denn Hilfe und Kontrolle sind zwei Seiten des gleichen Sachverhalts: Hilfe kann als andere Form der Kontrolle gesehen werden (Urban 2004). Das zeigt sich am deutlichsten im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe, speziell in den Jugendämtern. Im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) sind Hilfen zur Erziehung für Familien und staatliches Wächteramt nicht strukturell voneinander zu trennen. „Hilfen können sogar die Funktion haben, das staatliche Wächteramt zu erfüllen“ (Urban 2004, 34). Fachkräfte müssen verantwortlich mit dem doppelten Mandat balancieren, wobei sich die Frage nach den Kriterien für Kontroll- und Hilfemaßnahmen stellt. Fachkräfte übernehmen meistens die Normalitätsstandards der gesellschaftlichen Institutionen, obwohl sie vielleicht meinen, die Interessen ihrer Adressaten zu vertreten. Diese Haltung wird problematisch, wenn sie unreflektiert bleibt oder so weit geht, dass man Kontrollmaßnahmen in Hilfe (um-)deutet, um Widersprüche im eigenen „Helferselbstbild“ auszugleichen (Urban 2004, 190).
Hilfe ist Kontrolle
Expertentum versus Diskursivität
Urban hat idealtypisch herausgearbeitet, wie Fachkräfte ihren Umgang mit dem doppelten Mandat in ihr berufliches Selbstverständnis integrieren. Sie stellt zwei Idealtypen vor: Die einen verstehen sich als Expertinnen und betonen ihre Autonomie als Fachkraft. Sie entscheiden aufgrund ihres persönlichen Gespürs und mithilfe professioneller Diagnosen über die Art und Weise der Hilfegewährung und setzen diese durch. Sie übermitteln den Adressaten ihre Erklärungen und Deutungen und verhandeln nicht mit ihnen. Eine externe Kontrolle der Arbeit wehren sie eher ab. Den anderen Typus bilden aushandlungsorientierte Fachkräfte, die sich selbst über eine gewisse Diskursivität definieren. Sie erheben ihre Diagnosen mehrperspektivisch und beziehen ihre Adressaten und ihre Kolleginnen so weit wie möglich in die Entscheidungsfindung ein (Urban 2004). Die Debatte um das Spannungsfeld zwischen Expertentum und Aushandlung durchzieht viele Bereiche der Sozialen Arbeit und wird teilweise sehr polarisierend geführt (s. die Diskussion um den Diagnosebegriff in Kap. 2.2.2). Darum sei an dieser Stelle herausgestellt, dass ich mit meinen Darlegungen den Aushandlungstypus präferiere.
Konsequenzen aus dem doppelten Mandat
Das doppelte Mandat hat nichts von seiner Bedeutung verloren, auch wenn es sich um zwei Seiten derselben Medaille und nicht um einen Grundwiderspruch handelt. Fachkräfte sollten sich darüber klar werden, welche Position sie ihm gegenüber einnehmen und welche Folgen dies für ihre professionelle Identität hat:
■Es macht einen Unterschied, ob man sich als Expertin definiert, die gezielt Änderungen im Verhalten ihrer Adressaten „herbeiführt“, oder ob man Partizipation und Aushandlung als Leitlinien der Arbeit versteht und sich selbst als Assistenz bei der Suche nach gangbaren Wegen anbietet (Kap. 3.1).
■Man muss die gesellschaftlichen und institutionellen Arbeitsaufträge und die damit verbundenen Interessen in der eigenen Einrichtung untersuchen und bewerten. Wie wird der Bedarf definiert? Wo werden Bedürfnisse von Adressaten nicht aufgegriffen? Inwiefern wird Kontrolle ausgeübt, wo Hilfe notwendig wäre?
■Zu fragen ist auch, wo gesellschaftliche Strukturen ungerechtfertigt in individuelle Probleme umgedeutet und der Sozialen Arbeit zur Lösung übergeben werden. Ggf. muss eine Einrichtung die Aufgaben, die mit den Mitteln der Sozialen Arbeit nicht zu bearbeiten sind, in die Verantwortung der Politik zurückgeben.
Urban, U. (2004): Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle. Juventa, Weinheim
1.2.2 Subjektorientierung
Adressaten als Objekte von Erziehung und Sozialer Arbeit
Wenn ➔ Individualisierung und Pluralisierung die Lebensbedingungen charakterisieren, sollte das für die Soziale Arbeit grundlegende Menschenbild darauf abgestimmt sein. Die Bandbreite der pädagogischen Grundannahmen schwankte im Lauf der Geschichte zwischen weitgehender Formbarkeit (Kind als tabula rasa, als Objekt von Erziehung) und der Annahme, dass der Mensch von Geburt an ein eigenständiges Subjekt ist, das sich und seine Identität unter Verwendung der ihm verfügbaren individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen selbst entwickelt. Je stärker die Vorstellung von Formbarkeit ist, desto höher die Konjunktur von Erziehungs- und Trainingsprogrammen und somit auch die Erwartungen an die Veränderungsmöglichkeiten durch Soziale Arbeit und Erziehung. Die (im erzieherischen Sinne „optimistische“) Überzeugung, man könne Menschen durch gut geplante Interventionen zu einem spezifizierten Ziel führen, nährt so radikal unterschiedliche Ansätze wie kommunistische oder nationalsozialistische Volkserziehung oder auch problem- oder zielorientierte ➔ Konzepte (etwa Antigewalttraining oder feministische Erziehung).
Die (erzieherisch „pessimistische“) Grundannahme, dass sich jeder Mensch seine eigene Biografie mit eigenen Zielen erschafft, ist hingegen seltener vorzufinden. Hierzu zählen etwa das Prinzip Summerhill (A.S. Neill), konstruktivistische Ansätze und das Konzept „Familiengruppenkonferenz“ bzw. „Familienrat“ (Hansbauer et al. 2009). Subjektorientierte Konzepte halten sich mit Zielen eher zurück und konzentrieren sich darauf, Ressourcen zu erschließen und die Bedingungen für das Aufwachsen so zu arrangieren, dass sich Eigenaktivität und Eigenverantwortung herausbilden – wobei davon auszugehen ist, dass die förderlichen Bedingungen je nach ➔ Lebenslage eines Individuums bzw. einer Gruppe sehr verschieden sind. Die methodische Vorgehensweise bezieht sich auf die Unterstützung und Begleitung der subjektgesteuerten Entwicklung.
Adressaten als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung
Die Subjektorientierung wird auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Art und Weise der menschlichen Wahrnehmung und der darauf bezogenen ➔ subjektiven Wirklichkeitskonstruktion gestützt. Menschen nehmen die Wirklichkeit nach einem individuellen Modell und auf der Folie ihres erfahrungsbedingten und theoretischen Vorverständnisses wahr: Sie rekonstruieren Beziehungen und auch sog. harte Fakten selektiv, im Lichte ihres Modells der Wirklichkeit. Das Vorverständnis beeinflusst die Wahrnehmung dessen, was man für bedeutsam hält, sowie die Suche nach Erklärungen desselben. Man nimmt das auf, was sich mit bisherigen Erfahrungen und Einschätzungen („Deutungsmustern“) deckt, und holt nicht systematisch Informationen über andere mögliche Zusammenhänge ein. Das Wahrgenommene wird zu Kausalketten verknüpft und auf vergleichbare Phänomene übertragen, auch wenn sich die Kontexte dieser Phänomene unterscheiden. So bilden sich Deutungsmuster von selbst heraus. Hierzu ist anzumerken, dass die Auffassungen über die Bandbreite der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion auseinander gehen. Sog. radikale Konstruktivisten bestreiten, dass es überhaupt so etwas wie eine gemeinsam geteilte und damit annähernd objektive Wirklichkeit gibt, während moderate Auffassungen von graduellen und partikulären Unterschieden ausgehen, die sich aber doch um einen beschreibbaren Kern kulturspezifischer Gewissheiten (Normalitätsstandards) gruppieren. Für die Soziale Arbeit ergibt sich dann Handlungsbedarf, wenn Wahrnehmungen und Konstruktionen von Adressatinnen so weit von allgemein geteilten Standards abweichen, dass ihre Chancen auf Inklusion gefährdet sind, bzw. ihre Exklusion aus einem oder mehreren Funktionssystemen droht (Kap. 1.1.2).
subjektive Wirklichkeitswahrnehmung und -konstruktion
Vor diesem Hintergrund gestaltet sich der Umgang mit Adressaten schwierig. Kunstreich et al. (2004) zweifeln an, dass ein wirkliches Verstehen möglich ist. Es müsste eher eine „dialogische Verständigung“ angestrebt werden.
dialogische Verständigung
Fachkräfte sollten Adressaten als andersartige, aber gleichwertige Beteiligte verstehen und sich mit diesen auf ein „gemeinsames Drittes“ verständigen, z.B. auf ein Ziel und einen Weg dorthin. Damit gewinnen sie eine ausgehandelte Grundlage, auf die der jeweils nächste Arbeitsschritt aufbauen kann. Die Rolle der Professionellen beschränkt sich hierbei auf eine, auch von den Adressatinnen so gesehene „nützliche Assistenz“ (Kunstreich et al. 2004).
Konsequenzen aus der Subjektorientierung
Ich gehe von der Subjektivität jedes einzelnen Menschen aus, was bedeutet, dass die Erarbeitung einer subjektiven Identität zu den Lebensaufgaben der Individuen gehört (Haußer 1995, Beck 1986). Soziale Verhältnisse – und damit Ressourcen für die Entwicklung derselben – werden weitestgehend gesellschaftlich produziert. Sie bilden das „Material“ für diese Identitätsarbeit und stehen den Menschen je nach gesellschaftlichem Status und Lebenslage in sehr unterschiedlichem Maße zur Verfügung:
■Eine plurale Gesellschaft, die ihren Mitgliedern ein hohes Maß an Individualisierung abfordert, muss auch die Ressourcen für solche Entwicklungsprozesse bereitstellen. Die Adressatinnen sollten (entwicklungs-)förderliche Bedingungen vorfinden, die es ihnen erlauben, subjektive Identität und Ich-Stärke auszubilden. Fachkräfte sind daher gefordert, sich in gesellschaftliche Verteilungsdiskussionen einzumischen, um die materiellen Rahmenbedingungen zu beeinflussen.
■Eine Soziale Arbeit, die der Vorstellung von der Selbstbildung des Subjekts folgt, muss sich auf das Arrangement einer (entwicklungs-)förderlichen Umgebung konzentrieren (z.B. für die Gestaltung eines Lebens in Würde für Menschen mit geistiger Behinderung oder an Demenz Erkrankte).
■Hierzu passt eine berufliche Haltung, die jeden Menschen als eigenständiges Subjekt wertschätzt, das seinen eigenen Weg gestaltet, und nicht als Objekt, das auf seine pädagogische Prägung wartet. Die berufliche Aufgabe liegt daher in der Unterstützung von Selbstbildungsprozessen statt in einer „Menschenveränderung nach Plan“.
■Man kann optimistisch darauf hoffen, dass ein Subjekt in jeder Situation danach strebt, „das Beste“ aus seiner Lebenslage zu machen. Assistenz bedeutet daher auch, die Motivation für ein „besseres Leben“ (Böhnisch 2011) zu wecken und Adressaten auf dem Weg zu einem für sie besseren Leben zu begleiten.
■Methodisches Handeln erfordert, die subjektiven Konstruktionen aller Beteiligten in ihrer biografischen Gewordenheit und in ihrem lebensweltlichen Kontext zu erkunden und miteinander in Beziehung zu setzen.
■Da es nicht möglich ist, den jeweils anderen in allen Facetten zu „verstehen“, sollte es doch gelingen, sich „dialogisch“ auf Problemverständnis, Ziele und Vorgehensweisen zu verständigen.
■Diese Erkenntnisse betreffen nicht nur die Wirklichkeitskonstruktionen der Adressatinnen, sondern auch jene der Fachkräfte und Wissenschaftler. Niemand ist allein das Maß aller Dinge und kann die eigene Sicht absolut setzen oder den Weg missionarisch und unter Einsatz der institutionellen Definitionsmacht für die Adressatinnen verbindlich festlegen.
1.2.3 Technologiedefizit
Seitdem Soziale Arbeit an Hochschulen gelehrt wird, arbeitet man auch daran, wissenschaftlich abgesicherte ➔ Technologien zu entwickeln. Die Grundidee war zunächst, dass die Bedingungen sozialer Prozesse ebenso gesetzmäßig erklärbar sein müssten wie naturwissenschaftliche Phänomene. Daraus folgte die Überlegung, dass man das Erklärbare auch in soziale Technologien umwandeln könne. Der Niederländer van Beugen (1972)