Michael Endes Philosophie im Spiegel von "Momo" und "Die unendliche Geschichte" - Alexander Oberleitner - E-Book

Michael Endes Philosophie im Spiegel von "Momo" und "Die unendliche Geschichte" E-Book

Alexander Oberleitner

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Beschreibung

Michael Ende (1929–1995) wird fälschlicherweise oft als »Kinderbuchautor« abgestempelt, dabei richten sich seine Werke nicht (allein) an Kinder und Jugendliche, sondern sind durchdrungen von einer Vielzahl philosophischer Fragestellungen und Reflexionen. Anhand seiner beiden bekanntesten Romane »Momo« (1973) und »Die unendliche Geschichte« (1979) arbeitet der Autor kritisch und methodisch höchst reflektiert das bisher kaum gewürdigte philosophische Denken Endes heraus und ordnet es in einen größeren philosophiegeschichtlichen Kontext ein. Endes Werke grenzen sich auf Grund ihres ausgeprägt reflexiven Charakters nicht nur vom Genre »Fantasy« ab, er vertritt auch eine eigene, vom Schöpferischen ausgehende Kunsttheorie und Anthropologie. Damit einher geht – vor allem in »Momo« – eine klare Kapitalismuskritik sowie Reflexionen über die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit einer ursprünglich-schöpferischen Existenz des Menschen unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen.

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Alexander Oberleitner

Michael Endes Philosophie

im Spiegel von Momo und Die unendliche Geschichte

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.eISBN (PDF) 978-3-7873-3890-0eISBN (ePub) 978-3-7873-3891-7

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Vorwort

Siglen

TEIL I · Grundlagen

A.Einleitung

1. Motivation

2. Auswahl bisher vorliegender Veröffentlichungen zum Forschungsbereich

3. Methodik und Zielsetzung

4. Quellen

B.Biographische und textliche Grundlagen

1. Biographische Andeutungen

2. Exkurs: Über die Anthroposophie und Endes Verhältnis zu ihr

3. Kurze Inhaltsangabe der Romane »Momo« und »Die unendliche Geschichte«

Momo | Die unendliche Geschichte

C.Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes

1. Über die Möglichkeit einer philosophischen Interpretation poetischer Texte

2. War Michael Ende ein Gegner des logischen (begrifflichen) Denkens?

3. Ausblick auf ein mögliches philosophisches Denken Endes

Reflexivität: Ende im Vergleich mit J. R. R. Tolkien | Kurzer Exkurs zu J. R. R. Tolkien | Die Geschichte eines Mißverständnisses | Über den reflexiven Charakter der Unendlichen Geschichte | Ethik

4. Warum »Momo« und »Die unendliche Geschichte«?

5. Ergebnisse

TEIL II · Momo oder Die Kälte des Kapitalismus

A.Der Weg zum Nirgend-Haus

B.Die neue Welt desMarxentius Communus

1. Momo in der Geschichte und eine Geschichte in Momo

2. Ende und der Marxismus

C.Der Dämon des Herrn Fusi

1. Ein Besuch mit Folgen

2. Der Ursprung des Kapitalismus

Sein und Bewußtsein | Sinnfragen | Empirismus und Quantifizierung

3. Zusammenfassung

D.Die Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse

E.Der Wettlauf in die Unfreiheit

1. Die Konsumismusfalle

2. Gigis Begriff der Konkurrenz

F.Der wohlgeordnete Weltuntergang

G.Die Angst vor dem Tod

1. Fusi revisited

2. Der Schwindel der Freiheit

H.Größer als die Angst

1. Im Herzen

Die Harmonie der Sphären | Was ist Zeit?

2. Momo singt

I.Ergebnisse

TEIL III · Die unendliche Geschichte oder Tu, was du willst!

A.Die Geschichte der Geschichten

B.The Neverending Story: Die Rache der Grauen Herren

C.Die Verwüstung der Innenwelt

1. Phantásien in Gefahr

Innen und Außen | Ist die Zerstörung Phantásiens ein privates Problem Bastians?

2. Mondenkind

3. Die Wechselwirkung

D.Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux

1. Die Erschaffung Phantásiens

Vor dem Aufbruch: Kurzer Exkurs zu Nietzsche | Wille und Wunsch

2. Der Kindliche Kaiser

Xayíde | Die Stadt der verlorenen Seelen

3. Die Wasser des Lebens

E.Ergebnisse

TEIL IV · Die Grenzen Phantásiens: Keine Kritik

A.Der Künstler als Philosoph?

B.Das Denken Michael Endes im größeren philosophischen Kontext

1. Marx oder Brecht?

2. Das Wesen der Erfahrungswissenschaft

3. Die Vermittlung zwischen Phantásien und »Menschenwelt«

4. Die Rolle der Mystik im Denken Michael Endes

C.Resümee und Beantwortung der Grundfragestellung

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Quellenangaben zu den einleitenden Zitaten

Namenregister

VORWORT

Comme l’on serait savant si l’on connaissait bien seulement cinq à six livres …1 – Gustave Flaubert –

Die unendliche Geschichte ist das erste Buch, an dessen Lektüre ich mich erinnern kann. Im Grunde war ich als Volksschüler sowohl mit dem Inhalt als auch mit dem (für mich) ungewohnt kleinen Schriftbild des Romans heillos überfordert, wollte aber aus kindlichem Ehrgeiz nicht hinter meiner älteren Schwester zurückstehen, die das Buch mit großer Begeisterung gelesen hatte. Daß ich damals dennoch bis zu Bastians glücklicher Rückkehr in die »Menschenwelt« vorgedrungen bin, verdanke ich meiner Mutter, die sich die Zeit nahm, mich durch den Roman zu begleiten, mir manche Passagen vorzulesen und andere, die ich nicht verstand (oder die mich mit Angst erfüllten), kindgerecht zu erklären. Was sie mir bei dieser und unzähligen anderen Gelegenheiten vermittelt hat, zählt zu den wichtigsten Dingen, die man Kindern überhaupt vermitteln kann : die Liebe zu Büchern.

Als ich Jahrzehnte später auf der Suche nach einem passenden Thema für meine Doktorarbeit war, fiel mir dieser Roman, der gleichsam mit mir mitgewachsen war und in dem ich in jeder Lebensphase Neues entdecken konnte, den ich inzwischen aber verschenkt hatte und nicht mehr besaß, durch einen Zufall wieder in die Hand. Probeweise und halb im Scherz versuchte ich mir vorzustellen, wie eine Dissertation über die philosophischen Aspekte dieses Buches – in Verbindung mit Endes Momo, das ich ebenfalls begeistert gelesen hatte – aussehen könnte. Das Ergebnis war derart verheißungsvoll, daß ich sofort mit ersten Entwürfen für diese Arbeit begann. Die Reaktionen, die diese Themenwahl bei anderen hervorrief, waren überraschend positiv – lediglich einige entfernte Bekannte ausgenommen (deren Entfernung zu mir seitdem noch drastisch angewachsen ist), die mich amüsiert fragten, was in aller Welt denn ein »Kinderbuchautor« mit Philosophie zu schaffen haben könne. Ich möchte bei dieser Gelegenheit Herrn Prof. Dr. Gerhard Gotz sehr herzlich dafür danken, daß er sich sich ohne Zögern bereiterklärt hat, die Betreuung meiner Arbeit an diesem doch ungewöhnlichen und scheinbar entlegenen Thema zu übernehmen; natürlich auch für die gewohnt kompetente, umsichtige Betreuung selbst; und ganz besonders für seine große Geduld und Toleranz angesichts meiner Schwäche, Fristen stets bis zum Letzten auszureizen.

Ich möchte dieses Vorwort auch dazu nutzen, ein Mißverständnis von vornherein auszuschließen. Diese Arbeit erhebt den Anspruch, im wissenschaftlichen Interesse das philosophische Denken Michael Endes aus seinen Romanen heraus aufzuweisen; nicht aber jenen, diese Romane dadurch in irgendeiner Weise zu »adeln« oder gar zur Hochkultur »emporzuheben«. Zum einen ist die Einteilung in Hoch- und »populäre« Kultur ohnehin äußerst fragwürdig; zum anderen haben weder Momo noch Die unendliche Geschichte dies in irgendeiner Weise nötig. Beide sind auf ihre jeweilige Weise großartige Bücher, welche weder einer philosophischen noch einer psychologischen noch auch einer literaturwissenschaftlichen Analyse bedürfen, die ihren Wert erst zweifelsfrei und »objektiv« zu beweisen hätte. Ohnehin gilt ewig, was Hermann Broch in den Notizen zum »Tod des Vergil« schreibt: »Ein Kunstwerk rechtfertigt sich nicht durch theoretische Erwägungen, sondern durch sich selbst.«2

Nichtsdestoweniger würde ich es natürlich begrüßen, wenn diese Arbeit, indem sie das philosophische Denken Michael Endes kritisch zu würdigen versucht, auch dabei helfen könnte, einen zugleich tieferen und umfassenderen Blick auf sein Werk zu ermöglichen. Dies wäre mir umso mehr ein Anliegen, als die (öffentliche) Ende-Rezeption diesen Blick bisher eher verstellt hat: Es scheint, daß gerade Michael Ende einer jener Autoren war, die am meisten unter oberflächlicher, verständnisloser und oft auch überheblicher Kritik zu leiden hatten.3 Zwar gibt es, vom Gilgamesch-Epos aufwärts, wohl kaum ein bedeutendes literarisches Werk, über das nicht jeden einzelnen Tag irgendein selbsternannter »Experte« im Brustton der Überzeugung haarsträubenden, hanebüchenen Unsinn von sich gibt. Dennoch macht es schlicht zornig, wenn ein zutiefst systemkritisches Werk wie Momo in der Rezeption auf eine Stufe mit primitiven Esoterik-Büchlein à la »Buddhismus für Manager« gestellt wird;4 mehr noch, wenn ein Roman wie Die unendliche Geschichte, der einige der tiefsten Fragen des Menschengeschlechts in großartige Bilder faßt, in der Verfilmung gegen den erbitterten Widerstand des Autors zu einem plumpen, dumpfen, völlig sinnfreien Actionspektakel verwurstet wird, dessen einziger Zweck es ist, den Kinobesuchern das Geld aus der Tasche zu ziehen;5 und am meisten, wenn dann von ihrer intellektuellen Überlegenheit allzu überzeugte »Kritiker«, die das Buch selbst offenbar gar nicht gelesen haben, sich berufen fühlen, auf Basis dieses filmischen Machwerks in nasalem Tonfall über Michael Ende zu richten.6 Wenn diese Untersuchung nur ein klein wenig dazu beitragen könnte, Rezensenten wie diese vor ihrer eigenen Ignoranz zu schützen, würde mich das von Herzen freuen.

Wie Endes Werke selbst und ein Großteil der verwendeten Sekundärliteratur, so wurde auch diese Arbeit nach den Regeln der sogenannten Alten Rechtschreibung verfaßt, um möglichst einheitliche Orthographie zu gewährleisten.

Wien, im August 2020

Alexander Oberleitner

Siglen

MO

Momo

UG

Die unendliche Geschichte

AD

Die Archäologie der Dunkelheit

GM

Das Gauklermärchen

JK1

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

JK2

Jim Knopf und die Wilde 13

MB

Magische Bühnenwelten

NG

Der Niemandsgarten

SIS

Der Spiegel im Spiegel

WP

Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch

ZS

Die Zauberschule

TEIL IGRUNDLAGEN

A.Einleitung

[…] es ging ihm in der Hauptsache um das Denken. Es war ein Denken in Bildern, ein Denken, das versuchte, die Welt auf einen Nenner zu bringen. […] Er war indessen alles andere als verschwommen-schwärmerisch; die Welt schien ihm vielmehr ein Rätsel, das man mit logischem Werkzeug lösen könne […]. – Rainer Lübbren über Michael Ende –

1.Motivation

Gibt es ein philosophisches Denken, das sich in Michael Endes Werken spiegelt? Die Frage allein mag in manchen Ohren absurd klingen – scheint sich doch die Kritik bis heute noch nicht einmal einig zu sein, ob Ende ein Schriftsteller von Rang und Bedeutung ist. In literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken sucht man seinen Namen meist vergeblich;7 wo überhaupt, taucht er in der Regel als »[e]rfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor«8 oder dergleichen auf. Abgesehen davon, daß letzteres als Pauschalurteil ganz entschieden Unsinn ist (wie jeder weiß, der auch nur einen kurzen Blick in Endes Erzählband Der Spiegel im Spiegel geworfen hat), implizieren derartige Punzierungen gemeinhin, daß das betreffende Werk wohl zu banal und oberflächlich sei, um als »ernsthafte Literatur« gelten zu können – eine Haltung, die selbst von beträchtlicher Oberflächlichkeit zeugt und nicht selten dazu dient, dem Kritiker die konkrete Beschäftigung mit diesem Werk zu ersparen. Das überlegene Lächeln, mit dem sich manch selbsternannter Literaturexperte zu »Endes außerordentlich populären Romanen« herabließ und -läßt, um sie nach kaum einem halben Blick in wenigen Worten abzutun,9 gehörte denn auch zu jenen Dingen, die den Autor zeit seines Lebens am meisten erzürnten – und das wohl zu Recht. Angenommen selbst, Die unendliche Geschichte wäre tatsächlich ein »Kinder- und Jugendbuch« (was äußerst fragwürdig ist):10 Würde dies ihre literarische Bedeutung etwa von vornherein herabsetzen? Wäre deshalb etwa ausgeschlossen, daß sie tiefe Gedankengänge birgt, die einer näheren Betrachtung durchaus wert sind? Wenn wir im 21. Jahrhundert immer noch nicht gelernt haben, uns von solchen Vorurteilen zu lösen, sollten wir auf die Kritik literarischer Werke besser gänzlich verzichten. Uns Philosophen sollte derartige Kurzsichtigkeit, die weit eher den Kritiker als den Kritisierten entlarvt, jedenfalls von Berufs wegen fremd sein.

Daß Michael Ende ein (nicht nur) philosophisch gebildeter Mann war, wissen wir aus zahlreichen direkten wie indirekten Belegen. Friedrich Nietzsche etwa, der dem Autor wohl schon durch die anthroposophische Prägung seiner Jugendzeit vermittelt wurde (s.u.), wird in der Unendlichen Geschichte sogar wörtlich zitiert;11 eine kurze Passage in Momo erweist sich bei genauerem Hinsehen als ironische Anspielung auf den Marxismus,12 mit dem Ende durch sein großes Vorbild Bertolt Brecht in Berührung kommen mußte. Seine intensive Auseinandersetzung mit anderen Denkern, wie z. B. Kierkegaard,13 ist durch das Zeugnis von Freunden und Bekannten belegt; über den Widerhall einer beinah lebenslangen Beschäftigung mit fernöstlichen, v. a. japanischen Denkschulen in seinen Büchern wurde viel geschrieben.14 Endes Werk nach dem philosophischen Denken des Autors zu befragen, ist vor diesem Hintergrund wohl kaum abwegig. Wäre es nicht vielmehr seltsam, eine strikte Trennlinie zu ziehen zwischen dem Menschen Ende, dem es »in der Hauptsache um das Denken [ging]« (Rainer Lübbren), und dem Schriftsteller, in dessen Werk sich nichts von alledem spiegeln sollte?

Ein weiterer, nicht weniger evidenter Grund, nach dem Denken Michael Endes zu forschen, findet sich im Charakter seines Werkes selbst. Entsprechend der spezifischen Poetologie des Autors, an die wir uns im Rahmen dieses Teils der Untersuchung noch annähern werden,15 regen seine Bücher praktisch in ihrer Gesamtheit dazu an, gleichsam einen Blick hinter die Kulissen zu werfen; ja, sie verleiten den Leser geradezu, poetische Bilder nicht etwa für sich stehen zu lassen, sondern nach zugrundeliegenden Ideen und Konzeptionen zu fragen. Die Art und Weise dieses Fragens kann, je nach dem Interesse des Lesers, ganz verschieden sein – so mag der Psychologe oder Sozialwissenschaftler einen völlig anderen Zugang zum Denken Endes finden als der Philosoph. Daß aber der Grundcharakter des Endeschen Werkes, den Leser zum Mit- und Nachdenken anzuregen, nicht etwa bloß im Auge des Betrachters, sondern in der Intention des Autors liegt, erläutert Ende selbst z. B. in Die Archäologie der Dunkelheit, wo es heißt:

Im Großen und Ganzen verharrt der jetzige Leser in einer konsumtiven Haltung. Während es mir gerade darum zu tun ist, Bildergeschichten zu finden, […] die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden zu machen. (AD 52 f.)

Können wir nicht dieselbe aktive Rolle, die Ende hier dem Leser seiner Werke zuweist, für uns in Anspruch nehmen, wenn wir auf wissenschaftliche Weise nach seinem Denken forschen? Zu diesem Zweck wollen wir zuallererst die bisher vorliegende Literatur zu unserem Thema in den Blick nehmen.

2.Auswahl bisher vorliegender Veröffentlichungen zum Forschungsbereich

Die Michael-Ende-Forschung, schon zu Lebzeiten des Autors ein weites Feld, hat nach seinem Tod 1995 noch an Bedeutung zugenommen und ist mittlerweile kaum mehr zu überblicken. Indes geht die überwiegende Mehrzahl jener Untersuchungen, die ein Mindestmaß an Seriosität aufweisen,16 von primär literaturwissenschaftlichen Fragestellungen aus, welche für die vorliegende Arbeit unter Umständen hilfreich, aber letztlich nur von marginalem Interesse sein können. Hierzu sei exemplarisch Claudia Ludwigs Dissertation »›Was du ererbt von deinen Vätern hast …‹ Michael Endes Phantásien-Symbolik und literarische Quellen« (Frankfurt 1997) genannt. Obwohl darin den Einflüssen v. a. fernöstlicher Philosophie auf Endes Werk großer Platz eingeräumt wird, ist es doch nicht die Intention der Autorin, die Verarbeitung dieser Einflüsse durch Ende kritisch zu durchleuchten oder gar nach einer »Philosophie« Endes zu fragen.

Des weiteren gibt es eine Reihe von Arbeiten über Ende, die im Grenzbereich zwischen Literaturwissenschaft und Soziologie anzusiedeln sind, so etwa die Diplomarbeit der Germanistin Eva-Maria Kowatsch, »Zivilisationskritik in Michael Endes Werken ›Die unendliche Geschichte‹ und ›Momo‹« (Wien 1995). Thematisch kommt diese Untersuchung der vorliegenden vielleicht noch am nächsten, ohne aber nach den philosophischen Grundlagen jener »Zivilisationskritik« zu fragen – was freilich auch nicht ihre Aufgabe sein kann. Dennoch nimmt es wunder, wie konsequent Kowatsch die Tatsache ignoriert, daß es sich bei Ende fast ausschließlich um Kapitalismuskritik handelt. Dies bleibt im Rahmen dieses Abschnitts noch zu erörtern.

Eine andere Art von Sekundärliteratur zu Endes Werk bewegt sich zwischen Literaturwissenschaft und Psychologie, wie z. B. Christian von Wernsdorffs »Bilder gegen das Nichts. Zur Wiederkehr der Romantik bei Michael Ende und Peter Handke« (Neuss 1983). Von Wernsdorff versucht u. a., die Verankerung von Endes Bilderwelt in den Grunderfahrungen der menschlichen Psyche aufzuweisen, ein Ansatz, der sich für die geplante Arbeit als nicht unfruchtbar erweisen mag, der aber einer philosophischen Fragestellung natürlich nicht genügt.

Sucht man hingegen nach dezidiert philosophischen Herangehensweisen an Endes literarisches Schaffen, so wird man noch am ehesten bei jenen Autoren fündig, die sich mit dem bereits erwähnten Konnex zwischen Endes Romanen und fernöstlichen Philosophien wie dem Buddhismus oder Daoismus beschäftigen. Vor allem Sôiku Shigematsus »Momo erzählt Zen« (Berlin 1991) ist hier zu nennen. Indes bleibt Shigematsus Buch, bei all seiner Kenntnis von Endes Werk, doch in erster Linie eine Einführung in den Zen-Buddhismus, dessen Grundlagen anhand ausgewählter Zitate aus »Momo« erläutert werden – ganz ähnlich jenem anderen Werk Shigematsus,17 welches Saint-Exupérys »Der kleine Prinz« zum selben Zweck heranzieht. Ein tieferes Eindringen in die Gedankenwelten Endes findet also nicht statt und ist vom Autor auch gar nicht intendiert.18

Diese kurze Zusammenschau mag genügen, um Tilman Schröder zwar nicht grammatikalisch, wohl aber inhaltlich zuzustimmen, wenn er meint: »Eine […] umfassende Würdigung vom Denken Michael Endes steht noch aus.«19 Nicht weniger als eine solche – kritische – Würdigung soll die vorliegende Untersuchung leisten.

3.Methodik und Zielsetzung

Wenn wir, wie im Falle Endes, einem Autor gegenüberstehen, dessen philosophische Einflüsse und Quellen wir recht genau kennen (s. o.), so ist die Verlockung nicht gering, sein Denken aus ebendiesen Quellen herzuleiten. Eine Untersuchung wie die vorliegende könnte dann z. B. diesem Rezept folgen: Anthroposophie vermengt mit Zen-Buddhismus, dazu ein kräftiger Schuß Nietzsche und eine Prise Marx – fertig wäre das »Endesche Denken«, welches der findige Interpret, gestützt auf jeweils passende Zitate, wohl ohne größere Schwierigkeiten in seinem Werk aufzuspüren vermöchte. Allein: Was würde dies mehr bedeuten als eine (weitere) literaturwissenschaftliche »Nacherzählung« dieses Werkes inklusive eines Aufweises seiner philosophischen bzw. weltanschaulichen Quellen? Eine Untersuchung, die das eigenständige philosophische Denken Endes zum Thema hat, muß andere Wege einschlagen. Es soll deshalb versucht werden, dieses Denken grundsätzlich und primär aus dem Werk heraus zu erschließen, wobei es die sattsam bekannten philosophischen Quellen Endes methodisch vorläufig auszublenden gilt. Nur so besteht berechtigte Hoffnung, daß sich uns das Denken Michael Endes letztlich als ein Ganzes zeigt, das mehr bzw. anderes ist als die bloße Summe verschiedenster »Einflüsse«.

Andererseits wäre es natürlich mehr als absurd, würde die vorliegende Arbeit zweieinhalb Jahrtausende Philosophiegeschichte ignorieren – etwa indem wir uns mit Endes Kapitalismuskritik in einer Weise beschäftigen, als habe es weder Marx noch den Marxismus jemals gegeben. Wenn aber im Laufe dieser Untersuchung verschiedene Denker bzw. philosophische Traditionen auf das Endesche Denken bezogen werden, so soll dies in erster Linie dazu dienen, das Eigene in diesem Denken um so deutlicher herauszustellen. Wir wollen also z. B. nicht primär fragen, welche Elemente in Endes Kapitalismuskritik sich letztlich Marx verdanken, sondern im Gegenteil: Was macht Endes Denken in diesem Punkt einzigartig? Wodurch zeichnet es sich hier aus, wenn wir es etwa – naheliegenderweise – mit dem Marxschen vergleichen? Es liegt – wie schon das Beispiel zeigt – in der Natur der Sache, daß wir bei einem solchen vergleichenden Nachschreiten der Gedankenwege Endes mit hoher Wahrscheinlichkeit auf jene Denker treffen werden, mit denen sich der Autor selbst intensiv auseinandergesetzt hat. Hier erst ist also der methodische Ort, um die philosophischen Quellen Endes in den Blick zu nehmen – freilich nicht um ihrer selbst willen, sondern nur in dem Maße, wie dies inhaltlich gerechtfertigt erscheint.

Was soll mit dieser Vorgehensweise letztlich erreicht werden? Können wir tatsächlich hoffen, jenes »philosophische System Endes«, von dem etwa Friedhelm Mosers Büchlein in scherzhafter Weise spricht,20 freizulegen? Wohl kaum; in einem nachgelassenen Manuskript Endes heißt es deutlich genug:

Ich habe kein philosophisches System, das mir auf jede Frage eine Antwort bereithält, keine Weltanschauung, die fertig ist – ich bin immer unterwegs. Es gibt zwar einige Konstanten, die sozusagen im Zentrum stehen, aber nach den Rändern hin ist alles offen […]. (NG 304 f.)

Ob es wirklich, wie Ende hier impliziert, die Aufgabe eines philosophischen Systems sein kann, »auf jede Frage eine Antwort« bereitzuhalten, sei hier offengelassen. Evident ist jedenfalls, daß die vorliegende Arbeit der Versuchung, das Denken Endes in das Korsett eines solchen Systems zu zwängen, tunlichst widerstehen sollte. Genauso unangebracht wäre es natürlich andererseits, dieses Denken durch Analyse des Werkes als unsystematisch zu »entlarven« – als ob es etwa zur Aufgabe eines Künstlers gehörte, ein abgeschlossenes System im traditionellen philosophischen Sinne in der Hinterhand zu halten. Schieben wir hingegen diesen Anspruch beiseite und konzentrieren uns primär auf jene »Konstanten im Zentrum«, von denen Ende im Zitat spricht, so mag es durchaus sein, daß sich uns sein Denken letztlich, wenn auch als »nicht systematisch im traditionell-rationalistischen Sinn«,21 so doch als stringentes Ganzes erweist. Unsere ersten Fragen müssen also lauten: Welche sind – in Anbetracht seines Werkes – die mutmaßlichen Hauptthemen im philosophischen Denken Michael Endes? Wo in diesem Werk finden wir sie in möglichst exemplarischer Weise vor? Soviel sei hier vorausblickend gesagt, daß wir davon ausgehen können, in Endes Kapitalismuskritik einerseits und der Betonung des Schöpferischen im Menschen andererseits auf die Leitlinien seines Denkens zu stoßen; und weiters, daß sich Endes Romane Momo und Die unendliche Geschichte als zentrale Werke für jeden erweisen werden, der diese Leitlinien nachzuschreiten versucht. Diese Thesen werden im Rahmen dieses Teils der Untersuchung noch ausführlich zu begründen sein; vorläufig erlauben sie uns, die Fragestellung der vorliegenden Arbeit wie folgt zu präzisieren:

Ist es möglich, aus Michael Endes Romanen »Momo« und »Die unendliche Geschichte« ein eigenständiges, stringentes philosophisches Denken des Autors zu erschließen? Falls nein, was hindert daran? Falls ja, wodurch zeichnet sich dieses Denken aus?

4.Quellen

Da sich die vorliegende Untersuchung auf Momo und Die unendliche Geschichte konzentriert, sollen andere Werke Endes nur in ihrem jeweiligen Kontext zu den beiden Romanen herangezogen werden.22 Prinzipiell wird zu Lebzeiten des Autors veröffentlichen Texten höherer Stellenwert eingeräumt als dem Nachlaß, da völlig unklar ist, wie Ende selbst die unzähligen erhaltenen Fragmente, Skizzen und Ideen im Einzelnen bewertete. Eine Ausnahme bildet das Romanfragment Der Niemandsgarten, das mit vollem Recht als »Missing Link« zwischenMomo und Unendlicher Geschichte bezeichnet werden kann.23

Die Aufzeichnungen von Podiumsdiskussionen und anderen Gesprächen, die der Autor im Laufe seines Lebens mit diversen Kunstschaffenden, aber auch Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens führte, stellen eine wichtige ergänzende Quelle für jeden dar, der Endes Denken aus den beiden Romanen zu erschließen versucht,24 wobei natürlich der Unterschied zwischen Poesie und Argumentation (vgl. Abschnitt C.1) stets mitzubedenken bleibt. Dasselbe gilt für die zahlreichen erhaltenen Briefe Endes, der selbst am Höhepunkt seines internationalen Erfolges bemüht war, jede einzelne Zuschrift persönlich zu beantworten. Nicht berücksichtigt werden konnten hingegen – aus nachvollziehbaren Gründen – all jene Werke, die als Frucht von Endes Diskussionen mit japanischen Künstlern und Intellektuellen entstanden und bis heute nicht aus dem Japanischen übersetzt wurden.25 Es ist gut möglich, daß sich hier noch Aspekte verbergen, welche die Ende-Forschung wesentlich bereichern würden. Generell wäre es hoch an der Zeit für eine Zusammenführung der deutsch- und japanischsprachigen Zweige des Diskurses um Ende – von welcher Seite auch immer.

B.Biographische und textliche Grundlagen

[…] ich kann mir gut vorstellen, daß ein Buch wie die Unendliche Geschichte […], wenn es 20 Jahre früher erschienen wäre, kein Publikum gefunden hätte. Vorher war man sich sehr einig darüber in der gesamten Literaturszene, daß nur die […] realistische Literatur wirkliche Literatur ist. Es mußten also erst diese 20 Jahre vergehen und eine gewisse Übersättigung eintreten. Und in die hinein erschien plötzlich mein Buch und fand ein großes Publikum. Das war nicht berechnet und nicht beabsichtigt. Das ist mir halt widerfahren. – Michael Ende –

1.Biographische Andeutungen26

Michael Andreas Helmuth Ende wird am 12. November 1929 als einziges Kind des aus Hamburg stammenden surrealistischen Malers Edgar Ende und der Preziosenhändlerin Luise Ende (geb. Bartholomä) aus dem Saarland im bayerischen Garmisch-Partenkirchen geboren. Der sich abzeichnende Erfolg des Vaters erlaubt es der Familie schon 1931, in die damalige Kunsthauptstadt München zu übersiedeln. Doch Edgar Endes Aufstieg als Maler rätselhafter, visionärer und oft bedrückend intensiver Traumwelten wird 1933 von der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die sein Werk wie so vieles andere als »entartet« einstufen, jäh unterbrochen. Der Verhinderung von Ausstellungen und dem Ausbleiben jeglicher öffentlicher Aufträge folgt 1936 das endgültige Berufsverbot, das die Familie in eine ernsthafte materielle Krise stürzt. Im selben Jahr wird Michael Ende eingeschult, womit für das sensible und künstlerisch begabte Kind ein beinah zehnjähriger »Gefängnisaufenthalt«27 im autoritären Schulsystem des Dritten Reiches beginnt. 1944, als er im Zuge der sogenannten Kinderlandverschickung einige Zeit in seiner Heimatgemeinde Garmisch-Partenkirchen verbringt, erhält er als gerade 15jähriger den Stellungsbefehl. Er ignoriert ihn, schlägt sich zur Mutter nach München durch und schließt sich der Widerstandsbewegung »Freiheitsaktion Bayern« an, die ihn mit kleineren Botenaufträgen betraut.

Dem erlösenden Kriegsende folgt bald auch die Befreiung aus dem schulischen Martyrium: Ende erhält die Möglichkeit, seine letzten beiden Schuljahre in der wiedereröffneten Freien Waldorfschule bei Stuttgart zu absolvieren (die Eltern stehen der anthroposophischen Bewegung nahe), wo er zum ersten Mal nachdrückliche Förderung seiner künstlerischen Begabungen erfährt (s. u.). Mit dem festen Vorsatz, Dramatiker zu werden, kehrt er 1948 nach München zurück. Ein Literaturstudium stellt sich indes als unfinanzierbar heraus, weshalb sich Ende für den »Umweg« über die Otto-Falckenberg-Schauspielschule, die ihm ein Stipendium gewährt, entscheidet. Die Jahre an der jungen und progressiven Schule, von Heinrich Sauer für damalige Verhältnisse geradezu antiautoritär geführt, erweisen sich in mancher Hinsicht als prägend für Endes spätere Entwicklung. Hier lernt er im Kreise seiner Mitschüler, von denen viele später bemerkenswerte Laufbahnen einschlagen,28 jenes Theatermilieu kennen, zu dem er zeit seines Lebens intensive Beziehungen pflegt; hier rezipiert er begeistert die Dramen und Theorien des großen Brecht, die ihm in der Folge sowohl Segen als auch Fluch werden. Denn jene von Brecht inspirierten dramatischen Versuche, die Ende während und nach dem Abschluß seiner Ausbildung verfaßt – von der Komödie Sultan hoch zwei (1950) bis zum absurden Drama Die Häßlichen (1955) – scheitern allesamt kläglich und gelangen nie zur Aufführung. Es will und will ihm nicht gelingen, die Vorgaben seines Idols (dem er zu jener Zeit sogar in der äußeren Erscheinung nacheifert)29 in adäquate künstlerische Formen zu gießen. Als Reaktion vertieft er sich nur noch mehr in Brechts theoretische Schriften wie etwa Das kleine Organon, bis deren ideologische Last sein eigenes Schaffen praktisch zum Erliegen bringt. Endes einziger Lichtblick in jener krisenhaften Zeit ist persönlicher Natur: In der Silvesternacht 1952 lernt er seine spätere Frau Ingeborg Hoffmann kennen, eine engagierte und erfolgreiche, wenn auch bei Regisseuren und Kollegen ob ihrer Direktheit in zwischenmenschlichen und Kompromißlosigkeit in künstlerischen Belangen gefürchtete Schauspielerin. Sie ist es auch, die Ende 1954 zum Bayerischen Rundfunk vermittelt, wo er vor allem als Filmkritiker arbeitet. Leben kann er davon kaum: »Meine finanziellen Umstände waren so finster, daß ich meine Miete nicht mehr bezahlen konnte. Ich mußte von einem halben Liter Milch und ein paar Semmeln leben. Mir ging es hundsmiserabel […].«30

Künstlerische und materielle Krise lösen sich indes mit einem Schlag. Im Jahr 1956 trifft Ende einen befreundeten Grafiker, der ihn bittet, einen »kurzen Text für ein Bilderbuch«31 zu verfassen. Ohne den geringsten Handlungsentwurf beginnt er die Arbeit mit den berühmt gewordenen Worten: »Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, war nur sehr klein.«32 Durch absichtsloses Voranschreiten von Satz zu Satz, in bewußter Abkehr von jeder poetologischen Doktrin, entsteht aus diesem Anfang nach und nach die wundersame Welt von Lukas und seinem kleinen Freund Jim Knopf, der seine wahre Heimat finden muß. Als Ende das Manuskript nach zehn Monaten abschließt, ist aus dem kurzen Bilderbuchtext ein über 500seitiger Roman geworden, der schließlich in zwei Bänden (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13) 1960/62 im Stuttgarter Thienemann Verlag erscheint. Schon der erste Teil wird ein überwältigender Erfolg und noch im Jahr seines Erscheinens mit dem Deutschen Jugendbuchpreis prämiert – sehr zur Verwunderung des Autors: »Ich hatte, ehrlich gesagt, noch nicht einmal eine Ahnung, daß solche Preise überhaupt existieren […].«33 Sein Durchbruch als Künstler entledigt Ende auch aller materiellen Sorgen – bis zur Katastrophe um die Verfilmung der Unendlichen Geschichte (s. u.).

Schnell allerdings zeigen sich auch die Schattenseiten des Erfolges. In der deutschen Literaturszene tobt gerade die sogenannte Eskapismus-Debatte, in die Ende ganz gegen seinen Willen hineingezogen wird. Ausgerechnet er, der sich gerade erst von den didaktischen Fesseln der Brechtschen Kunsttheorie zu befreien beginnt und dessen gesamtes Werk in geradezu exemplarischer Weise sozialkritisch ist, sieht sich plötzlich als typischer Verfasser von »Fluchtliteratur« gebrandmarkt, die den Blick auf die ökonomischpolitisch-soziale »Realität« verstelle. 1970 hat Ende es schließlich satt, sich ständig für seine Art des Schreibens rechtfertigen zu müssen, und zieht mit seiner Frau nach Genzano bei Rom, wo er 1973 den noch in Deutschland begonnenen Märchenroman Momo vollendet. Obwohl in Aufbau und erzählerischer Brillanz dem späteren Welterfolg Die unendliche Geschichte durchaus ebenbürtig, findet Momo ursprünglich wenig Resonanz. Erst nach der Prämierung mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974 beginnen sich die Leser langsam für Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte (so der Untertitel) zu interessieren. Zwischen und neben seinen Romanen verfaßt Ende ungeachtet seiner Selbsteinschätzung als »schrecklich faul« (NG 299) zahlreiche Gedichte und kurze Erzählungen, vor allem aber Dramen, darunter das jahrelang kaum beachtete, später jedoch viel gespielte Gauklermärchen. 1977 ermutigt ihn sein Verleger Hansjörg Weitbrecht, sich wieder einmal an einen Roman zu wagen, und läßt sich diverse Ideen aus Endes »Zettelkasten« vortragen. Bei einer kurzen Notiz über einen Jungen, der beim Lesen eines Buches buchstäblich in die Geschichte hineingerät, horcht er auf: »Du solltest das machen« (NG 300). Zögernd willigt Ende ein, meint aber, dieser Plot reiche maximal für ein Büchlein von hundert Seiten. Er irrt sich: Aus seiner Idee entsteht Weltliteratur.

Als Die unendliche Geschichte im Herbst 1979 in einer Auflage von nur 20.000 Exemplaren erscheint, ist Ende der Stoff unter den Händen zu einem hochkomplexen Roman mit kunstvoll ineinander verschachtelter innerer und äußerer Handlung gewachsen, der gleichzeitig durch die Unmittelbarkeit und Vitalität seiner Bilder besticht. Die Vorsicht des Verlags, der eine Überforderung der Leserschaft befürchtet, erweist sich bald als völlig unbegründet: Nicht nur wird der Roman mit Preisen regelrecht überhäuft, auch die Verkaufszahlen steigen rasch in schwindelerregende Höhen. Übersetzungen in alle Weltsprachen und damit der internationale Durchbruch lassen nicht lange auf sich warten. Auch Momo wird nun in zahlreiche Sprachen übersetzt, wobei sich vor allem die Übertragung ins Japanische als folgenreich erweist: Die massiv von Phänomenen der Entwurzelung bedrohte japanische Gesellschaft saugt das kapitalismuskritische Märchen Endes geradezu auf. Auf diesem Höhepunkt des Erfolges tritt der Produzent Dieter Geissler mit dem Projekt einer Verfilmung der Unendlichen Geschichte an den Autor heran. Nach langem Zögern willigt Ende unter der Bedingung ein, daß die künstlerische Botschaft seines Romans gewahrt bleiben müsse. Geissler indes wählt – ohne Ende davon in Kenntnis zu setzen – die Neue Constantin von Bernd Eichinger (Das Boot) als Partner, der Die unendliche Geschichte rücksichtslos zu einem sinnfreien Actionspektakel Hollywoodscher Prägung pervertiert. Als der Autor dies zu spät bemerkt und die Notbremse ziehen will, droht ihm Eichinger wütend mit einer Schadenersatzklage in Millionenhöhe. Ende kann schließlich den (kommerziell sehr erfolgreichen) Film The Neverending Story, dessen Handlung aus Marketinggründen in eine amerikanischen Großstadt verlegt worden ist, nicht verhindern: Ein Prozess, den er gegen die Produktionsfirma anstrengt und der ihn an den Rand des finanziellen Ruins bringt, geht verloren. Daß das Gericht dabei sinngemäß feststellt, die erwiesenermaßen grobe Verzerrung von Endes Roman sei nicht weiter relevant, da dieser sich vorwiegend an jugendliches Publikum wende, muß Ende, der sich sein Leben lang gegen die Stigmatisierung als »Kinderbuchautor«, ja gegen die Einteilung von Literatur in »hochwertige« Erwachsenen- und »unterhaltende« Kinderliteratur als solche wehrt, als besondere Verhöhnung empfinden.34 Seine schwerste Prüfung steht ihm indes noch bevor: Seine energische Frau Ingeborg, die sich bis zuletzt mit ganzer Kraft gegen The Neverending Story gestemmt hat, stirbt, unmittelbar nachdem sie den Film in einem italienischen Kino gesehen hat, völlig unerwartet an einer Lungenembolie. Erschüttert bricht Ende die Zelte in Italien ab und kehrt nach München zurück, wo er erfährt, daß er durch betrügerische Machenschaften seines Steuerberaters vor dem endgültigen Bankrott steht. Er sieht sich gezwungen, nicht nur Möbel und Bilder seines Vaters, sondern auch die Zeichentrickfilmrechte zu Jim Knopf, Momo und Die unendliche Geschichte zu verkaufen.

Halt findet der unermüdliche Ende, der 1983 inmitten des zeit- und kraftraubenden Streits um The Neverending Story einen anspruchsvollen, bemerkenswert düsteren Erzählband mit dem Titel Der Spiegel im Spiegel vorgelegt hat, in neuen Projekten. Gemeinsam mit dem befreundeten Komponisten Wilfried Hiller verfaßt er mehrere Opern und Singspiele, wie das bis heute gern gespielte Traumfresserchen oder Der Rattenfänger, eine Auftragsarbeit des Theaters Dortmund – wobei Ende den weltbekannten Sagenstoff unvermutet zu einem »Aufschrei gegen das materialistische Denken« (Hocke/Neumahr)35 umgestaltet, was speziell bei den irritierten Einwohnern Hamelns auf wenig Begeisterung stößt. Als wichtigstes »Alterswerk« Endes gilt indes – zu Recht – sein Roman Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (1989), sein zweifellos humorvollstes Werk, hinter dessen leichtfüßiger Ironie sich jedoch unschwer schärfste Zivilisationskritik erkennen läßt. Die Mischung aus Tierfabel und Schauerroman, die Themen wie Umweltzerstörung oder Geldgier Erwachsenen wie Kindern unmittelbar zugänglich macht, wird zu einem seiner meistgelesenen Bücher, dessen Theaterfassung unter der Intendanz von Endes Jugendfreundin Ruth Drexel mit großem Erfolg am Münchner Volkstheater aufgeführt.

In jene Zeit fällt auch die Heirat Endes mit Mariko Sato, der japanischen Übersetzerin seiner Werke, mit der ihm indes nur noch sechs Jahre seines Lebens vergönnt sind. Seit 1992 verschlechtert sich seine Gesundheit zusehends; im Juni 1994 erfährt er, daß er an Magenkrebs erkrankt ist. Operationen und Chemotherapien bleiben ohne Erfolg. Am 28. August 1995 stirbt Michael Ende in der Filderklinik bei Stuttgart und wird am 1. September im kleinen Kreis auf dem Münchener Waldfriedhof beigesetzt. Über den Trauergästen ertönt ein Chor aus Endes einzigem in bairischer Mundart verfaßtem Werk, der Oper Der Goggolori: »Unsa Lem is zkurz und gar boid kummt da Dod, und is deangaschd [dennoch] a himmlische Gnadn.«

2.Exkurs: Über die Anthroposophie und Endes Verhältnis zu ihr

Wenn auch, wie oben betont, diese Arbeit keine Untersuchung der philosophischen und weltanschaulichen Quellen für Endes Werk sein kann und will, so wäre es doch methodisch zumindest fragwürdig, Endes Verhältnis zur Anthroposophie Rudolf Steiners völlig auszublenden. Neben der Prägung durch die Eltern ließen ihn wohl vor allem seine beiden letzten Schuljahre an der Freien Waldorfschule Stuttgart 1945–47, die er nach dem Martyrium des autoritären nationalsozialistischen Schulsystems als wahre Befreiung empfand (s. o.), der Person und den Ideen Steiners zeitlebens aufgeschlossen gegenüberstehen. Obgleich es keinen Beleg dafür gibt, daß Ende jemals Mitglied der Deutschen Anthroposophischen Gesellschaft gewesen wäre, bleibt doch als Tatsache bestehen, daß er in Podiumsdiskussionen und anderen Gesprächen wiederholt und dezidiert Positionen Steiners als die eigenen vertrat.36 Dies in Verbindung mit dem durchaus zweifelhaften Ruf, den Steiners Lehren (nicht nur) in akademischen Kreisen genießen, läßt es geraten erscheinen, die Anthroposophie als solche sowie Endes Verhältnis zu ihr genauer zu durchleuchten.37

Unter »Anthroposophie« versteht man jene spirituelle Weltanschauung, die auf die Lehren des Österreichers Rudolf Steiner (1861–1925) zurückgeht und deren Impulse bis heute in vielfältiger Weise, etwa in den Bereichen der Landwirtschaft (Demeterbund), der Pädagogik (Waldorfschulen) oder des Finanzwesens (Gemeinschaftsbanken), fortwirken. Obwohl Steiner als promovierter Philosoph in logisch-begrifflichem Denken durchaus geschult war (Dissertation: »Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre«, Rostock 1891), überschreitet vieles an seiner Lehre die Grenzen des rational Begründbaren. Tatsächlich rücken die Berufung auf »okkulte Erkenntnisse« sowie die Tendenz zur Ausbildung sogenannter »Geheimlehren« wesentliche Teile der Anthroposophie in die Nähe dessen, was heute gemeinhin als »Esoterik« bezeichnet wird. Auch der ausgeprägte weltanschauliche Eklektizismus Steiners, der u. a. Elemente des Deutschen Idealismus, der erfahrungswissenschaftlichen Methodik, der christlichen Mystik und der hinduistischen Reinkarnationslehre in sein Denken integrierte, kann als typisches Merkmal »esoterischer« Systeme und Bewegungen gelten.38 Bei all dem Synkretismus verwundert es auch nicht, daß sich Steiners zugrundeliegendes, nach Eigendefinition »christliches« Menschenbild stark an Friedrich Nietzsche orientiert, über den er eine vielgelesene Monographie verfaßte (Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit; 1895) und dessen Konzeption des »Willens zur Macht« als Wesenskern des Menschen im Ansatz Steiners deutlichen Widerhall findet (vgl. auch Teil III dieser Untersuchung). Die daraus resultierende Betonung des Individuell-Schöpferischen, die freilich innerhalb des Steinerschen Denkens in einem latenten Spannungsverhältnis zur Idee »geschauter« oder »geoffenbarter« Wahrheiten steht, grenzt die Anthroposophie von zahlreichen anderen, meist kurzlebigen »spirituellen« Bewegungen des Fin de siècle ab und macht sie bis heute nicht zuletzt für Künstler und Kunsttheoretiker attraktiv, die einen weit überproportionalen Teil ihrer Anhängerschaft bilden. Neben Michael Ende waren etwa die Schriftsteller Christian Morgenstern, Saul Bellow und Andrej Bely, die bildenden Künstler Joseph Beuys und Wassily Kandinsky oder die Komponisten Viktor Ullmann und Bruno Walter in unterschiedlichem Maße von den Ideen Steiners beeinflußt.

Eine Analyse der bis heute äußerst kontroversiell diskutierten Lehren Steiners39 ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung selbstverständlich nicht möglich. Unumgänglich erscheint es hingegen, Endes Verhältnis zur Anthroposophie zumindest in vorläufiger Weise zu klären, nicht zuletzt, da ein begründeter Verdacht, Endes Denken würde letztlich in »okkulten Lehren« fußen, die vorliegende Untersuchung zu einem äußerst zweifelhaften Unternehmen machen würde. Zwei Fragen mögen hierbei hilfreich sein. Erstens: Welche Elemente und Motive in Endes Werk lassen sich – direkt oder indirekt – auf den Einfluß Steiners zurückführen? Zweitens: Inwieweit war, unabhängig davon, Endes Weltbild anthroposophisch geprägt?

Vorneweg: Direkte Anleihen bei Steiner sind in Endes Werk so gut wie nicht zu finden. Die zweimalige beiläufige Erwähnung des anthroposophischen Grundbegriffes Astralleib (bei Ende: »Sternenleib«, s. Niemandsgarten 136 bzw. 273) in Skizzen, die wahrscheinlich nie zur Veröffentlichung gedacht waren, ist fast schon alles, was die Recherche zu Tage zu fördern vermag. Eventuell könnte man noch die »Elementargeister« aus dem Wunschpunsch (25 sowie 193 ff.) mit den gleichnamigen Wesen der Steinerschen Mythologie identifizieren oder die Reinkarnationsphantasie des alten Beppo in Momo (39 f.) mit der Anthroposophie in Verbindung bringen – aber hier befinden wir uns bereits auf schwankendem Boden. (Zum Vergleich: Allein in Momo findet etwa Sôiku Shigematsu Dutzende Bezüge zum Zen-Buddhismus, mit dem sich Ende zur Zeit der Niederschrift intensiv befaßte.)40 Daraus zu schließen, die Anthroposophie habe in Endes Denken kaum eine Rolle gespielt, wäre indes voreilig. Eher ist hier an Endes Arbeitsweise zu denken, die auf die Schaffung kraftvoller, vorstell- und damit erfahrbarer Bilder abzielte.41 Da sich aber die Kernbegriffe des Steinerschen Okkultismus wie etwa »Ätherleib«, »Astralleib« oder »Karma« dieser unmittelbaren Bildlichkeit weitgehend entziehen, waren sie für Endes spezifische »Poetologie« offenbar schlicht unbrauchbar.42

Wenn also direkte Anleihen aus der Anthroposophie in Endes Werk nicht oder in nur ganz unwesentlichem Ausmaß anzutreffen sind, wäre weiters zu fragen, inwieweit die großen Themen, die sein Werk nach der Grundthese der vorliegenden Arbeit durchziehen, von den Lehren Steiners inspiriert oder angeregt wurden, ob sich also Endes Kritik des Kapitalismus oder die Betonung des Schöpferischen im Menschen in irgendeiner Weise auf eine anthroposophische Prägung zurückführen lassen. Indes ist erstere keineswegs ein zentrales Thema Steiners. Ansätze dazu sind am ehesten noch in der durch die »Vergöttlichung« der Natur (deren Begriff bei Steiner allerdings völlig unklar bleibt) bedingten Absage an »entnatürlichte« Lebens- und Produktionsformen zu finden – nicht umsonst brachte die anthroposophische Bewegung die ersten Ansätze bewußt ökologischer Landwirtschaft mit sich.43 Die antikapitalistische Zielrichtung der Anthroposophie, wenn es eine solche denn gibt, ist also durch den Imperativ »Zurück zur Natur« geprägt – der in den Werken Endes, dessen »Helden« fast durchwegs Städter sind, keinen nennenswerten Widerhall findet. Daß er sich, wie etwa im Wunschpunsch, oft in pronouncierter Weise gegen den ökologischen Raubbau durch kapitalistische Gesellschaften wendet, kann man wohl kaum seiner anthroposophischen Prägung zuschreiben. Wer also nach biographischen Grundlagen für Endes Kapitalismuskritik sucht, wird zweifellos weit eher bei Bertolt Brecht als bei Rudolf Steiner fündig.

Anders verhält es sich mit jener Betonung, ja Beschwörung des Schöpferischen im Menschen, die sich wie ein Refrain durch das Endesche Schaffen zieht und die – so die oben in Abschnitt A.3 geäußerten Thesen zutreffen – einen der Eckpfeiler seines Denkens bildet. Nicht nur finden wir hier ein zentrales Motiv der Anthroposophie wieder, es läßt sich auch unschwer biographisch verorten: Neben der generellen Prägung durch jenes Künstlermilieu, in dem Ende aufwuchs und in dem er sich zeit seines Lebens heimisch fühlte, waren es zweifellos die Jahre an der Waldorfschule Stuttgart, die ihm die Bedeutung menschlicher Schaffenskraft vor Augen führten. Tatsächlich zählt es zu den wichtigsten Prinzipien der Waldorfpädagogik, die Schüler nicht nur theoretisch zu bilden, sondern zu eigenständigem kreativem Handeln zu ermutigen.44 Da jedoch Steiner jene Wertschätzung des Schöpferischen im Grunde Friedrich Nietzsche verdankt (s.o.), so scheint es, als habe Ende in seinem Werk vor allem jene Teile des Steinerschen Denkens verarbeitet, die eigentlich auf Nietzsche zurückgehen. Hiermit wird sich die vorliegende Untersuchung noch zu beschäftigen haben.

Es bleibt zu fragen, inwieweit, ganz unabhängig von seinem Werk, Endes Weltbild von der Anthroposophie und vergleichbaren »okkulten Systemen« (Kowatsch) geprägt war. Roman Hocke, der dem Autor nicht nur als Lektor, sondern auch als persönlicher Freund nahestand, meint hierzu:

[Michael Ende] hatte in der Tat ein magisch-mystisches Weltbild. Es war ein Amalgan aus den verschiedensten Denkrichtungen und Religionen – von der Mystik Jakob Böhmes, der Anthroposophie, dem Zen-Buddhismus, der christlichen Theologie bis hin zu Spiritismus und Kabbala. Wie in seinen Theaterstücken, in denen er sich häufig verschiedener Genres bediente, war Michael Ende auch in geistigen Belangen ein Synkretist, der sich aus dem Bestehenden heraussuchte, was ihm das Beste erschien. Nie aber war er der Jünger eines Meisters.45

»Okkulte Wahrheiten« waren Ende also keineswegs fremd. Ob nun jenes »magisch-mystische Weltbild« Ende für die Anthroposophie offen machte oder doch eher umgekehrt, wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht zu klären sein. Eine andere Frage drängt sich hingegen auf: Müssen wir nicht annehmen, dem »Denkwebel« Ende (Rainer Lübbren)46 sei sein geistiger Synkretismus selbst durchaus bewußt gewesen? Daß sich der Autor, wie Hocke deutlich genug meint, »in geistigen Belangen […] aus dem Bestehenden heraussuchte, was ihm das Beste erschien«, läßt sich mit der Idee unmittelbar »geschauter« Wahrheiten im Sinne Steiners jedenfalls kaum vereinbaren. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß Ende den einzelnen Komponenten seines »magischen« Weltbildes gerade deshalb Wirklichkeit zugestand, weil sie ihm eben keine »Offenbarungen von oben«, sondern ausgewählte Produkte der menschlichen schöpferischen Kraft waren?

3.Kurze Inhaltsangabe der Romane »Momo« und »Die unendliche Geschichte«

MOMO

In der Ruine eines Amphitheaters am Rande einer südlichen Großstadt taucht plötzlich ein etwa zehnjähriges Mädchen auf, das sich dort häuslich niederläßt. Auf die Fragen der besorgten Bewohner des Viertels hin stellt sich heraus, daß es aus einer Art »Heim« ausgerissen ist, wo man es geschlagen, aber weder lesen noch schreiben noch rechnen gelehrt hat, sodaß es nicht einmal sein eigenes Alter kennt (»Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da« (MO 13)). Selbst seinen Namen, Momo, hat es sich selbst gegeben. Ihre Nachbarn beschließen, sich gemeinsam um Momo zu kümmern, und freunden sich mehr und mehr mit dem stillen, schüchternen Kind an. Dabei zeigt sich, daß es eine scheinbar alltägliche, tatsächlich aber beinah magische Fähigkeit besitzt: Momo kann zuhören wie niemand andrer. »[…] sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in ihm steckten.« (17)

Aber die intakte Gemeinschaft, in der Momo nun lebt, ist wie die ganze Stadt einer schleichenden, fast unsichtbaren Bedrohung ausgesetzt. Überall tauchen namen- und gesichtslose graue Herren auf, die sich als »Agenten« einer »Zeit-Spar-Kasse« ausgeben und immer mehr Menschen überreden, Zeit zu sparen, indem sie die Angst ihrer Zielpersonen vor dem Tod ebenso geschickt ausnutzen wie deren diffusen Wunsch nach einem besseren Leben. Am Beispiel des kleinen Friseurs Fusi zeigen sich die drastischen Folgen ihrer Kampagne: Er entsagt allen »nutzlosen Dingen« (64), verzichtet auf Gespräche mit seinen Kunden, läßt seine sozialen Kontakte verkümmern und schiebt sogar seine betagte Mutter ins Altersheim ab – alles, um »Zeit zu sparen« und so die Möglichkeit zu haben, irgendwann »das richtige Leben zu führen« (62). Dieses will und will sich indes nicht einstellen. Im Gegenteil: Das grassierende Zeitsparen führt gerade dazu, daß immer mehr Menschen immer weniger Zeit und damit Lebensfreude bleibt – was aber wiederum die betrogenen Zeitsparer erst recht in ihrem hektischen und verzweifelten Tun antreibt. Schließlich wandelt sich auch das Antlitz der Stadt selbst, die in atemberaubendem Tempo in eine funktionale Wüste völlig gleichförmiger Betonblocks umgestaltet wird.

Allein die kleine Momo bleibt von dem allgemeinen Zeit- und Lebensverlust unberührt. Ihr, die ihre Zeit freigiebig an ihre Freunde verschenkt, ist das Prinzip des »Zeitsparens« völlig fremd, was sie gegen die Methoden der Grauen Herren immun macht. Trotz oder gerade wegen ihrer Passivität wird Momo so zum Zentrum jener, die sich der rasant fortschreitenden Funktionalisierung aller Lebensbereiche noch widersetzen. Als schließlich einer der »Agenten«, der sie mit teurem Spielzeug zu bestechen versucht, dem konsequenten Zuhören Momos unterliegt und das Geheimnis der »Zeit-Spar-Kasse« preisgibt (»alle Zeit, die sie einsparen, ist für sie verloren … Wir reißen sie an uns … uns hungert danach …« (99)), beschließen die Grauen Herren, sich des Mädchens zu bemächtigen.

Da wird Momo Hilfe von unerwarteter Seite zuteil. Gerade rechtzeitig taucht eine Schildkröte namens Kassiopeia auf, rettet das Kind vor dem Zugriff der Grauen Herren und führt es langsam, aber zielstrebig durch einen seltsamen Stadtteil »aus dem Bereich der Zeit« (139) hinaus in die »Niemals-Gasse« zum »Nirgend-Haus« des geheimnisvollen Meister Hora. Hora, der einmal als Greis, einmal als Kind erscheint, nimmt Momo freundlich auf und gibt sich ihr als »Verwalter« aller menschlichen Zeit zu erkennen. Er klärt das Mädchen über das paradoxe Wesen der Grauen Herren auf (»In Wirklichkeit sind sie nichts« (155)), die sich von gestohlener menschlicher Zeit nähren. Um Momo gegen sie zu wappnen, führt er sie dorthin, »wo die Zeit herkommt« (162). Das Mädchen findet sich in einer gewaltigen goldenen Kuppel wieder, wo ein geheimnisvolles Pendel aus Licht eine Blume von vollkommener Schönheit nach der nächsten zum Er- und Verblühen bringt. Es sind die Stunden-Blumen der menschlichen Zeit. Nach und nach nimmt Momo im Klang des Pendels die verschiedenen »Stimmen« der Dinge wahr, die sich in Harmonie ineinanderfügen. Sie begreift, daß alle Kräfte des Universums, »bis hinaus zu den fernsten Sternen«, zusammenspielen müssen, um eine einzige der Stunden-Blumen hervorzubringen. »Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst« (166). Zurück im Nirgends-Haus offenbart ihr Hora, daß sie in ihrem eigenen Herzen war. Als sie ihn bittet, ihren Freunden von der Musik der Sterne erzählen zu dürfen, versetzt er sie in einen tiefen Schlaf, »bis die Worte in dir gewachsen sein werden« (168). Erst viel später erwacht sie in ihrer Wohnstatt im Amphitheater.

Aber während Momo »Jahr und Tag« (190) geschlafen hat, hat sich ihre Welt verändert. Die Umwandlung der Stadt in eine perfekt funktionierende Maschinerie ist weitgehend abgeschlossen; alle früheren Freunde sind entweder kraftlos in ihr gefangen oder durch Erfolg und scheinbare Macht korrumpiert. Momo leidet unter bitterer Einsamkeit und empfindet ihren Reichtum an Zeit nun, da sie ihn mit niemandem teilen kann, zum ersten Mal als drückende Last. Darauf haben die Grauen Herren nur gewartet. Sie versuchen das Mädchen mit dem Versprechen zu ködern, seinen Freunden alle Zeit zurückzugeben, wenn es sie nur den Weg zu Meister Hora führe. Sie wollen aufs Ganze gehen und sich der Zeit aller Menschen auf einen Schlag bemächtigen. Momo jedoch weist sie ab, zumal sie auch den Weg selbst nicht kennt. Als sie aber wenig später zum zweiten Mal von der Schildkröte Kassiopeia in die Niemals-Gasse geführt wird, gelingt es den Grauen Herren, den beiden unbemerkt zu folgen und das Nirgends-Haus, in das sie selbst nicht eindringen können, zu belagern. Mit dem Rauch ihrer Zigarren, ohne die sie keine Sekunde existieren können und deren Tabak aus ihren Besitzern entrissenen Stunden-Blumen besteht, wollen sie die von Hora ausgesandte Zeit vergiften und so alle Menschen mit einer Krankheit namens »die tödliche Langeweile« (244) infizieren.

In dieser dramatischen Situation entschließen sich die Belagerten zu einem verzweifelten Schritt. Hora, der stets wach bleiben muß, um die Zuteilung der Zeit nicht zu unterbrechen, schläft ein und läßt die Welt dadurch erstarren. Ausgenommen sind nur Momo, die eine ihrer Stunden-Blumen (»eine einzige, weil ja immer nur eine blüht« (245)) und damit eine Stunde Zeit erhält, Kassiopeia, die »ihre eigene kleine Zeit in sich selbst [trägt]« (247) – und die Grauen Herren, deren Zeitnachschub allerdings schlagartig zusammenbricht. Als sie daraufhin in Panik zu den »Zeitvorräten« im Tresorraum ihrer unterirdischen Zentrale streben, werden sie unmerklich von dem Mädchen und der Schildkröte zum Versteck der gestohlenen Stunden-Blumen verfolgt. Durch eine Berührung mit ihrer Stunden-Blume gelingt es Momo, die Tür des Tresorraums zu schließen, worauf sich die Grauen Herren, deren Zigarrenvorrat zur Neige geht, einer nach dem anderen in nichts auflösen. Als der letzte verschwunden ist, öffnet Momo die Tür wieder und befreit damit die Zeit der Menschen, die die Welt aus ihrer Erstarrung löst und in einem gewaltigen Sturm zu ihren Besitzern zurückkehrt.

DIE UNENDLICHE GESCHICHTE

In das verschlafene Antiquariat Koreander stolpert eines Novembermorgens ein regennasser zehn- oder elfjähriger Junge namens Bastian Balthasar Bux. Er befindet sich auf der Flucht vor seinen Schulkameraden, gegen deren bösartige Streiche er sich nicht zu wehren wagt. Auch sonst ist Bastian, wie Herr Koreander bald abschätzig feststellt, »ein Versager auf der ganzen Linie« (UG 9): Er ist dick, unsportlich und ein miserabler Schüler. Aber wie die kleine Momo jenes des Zuhörens, besitzt auch er ein ebenso verborgenes wie wunderbares Talent: Er ist ein begnadeter Träumer. »[V]ielleicht war es das einzige, was er wirklich konnte: sich etwas vorstellen, so deutlich, daß er es fast sah und hörte. Wenn er sich selbst seine Geschichten erzählte, dann vergaß er manchmal alles um sich herum« (26). So ist es nicht verwunderlich, daß er sich magisch von einem Buch namens Die unendliche Geschichte mit »Einband aus kupferfarbener Seide« und »wunderschöne[n] große[n] Anfangsbuchstaben«47 angezogen fühlt, das der beschäftigte Koreander einige Augenblicke zur Seite gelegt hat. Kurz entschlossen nimmt er es an sich und läuft davon. Als ihm schlagartig klar wird, daß er gestohlen hat, wagt er sich nicht mehr zu seinem Vater nach Hause, sondern schleicht sich auf den Dachboden seiner Schule, wo er, auf einem Mattenlager sitzend, Die unendliche Geschichte zu lesen beginnt.

Zu seiner Freude stellt er fest, daß sie ihn – »genau […] wie seine eigenen Geschichten« (26) – in eine bunte, lebendige Welt voller fabelhafter, komischer und schauriger Figuren entführt: das weite, ja unendliche Reich Phantásien. Aber diese Welt ist in schrecklicher Gefahr: Sie löst sich langsam, aber stetig buchstäblich in Nichts auf (»anfangs [war es] nur ganz klein, ein Nichts, so groß wie ein Sumpfhuhn-Ei […]. Niemand von uns konnte sich erklären, was diese schreckliche Sache sein sollte, […] [die] sich immer mehr ausbreitete« (24)), eine Katastrophe, die ganz offenbar in Zusammenhang steht mit der unerklärlichen Krankheit der Kindlichen Kaiserin – des mystischen Zentrums von ganz Phantásien. Mit dem geheimnisvollen Amulett AURYN48 als Zeichen ihrer Macht versehen, wird die »Grünhaut« Atréju (der an einen Indianerjungen erinnert) auf die »Große Suche« (43) nach einem Heilmittel durch die vielgestaltigen Länder Phantásiens geschickt. Atréju erweist sich dabei als ausdauernd, tapfer und mutig und besitzt somit gerade jene Eigenschaften, die Bastian völlig fehlen. Doch als ihn sein Weg durch einen Zauberspiegel führt, der jedem »sein wahres inneres Wesen« (95) zeigt, widerfährt ihm etwas sehr Seltsames: Atréju erblickt »einen dicken Jungen mit blassem Gesicht – etwa ebenso alt wie er selbst – der mit untergeschlagenen Beinen auf einem Mattenlager saß und in einem Buch las« (99). Bastian erschrickt gewaltig, versucht das Ganze jedoch als »Zufall« abzutun und verfolgt gebannt die weitere Große Suche. Von einem Orakel erfährt Atréju (und Bastian), daß nur ein »Menschenkind«, das sich entschließt, nach Phantásien zu kommen und der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen zu geben, ihren Tod und damit die völlige Vernichtung des Reiches abwenden kann. Dies jedoch ist seit undenkbaren Zeiten nicht mehr geschehen, da die Menschen, sehr zum Schaden auch ihrer eigenen Welt, den Weg nach Phantásien offenbar vergessen haben. Als die Grünhaut mit dieser dramatischen Botschaft zur Kindlichen Kaiserin zurückkehrt, geschieht etwas, das Bastian endgültig die Augen öffnet. Für einen kurzen, magischen Moment erblickt er die Kaiserin leibhaftig vor sich und weiß sofort: »Mondenkind. Es gab überhaupt nicht den geringsten Zweifel, daß dies ihr Name war« (161). Die Kindliche Kaiserin lobt Atréju dafür, daß er »unseren Retter« (166) mitgebracht habe, was jener nicht, Bastian aber nur zu gut versteht: Er und niemand anders kann dieser Retter sein. Dennoch wagt er nicht, der Aufforderung Mondenkinds nachzukommen, »mich bei meinem neuen Namen zu rufen, den nur er weiß« (170). Gequält muß er lesen, wie die Kaiserin lange vergeblich auf ihn wartet und schließlich ihren Palast verläßt, um als letztes Mittel den Alten vom Wandernden Berge aufzusuchen. Ihre Entschlossenheit verheißt Bastian nichts Gutes.

Wer aber ist der Alte vom Wandernden Berge? Er erweist sich als der Chronist Phantásiens, der alle Geschehnisse in seinem »in kupferfarbene Seide gebunden[en]«49 Buch vermerkt. Dessen Titel lautet – sehr zu Bastians Verblüffung – Die unendliche Geschichte. »[…] kein Zweifel, es war das Buch, das er in der Hand hatte, von dem da die Rede war. Aber wie konnte dieses Buch denn in sich selbst vorkommen?« (183) Die Kindliche Kaiserin bedrängt den Alten, Die unendliche Geschichte