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Floriana Seifert

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Beschreibung

Michael Ende hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Die meisten kennen seine Jugendbücher, doch die Literatur für Erwachsene bietet noch viel Raum, um erschlossen zu werden. In der vorliegenden Untersuchung wird über das Drama „Die Spielverderber“, das Libretto „Der Rattenfänger“ und das bisher unveröffentlichte Libretto „Momo und die Zeitdiebe“ ein Schlüssel zur Interpretation all seiner Werke erarbeitet. Viele Jahre lang sorgte sich Michael Ende um den Fortbestand des Planeten und der Menschheit. Er war der Meinung, wir sollten die Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder übernehmen und über neue Strukturen nachdenken. Diese Überzeugung ist tief in sein Werk eingeflochten und wird von Floriana Seifert analysiert und dargelegt. „In dieser Hinsicht leistet die Verfasserin Ausnahmearbeit und Überzeugungsarbeit bezüglich einer außerordentlichen nützlichen Analysemethode.“ Prof. Dr. Gissenwehrer

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Floriana Seifert

Michael Endes triadische Eschatologie.Die Spielverderber, Der Rattenfänger. Momo

Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie

Einleitung

„Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und sein Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen. Da hörte ich eine laute Stimme im Himmel rufen: Jetzt ist er da, der rettende Sieg.“1

Dieses Zitat über Michael aus der Offenbarung des Johannes ist treffend für den Kampf, den Michael Ende kämpfte. Auch er stellte sich einem Drachen, der unsere Welt bedroht. Auch er war dabei nicht allein, denn seine Figuren halfen ihm, seine Ideen an die Leser weiterzugeben. Es waren zwar keine Engel, aber Philadelphia aus dem Spielverderber 2, der Spielmann aus dem Rattenfänger 3 und Momo aus dem gleichnamigen Buch verfolgen dieselbe Aufgabe: Sie wollen die Welt retten. Durch sie vermittelt Michael Ende seine Sorge um die Welt und die Gesellschaft, die auf ihr lebt. Seine Befürchtung wird von und durch seine Figuren erzählt. Im Spielverderber und im Rattenfänger ist einer komplexen Dramaturgie eine klare Struktur unterlegt – und zwar in beiden Formaten die gleiche. Die Figuren scheitern daran, die Welt aus ihrer misslichen Lage zu befreien, und die Apokalypse beendet das Geschehen. In Momo 4 schafft es das Menschenkind, die Menschheit vor ihrem Ende zu retten, auch wenn der negative Prozess bereits sehr weit fortgeschritten war. Michael Ende wollte uns nicht belehren, sondern er wollte uns eindringlich warnen.

„Die Hoffnung auf die Vollendung stützt sich auf Erfahrungen […] Er selbst garantiert für das Gelingen des von ihm Begonnenen. Dadurch wird aber der Mensch nicht zum bloßen Zuschauer der Geschichte. Wie zum Begriff des Glaubens über das reine Führwahrhalten hinaus das existentielle Moment des Sich-Einlassens gehört, so bedeutet Hoffnung über das Sich-Verlassen auf […] Verheißung hinaus aktive Realisierung, Mitgestaltung der erhofften Zukunft. In diesem Zusammenhang wird die Beobachtung wichtig, daß viele […] Verheißungen zugleich Handlungsappelle enthalten.“5

Michael Ende zwingt seinem Leser keine ultimative Lösung und Handlungsvorschläge auf, aber er setzt erste Bausteine einer Brücke in eine mögliche Zukunft. Dies meint „[…] die Bezeichnung jenes Teils der Dogmatik, welcher die Glaubensaussagen über die erhoffte endgültige und vollendende Zukunft (Eschaton) des einzelnen Menschen […], der Menschheit insgesamt sowie der Geschichte und des Kosmos behandelt.“6

Michael Ende verfasste Formate, welche die Zukunft des Planeten und der Menschheit thematisierten, sie alle eint seine Botschaft, die er in seiner erkenntnisreichen Sprache formulierte und die von mir als Endes Eschatologie bezeichnet wird.

„Es geht nicht um irgendwelche Dinge, sondern um die Zukunft Schöpfung, nicht um etwas, was nur von außen über Mensch und Welt hineinbricht, sondern um Vollendung schon begonnenen Lebens, nicht um rein zukünftiges, sondern auch um die Gegenwart, insofern sie von der Ausrichtung auf die Zukunft geprägt ist. Demgemäß könnte man formulieren: Eschatologie reflektiert die Hoffnung auf Vollendung. […] Vollendung kann (1) ein Prozeß, eine Bewegung auf ein Ziel hin, es kann aber auch (2) das Ziel selbst bedeuten. Dieses wiederum kann als Zustand der Ruhe, in welchem alles Wachstum beendet ist, oder als Fülle, als Aufgipfelung von Geschichte, als intensivstes Leben verstanden werden.“7

Ende stellt uns vor die Wahl: Vollendung oder Apokalypse? Er berichtet, übermittelt Ratschläge, doch die eigentliche Vollendung bleibt noch aus. Das Ziel stellt sich deutlich vor: Der Planet muss erhalten werden. Um an diese Erkenntnis zu gelangen, durchläuft das Individuum einen Prozess, der sich aus verschiedenen Phasen zusammensetzt. Die Heilung des Planeten nimmt hingegen prozessual ab, sofern wir nicht dagegen wirken, werden wir von den Kräften der Erde übertroffen und müssten uns dem gemeinsamen Schicksal stellen.

Die Eschatologie ist „seit dem 17. Jahrhundert in der christlichen Theologie […] Ziel und Ende der ‚Heilsgeschichte‘.“8 Der Begriff „Eschatologie“ wird meist in einem religiösen Kontext verwendet. Endes Eschatologie ist frei von religiöser Bevormundung. Es ist gleichgültig, welcher Religion man angehört, ob jemand Christ, Muslim, Buddhist ist oder sich irgendeiner anderen Religion zugehörig fühlt. Seine Botschaft betrifft alle und genauso alle Agnostiker und alle Atheisten. Es werden alle Erdenbürger angesprochen. Eschatologie ist nicht an die Religion gebunden, sondern vielmehr an die Vorstellungswelt, der sie angehören soll.

„Die eschatologische Verkündigung und Lehre ist auf diese weltbildgebundene Sprache und ihre Bilder angewiesen, muss aber deren Wahrheit und Grenzen unterscheiden. Dies gilt insbesondere für Bilder, die dem Hoffnungsziel Gestalt und Anziehungskraft geben, deren Wahrheit aber in einer symbolischen, nicht in einer verobjektivierenden Auslegung zu finden ist.“9

Ende ist es möglich, drei symbolische Orte, die stellvertretend für unsere Welt und deren Gesellschaft sind, kritisch zu hinterfragen, um eine objektive Einschätzung unserer Weltlage dem Leser zu vermitteln. Ende sah die „Vernachlässigung der gegenwärtigen Weltzeit zugunsten der erhofften Zukunft; damit zusammenhängen: die Resignation von der Aufgabe, menschliche Geschichte zu gestalten […]“10 Ende sorgte sich um den Fortbestand des Planeten, wenn wir als Bewohner nicht gravierende Änderungen unserer Systeme anstreben würden und uns bereit erklären, außerhalb des Üblichen zu denken.

Eschatologie meint auch das vorstellbare absolute Ende der Erdengemeinschaft und bedeutet „die Lehre von den letzten Dingen, d. h. vom Endschicksal des einzelnen Menschen und der Welt“12. „Eschatologie umfasst sowohl das Sein des einzelnen Menschen nach seinem Tod (Individualeschatologie) als auch das Ende der gesamten Menschheit und Welt (Universal-/Kollektiveschatologie).“13 Das Ende wird durch Einzelschicksale erzählt, die den größeren Kontext Welt mit einbeziehen.

Der erste wichtige Gedanken aus dieser Eschatologie ist: Michael Ende will uns nicht über eine fiktionale Apokalypse belehren, sondern er will sie in unserem realen Leben verhindern. Er war voll Kummer über den Zustand der Welt und der darauf lebenden Menschheit, und er ist mit seinen Überzeugungen nicht allein.

 

„Du sihst wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden. Was dieser heute baut reist jener morgen ein: Wo itzund Städte stehn wird eine Wiesen seyn Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.

Was itzund prächtig blüht sol bald zertretten werden. Was itzt so pocht und trotzt ist morgen Asch und Bein Nichts ist das ewig sey kein Ertz kein Marmorstein. Itzt lacht das Glück uns an bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit der leichte Mensch bestehn? Ach! was ist alles diß was wir vor köstlich achten

Als schlechte Nichtigkeit als Schatten Staub und Wind; Als eine Wiesen-Blum die man nicht wider find’t. Noch wil was ewig ist kein einig Mensch betrachten!“14

Bereits 1637 beschreibt Andreas Gryphius eine Erde, die, von der Menschheit losgelöst, wieder neu erwacht. Das Ende der Menschheit wird von den Menschen thematisiert, seit sie existieren.

 

„Tag der Rache, Tag der Sünden, Wird das Weltall sich entzünden, Wie Sibyll und David künden.

Welch ein Graus wird sein und Zagen, Wenn der Richter kommt, mit Fragen Streng zu prüfen alle Klagen!

Laut wird die Posaune klingen, Durch der Erde Gräber dringen, Alle hin zum Throne zwingen.

Schaudernd sehen Tod und Leben Sich die Kreatur erheben, Rechenschaft dem Herrn zu geben.

Und ein Buch wird aufgeschlagen, Treu darin ist eingetragen Jede Schuld aus Erdentagen.

Sitzt der Richter dann zu richten, Wird sich das Verborgne lichten; Nichts kann vor der Strafe flüchten.

Weh! Was werd ich Armer sagen? Welchen Anwalt mir erfragen, Wenn Gerechte selbst verzagen?

[…]

Schuldgebeugt zu Dir ich schreie, Tief zerknirscht in Herzensreue, Sel’ges Ende mir verleihe.

Tag der Zähren, Tag der Wehen, Da vom Grabe wird erstehen

Zum Gericht der Mensch voll Sünden; Lass ihn, Gott, Erbarmen finden.

Milder Jesus, Herrscher Du, Schenk den Toten ew’ge Ruh. Amen.“15

Es heißt, Thomas von Celano habe diese Zeilen geschrieben, die Herkunft dieser Worte bleibt aber umstritten. Das Hauptmotiv des Dies irae ist das Jüngste Gericht der Menschheit. Michael Ende setzte sich stark mit dem apokalyptischen Motiv auseinander. Um seine Eschatologie aus seinem Werk herauszuarbeiten, habe ich mich auf drei seiner Formate beschränkt. Je mehr man sich damit befasst, desto klarer löst sich seine Eschatologie aus seinen Texten heraus. Zunächst habe ich Die Spielverderber bearbeitet, dort werden fragwürdige Lösungsprinzipien getestet. Im Rattenfänger betreibt Ende Ursachenforschung, indem er menschliche Abgründe beleuchtet und den falschen Umgang mit Geld hervorhebt. Und der dritte Teil dieser Arbeit widmet sich Momo. Momo ist die einzige Figur, der die Rettung der Welt gelingt. Durch Momo können die Welt und ihre Bewohner geheilt werden. Deshalb wird dieses Format als Letztes behandelt. Michael Ende hat mit Momo begonnen.

„In dem Augenblick begann die Zeit wieder und alles regte und bewegte sich von Neuem. […] Davon, dass die Welt für eine Stunde stillgestanden hatte, hatten die Menschen nichts bemerkt. Denn es war ja tatsächlich keine Zeit verstrichen zwischen dem Aufhören und dem neuen Beginn. Es war für sie vorübergegangen wie ein Wimpernschlag. […] Viele Leute haben nie erfahren, wem das alles zu verdanken war und was in Wirklichkeit während jenes Augenblicks, der ihnen wie ein Wimpernschlag vorkam, geschehen ist. Die meisten Leute hätten es wohl auch nicht geglaubt.“16

1989 stellte Michael Ende Überlegungen an, welche Schritte zu einer Rettung der Welt beitragen könnten und sein Rat hätte lauten können: „Man müsste sich gemeinsam an einen Tisch setzen und anfangen zu kommunizieren.“ Er selbst musste immer wieder gegen die negativen menschlichen Seiten des Menschseins anschreiben.

„Werdet ihr endlich schweigen! Wenigstens dieses eine Mal! Verdammtes Idiotenpack, müßt Ihr auch noch unseren Abgang verderben? Das Spiel ist aus! Das Fest ist mangels geeigneter Gäste endgültig abgesagt! […] Nein … nein! … nicht schweigen, um Gottes willen! … Das kann doch nicht wirklich das Ende sein! … Es muss doch noch irgendeinen Ausweg geben! … Wir müssen uns nur erinnern … an die Worte, die auf unseren Anteilen standen … Jeder hat sie doch einmal gelesen … ganz am Anfang …“17

Michael Endes Sprache verschärft sich. Der Sprachgebrauch wird konkreter, drastischer und angsteinflößender. 1993 schreibt er den Rattenfänger.

 

„Weh, Hamelin, wehe … Ich sehe … ich sehe … Viel Blut und Rauch und Flammen … die Mauern brechen zusammen … Da reitet der Tod durch jegliches Haus … keiner von Euch wird ihm kommen aus … Aber zuvor … Durchs Wesertor … Kommt ein anderer, der euch retten kann … Ihr aber, ach, ihr nehmt es nicht an … Ich sehe … ich sehe … Wie ihr selbst euren Untergang sucht … weh, Hamelin, wehe […] Deine Reichen werden reicher an dieser Plage, und die Armen ärmer von Tag zu Tag. Ja, hört nur, was keiner hören mag! Ihr wißt nicht, was im Verborgenen geschieht, doch jene, die jeder dort stehen sieht, sie kennen ihr arges Geheimnis gut und hüten es wohl und vergießen das Blut, das Blut all derer, die wagen ein wahres Wort! Der Reichtum, der ihnen muß reichlich fließen, ist geboren aus Mord! Für jedes Goldstück, das sie erwerben, muß etwas sterben … ein Baum … ein Tier … ein Gewässer … ein Kind … Sie nehmen’s in Kauf, weil sie käuflich sind. Sie können’s schon nicht mehr enden … Gefangene sind sie der eigenen Gier! Blut klebt an ihren Händen! Ich spreche die Wahrheit, glaubt es mir! […] Fluch euch, die ihr dem Mund, der die Wahrheit sagt, den Lebensodem von den Lippen preßt. Und Fluch dem Volk, das nicht nach Wahrheit fragt und sich von Lügnern willig leiten läßt! Die Blinden führen Blinde, sie scheuen keine Sünde an Mensch und Gottes Welt. Jedoch noch diese Stunde Geht ihr und sie zugrunde: Die Grube ist bestellt!“18

Ende teilt es uns deutlich mit: Die Erde wird aufgrund unseres Verhaltens in einen Todesmantel gehüllt und ohne die Welt wird die Menschheit nicht überleben. „Wehe! Wehe! Wehe den Bewohnern der Erde! Noch drei Engel werden ihre Posaunen blasen.“19 Johannes formuliert es für seine Bibelpassage der Offenbarung und es trifft auf Michael Endes Texte ebenfalls zu, abgesehen von der Semenrekurrenz durch die Wiederholung und Wiederaufnahme des Sems |Wehe|.

Philadelphia, der Spielmann und Momo werden uns durch Endes Eschatologie führen. Wir werden verstehen müssen: Die Welt ist erkrankt und mehr noch, sie wird sterben.

Der Tod und das Sterben sind allgegenwärtig. Für diese Thematik habe ich die Expertin Elisabeth Kübler-Ross herangezogen. Nach ihrem Medizinstudium war sie an der University of Chicago tätig und wurde schließlich Psychiaterin, die sich intensiv mit dem Tod, mit Sterbebegleitung und Nahtoderfahrungen auseinandersetzt. Das Kernstück ihrer Arbeit ist das Erheben der fünf Trauerphasen, die jeder Mensch während eines Verlustes durchleben muss. Der Prozess beginnt mit dem Nicht-wahrhaben-Wollen, gefolgt von Zorn, Verhandeln und Depression, die in Zustimmung mündet.20 Diese Arbeit stützt sich auf drei ihrer Bücher. Im Jahr 1969 erschien On Death and Dying 21 und Death: The Final Stage of Growth22. Das dritte Buch On Children and Death 23 rundet ihre Arbeit ab und thematisiert, wie sich Kinder mit dem Tod auseinandersetzen.

Als ich Michael Endes Bücher erneut mit dem Wissen um Küblers Trauermodell gelesen hatte, konnte ich deutlich die ablaufenden Phasen in einer Metaebene der Texte wiederfinden. In Die Spielverderber und im Rattenfänger durchleben die Figuren den Trauerprozess, bis es für die Welt und die Figuren zu spät ist. In Momo wird das Herauslösen aus diesem Teufelskreis und Prozess vorgestellt. Momo folgt Kassiopeias Rat: „RÜCKWÄRTS GEHEN!“24 Momo schreitet den Trauerprozess rückwärts ab, um an den Anfang zu gelangen. Deshalb wird das Ende dieser Apokalypse zum Anfang, der eine neue und sechste Trauerphase hervorbringt, die in dieser Arbeit entwickelt wird. Bereits im Rattenfänger entsteht diese Lösung, doch die Figuren sind noch nicht dazu fähig, erst Momo wird sie dahin führen.

Die Spielverderber ist ein Drama und Der Rattenfänger ein Libretto. Es handelt sich daher um dramatische Texte, im Gegensatz zu Momo. Für die wissenschaftliche Arbeit mit drei Formaten wäre es natürlich sinnvoll, wenn sie aus der gleichen Sparte stammten. Dank Roman Hocke, Wolfgang Neruda (Geschäftsführer der Vertriebsstelle und Verlag Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten) und Claudia von Hornstein war es mir möglich, mit dem von Michael Ende selbst verfassten Libretto Momo und die Zeitdiebe. Ein Spiel für das Musiktheater in zwei Teilen 25 zu arbeiten. Roman Hocke war ein enger Freund von Michael Ende und hat sein Werk 15 Jahre als Lektor begleitet.

„Seit dessen Tod betreut er als Herausgeber den literarischen Nachlass des großen Geschichtenerzählers. Um guten Geschichten noch größere Kreise zu erschließen, machte Roman Hocke sich 1997 als Literaturagent mit der Hocke Projektagentur mit Sitz in Rom und München selbständig. 2002 ging er mit der AVA GmbH von Reinhold G. Stecher einen Synergieverbund ein. Von nun an firmiert seine Literaturagentur unter dem Namen AVA international GmbH. Seit vielen Jahren setzt sich Roman Hocke auch für die Phantastische Kunst ein. Er gehört zum Vorstand von Labyrinthe, Gesellschaft für phantastische und visionäre Künste e. V. in München (www.labyrinthe.com), die Ausstellungen rund um diese Kunst veranstaltet, und ist Ehrenmitglied der Stiftung Bruno Weber, des Schweizer Künstlers. Das Interesse an allem Phantastischen ist eine alte Familientradition: Sein Vater, Gustav René Hocke, hat mit Die Welt als Labyrinth das Standardwerk zur modernen Manierismus-Forschung verfasst, das die Entwicklung des Phantastischen über die Jahrhunderte hinweg darstellt. Roman Hocke hat zahlreiche Publikationen zur phantastischen Kunst wie auch zu einzelnen ihrer Künstler und Autoren verfasst. Unter anderem schrieb er auch eine Biographie über Leben und Werk von Michael Ende. […]“26

Seit 2015 arbeite ich als freie Mitarbeiterin für Roman Hocke und bin mit der Arbeit am digitalen Michael-Ende-Archiv betraut. Ein Teil des Nachlasses von Michael Ende befindet sich in Garmisch-Partenkirchen. Über die Jahre wurde in München ein digitales Archiv im Programm FileMaker angelegt. Fotos, Briefe und Ausschnitte seines Werkes und Lebens wurden dort konserviert. Meine Aufgabe bestand darin, die Informationen zu komplementieren und nachzubereiten, um eine Arbeit mit den Daten für nachfolgende Generationen zu ermöglichen und zu vereinfachen. Seit Oktober 2018 bin ich bei der AVA international GmbH fest angestellt und überarbeite inzwischen die digitale Variante des Edgar-Ende-Archivs, mit dem Bestreben, sein umfangreiches Werk der Zeichnungen, Gouachen und Ölgemälde zu erheben.

Wie viele andere Menschen faszinierte mich der endeianische Kosmos bereits seit meiner Kindheit. Anfänglich studierte ich Theaterwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität. Dort schrieb ich die Magisterarbeit Das Werdenfelser Land als theatraler Raum: Inszenierungsanalyse des Stückes „Flucht in die Heimat“. Im März 2012 begann ich die Promotion über Michael Ende, und erneut begegnete ich seinem Gedankengut im Sommer desselben Jahres. Ich nahm eine Stelle als Regieassistentin und dramaturgische Mitarbeiterin für die Inszenierung Momo im Rahmen des Kultursommers in Garmisch-Partenkirchen an. Wilfried Hiller komponierte die Musik und übernahm im Jahr 2019 musikalische Motive aus dieser Inszenierung für seine Oper, die später am Gärtnerplatz zur Uraufführung kam. Die Wiederaufnahme der Theaterinszenierung betreute ich 2016.

Im September 2013 begann meine Mitarbeit am zweiten Teil des Dokumentarfilms 40 Jahre MOMO – Michael Endes Märchen wird erwachsen. Zu einer Realisierung kam es bislang nicht, aber der erste Teil ist mehr als empfehlenswert. 2014 habe ich – neben einer Co-Regie an der Freilichtinszenierung Die Wand nach Marlen Haushofer – die Inszenierung Ophelias Schattentheater nach Michael Ende als Teil des Regieteams begleitet. Die fantastische Welt hat mich weiterhin beschäftigt. Über viele Jahre habe ich mit dem Figurenspieler, Figurenbauer und Regisseur Georg Jenisch zusammengearbeitet. Ich stand ihm das erste Mal als Regieassistenz in der Allerheiligen-Hofkirche in München zur Seite. Dort inszenierte er Prometheus von Carl Orff. Ich übernahm die Lichtkonzeption und Regieassistenz für Georg Jenischs Inszenierungen Symphonie fantastique von Hector Berlioz. Im darauffolgenden Jahr für das Stück Picasso l’Amoroso. Eine Groteske. Beides sind Produktionen der Münchner Künstlerhaus-Stiftung und wurden deshalb dort aufgeführt. Jenisch inszenierte auf Berlioz’ Musik Episoden des Künstlers Goya. Für Picasso nutzte er sein kompositorisches Geschick und entwickelte einen „Musikteppich“ durch die Geschichte. Im Dezember 2015 begleitete ich ihn als Puppenspielerin in der Uraufführung der Kurzoper Eine Geschichte sucht ihren Autor von Wilfried Hiller. Diese Oper wurde zu Ehren von Tankred Dorsts Geburtstag in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gegeben.

Als ich parallel an meiner Dissertation arbeitete, stieg ich sinnbildlich immer tiefer in die Schichten von Michael Endes Texten ein. Je weiter ich fortschritt, desto klarer wurde mir mein Thema: „Michael Endes triadische Eschatologie. Die Spielverderber, Der Rattenfänger. Momo“. Am Anfang meiner Arbeit glaubte ich noch an eine Werkschau, doch diese hätte niemals eine derartige Tiefe erreicht. Zusehens interessierten mich die Spiegelung seiner verschiedenen Formate und deren Adaptionen in Theater, Film und Oper. Seine Figuren rückten immer mehr in meinen Fokus. Sie tragen die dramatische Energie, die Theatralik und dramaturgische Stärke in sich selbst. Die Abläufe von Endes Geschichten sind oft sehr klar und scheinen einfach, aber die Figuren bringen die Wertigkeit seiner Texte mit. Sie sind es, die sich entwickeln, kämpfen und über sich selbst hinauswachsen. Die Arbeit am Selbst stellen sie dar. Zunächst hatte ich vor, die Figuren aus seinen Texten zu extrahieren und in einen Figurenpark zu stellen, die textübergreifenden Relationen würden sich preisgeben und deutliche Oppositionen bilden. Dann kam ich meinem Thema näher, denn die meisten Figuren vermittelten ein gemeinsames Angebot, eine Idee und eine Botschaft. Es handelt sich um das Endschicksal der Menschheit. Einige von ihnen streben nach Voll-End(e)-ung. Aber die End(e)-Zeit, in der sich die Menschheit befindet oder bald befinden wird, ist präsent. Seine Figuren treiben diesen Prozess voran, wehren sich, müssen sich ergeben oder kämpfen bis zum Schluss. Sie befinden sich mittendrin und sind bereits an diesem endlichen Kampf beteiligt. Langsam wurde mir bewusst: Ich habe gar keine Wahl, als diese Aussagen Endes herauszuarbeiten und in eine gemeinsame Formulierung zu bringen. Die Spielverderber führen uns an das Thema heran, Der Rattenfänger zeigt das apokalyptische Chaos und der dritte Teil musste Endes positiver Perspektive gewidmet sein. Deshalb befasst sich der dritte Teil meiner Arbeit mit Momo. Natürlich ziehe ich den Roman heran, aber im dritten Teil meiner Arbeit wird das Libretto MOMO 27 die Hauptgrundlage sein. Ich war dankbar, mit einer Kopie des Originaltextes von Michael Ende arbeiten zu können. Das Libretto orientiert sich an einem erwachsenen Publikum und ist deshalb schärfer in seiner Kritik und der Text ist kompakter, da es sich um ein Libretto und nicht um einen Roman handelt. Die Eschatologie ist deshalb noch dichter im Textgeflecht eingebettet.

Für die Textanalyse habe ich auf die Grundlagenwerke meines Studiums der Theaterwissenschaften zurückgegriffen. Mario Andreottis Traditionelles und modernes Drama. Eine Darstellung auf semiotisch-strukturaler Basis. Mit einer Einführung in die Textsemiotik 28 ist das Hauptwerk, an dem ich mich orientierte und das meiner Arbeit als Tiefenstruktur zugrunde liegt. Es ist mein wissenschaftlicher Ansatz, um die drei Texte in deren symbolischen, paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen zu beleuchten. Die Arbeit mit Andreotti hat wieder erwiesen, wie hilfreich seine Techniken sind, um Texte in der Tiefenstruktur zu erfassen. Makrostrukturen in Endes Werk herauszuarbeiten und einen Text bis auf ein einzelnes seiner Worte zu reduzieren, um nach und nach den sprachlichen Kode Endes zu dekodieren und im Weltmodus fortzufahren. Andreottis Techniken dienen mir als Handwerkszeug in der Analyse. Endes Kosmos ist ein Netzwerk an semantischen Relationen, die sich thematisch und semantisch durch seine Arbeit ziehen. Andreottis Ansatz half mir, einen fokussierten Blick über Endes Sprache zu erlangen und in die tiefen Schichten seiner Texte vorzudringen und dadurch den Kern seiner Botschaft zu erfassen. Folgen Sie meinen Erläuterungen zu den drei gewählten Formaten von Endes Texten, steigen Sie selbst in die Mikrostruktur seiner Texte durch meine Analyse ein, und Endes Eschatologie wird sich ganz natürlich preisgeben.

1. Der erste Teil der Trias: Die Spielverderber – das Lösungsprinzip Kommunikation

1.1 Hinführung zu Die Spielverderber und das deduktive Verständnis des Zusatzmaterials

„Die Spielverderber ist eine eindringliche, beängstigend düstere Parabel auf die Unfähigkeit, zu vertrauen, auf das materialistische Denken und den Glauben, im Anderen stets den Feind erblicken zu müssen.“29 Es ist ein Dramentext, der die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels der 1960er-Jahre aufgreift. 1988 schrieb Ende ein erläuterndes Vorwort, das Einblicke in seine tieferen Überlegungen ermöglicht. Dies ist für ihn ungewöhnlich, denn Ende gibt seinem Leser ungern eine Meinung vor. Aber es scheint ihm wichtig gewesen zu sein, dass der Leser mit dem richtigen Ansatz weiterdenkt. Er erläutert zusätzlich den zeitlichen Kontext, in dem das Stück entstanden ist. Ende hat bereits in den 1960er-Jahren angefangen, dieses Drama zu schreiben.

„Es waren die Jahre des ‚Kalten Krieges‘, 1961 war die Berliner Mauer gebaut worden; Adenauers ‚Politik der Stärke‘ war endgültig gescheitert; 1962 hatte die Kubakrise die Welt an den Rand einer globalen Katastrophe gebracht – nicht weil den beiden Großmächten an dem winzigen Kuba viel lag, sondern weil es ihnen ums Prinzip ging; der absurdeste und infamste Krieg tobte in Vietnam; in der Bundesrepublik protestierten die Studenten, vereinigten sich 1966 in der ‚außerparlamentarischen Opposition‘, um sich schon zwei Jahre später in zahllose Splittergruppen aufzulösen, die sich ideologisch bis aufs Messer bekämpften […] Die Höllengroteske der Realität hatte mein ‚schwarzes Märchen‘ an Zynismus bei Weitem überholt.“30

Weiter schreibt Ende im Vorwort: „Möglicherweise wird inzwischen auch manches besser verstanden werden […]“31, es ist also aktueller und dadurch näher am Betrachter des Dramas und der Realität. 2017 hat sich diese Kritik an Kommunikation, Politik und Zerstörung der Welt nicht geschmälert, sondern trifft mehr denn je die Wahrheit unserer Realität. Wieder einmal ging es Ende bereits damals darum, ein Medium zu finden, das „auf irgendeine wenn auch noch so bescheidene Art dazu beitragen könnte, den wirklichen Weltuntergang zu verhindern“32. Wie mutig er war, seine Meinung beizubehalten, beschreiben seine nächsten hier zitierten Zeilen.

„Die Uraufführung dieses Stückes im Jahre 1967 an den Frankfurter Städtischen Bühnen endete mit einem Tumult im Zuschauerraum. Ein Teil des Publikums, zugegeben der kleinere, klatschte ostentativ Beifall, der andere, größere, buhte und pfiff. Ich erinnere mich noch an einen Herrn in einer der ersten Reihen, der auf seinen Sitz gestiegen war und heftig gestikulierend nach hinten auf die Protestierenden einredete. Der Kampf dauerte immerhin fast eine halbe Stunde.“33

Obgleich das Stück aufgrund dieser oder jener Gründe abgelehnt worden ist, so hat es doch eine durchschlagende Wirkung erreicht, ist die Reaktion doch höchst emotional gewesen: Wut gilt immerhin als eines der stärksten Gefühle, die wir Menschen aufbringen können, und selbst der größte Choleriker lässt sich nicht grundlos von einem Theaterstück mitreißen. Wir erinnern uns an das Trauermodell von Kübler-Ross, die zweite Phase der Wut – zeigte sich bei diesen Zuschauern. Die eigentliche Wut um den Zustand der Welt förderte ihr Aggressionspotenzial, das sie Endes Stück entgegenbrachten. Solche Emotionalität ist ein Erfolg, auch wenn „wir es uns als zivilisatorische Leistung an[rechnen], die Wut nicht auszudrücken, zu zeigen oder gar auszuleben […]“34.

Der wunde Punkt, den Ende hier herauszuarbeiten versuchte, ist heute nicht minder die Ursache für die meisten Brennpunkte unseres Alltags. Es ist die Kommunikation, die nicht mehr funktioniert, weil wir einander nicht trauen. Im Vorwort beschreibt Ende seinen Versuch, dem „wirklichen Weltuntergang“35 vorzubeugen, als naiv, und dadurch wird sein Bedürfnis laut, sich für sein Vorhaben rechtfertigen zu müssen. Aber ich frage mich, ob das nötig ist. „Wir leben in einem Jahrhundert, in dem Dummheit und Unvernunft zum Verbrechen werden kann.“36 Und kein Einzelner ist zur Rettung der Welt fähig, dazu müsste die Menschheit an einem Strang ziehen. Und genau darum geht es in Endes Drama Die Spielverderber. Der Autor legt dieses globale Problem auf eine Gruppe von zwölf Figuren, und selbst bei diesem induktiven Ansatz scheitert eine Zusammenführung aller Parteien. Die Erben kennen einander und den Erblasser Johannes Philadelphia nicht. Nach dessen Tod treffen sie bei der ausstehenden Testamentseröffnung zusammen, denn alle haben einen Teil des Testaments erhalten und müssten nur alle Teile zusammenlegen, um zu erfahren, was dort geschrieben steht. „Die Figuren der Handlung sehen sich unvermittelt in ein ‚Spiel‘ verwickelt, in dem entweder alle gewinnen oder alle verlieren.“37 Doch das Misstrauen, das stetig zunimmt, verhindert die Zusammenführung des Puzzles und stürzt die Figuren in ein Inferno. Es ist nicht sonderlich abwegig, dass man nicht allzu schnell auf einen Konsens kommt, und somit ist die mit fantastischen Elementen angelegte Handlung auf einen realistischen Sockel gegründet. Es macht den Eindruck, als habe Ende nach der Premiere das Bedürfnis, sich zu erklären, und fügt dem Drama einiges Zusatzmaterial hinzu, um einer Fehlinterpretation entgegenzuwirken. Der Leser findet zusätzlich zum Vorwort auf den Seiten 13 bis 16 eine „Synopsis der Handlung“, daraufhin einen zweiseitigen Vorschlag für ein Bühnenbild und eine Kurzbeschreibung aller Figuren.

Das Stück spielt im Palast des Erblassers Johannes Philadelphia, der aus logischem Prinzip, da er den Verstorbenen gibt, nicht anwesend sein kann, und doch ist er ein wichtiges Handlungsprinzip und zusätzlich eine Handlungsfunktion38. Durch seine Abwesenheit – sein Ableben – ist die Anwesenheit aller anderen Figuren, die in diesem Drama an einer etwas anderen Form der Testamentseröffnung teilnehmen werden, zu verstehen. Zu dieser Einladung wurden sie nicht gezwungen, sondern sie werden sogar gewarnt und sollten die Entscheidung, an der Testamentseröffnung teilzunehmen, überdenken. Die Warnung ist in Form eines Gedichtes in vier Strophen dem Drama vorangestellt, zusätzlich soll es das Portal des Palastes schmücken. Das Gedicht kommt einer Warnung gleich und ist gezielt an die Erben gerichtet:

 

„Ich lebe und ich sterbe mit Dir, o Menschenkind, drum ist der Narren Erbe ein Rauch im kalten Wind.

Ich blühe und verderbe, wie du verdirbst und blühst, drum ist der Narren Erbe ein Abgrund leer und wüst.

Dass Jeder nur erwerbe, was aus ihm selbst entsprang, drum ist der Narren Erbe der Narren Untergang.

Du selbst wirst Dir bescheret. Sei klug, o Menschenkind! Der Narren Erbe fähret Dahin wie Rauch im Wind.“39

Bereits im ersten Vers kann durch die Semenopposition |lebe| und |sterbe| die Konnotation erhoben werden, dieses Gedicht habe durch diese zwei Seme zwei Bedeutungsebenen etabliert. Zum einen wird sich das Gedicht mit der Bedeutungsebene |Leben| und zum anderen mit der Bedeutungsebene |Tod| beschäftigen. Durch den dritten Vers der ersten Strophe wird das Sem |sterbe| zum dominanten Sem. Das Lexem40 „Erbe“ dient als weiteres Sem für die Semenrekurrenz, welche die Bedeutungsebene „Tod“ hervorhebt und dadurch die Signatur der Dominanz erklärt. Es wird demnach deutlich, dass der Tod und das mit ihm einhergehende Erbe in diesem Gedicht behandelt werden. Doch wer richtet diese Worte an die eintreffenden Erben? Ist es „jemand“ oder „etwas“, das mit ihnen sterben oder auch leben wird? Der erste Vers impliziert, sie seien miteinander verbunden, und diese Verbundenheit hält bis in den Tod vor. Aber es handelt sich sicher nicht um einen Mitstreiter, der noch vor der Testamentseröffnung Veränderungen am Palast vornehmen würde, oder um Philadelphia selbst, der die Gäste noch vor Beginn der Handlung verjagen würde. Das Lexem „Menschenkind“ schafft eine Kluft zwischen dem „Verfasser“ und allen Menschen, die das Gedicht lesen. Es ist demnach kein Mensch, der die Worte an die Erben richtet. Also könnte, rein konnotativ, Gott, ein Tier oder ein Gegenstand gemeint sein und paradigmatisch für das „ich“ eingesetzt werden. Da die Zeilen auf dem Palast stehen, könnte man weiter assoziieren, das Haus habe selbst diese Worte an die Menschen gerichtet, die es betreten wollen. Bereits in den ersten Szenen des Dramas wird sich diese These bestätigen, denn der Palast, in dem Philadelphia lebte, ist lebendig und übernimmt eine nicht unwesentliche Rolle für die Handlung. Es lässt sich festhalten, das Haus habe über die symbiotische Beziehung von sich und den Erben erzählt. Diese neue Bedeutungsebene der Symbiose wird durch die Seme |blühe| und |verderbe|: „wie du verdirbst und blühst“41, gesetzt. Denn sobald das Haus verblüht und verdirbt, werden auch die Figuren verblühen und verderben. Das bedeutet: Wenn das Haus sterben wird, werden die Figuren dafür Sorge tragen, und ihre nicht übernommene Verantwortung müssen die Erben mit ihrem eigenen Ende büßen. Denn ohne Ort – ohne das Haus – können die Erben nicht existieren. Angenommen, der Palast würde in Flammen stehen, dann wäre die Existenz der sich darin befindenden Erben nicht mehr gewährleistet. Der Palast berichtet weiter, das Erbe sei nur Narren vorbehalten. Ende hilft seinem Leser und erläutert im Zusatzmaterial den Begriff bzw. das Sem |Narr|.

„Das Wort ‚Narr‘ hat in unserem Sprachgebrauch zweierlei Bedeutungen. Einmal bezeichnet es einen Menschen, der tatsächlich geistesschwach ist, der sein Tun den Verhältnissen nicht anpassen kann, der Wichtiges von Unwichtigem, Dringendes von Nebensächlichem nicht zu unterscheiden weiß, der die Rangfolge seiner eigenen Interessen nicht versteht. Wer sich weigert, ein brennendes Haus zu verlassen, weil er sich draußen einen Schnupfen zuziehen könne, der fordert wohl eher unser Gelächter als unser Mitgefühl heraus. Die andere Bedeutung des Wortes bezeichnet den Berufsnarren, der den wirklichen Narren nur spielt, um durch Übertreibungen und Darstellungen anderen ihre Narrheit vor Augen zu führen.“42

Mit der ersten Beschreibung schildert er all jene, die glauben, noch etwas von der Erde zu erben. Die glauben, es sei unwichtig, sich mit diesen Weltproblemen auseinanderzusetzen, und die dabei übersehen, dass sie sich auf einer brennenden Erde befinden und es deshalb verpassen, diese zu löschen oder dies wenigstens zu versuchen. Mit der zweiten Erläuterung beschreibt er seine Position, denn er versucht, durch |Übertreibungen| und |Darstellungen von Narrheit| die Problematik dem Zuschauer näherzubringen. Forthin setzt er seine Figuren für beide Möglichkeiten ein.

Im Gedicht sind die Erben zunächst Narren, weil das Erbe „Rauch im kalten Wind“43 sei, was metaphorisch gesehen „nichts“ entspricht. Dies bestätigt sich durch die Semenverknüpfung von |Rauch| und |Wind|, beiden kann das Sem |nicht greifbar| zugeschrieben werden, noch dazu, wenn beide gemeinsam auftreten, denn wo |Wind| ist, ist kein |Rauch| und umgekehrt. Die beiden Lexeme schließen einander demnach aus; sobald man sie auf eine syntagmatische Ebene stellt, erzeugen sie die gewünschte Reibung und erzielen den Rückschluss, dass es nichts zu erben gibt. Die Zusammenführung der beiden Nomen „Narren“ und „Erbe“ bedeutet in diesem Kotext, dass, wer glaubt zu erben, ein Narr ist. Wie bereits das Zusatzmaterial vermutet lässt, beschäftigt sich dieses Drama mit den Ansichten von Michael Ende zum Weltuntergang44, der von den Menschen verhindert werden könnte, wenn sie bereit wären, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, denn sie sind schließlich dafür verantwortlich. Das Gedankenspiel eines Erben, der ein Narr ist, nur weil er vermutet, etwas zu erben, obwohl es nichts zu erben gibt, trifft auf die Menschheit und die Welt ebenfalls zu, denn wer glaubt, etwas zu erben, wenn die Welt stirbt und kein Leben mehr beherbergen kann, ist ein Narr. Diese Herleitung des induktiven Zusammenhangs zwischen dem Lexem „Palast“ und der wirklichen Welt wird sich durch eine Strukturanalyse bestätigen. Aber folgt man bereits jetzt dieser Konnotation, dann wird Endes absurder und bitterer Ansatz seiner Botschaft deutlich. Wir werden alle Verlierer sein, wenn wir nicht bald gemeinsam an Lösungen arbeiten. Es wird deutlich, wie sinnvoll jegliches Misstrauen dann noch sein wird, wenn es nichts mehr gibt. Das Erbe ist nichts anderes als der „Abgrund“45, in den wir nicht mehr blicken werden, sobald die Welt nicht mehr existiert. Und trotzdem weicht keine Figur zurück, sondern betritt unbedarft den Palast. In der dritten Strophe wird in den ersten beiden Versen vermittelt, dass nur zu „erben“ ist, was aus einem selbst entspringt. Wir, die Menschheit, kann das Erbe für die nachfolgenden Generationen nur erhalten, wenn wir aus uns selbst heraus an Lösungen arbeiten. Unser Erbe besteht darin, das zu erhalten, was noch übrig ist, oder auch das aufzuräumen, was par exemple an Umweltsünden von den vorherigen Generationen an uns vererbt wurde und was wir selbst verursacht haben. Auch die Figuren müssten gemeinsam an einer Lösung arbeiten und wissen sogar, was ihre Aufgabe wäre, und sie sind trotzdem nicht dazu fähig. „Drum ist der Narren Erbe der Narren Untergang.“46 Mit diesem zweiten Teil der dritten Strophe zeigt Ende, dass das Erbe antreten zu wollen nicht nur bedeutet, nichts zu erben, sondern dass es auch bedeutet, dass man diese Entscheidung mit seinem Leben bezahlen muss. Wir erben nichts von der Welt, es ist nicht ihre Aufgabe, uns zu beerben, sondern es ist unsere Aufgabe, sie als Erbe in gesunder Beschaffenheit an die neuen Generationen zu übergeben.

Das sich wiederholende Sem |Narr| mit den Lexemen „Erbe“ und „Untergang“ in ein syntagmatisches Spannungsfeld zu setzen, führt zu einer Semenüberlagerung, denn das Aussagesem |Erbe| schließt normalerweise einen finanziellen Untergang aus. Doch mit dieser üblichen Annahme – wenn man etwas bekommt, kann man nur gewinnen – spielt Ende und derjenige, der erben möchte, ist nicht mehr nur ein Narr, sondern ist dem Untergang und somit dem Tod geweiht. Und auch in der letzten Strophe wird darum gebeten, und Michael Ende gibt seinen Figuren noch eine Chance: „Sei klug, o Menschenkind!“47, du selbst hast es in der Hand, du selbst „wirst Dir bescheret […]“48, aber auch darauf achten die Erben nicht. Die Habgier, die Neugier und oder was auch immer es für menschliche Laster sein mögen, führen die Erben in ihre selbst geschaffene Falle.

Im Anhang des Dramas sind weitere Anmerkungen zum Stück und „Ein möglicher Epilog“49 abgedruckt. Nach dem Drama fügt Ende seiner vorherigen Analyse der Figuren erneut eine weitere Seite zu. Die beigefügte Inventarliste der verstorbenen Figur des Dramas und die „Gründe: Bei Ausbrechen eines Brandes nicht zu löschen“50 sind etwas ungewöhnlich für ein Zusatzmaterial. Endes Formulierungen regen dazu an, in eine bestimmte Richtung zu interpretieren. Ich könnte mir auch vorstellen, dieses gesellschaftskritische Zusatzmaterial hätte die Programmhefte füllen können. Der Titel „Auszug aus der Inventar-Liste des Nachlasses von Johannes Philadelphia (Band 897, Seite 1227)“51 zeigt bereits den Umfang des Besitzes der Figur. Die genannten Beispiele sind nicht etwa greifbare Gegenstände, sondern abstrakte und fantasievolle Formulierungen wie etwa: „Ein Abschiedsbrief, der niemals geschrieben wurde“52. Das kommende Ende wurde zu spät erkannt und die Möglichkeit, einen Brief zu schreiben, war nicht mehr möglich. Die Liste vermittelt dem Leser, es handle sich hier nicht um eine realistische Form des Dramas, sondern man müsse die Idee eines lebendigen Hauses einfach akzeptieren, wenn man die Handlung verstehen möchte. In der Inventarliste finden sich alle „Widersprüche aufgelöst in einem Glas Wasser“53, was im Hinblick auf die Handlung zunächst amüsant ist, denn jede Figur möchte erben und ist nicht fähig, ihren Teil der Erbschrift zu geben, was nicht widersprüchlicher sein könnte, denn dadurch sind sie im Glauben, ihr vermeintliches Erbe zu verhindern. Und doch trägt dieser Auszug einen bitteren Beigeschmack über die Ernsthaftigkeit der von Ende angesprochenen realen Situation. In seinen Augen brennt die Welt und es ist ihm völlig unverständlich, warum wir nicht beginnen, diesen Brand zu löschen. Stattdessen verstricken wir uns in Widersprüche, die nur in ein Ende führen. Wären wir fähig, darüber hinauszudenken, hätten wir eine Chance.

Der Metapher der brennenden Welt widmet Ende ein eigenes Kapitel. Diesen sarkastischen Beitrag nennt er „Gründe: Bei Ausbrechen eines Brandes nicht zu löschen: (Kreuzen Sie bitte das für Sie Zutreffende an!)“54. Er nennt 23 Gründe, den Brandherd nicht zu löschen, und dies zeigt, dass er sich wirklich mit der Frage beschäftigt hat, weshalb die Menschen nicht zu handeln beginnen. Das in der Klammer Stehende bedeutet, dass irgendein Grund auf jeden zutreffen muss, und sollte dies nicht der Fall sein, dann solle der Leser selbst einen weiteren Grund definieren. Hier greift Ende die Problematik auf eine höhnische Art und Weise auf, denn eine brennende Welt müsste logischerweise jeden betreffen. Der satirische, sardonische und makabre Beigeschmack seiner fingierten Gründe wird schnell durch die Erkenntnis „Genau so ist es“ ersetzt.

„Als ich die ‚Spielverderber‘ schrieb, wollte ich durch einen komödienhaften Tonfall das Publikum sozusagen in eine Falle locken. Es sollte lachen, aber das Lachen sollte ihm nach und nach im Halse stecken bleiben, bis es schließlich im Untergangsgebrüll der Narren im Feuer ein Menetekel für seine eigene mögliche Zukunft erkennen würde.“55

Der Wunsch für sein Drama wird heute leichter denn je – und zwar bereits bei den Gründen, den herrschenden Brand nicht zu löschen – erfüllt. Ich bin überzeugt, jeder Leser wird sich in einem oder mehreren Gründen wiedererkennen. Die nähere Betrachtung und die Bestätigung des interpretatorischen Ansatzes – Ende spielt nicht auf den Brand eines Hauses, sondern das Brennen der Welt an – wird sich erst nach der näheren Betrachtung des Dramentextes rückbestätigen lassen. Es lohnt sich, sich die Gründe durchzulesen.

1.2 Erste Schritte der Dramenanalyse: Aufbau und Bühnenbild

Ende hat Die Spielverderber in fünf Akte unterteilt. Die ersten beiden Akte sind in zwölf Szenen und der dritte Akt wurde in 20 Szenen untergliedert. Der vierte Akt hat zwölf und der fünfte Akt hat 15 Szenen. Die Figuren werden nach und nach eingeführt und werden in der Reihenfolge, wie sie auftreten, im Personenverzeichnis aufgeführt. Ende beschreibt ein recht aufwendiges Bühnenbild, das den Innenraum des Palastes von Johannes Philadelphia zeigt. Die Einrichtung lässt auf einen vergangenen Reichtum schließen. „An Säulen und Wänden Karyatiden aller Art, Heroen und Götter, Tiere und Fabelwesen. Bildnisse und Gobelins, darunter der Gobelin ‚Die Dame mit dem Einhorn‘ aus Cluny ‚à mon seul désir‘.“56 Dieser Gobelin ist seit 1982 im Musée de Cluny in Paris und gehört zu einer Reihe von sechs Teppichen. Der Name bedeutet „mein einziges Verlangen“. Es heißt, die sechs Teppiche würden für die Sinne stehen und dieser sechste Teppich würde einen weiteren Sinn bedeuten und durch diesen Teppich werde die Liebe symbolisiert.57 Zurück zum Bühnenbild: Der Raum ist mit allerlei Gegenständen gefüllt und hohe Fenster sollen die Bühne mit Licht durchfluten. Ende sieht bunte Paradiesvögel durch den Raum fliegen. Das notwendigste Requisit ist ein „langer, mit grünem Filz bezogener Konferenztisch, umgeben von Sitzmöbeln, welche den Figuren der Handlung entsprechen […]“58. Weshalb der Raum Geschichte stöhnen sollte, erläutert Ende in den „Anmerkungen zum Stück“ nochmals.

„Der Palast des Johannes Philadelphia ist gedacht als ein Arsenal aller nur denkbaren Kulturgüter der verschiedenen Zeiten und Länder, vom Mumienschrein bis zum Flipperautomaten. Dieser Mischmasch entspricht unserer gegenwärtigen Bewußtseinslandschaft, in der alle Werte museal zusammengetragen und gerade deshalb ungewiß sind.“59

Der Raum soll Weltgeschichte darstellen, die uns verlässt, die wir verlassen müssen.

1.3 Das Konzept Familie beherbergt einen Kommunikationskode: die Regeln der Familie Geryon

Die erste Szene des ersten Aktes sowie die ersten drei Namen des Personenverzeichnisses60 sind der Familie Geryon gewidmet. Im Verzeichnis sind für Ninive, Egon und Elsbeth der gemeinsame Nachname |Geryon| aufgeführt. Dieses dominante Sem kennzeichnet die drei als Familie. „Der Name […] ‚Geryon‘ entstammt Dantes Göttlicher Komödie. Er bezeichnet einen der Höllenwächter, den Dante als ‚Drachen mit dem Biedermanngesicht‘ beschreibt.“61 Ende sieht Egon S. Geryon als einen 50-jährigen smarten Manager, der von seiner Redlichkeit überzeugt ist und nichts dergestalt fürchtet, wie betrogen zu werden.62 Seine Frau Elsbeth Geryon sei 40 Jahre alt und neige zu Übergewicht und glaube ganz und gar an ihren Mann.63 Und die Tochter Ninive Geryon, ein 14-jähriges Mädchen, sei frühreif und verwöhnt und hasse ihre Eltern und deren Welt.64 Die Abneigung zu ihnen sei auch der Grund dafür, weshalb sie sich in ihre Fantasien flüchte und sich darin verloren habe.65

Die erste Szene beginnt in den Hallen des Palastes, die Eltern haben ihre Tochter verloren und sind auf der Suche nach ihr, sie werden als die namenlose Frauenstimme und Männerstimme eingeführt, die den Namen Ninive aus dem Off über die Bühne rufen. Eine maskierte Gestalt mit einer asiatischen Dämonenmaske huscht über die Bühne und versteckt sich, als sie die Stimmen wahrnimmt. Egon und Elsbeth betreten die Bühne und das Zeichen der Distanz zwischen den Eltern und der Tochter wird durch deren separate Auftritte erstmals gesetzt. Der Vater beendet die Suche nach der Tochter, indem er sich seufzend auf einen Stuhl niederlässt, und die Mutter adaptiert sein Verhalten, mit den unterstützenden Worten: „Daß sie nie gehorchen kann!“66 Durch das Sem |kann| gibt die Mutter zu, Ninive sei das Gehorchen gar nicht möglich. Wäre beispielsweise anstelle von |kann| die paradigmatische Alternative |will| verwendet worden, hätte die Mutter den freien Willen ihrer Tochter akzeptiert und deren Möglichkeiten erweitert und hätte ihr dann ausschließlich vorgeworfen, sie habe nicht gehorchen wollen. Doch Ende setzt mit dem Sem |kann| eine Grenze des Möglichen für Ninive. Das Sem |kann| schließt aus, dass Ninive hätte gehorchen können – sie ist somit in den Augen der Mutter gar nicht fähig zu gehorchen. Ninive ist, wie sich zeigen wird, ein äußerst aufgewecktes Kind und daher nicht unfähig, sondern in einem System gefangen, in dem sie nicht „richtig“ handeln |kann|, weil das ihre Mutter nicht |will|. Die Annahme, die Mutter habe Regeln formuliert, die unmöglich zu bewältigen sind, bedarf weiterer Belege, die sie dem Leser selbst vermittelt. Durch das Sem |nie| belegt die Mutter, Ninive habe sich noch |nie| an die verlangten Regeln gehalten. Möglicherweise übertreibt die Mutter ihre Annahme, oder das Kind war dazu tatsächlich noch nicht fähig. Dann müsste man sich erneut fragen, ob es denn überhaupt möglich ist, die Regeln zu befolgen, wenn es bisher noch |nie| möglich war.

Obwohl die Mutter gerade ihre Tochter sucht, klingt sie nicht besorgt, sondern macht der Tochter Vorwürfe, nicht zu gehorchen und nicht zu funktionieren. Wie der weitere Verlauf zeigt, legt sie ohne Umschweife die Mutterrolle ab und legt den Fokus auf ihre eigenen Bedürfnisse. Anstatt sich dem Verschwinden der Tochter zu widmen, beklagt sie sich über ihre schmerzenden Füße. Und auch der Vater unterstützt die willkommene Ablenkung. „Ich habe dir gesagt, zieh’ nicht die neuen an.“67 Aus der wenig empathischen Aussage des Ehemanns lässt sich die erste Regel des sprachlichen Kodes der Familie Geryon ablesen. Eine Familie ist eine Ansammlung von Kommunikationsteilnehmern, die sich in ihrem sprachlichen Kode aneinander annähern. Wie etwa Ehepartner durch eine länger verbrachte gemeinsame Zeit oder aber Eltern, die als Sender ihren Kindern – als Empfänger – die Möglichkeit geben, die Kommunikation erstmals zu erlernen. Natürlich sind sie nur imstande, ihren Kindern ihre eigenen Möglichkeiten der Kommunikation weiterzugeben. Wie es in den meisten Familien Regeln für das Verhalten gibt, gibt es ebenfalls Regeln, die eine Kommunikation erst ermöglichen, erschweren oder eine Familie in ihrer Art des Kommunizierens als Familie kennzeichnen. Letzteres könnte wie ein geheimer Kode verstanden werden, der den Familienmitgliedern geläufig ist und dadurch besonders gut funktioniert. Diese innerfamiliären Vorgänge der Kommunikation führen auch bei der Familie Geryon zu verschiedenen Regeln. Die erste Regel besagt: Wenn sich im Familiengeflecht ein Vorfall ereignet, der einer empathischen Betrachtung bedarf, wie etwa das Fortlaufen der Tochter oder die schmerzenden Füße der Ehefrau, wird dies mit einer abschließenden Aussage des Empfängers unterbunden. „Daß sie nie gehorchen kann!“68 und „Ich habe dir gesagt, zieh’ nicht die neuen an“69 sind beides Sätze, die eine Reaktion auf ein Bedürfnis eines Familienmitglieds darstellen. Diese Bedürfnisse werden in diesen Beispielen von Ninive unbewusst, indem sie wegläuft und sich so eine Reaktion ihrer Eltern erhofft, und von der Mutter bewusst durch ihre Aussage, dass sie Schmerzen habe, an die Empfänger Eltern und Ehemann entsandt. Diese Bedürfnisse könnten auch als eine Bitte umformuliert werden: „Bitte übernimm Verantwortung für mich.“ Doch diese herangetragenen Wünsche nach Verantwortung werden sogleich vom Empfänger an den Sender zurückgegeben.

Die Eltern vernachlässigen Ninive, kommen ihrer Verantwortung als Eltern nicht nach, und Ninive sieht dadurch nur die Möglichkeit wegzulaufen. Sie wählt diesen Weg. Und welche Reaktion zeigen die Eltern? Das Kind sei selbst schuld, denn sie habe sich nicht an die Regeln gehalten. Ebenso verhält es sich mit der Mutter. Ihre Füße schmerzen derart, dass sie sich setzen muss, um ihre Schuhe auszuziehen. Und was ist die Reaktion ihres Mannes? Vorwürfe – sie habe sich nicht an seinen Rat gehalten und daher, wie auch Ninive, sei sie selbst schuld an ihrer Lage. Der Vorgang der Kommunikation ist in der Familie Geryon gestört, denn die Kodierung und Dekodierung von Informationen verläuft nicht reibungslos und führt daher nicht zur Zufriedenheit aller Parteien. Das Kommunikationsmodell ist gestört und kann daher nur zu unbefriedigenden Ergebnissen für beide Seiten führen. Zum Exempel kodiert Ninive ihr emotionales Bedürfnis – „Nehmt mich wahr“; „Kümmert euch um mich“ und vor allem: „Übernehmt Verantwortung für mich“ – in eine oppositionäre Handlung. Die Handlung „Ich laufe meinen Eltern fort“ bedeutet zusammengefasst Emotion, Nähe – und muss daher konnotativ als Ninives Opposition verstanden werden. Diese Kodierung entsendet sie an ihre Eltern. Diese verschlüsselte Botschaft ist wirklich nicht leicht zu dekodieren, denn Ninives Signifikat ist, wie eben erläutert, gegensätzlich zu ihrem Signifikanten und natürlich erschwert dies eine Dekodierung. Ohne ihre Eltern hier in Schutz nehmen zu wollen, denn deren Dekodierung liegt nicht ansatzweise in der Rubrik „Wahrheit“. Für das Verständnis ihrer Tochter wäre es zumindest hilfreich gewesen, ihr Verhalten als auffälliges Verhalten zu dekodieren. Oder zu erkennen, dass sie selbst zu einer Dekodierung nicht fähig sind und deshalb Hilfe beziehen sollten. Aber wie verhält sich das Ehepaar Geryon? Sie können mit der Kodierung nichts anfangen und sind zur Dekodierung nicht fähig und senden die nicht entschlüsselte Information an den Empfänger zurück. Ebenso verhält es sich innerhalb des Elternverhältnisses, denn das herangetragene Bedürfnis der Mutter wird ebenfalls vom Vater durch einen Stopp-Satz zurückgesendet.

Die Eltern Geryon bemühen sich, dieses Problem zu vereiteln, und bewegen sich daher auf einer qualitativ niedrigeren Gesprächsebene, denn mit einer „Plauderei“ kommt man seltener in eine Konfliktsituation – solcherart scheint es zumindest. Die Eltern besprechen, wie lange sie schon unterwegs sind, wie groß wohl der Palast ist und wie verwunderlich es ist, noch niemandem begegnet zu sein. Die Mutter wagt sich aus dem sicheren Terrain der Kommunikation hervor und würde gerne ihre persönliche Wahrnehmung mit ihrem Mann abgleichen, denn ihr kam es so vor, als sei das Haus von außen kleiner als von innen. Dies stellt nicht nur einen weiteren Hinweis auf die Andersartigkeit des Hauses dar, sondern bestätigt die vorangegangene Annahme, ein Verlassen der geradlinigen Kommunikation sei nicht möglich. Denn der Vater antwortet: „(leidend) Ich bitte dich, Elsbeth.“70 Die Aussage der Frau ist in seinen Augen unlogisch und entspricht eher einer Empfindung als einer wertvollen Einschätzung der Lage. Herr Geryon ist demnach kein Mann, der sich von seinen Emotionen hinreißen lässt, denn er verwendet seine Energie vielmehr darauf, die wahre finanzielle Wertigkeit einzuschätzen, und auch seine Frau ist sich dessen bewusst und lenkt die Kommunikation in sein Interessenfeld und fragt: „Bist du schon zu einem Ergebnis gekommen, Egon?“71 Dieses Ergebnis zielt auf den finanziellen Wert des Erbes ab. Herr Geryon, ein Versicherungsfachmann, schätzt das bisher Gesehene auf mehrere Millionen. Elsbeth gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden, denn diese Schätzung könnte sich sehr schnell minimieren. „Meinst du, es werden viele Erben da sein?“72 „… mit denen wir unser neues Erbe teilen müssen“, schwingt der Subtext von Elsbeth mit. Mit dieser Aussage wird die Bedeutungsebene, Misstrauen, eröffnet. Als Elsbeth ihre letzte Frage nach der Anzahl der anderen Erben gleich nach der Schätzung ihres Mannes gestellt hat, steht ihre Frage mit dem zu erwartenden Erbe in einem konnotativen Kontext. Je mehr Erben kommen, desto weniger wird geerbt werden, ist die einzige Gleichung, die hier zu stellen ist. Und auch ihr Ehemann wird in den Kreis des Misstrauens aufgenommen. Ihn „beunruhigt“73, den Erblasser Johannes Philadelphia nicht gekannt zu haben. Das Verb |beunruhigen| kann zusätzlich als Sem für die Bedeutungsebene „Misstrauen“ aufgegriffen werden, denn es impliziert Unsicherheit, die durch Unwissenheit hervorgerufen wird. Für die Familie Geryon steckt in allem Unbekannten zunächst etwas |Beunruhigendes|, dem man Misstrauen entgegenbringen muss. Einerseits ist es interessant, wie wenig den Erben der Name ihres Gönners bekannt ist, und andererseits ist es spannend, wie die Erben darauf reagieren. Seine Frau hat sich ebenfalls einige Gedanken über den Unbekannten gemacht und sie schlägt ihrem Mann vor: „Oder es ist ein Pseudonym.“74 Ein Pseudonym für was oder wen? Die Beantwortung dieser Fragen bleibt dem Leser vorbehalten, denn der Ehemann reagiert nicht auf die Gedanken seiner Frau. Der Name Philadelphia bedeutet „Bruderliebe“75. „Man findet den Namen unter dem Sendschreiben in der Apokalypse des Johannes.“76 Bereits hier sollten die Figuren hellhörig werden, doch den weiteren Verlauf ihrer Geschichte ahnen sie nicht. Während die Eltern weiterdiskutieren, weshalb sie als Erben eingesetzt wurden, obwohl sie den Mann nicht kennen, kommt eine maskierte Gestalt aus ihrem Versteck. Sie erschreckt das Ehepaar Geryon und die beiden reagieren mit hilflosen Rufen, wie die Regieanweisung verrät. Hinter der Maske versteckt sich Ninive und löst lachend ihren Scherz auf. Die Eltern scheinen mit der Situation überfordert zu sein, denn die Mutter kann nur mit Empörung reagieren, während der Vater sich an sein Herz fasst. Ninive versucht, ihre Eltern mit den Worten „Es war nur ein Spaß“77 zu beschwichtigen. Ninives Replik wurde das Adjektiv „schmollend“78 beigefügt und es vermittelt ihr Angebot: Nehmt mich wahr oder lacht mit mir. Ihr Signifikat und der Signifikant wurden wieder nicht korrekt dekodiert. Stattdessen nimmt der Vater routiniert eine Tablette ein und die Mutter unterstützt die körperliche Reaktion des Vaters, indem sie sagt: „Du wirst ihn noch umbringen und sagen, es war nur Spaß.“79 Und hier erweitert sich das Regelwerk der Kommunikation der Familie Geryon, indem ein neues „Manipulationsmuster“80 etabliert wird. Der zuletzt zitierte Satz der Mutter ist ein hervorragendes Beispiel für die Königsdisziplin der Manipulationen. Dr. Susan Forward nennt sie die „emotionale Erpressung“81. Die meiste Zeit spielt die Mutter Geryon ihre Freundlichkeit aus, um ihre Ziele zu erreichen, genauer gesagt, hält sie sich im Hintergrund auf und setzt ihre Waffe, emotionale Erpressung, nur selten ein, doch mit diesem Satz zeigt sie, wie sie es kaum offensiver hätte formulieren können.

„Selbstverständlich gibt es eindrucksvolle unzweideutige Erpresser, die durchweg direkte Drohungen hinsichtlich dessen zum Ausdruck bringen, was geschehen wird, wenn man sich ihrem Willen nicht beugt, und die die Folgen mangelnder Unterwerfung in klare Worte fassen […]. Eindeutige Drohungen, klare Intentionen.“82

„Dein Vater wird sterben, wenn du dich nicht an meine Regeln hältst und darüber hinaus deinem Vater ein gutes Kind bist“ – dies ist eine eindeutige Drohung: Du wirst zur Mörderin, wenn du weiter so handelst. Ich nehme an, die Mutter rechnet nicht wirklich damit, diese heftigen Auswirkungen bei ihrem Mann festzustellen, aber der Druck ist durch die emotionale Erpressung aufgebaut und führt im Normalfall zu seiner Wirkung.

„Die Fügsamkeit des Erpreßten belohnt den Erpresser, und jedes Mal, wenn man einen Menschen für eine bestimmte Handlung belohnt, sei es bewußt oder unbewußt, dann gibt man ihm auf die stärkstmögliche Weise zu verstehen, daß er die Handlung wiederholen darf.“83

Doch was passiert bei der Familie Geryon? Die Erpressung fruchtet nicht. „Ohne die Mithilfe des Erpreßten kann emotionale Erpressung nicht vor sich gehen.“84 Ninive entzieht sich der Erpressung, indem sie nicht darauf reagiert, antwortet, oder sich sogar zu verteidigen versucht. Zusätzlich unterbindet der Vater die Situation, indem er das Thema wechselt. Er möchte wissen, ob Ninive auf ihrem Alleingang jemandem begegnet sei. Sie antwortet: „Ihr glaubt mir ja doch nichts.“85 Durch diese absolute Aussage, die durch das Lexem „nichts“ getragen wird – von allem, was ich sage, wird mir „nichts“ geglaubt –, wird deutlich, in welchem Umfang sich Ninive den dramatischen Kommunikationsfluss ihrer Eltern angeeignet hat. Im Grunde schützt der Signifikant das Signifikat und die dritte Regel ist gesetzt. Das, was eigentlich gesagt werden müsste, wird nicht ausgesprochen, denn es wäre zu emotional und zu nah an der Wahrheit. Als Folge dessen scheint der nächste Satz des Vaters fast ironisch: „Wenn du hübsch bei der Wahrheit bleibst, schon.“86 Der Wahrheitsbegriff des Vaters liegt äußerst nah an seiner Wahrheit, sie ist dort situiert, wie er die Realität wahrnimmt und wie er sie gerne hätte, und dabei ist Ninives Sicht nicht sonderlich wichtig, überdies wird sie gerne übersehen. Um der Ignoranz zu entkommen, greift Ninive bereits zu pathologischen Mitteln, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ninive wird zur Lügnerin, um interessanter zu wirken. Die Tochter muss nicht allein dafür die Verantwortung übernehmen.

Die Lüge wird zum Metathema der Familie Geryon und kann als deren Superzeichen gesehen werden. Als der Vater ihr erneut die Frage stellt, ob ihr denn jemand begegnet sei, genießt sie die erhaltene Aufmerksamkeit. Ihre Antwort artet in einen Monolog aus. Ihr Sprechanteil nimmt deutlich zu und sie nutzt das Gehör ihrer Eltern, um von ihren Erlebnissen zu berichten. Sie beschreibt, was sie bisher im Palast entdeckt hat. Der Vater unterbricht den Redefluss: „Na und? Weiter?“ Er ist nicht gewillt, ihr zu viel seiner Aufmerksamkeit zu geben, vor allem nicht, wenn die eigentliche Frage nicht beantwortet wird. Und ein weiterer Satz ist für das Verständnis von Ninive notwendig. „Ihr seht ja nie was.“87 Dieser Satz ist in den Kotext der Beschreibung des Palastes gebettet, doch er meint nicht, dass die Eltern die Räumlichkeiten nicht genau betrachten würden, sondern er impliziert, dass die Eltern Ninive nicht wahrnehmen. Auf ihre subtile Art und Weise vermittelt sie ihre Person an ihre Eltern. Ninive ist es nicht gewohnt, von Zuhörern umgeben zu sein. Die erlangte Aufmerksamkeit setzt Ninive in eine Art Rausch, „sie richtet sich, von ihrer eigenen Erzählung fasziniert […]“88, und ab diesem Zeitpunkt wird ihre Geschichte immer unglaubwürdiger. Als würde die Wahrheit oder auch ihre Person nicht genügen. Sie schmückt ihre Geschichte „hübsch“ aus, um bloß nicht das Interesse ihrer Eltern zu verlieren, und dennoch ist es sehr interessant, was sie erzählt.

Im Reitsaal sei sie einem Reiter mit Pferd begegnet, der die Maske trug, die sie zu Anfang der Szene getragen hat, und er habe sie und die Familie vor Betrug gewarnt.89 Hier greift die dritte Regel der Familie Geryon: Der Signifikant schützt das Signifikat. Ninive würde ihre Eltern gerne warnen, traut sich diesen Rat aber selbst nicht zu und ummantelt die Wahrheit mit einem äußerst spannenden Signifikanten. Die eigentliche Aussage wird durch die Ausdrucksebene geschützt.

Der Vater hat keine Zeit, die Warnung seiner Tochter zu dekodieren, sondern wird nervös und will wissen, wer der Reiter war und wer ihn betrügen will. Durch die misslungene Dekodierung wird die Warnung durch Misstrauen ersetzt. Die Bedeutungsebene „Misstrauen“ wird wieder aufgenommen und weiter aufgeladen, denn er sieht den ominösen Betrüger sogleich unter der Erbengemeinschaft: „Meinte er einen der Erben?“90 Doch Ninive will und kann diese Fragen nicht beantworten und der Vater wird hellhörig und ahnt, dass dies die nächste Lüge seiner Tochter war. Die vierte Regel, die die Kommunikation der Geryons auszeichnet, heißt somit: Der Signifikant stimmt selten mit dem Signifikat überein. Wenn man die Wahrheit spricht, deckt sich die Ausdrucksebene mit dem Inhalt. Wenn ich etwas in Wahrheit lieblich meine und es lieblich ausspreche, stimmen der Signifikant und das Signifikat überein. Und wenn ich etwas wütend sage und dies meinem Gefühl entspricht, dann spreche ich die Wahrheit. Wahrheit bedeutet in diesem Zusammenhang: Der Signifikant und das Signifikat sind in ihrer Absicht kohärent. Der Rückschluss ist, dass die Lüge bedeutet, dass der Signifikant und das Signifikat nicht übereinstimmen. Das, was ich sage, stimmt mit dem, was der Wahrheit entsprechen würde, nicht überein. Demnach entspricht der Inhalt nicht der Wahrheit, und wie man sich ausdrückt, dient nicht der Wahrheit, sondern hüllt die Lüge in ein glaubwürdiges Gewand. Bei einer Lüge stimmt demnach der Signifikant mit dem wahren Signifikat nicht überein, mit dem gelogenen Signifikat natürlich schon.

Wie sich zeigen wird, lassen sich diese Annahmen und die fünfte Regel gleichermaßen belegen. Die fünfte Regel der Familie Geryon besagt: Ihnen ist der Signifikant wichtiger als das Signifikat. Das bedeutet, sie messen der Ausdrucksebene mehr Bedeutung bei als der inhaltlichen Ebene. Die dritte, vierte und fünfte Regel lassen sich schlussendlich wie folgt zusammenfassen: Es ist wichtiger, „wie“ man etwas sagt, als „was“ man sagt. In der Familie Geryon stimmt das, was die Familienmitglieder sagen, oft nicht mit dem überein, was sie wirklich aussagen wollen. Sie lügen daher mehr, als dass sie die Wahrheit sprechen. Der Signifikant stimmt meist nicht mit dem wahren Signifikat überein und sie messen dem Signifikanten mehr Wertigkeit wie dem Signifikat zu. Was sie dadurch nach der dritten Regel zu erreichen hoffen, ist, dass sie ihre eigentlichen Inhalte durch eine gute Ausdruckebene schützen. Bei der Familie Geryon bestätigt sich die Lüge als Superzeichen, denn die dritte, vierte und fünfte Regel beinhalten die Lüge als Grundfeste ihrer Kommunikation.

Die Anweisung des Vaters „Bleibe hübsch bei der Wahrheit“91 hat mit der eigentlichen Wahrheit nichts gemein, sondern bedeutet anständiges Benehmen: Bleibe bei dem, was wir, die Familie Geryon, als Wahrheit bezeichnen, und nutze die Lüge nur zu unseren Gunsten. Zusätzlich ist es ganz gleichgültig, ob der Weg, wie man dies zu erhalten versucht, moralisch verwerflich ist. Ziehen wir erneut die emotionale Erpressung der Mutter heran. „Du wirst ihn noch umbringen […]“92 Dann wird klar: Diese Aussage entspricht nicht der Wahrheit. Egal, wie verbal „ungehörig“ sich die Tochter verhalten wird, der Vater wird sicher nicht daran sterben. Es sei denn, die Tochter würde tatsächlich zur Mörderin, was hier weder zu beweisen noch zu widerlegen wäre und daher zu unwahrscheinlich für eine klare Argumentation ist. Aber was die Mutter andeutet, ist kräftig und stark syntagmatisch aufgebaut. Durch das Sem |umbringen| wird der Signifikant dieser Aussage der Mutter extrem aufgeladen und die eigentliche Intention wird durch ein falsches, viel extremeres Signifikat zu erreichen versucht. Der Signifikant stimmt mit dem Signifikat nicht überein und es ist der Mutter wichtiger, sich dramatisch auszudrücken, um ihr Ziel zu erreichen, anstatt die Wahrheit zu sagen. Also greifen hier die Regeln vier und fünf. Doch ist es rechtens, ein Kind auf diese Weise zu manipulieren?

Und auch das Verhalten, das sich die Eltern gegenseitig entgegenbringen, ist äußerst fragwürdig. Ganz grundsätzlich lässt sich sagen, dass ihnen der Signifikant nicht nur auf syntagmatischer Ebene wichtiger ist als das Signifikat, sondern es hat die höchste Priorität, wie man sich vermittelt und wie man sich benimmt und auftritt. Das Auftreten und das Benehmen haben bei den Eltern Geryon einen hohen Stellenwert. Allerdings würden sie eine Ursachenforschung, die ein „Gut-Kind-Verhalten“ verhindert, nicht anstreben. Das bedeutet, dass es ihnen wichtiger ist, wie sich Ninive verhält, anstatt zu hinterfragen, weshalb sie sich verhält, wie sie sich verhält. In der Passage, in der die Eltern noch unter sich sind, wird dies auf syntagmatischer Ebene bestätigt.93 Das gemeinsam bediente Signifikat ist oberflächlich angesiedelt. Es wird nie zu persönlich und tiefgehend, ernste Konflikte können deeskalierend verhindert werden. Denn die Tiefe eines Gespräches birgt Gefahren, die von beiden nicht abzusehen sind. Das Terrain der Oberflächlichkeit lässt sich besser einschätzen und kontrollieren. Die Eltern schätzen die Sicherheit und meiden Überraschungen, denn sie wären damit überfordert, wie Ninives plötzliches Auftauchen zeigte. Die Gefühle sind in der elterlichen Welt der Familie Geryon als gefährlicher und menschlicher Aspekt abgespeichert. Gefühle sind unberechenbar, nicht zu kontrollieren und daher zu meiden. Wenn sie aber doch vorhanden sind, dann ist es am besten, diese für sich zu behalten, und sollte man dies nicht können, wird man sogleich sanktioniert. Diese Grundhaltung wird durch die Szene veranschaulicht, als die Mutter von ihren schmerzenden Füßen berichten möchte und der Vater dem gleich Einhalt gebietet.