Migrationslinguistik - Nikolas Koch - E-Book

Migrationslinguistik E-Book

Nikolas Koch

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Beschreibung

Zuwanderung ist eines der wichtigsten Themen unserer Zeit und mit ihr wächst auch die Bedeutung der Migrationslinguistik. Sie nimmt als innovatives und interdisziplinäres Forschungsfeld sprachliche Aspekte der Migration in den Blick. Dieser Band bietet eine kompakte Einführung in das Thema. Er beleuchtet verschiedene Formen von Migration (v.a. Arbeits-, Bildungs- und Fluchtmigration) und diskutiert unterschiedliche Spracherwerbsszenarien sowie den Erhalt und Verlust von Mehrsprachigkeit im Migrationskontext. Darüber hinaus thematisiert er den Einfluss von Migration auf Sprachsysteme, indem er erläutert, wie sich Sprachen in multilingualen Gesellschaften oder bei mehrsprachigen Individuen wechselseitig beeinflussen. Weiter behandelt er den Zusammenhang von Sprache und Identität und Fragen zur Bildungsgerechtigkeit im Kontext von Migration. Dabei nimmt er auch die aktuellen Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem in den Blick. Die 14 Kapitel schließen jeweils mit Übungen und Aufgaben, deren Lösungen online zur Verfügung stehen.

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Nikolas Koch / Claudia Maria Riehl

Migrationslinguistik

Eine Einführung unter Mitarbeit von Johanna Holzer und Nicole Weidinger

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395171

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-8105

ISBN 978-3-8233-8517-2 (Print)

ISBN 978-3-8233-0397-8 (ePub)

Inhalt

Vorwort

Migration und Globalisierung betreffen nicht nur gesellschaftliche Entwicklungen und Prozesse, sondern wirken sich auch maßgeblich auf die Kommunikation zwischen Individuen und unterschiedlichen Gruppen und damit auch auf die Entwicklung von Sprachen aus. Im Fokus stehen dabei verschiedene Bereiche wie der Spracherwerb unter unterschiedlichsten Voraussetzungen, der Sprachgebrauch und Besonderheiten des mehrsprachigen Sprechens in verschiedenen Gemeinschaften, der Zusammenhang von Sprache und Identitätsentwicklung sowie auch Auswirkungen auf die SprachpolitikSprach(en)politik und die Gestaltung des Bildungssystems. Mit all diesen Facetten beschäftigt sich die linguistische Teildisziplin der Migrationslinguistik, eine Disziplin, die noch jung ist, aber im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklungen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Das vorliegende Buch möchte die zentralen Themenfelder der Migrationslinguistik Studentinnen und Studenten sowie interessierten Fachkolleginnen und -kollegen nahebringen.

An dieser Stelle möchten wir allen danken, die sich bei der Erstellung dieses Buches verdient gemacht haben: Unser ganz ausdrücklicher Dank gilt Veronika Berger, Beatrice Bernklau, Linda Jessen, Asude Kölün, Constanze Richter und Christine Rott für ihre unermüdliche Mitarbeit am Manuskript, besonders hinsichtlich der fundierten Mithilfe bei der Literaturrecherche, den gewissenhaften Korrekturen und der Erstellung der Bibliographie. Ihrer Beharrlichkeit und ihrem kritischen Auge verdankt dieses Buch viel. Dank gilt auch Dr. Anne-​Katharina Harr sowie Michael Prestele für Korrekturlesen und kritische Anmerkungen zum Manuskript. Schließlich möchten wir auch Dr. Johanna Holzer und Dr. Nicole Weidinger für ihre Kapitel danken, die eine große Bereicherung für das vorliegende Buch darstellen sowie für ihre Anmerkungen und Kommentare zum Manuskript und nicht zuletzt zu den vertiefenden Reflexionsaufgaben am Ende der einzelnen Kapitel.

 

München, im Oktober 2023         Nikolas Koch und Claudia Maria Riehl

Geleitwort

Liebe Leserinnen und Leser,

 

es ist nicht lange her, dass in Deutschland noch darüber diskutiert wurde, ob wir ein Einwanderungsland sind oder nicht. Diese Frage ist zum Glück mittlerweile beantwortet. Durch Migration ist unser Land weltoffener geworden, Vielfalt ist unsere Stärke. Auf diese längst überfällige Entwicklung können wir stolz sein. Migration war und ist ein Innovationsmotor für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Sie ist eine Chance für Fortschritt. Auch wenn Migration ständig passiert, war sie für Deutschland auch ein historischer Glücksfall. Denn unser Wirtschaftswunder wäre ohne die erste Einwanderergeneration in dieser Form so nicht aufrecht zu erhalten gewesen. Für diese Lebensleistung sind wir gerade der ersten Einwanderergeneration zutiefst dankbar. Menschen mit Einwanderungsgeschichte sind eine große Bereicherung für unsere Gesellschaft, sie sind ein selbstverständlicher Teil unseres Landes. Doch zur Wahrheit gehört auch: Politik und Gesellschaft hatten an der Integration dieser Menschen lange kein Interesse. Aus dieser Erfahrung haben wir heute gelernt: Wir müssen gemeinsam die Voraussetzungen schaffen, dass Integration gelingt. Deswegen habe ich in meiner Amtszeit als Flüchtlings- und Integrationsminister des Landes Nordrhein-​Westfalen erstmalig mit allen Ausländerbehörden, die neben vielen anderen Akteuren in den Kommunen eine wichtige Rolle für Menschen mit Einwanderungsgeschichte spielen, Einzelgespräche geführt, um genau für diesen Ansatz zu werben. Dazu gehört auch, dass wir Defizite in der Rückkehrpolitik offen ansprechen und gleichzeitig die Aufenthaltschancen für gut integrierte Flüchtlinge verbessern.

Ein zentraler Baustein für Integration ist Sprache. Sie bildet die Grundlage dafür, dass wir miteinander in Kontakt treten können, dass wir Ideen und Gedanken austauschen, Sachverhalte verhandeln, Probleme und Bedürfnisse erörtern. Kurz gesagt: Sprache verbindet. Eine Folge von Migration ist, dass sich auch unser sprachlicher Alltag verändert. In vielen Familien werden mehrere Sprachen gesprochen. Diese Mehrsprachigkeit ist eine Ressource, die wir noch stärker unterstützen und wertschätzen müssen. Denn in der heutigen globalisierten Welt ist es notwendig, mehrere Sprachen zu verstehen und – noch besser – zu sprechen. Das gilt nicht nur im Berufsleben, sondern auch im Privaten. Nicht zuletzt die Corona-​Pandemie hat uns nachdrücklich gezeigt, wie wichtig es ist, Informationen in unterschiedlichen Sprachen zu übermitteln, die verschiedensten Medien zu nutzen und mehrsprachiges Personal in die Kommunikation einzubinden. Mehrsprachigkeit ist eine Notwendigkeit.

Es ist ein großer Gewinn, dass viele Menschen in unserem Land mehrere Sprachen sprechen und das häufig schon von Kindheit an. Das gilt insbesondere für Familien, in denen zumindest ein Elternteil eine Einwanderungsgeschichte hat. Kinder und Jugendliche haben dabei das Potential mehrsprachig aufzuwachsen. Hierbei gibt es ganz verschiedene Konstellationen, in denen ein mehrsprachiges Aufwachsen möglich ist. Gleichzeitig existieren aber auch unterschiedliche Bedingungen, die durch unsere Bildungsinstitutionen mitgestaltet werden können. Wir müssen also die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen, um unterschiedliche Sprachen als das zu fördern, was sie sind: individuelle Ressourcen eines jeden Menschen. Deswegen ist es ganz entscheidend, dass die Sprachkompetenz in der Mehrsprachigkeit bereits so früh wie möglich unterstützt wird. Bei uns in Nordrhein-​Westfalen unterstützen Elternbildungsprogramme wie „Griffbereit Mini“, „Griffbereit“, „Rucksack Kita“ und „Rucksack Schule“ die Mehrsprachigkeit in den Familien und fördern die sprachliche Entwicklung von Kindern in mindestens zwei Sprachen.

Manche Sprachen werden auch in der Schule unterrichtet und finden auf dem Zeugnis Berücksichtigung, bilinguale Schulen streben eine parallele Nutzung zweier Sprachen an. Weitere Sprachen werden im sogenannten herkunftssprachlichen Unterricht ergänzend zum Fremdsprachenunterricht in der Schule gelehrt. In Nordrhein-​Westfalen haben wir für diesen Unterricht in den vergangenen Jahren mehr Mittel zur Verfügung gestellt. Auch in anderen Bundesländern gibt es gute Ansätze. Klar ist: Wir alle wollen Mehrsprachigkeit fördern. Sie gehört in unseren Alltag. Mehrsprachigkeit muss daher auch im öffentlichen Raum mehr Gewicht bekommen. Gerade für eine erfolgreiche Integrationspolitik ist dies essentiell. Sprache kreiert Identitäten und Werte, sie kann verbinden oder ausschließen, sie gestaltet die Wirklichkeit, indem sie sie beschreibt. Die Förderung der sprachlichen Bildung von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter ist somit eine wichtige politische, aber auch gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir alle können jeden Tag etwas dafür tun. Migration ist eng mit Sprache verknüpft und Sprache ist Teil der eigenen Identität. Deswegen ist es ein ganz normaler Prozess, dass andere Sprachen nach Deutschland migrieren. Die HerkunftssprachenHerkunftssprache(n) stehen aber nicht in Konkurrenz zum Deutschen. Sie müssen vielmehr als zusätzliche Ressource gesehen werden, die aber gefördert werden will. In Politik und Verwaltung begleiten wir diese Prozesse aktiv mit. Mehrsprachigkeit muss noch mehr Wertschätzung erfahren und es braucht die Voraussetzungen für mehr Bildungsgerechtigkeit.

Das vorliegende Buch widmet sich vieler dieser Facetten. Ich bin den Autoren dankbar, dass sie den Fokus auf diese wichtige Ressource legen, die viele Menschen mitbringen, die Deutschland als neue Heimat gewählt haben und deren Kinder hier aufwachsen. Das Buch zeigt: Migration und damit auch Mehrsprachigkeit sind eine große Bereicherung für unser Land. Lassen wir uns auch in Zukunft positiv auf Veränderungen ein.

 

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich eine interessante Lektüre.

 

Düsseldorf, im Mai 2022         Dr. Joachim Stamp(Stellvertretender Ministerpräsident des

Landes Nordrhein-​Westfalen)

 

Seit Februar 2023 ist Dr. Joachim Stamp Sonderbevollmächtigter in der Bundesregierung für Migrationsabkommen.

1Einleitung

1.1Bedeutung der Migrationslinguistik in Deutschland

(1)

P15:

Also ich bin in iran geboren

ich werde in/ (.) am fünfzehnten oktober zwölf

ich kann/ also ich war mal auch sieben jahre in türkei

ich kann: türkisch sprechen (.) ich kann iranisch sprechen

ich kann deutsch sprechen (.) und englisch bin ich

noch nicht so perfekt aber lern noch in der schule (-) (Holzer demn.)

Wie dieses Beispiel eines minderjährigen unbegleiteten Flüchtlings zeigt, kann Migration zu vielfältigen Sprachkontakten führen. Das Mädchen, das zum Zeitpunkt des Interviews seit drei Jahren in Deutschland lebte, stammt ursprünglich aus dem Iran und ist in der Nähe von Teheran geboren. Ihre Eltern gehören der Minderheit der Hazaragi an und sind deshalb aufgrund von Diskriminierung und Verfolgung aus Afghanistan in den Iran geflohen. Als das Mädchen drei Jahre alt war, migrierte die Familie weiter aus dem Iran in die Türkei. Dort ist das Mädchen mit den Sprachen Farsi, das ihre Eltern seit der Geburt mit ihr gesprochen haben, sowie Türkisch, der Umgebungssprache, aufgewachsen. Im Alter von zehn Jahren kam das Mädchen schließlich nach Deutschland. Hier lernt sie seit drei Jahren Deutsch und zusätzlich noch Englisch in der Schule.

Das Beispiel zeigt den direkten Zusammenhang von Sprache und Migration auf. Mit der Zuwanderung einerseits und der weiter zunehmenden Mobilität in globalisierten Gesellschaften andererseits wächst auch die Bedeutung der Migrationslinguistik, die als innovatives Forschungsfeld sprachliche Aspekte der Migration interdisziplinär betrachtet. Hierzu zählen eine Reihe von Fragen, die sich mit Sprachwandelprozessen, Spracherwerbsformen, SpracherhaltSpracherhalt und SprachverlustSprachverlust sowie sprachsystematischen Aspekten auseinandersetzen. Des Weiteren werden auch soziolinguistische Perspektiven und der Zusammenhang von Sprache, Integration, Identität und sprachlicher Bildung in den Blick genommen. Die Erkenntnisse hieraus sind bedeutsam für eine moderne Integrations- und SprachpolitikSprach(en)politik und haben damit eine unmittelbare Relevanz für politisches Handeln (vgl. Stehl 2011). Damit verbinden individuelle, gesellschaftliche, institutionelle sowie politische Handlungsfelder die Begriffe ‚Mehrsprachigkeit‘ und ‚Migration‘.

Im Fokus dieser Einführung stehen die sprachlichen Auswirkungen von Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland und somit Immigrationsprozesse sowie Binnenmigration in größeren räumlichen Zusammenhängen wie der Europäischen Union. Dabei bildet das Deutsche den Ausgangspunkt der Untersuchung, das jedoch in einem mehrsprachigen Kontext mit unterschiedlichen HerkunftssprachenHerkunftssprache(n) gesehen wird. Die Immigration in die Bundesrepublik Deutschland und deren soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen sind bereits in einer Reihe von Arbeiten beschrieben worden (z.B. Bade 2017; Herbert 2001; Oltmer 2017). Die Auswirkungen auf die deutsche Sprache sind jüngst in einer umfangreichen, diachron angelegten Untersuchung von Hünlich (2022) thematisiert worden.

Nach Hünlich (2022) ist der Beginn der systematischen Untersuchung des Zusammenhangs von Migration und Sprache in Deutschland mit dem sog. ‚GastarbeiterdeutschGastarbeiterdeutsch‘ verknüpft. Im Zuge des Wiederaufbaus und eines beginnenden Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg warben eine Reihe westeuropäischer Länder, darunter Deutschland, Arbeitsmigranten1 vor allem aus Südeuropa an (s. Kasten zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte). Als Auslöser dieser Migrationsbewegung gelten somit ökonomische Gesichtspunkte. In Deutschland wird diese erste Phase der sog. ‚GastarbeitermigrationGastarbeitermigration‘ in den Zeitraum der 1950er Jahre bis ins Jahr 1974 eingeordnet (eine ausführliche Darstellung hierzu findet sich bei Herbert 2001: 202–345). Der Großteil der ausländischen Arbeiter kam zunächst aus den romanischsprachigen Ländern. Dies änderte sich im Laufe der Zeit, bis Anfang der 1980er Jahre mehr als die Hälfte der Gastarbeiter aus der Türkei, Griechenland und dem damaligen Jugoslawien stammte (vgl. ebd.). Die meisten dieser Menschen kamen aus ländlichen Regionen und waren meist nicht oder nur sehr gering qualifiziert. Mit der Bezeichnung als ‚Gastarbeiter‘ war zunächst auch ein Fremdverständnis der einheimischen Bevölkerung verbunden, allerdings ebenso ein Selbstverständnis der Migrantinnen und Migranten. Die geteilte Erwartungshaltung lag darin, dass der Aufenthalt in Deutschland nicht auf Dauer angelegt sei. Allerdings traf dies auf die Wenigsten zu, da viele Gastarbeiter bereits in den 1970er Jahren ihre Familien nachholen konnten und schon die nächste Generation hier geboren wurde.

Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland

Um die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften in der Nachkriegszeit bedienen zu können, schloss Deutschland mit einer Reihe von Staaten Anwerbeverträge ab (vgl. Knortz 2008: 20):

1955 mit Italien

1960 mit Spanien und Griechenland

1961 mit der Türkei

1963 mit Marokko

1964 mit Portugal

1965 mit Tunesien

1968 mit Jugoslawien

Dass Politik und Gesellschaft die Dimension dieser Entscheidung zunächst nicht bewusst war, wird durch den aus den 1960er Jahren stammenden berühmt gewordenen Satz von Max Frisch offenkundig: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, doch es kommen Menschen.“ (Vorwort zu Alexander J. Seiler: Siamo italiani – Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz. Zürich: EVZ 1965).

Insbesondere infolge der sich abschwächenden wirtschaftlichen Lage, die einen Höhepunkt in der Ölkrise von 1973 fand, sowie einem zunehmenden Unbehagen der deutschstämmigen Bevölkerung gegenüber den ausländischen Gastarbeitern, kam es zu einem Anwerbestopp (vgl. Herbert 2001: 224). Allerdings nahm der Ausländeranteil dennoch weiter zu. Familiennachzug und Kettenmigration führten dazu, dass Anfang der 1980er Jahre ca. 4,5 Millionen nicht-​deutschstämmige Menschen in der Bundesrepublik lebten, zu denen auch bereits sog. Aussiedlerfamilien aus Polen zählten (vgl. Hünlich 2022: 48, 117).

Die Bedeutung von Sprache und sprachlicher Bildung im Zusammenhang mit Migration wurde bereits in den 1970er Jahren erkannt. So wurde 1974 vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, der Bundesanstalt für Arbeit, dem Deutschen Volkshochschul-​Verband und verschiedenen Trägern der freien Wohlfahrtspflege der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V. gegründet, der als Zusammenschluss von 450 größeren und kleineren Institutionen Angebote zum Erlernen der deutschen Sprache bereitstellte (vgl. Reich 2010a). Ab 2003 wurden die Aufgaben vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, heute dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), übernommen.

Der Trend eines steigenden Ausländeranteils nahm auch in den 1990er Jahren weiter zu. Insbesondere migrierten dabei Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, also aus Russland und den GUS-​Staaten, in die Bundesrepublik. Die Aussiedlermigration führte dazu, dass sich eine immer größer werdende russischsprachige Minderheit etablierte und die slawischen Sprachen generell an Bedeutung gewannen. Der Zeitraum ab den 1990er Jahren wird in der soziologischen Migrationsforschung häufig mit dem Begriff der ‚Superdiversität‘ beschrieben (vgl. Vertovec 2007). Das Ende des Kalten Krieges, die Öffnung der Binnengrenzen innerhalb Europas sowie die Jugoslawienkriege führten zu komplexen Migrationsprozessen, vor allem in urbane Einwandererviertel (vgl. Hünlich 2022: 7). Weiterhin wurden Anfang der 1990er Jahre rund eine halbe Million Asylanträge gestellt, und fünf Millionen Spätaussiedlerinnen und -aussiedler zogen in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. Berend 2014). Darunter versteht man Zuwanderer und Zuwanderinnen mit deutscher Familiengeschichte, deren Vorfahren zu verschiedenen Zeitpunkten im 18. und 19. Jh. in das ehemalige Russische Zarenreich bzw. die Sowjetunion emigriert sind oder die in den ehemals deutschen Ostgebieten beheimatet waren. Diese Migrantengruppen sind deutscher Abstammung und haben zumindest teilweise noch eine Varietät der deutschen Sprache erlernt und/oder sind mit der deutschen Kultur aufgewachsen. Da sie aber in ihrem Alltag mit der umgebenden Staatssprache konfrontiert sind, wie z.B. Russisch oder Polnisch, ist diese Sprache in der Regel die dominante Sprache und die einzige, die auch in der Schriftlichkeit erworben wurde.

So unterschiedlich wie die Gründe zur Migration waren, so verschieden waren die Gruppen hinsichtlich ihrer Herkunft und auch im Hinblick auf ihren Rechtsstatus. Obwohl also Mehrsprachigkeit und Migration in dieser Zeit von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung waren, spiegelte sich dies nicht in einem steigenden sprachwissenschaftlichen Interesse wider (vgl. Hünlich 2022: 7).

Dies änderte sich mit Beginn des neuen Jahrtausends. Mit einer Zunahme an Publikationen nahm auch das Themenspektrum an Untersuchungen zu. So wandte man sich beispielsweise den sprachlichen Veränderungen der Jugendsprache türkischstämmiger Jugendlicher zu oder dem ZweitspracherwerbZweitspracherwerb von Menschen mit slawischer Erstsprache. Schließlich bildet sich mit dem sog. ‚PISAPISA-Studie-Schock‘ im Jahr 2001 ein neuer Forschungsschwerpunkt im Zusammenhang von Sprache und Migration. Die sich bereits in den TIMSS-​StudieTIMSS-Studien (vgl. Baumert et al. 1997, 2000) Ende der 1990er Jahre andeutenden starken herkunftsbedingten Kompetenzunterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne sog. ‚MigrationshintergrundMigrationshintergrund‘ wurden durch die erste PISAPISA-Studie-StudiePISA-Studie bestätigt und schließlich durch die schlechten Ergebnisse der DESI-​StudieDESI-Studie im Jahr 2005 noch verstärkt. Dies führte dazu, dass insbesondere der Erwerb des Deutschen als Zweitsprache im Kontext der Bildungsinstitutionen in den Fokus von Untersuchungen rückte. Charakteristisch für den Spracherwerb im Zusammenhang mit Migration war (und ist) vor allem die Zunahme an unterschiedlichen Sprachkonstellationen innerhalb der Familie (vgl. Harr et al. 2018).

Schließlich hat sich auch die Art der Immigration in die Bundesrepublik Deutschland gewandelt. Waren es zu Beginn vor allem eher unqualifizierte Arbeiter aus ländlichen Regionen, handelt es sich heute auch um hochqualifizierte Fachkräfte. Interessanterweise wird hier kaum von Migrantinnen und Migranten gesprochen, sondern von Zuwanderern (vgl. Avenir Suisse/Müller-​Jentsch 2008) oder von internationalen Führungskräften. Die zunehmende Mobilität, etwa durch den ausgebauten Flugverkehr, führt außerdem dazu, dass der Kontakt zur Herkunftsregion oft bestehen bleibt. Unterstützt wird dies durch computergestützte Kommunikation sowie den Zugang zu den Sozialen Medien. Allerdings werden auch die Anforderungen, insbesondere an Arbeitsmigrantinnen und -migranten immer höher. So sind Sprachprüfungen zur Erlangung einer Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis oft die Regel und für eine Einbürgerung obligatorisch (vgl. Lüdi 2011: 16). Hieraus ergeben sich neue Forschungsfragen für die Migrationslinguistik wie beispielweise Aspekte des SprachmanagementsSprachmanagement in internationalen Konzernen.

Ab Mitte der 2000er Jahre ist in offiziellen Kontexten in Deutschland von einer Einwanderungsgesellschaft die Rede (vgl. Harr et al. 2018: 2). Der Übergang in ein verändertes Selbstverständnis der Gesellschaft (vgl. Mecheril 2016) wird auch durch das Inkrafttreten des sog. ‚Zuwanderungsgesetzes‘ zum 1. Januar 2005 deutlich. Die Akzeptanz der Wandlung hin zu einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft ist jedoch ein Prozess, der bis heute anhält, wie immer wieder auftretende Debatten um den Begriff der ‚Leitkultur‘ zeigen. Auch die regelmäßige Forderung nach Deutsch als FamilienspracheFamiliensprache oder die zum Teil negative Wahrnehmung ausländischer Akzente im gesprochenen Deutsch (vgl. Gärtig et al. 2010: 243f.) machen deutlich, dass die Normalität einer mehrsprachigen Gesellschaft noch nicht bei allen Menschen verankert ist. Obwohl die im 19. Jh. vorherrschende Sicht einer „nationalsprachlichen Monoglossie“ (Mihm 2010: 12) als überholt gilt, wird Sprache auch heute noch häufig als Differenzmerkmal wahrgenommen. Für die Überwindung dieser Sicht spielt gelungene Integration eine zentrale Rolle. Dabei verstehen wir Integration als einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, der sowohl Migrantinnen und Migranten als auch die einheimische Bevölkerung umfasst. Damit ist eine gegenseitige Annäherung notwendig, die im Hinblick auf Sprache zum einen den Erwerb der Aufnahmesprache erfordert, aber zum anderen auch die Anerkennung und Förderung der HerkunftsspracheHerkunftssprache(n) einschließt. Dies sollte sich auch, und zwar nicht nur programmatisch, in den Bildungsinstitutionen widerspiegeln. Wie im Geleitwort zu diesem Buch deutlich wurde, können HerkunftssprachenHerkunftssprache(n) als Ressource gesehen werden, die es unbedingt zu pflegen und zu fördern gilt.

Migrationslinguistik verstehen wir vor diesem Hintergrund immer auch als eine Mehrsprachigkeitslinguistik (vgl. Lüdi 2011: 33), der vor allem zwei zentrale Aufgaben zukommen: Zum einen gilt es, die theoretische Weiterentwicklung des Verständnisses von Mehrsprachigkeit im Migrationskontext voranzutreiben. Neben der Analyse von Sprachsystemen und deren Veränderung sowie Wechselwirkungen zueinander steht hierbei auch die Frage des Erwerbs neuer Sprachen unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen im Fokus. Zum anderen fällt der Migrationslinguistik vor dem Hintergrund einer angewandten Sprachwissenschaft auch die Aufgabe zu, Handlungsorientierung für aktuelle Fragen und Herausforderungen von Mehrsprachigkeit und Migration zu liefern. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Bildungsinstitutionen, aber auch für den Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Arbeitswelt. Schließlich ist der Zusammenhang von Sprache und Migration auch durch die aktuelle und anhaltende FluchtmigrationFluchtmigration nach Deutschland relevanter denn je. Insbesondere durch den seit 2011 anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien und durch den russischen Überfall auf die Ukraine zu Beginn des Jahres 2022 suchen erneut und vermehrt Menschen Schutz vor Krieg und Ausbeutung in Europa.

1.2Methodische Herangehensweisen

Zum Grundverständnis der Migrationslinguistik gehört eine empirische Arbeitsweise. Aussagen über den Zusammenhang von Sprache und Migration werden auf der Grundlage von Daten getätigt. Diese können ebenso vielfältig sein wie die Methoden, die dazu dienen, diese Daten zu erheben.

Im Grunde teilt sich die Migrationslinguistik das methodische Vorgehen mit anderen Disziplinen wie der Soziolinguistik, Variationslinguistik, Spracherwerbsforschung und Kontaktlinguistik. In diesem Zusammenhang werden etwa im Bereich soziolinguistischer Herangehensweisen narrative Interviews geführt, um die SprachbiographienSprachbiographie(n) der Migrantinnen und Migranten zu erfassen oder die IdentitätsbildungIdentitätsbildung zu eruieren (vgl. Holzer demn.). Auch quantitative Methoden wie Fragebogenerhebungen werden eingesetzt, um SpracheinstellungenSpracheinstellung, Sprachgebrauch und die Einschätzung von verschiedenen Sprachen und Varietäten zu erfassen (vgl. Eichinger et al. 2009). Ebenfalls soziolinguistisch motiviert sind Umfragen wie etwa home language surveyshome language surveys, die mithilfe von Fragebogendaten die FamiliensprachenFamiliensprache von Schülerinnen und Schülern erheben (vgl. Brizić/Hufnagl 2011; Extra/Yaǧmur 2004).

Variationslinguistische Forschungsansätze konzentrieren sich v.a. auf die unterschiedlichen Varietäten von HerkunftssprachenHerkunftssprache(n) und Umgebungssprachen. Die dominierende Methode ist hier die quantitative Analyse natürlicher Sprachdaten, die in einem Korpus gesammelt werden (vgl. Riehl 2018a: 18–22).

In der Spracherwerbsforschung kommen eine Reihe von sehr unterschiedlichen Methoden zur Anwendung, von den klassischen Tagebuchstudien und Elternfragebögen, über experimentelle Ansätze wie das Eyetracking bis hin zu modernen neurowissenschaftlichen Verfahren (für eine Übersicht s. Blume/Lust 2017). Dabei ist es keinesfalls so, dass die neuen Verfahren den älteren überlegen sind. Stattdessen hängt es primär vom Untersuchungsgegenstand ab, welche Methode die zielführende ist. Einen Meilenstein der Spracherwerbsforschung stellt das internationale Projekt CHILDES (Child Language Data Exchange System) dar, welches durch Brian MacWhinney begründet wurde und eine frei zugängliche Online-​Datenbank mit mehr als 300 Sprachkorpora mit den verschiedensten Sprachkonstellationen enthält.

Methoden der Kontaktlinguistik umfassen etwa die Beobachtung der mehrsprachigen Performanz in einer konkreten Kontaktsituation, z.B. in Form von SprachmischungSprachmischungsprozesse und die Interpretation der soziolinguistischen Ursachen. Weiter kann ebenfalls ein Korpus von natürlichen Sprachdaten nach der Art der Integration von Kontaktphänomenen untersucht werden. Schließlich kann man auch aus einer diachronen Perspektive die Langzeiteffekte des Sprachkontakts untersuchen und damit den kontaktinduzierten SprachwandelSprachwandel (vgl. Ptashnyk 2016: 68). Das ist v.a. der Fall, wenn man bestimmte DiasporavarietätenDiasporavarietät einer Sprache analysiert (vgl. Krefeld 2004).

Die traditionellen Methoden aus den erwähnten Disziplinen sollten aber noch ergänzt werden durch mobilitätsbedingte Einflussfaktoren, d.h. es gilt Mobilität als sprachdynamischen Prozess zu erfassen und dessen Auswirkungen auf die unterschiedlichen Bereiche von Sprache zu berücksichtigen (vgl. Stehl 2011: 43). In diesem Sinne kann eine pragmalinguistische Analyse der sprachlichen Repertoires sowohl der Migrantengemeinschaft als auch der mehrsprachigen Gemeinschaft von zugewanderten und autochthonen Sprecherinnen und Sprechern des Ziellandes erfolgen. Hierbei wird das kommunikative Handeln von Sprecherinnen und Sprechern in einer bestimmten Situation beschrieben und die Phänomene werden im Hinblick auf ihre kommunikativen Funktionen analysiert (ebd.: 44).

In der Migrationslinguistik lässt sich seit ihren Anfängen eine methodische Verschiebung feststellen: Während die migrationslinguistische Forschung in den 1970er und 1980er Jahren quantitativ und strukturalistisch-​variationslinguistisch geprägt war (v.a. mit den Untersuchungen zum GastarbeiterdeutschGastarbeiterdeutsch und den Spracherwerbsprozessen bei Kindern und Jugendlichen), überwiegen seit den 1990er Jahren eher qualitative ethnographische und interaktionsanalytische Ansätze, etwa zur IdentitätsbildungIdentitätsbildung (vgl. Keim 2012) oder zur Herausbildung von Sprechweisen bei Migrantenjugendlichen (vgl. Hünlich 2022: 8).

1.3Aufbau des Buches

Dieses Buch führt in das Thema der Migrationslinguistik und die unterschiedlichen Themenfelder ein. Hierzu werden zunächst in Kapitel 2 die wichtigsten Aspekte der Themenfelder vorgestellt und erläutert: Migration und Mehrsprachigkeit. Mit einer Begriffsbestimmung von Migration wird ein wesentlicher Rahmen des Forschungsfeldes abgesteckt. Hierbei erfolgt neben einer allgemeinen Definition von Migration auch eine Darstellung der unterschiedlichen Formen von Migration wie Arbeits-, Bildungs- oder FluchtmigrationFluchtmigration. In der sich anschließenden Diskussion des Begriffs ‚Mehrsprachigkeit‘ wird der Einfluss der Dynamik von Migration auf Sprache betrachtet. Im anschließenden Kapitel 3 werden die verschiedenen Formen mehrsprachiger Gesellschaften dargestellt und es wird dabei besonders auf die Situation in Deutschland eingegangen. Hierzu werden die unterschiedliche Stellung von Minderheiten, die hier heimisch sind, und von migrantischen Gruppen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zugewandert sind, diskutiert. In diesem Zusammenhang werden die verschiedenen Minderheiten und einige Einwanderergruppen exemplarisch vorgestellt.

Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Erwerb, Erhalt und Verlust von Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Kapitel 4 rückt dabei den Erwerb individueller Mehrsprachigkeit im Kontext von Migration in den Fokus. Menschen können auf verschiedenen Wegen mehrsprachig werden: So können mehrere Sprachen von Geburt an erworben werden, oder eine weitere Sprache tritt versetzt, in der frühen Kindheit, hinzu. Auch Erwachsene, insbesondere im Migrationskontext, lernen häufig weitere Sprachen. Die Erwerbsverläufe aber auch die Resultate des Spracherwerbs im Sinne der erlangten Kompetenz sind dabei höchst individuell. Darauf geht besonders Kapitel 5 ein, das den erwachsenen Erwerb einer Zweitsprache anhand von verschiedenen Theorien und Modellen erläutert. Vor allem der Begriff der ‚LernerspracheInterlanguage‘ und die damit verbundene Sicht auf den ZweitspracherwerbZweitspracherwerb sind in diesem Kontext bedeutsam. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf gebrauchsbasierten Ansätzen, deren Ziel es ist, Entwicklungswege hin zu einer Grammatik aufzuzeigen, die durch den Sprachgebrauch erworben und geformt wird. Vor allem individuelle Unterschiede im Sprachsystem von Lernerinnen und Lernern scheinen hierbei zentral zu sein. Kapitel 6 widmet sich dann den sprachlichen Generationen von Herkunftssprachen-​Sprechern und dem Erwerb der HerkunftsspracheHerkunftssprache(n). Hier werden die unterschiedlichen Voraussetzungen der Eltern ebenso diskutiert, wie die verschiedenen Erwerbsbedingungen der zweiten und dritten Generation. Ein besonderes Augenmerk wird auf den Aspekt der Sprachvitalität und auf das sprachliche Kapital gelegt, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.

In den folgenden Kapiteln werden die eigentlichen Sprachprozesse aufgezeigt, d.h. wie Migrantinnen und Migranten mit ihrem GesamtsprachrepertoireGesamtsprachrepertoire umgehen. Darüber hinaus wird der Einfluss von Migration auf Sprachsysteme thematisiert, indem erläutert wird, wie sich Sprachen in multilingualen Gesellschaften oder bei mehrsprachigen Individuen wechselseitig beeinflussen. Kapitel 7 vermittelt dazu grundlegende Begriffe wie ‚Code-​SwitchingCode-Switching‘, ‚Code-​MixingCode-Mixing‘ und ‚TransferTransfer‘ und erläutert diese anhand von Beispielen. In Kapitel 8 werden dann die eigentlichen Sprachmischungsprozesse aufgezeigt. Hierbei werden neben aktuellen Theorien und Modellen zu deren Beschreibung und Erklärung auch typische Funktionen von SprachmischungenSprachmischung(en) vorgestellt.

Kapitel 9 und 10 widmen sich dem Einfluss der Migration auf die Sprachsysteme, d.h. wie einerseits die Sprache des Aufnahmelandes die HerkunftsspracheHerkunftssprache(n) beeinflusst und wie andererseits Migrantensprachen Sprachwandelprozesse in der Sprache der Aufnahmegesellschaft bewirken können. Dazu wird zunächst in Kapitel 9 der Begriff ‚DiasporavarietätDiasporavarietät‘ erläutert und danach werden die Besonderheiten in der Entwicklung dreier HerkunftssprachenHerkunftssprache(n), nämlich des Russischen, Türkischen und Italienischen, dargestellt. Davon ausgehend wird gezeigt, welche gemeinsamen Entwicklungen die unterschiedlichen Sprachen unter dem Einfluss der KontaktspracheKontaktsprache Deutsch durchlaufen und es wird diskutiert, warum die Herausbildung einer eigenen Diasporavarietät problematisch erscheint. Schließlich thematisiert Kapitel 10 den Einfluss der Migration auf die Entwicklung des Deutschen: Dabei wird einmal das Deutsche der ersten Generation am Beispiel des GastarbeiterdeutschGastarbeiterdeutsch kurz erläutert und danach eine besondere Varietät der zweiten und dritten Generation, nämlich der EthnolektEthnolekt, beschrieben. Anhand dieser Varietät wird gezeigt, wie sich die Sprache der Aufnahmegesellschaft durch den Einfluss dieser Varietäten wandeln kann.

Mit Kapitel 11 und 12 rücken stärker soziolinguistische Fragen in den Fokus, die sich mit der Beziehung von Sprache und Migration auseinandersetzen. Schwerpunkt von Kapitel 11 bildet die Untersuchung des Zusammenhangs von Lebensläufen und sprachlichen Identitätskonstruktionen im Kontext von Migration. Hier soll vor allem gezeigt werden, inwiefern Migration zu Brüchen in der SprachbiographieSprachbiographie(n) führen kann und Sprache als Positionierungsstrategie eingesetzt wird. In Kapitel 12 stehen dann die sprachliche Repräsentation von Migration sowie auch die Zugänglichkeit von HerkunftssprachenHerkunftssprache(n) im öffentlichen Raum im Zentrum der Betrachtung. Es wird erläutert, wie der Sprachgebrauch innerhalb einer Gesellschaft oder verschiedenen Gesellschaftsgruppen durch sprachplanerische und sprachpolitische Maßnahmen beeinflusst werden kann. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass auch Sprecherinnen und Sprecher ständig Teil von Sprachmanagemententscheidungen und -prozessen sind, die im Migrationskontext Auswirkungen auf ihre jeweiligen Sprachen nehmen. Anhand von Beispielen aus der Linguistic-​LandscapeLinguistic Landscape-Forschung wird abschließend verdeutlicht, wie man die Sichtbarkeit von Sprachen in der Öffentlichkeit dokumentieren und analysieren kann.

Kapitel 13 und 14 setzen sich schließlich mit Fragen von Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit im Kontext von Migration und Sprache auseinander. Hierzu werden in Kapitel 13 zunächst die Ungleichheiten im Bildungserwerb von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund und die bildungspolitischen Maßnahmen zum Abbau von BildungsbenachteiligungBildungsbenachteiligung thematisiert. Dabei werden die relevanten Faktoren, die als Ursachen und Erklärungsansätze zur Entstehung und Aufrechterhaltung bildungsspezifischer Ungleichheiten angeführt werden können, diskutiert. Schließlich werden auch die bildungspolitischen Anstrengungen zur Früherkennung und Prävention von Bildungsmisserfolgen in den Blick genommen. Die Ausführungen von Kapitel 14 zeigen die Herausforderungen, vor denen unser Bildungssystem im Hinblick auf Migration steht. Zum einen wird auf die Förderung der ZielspracheZielsprache Deutsch und deren Rolle für gelingende Bildungsprozesse genauer eingegangen. Zum anderen widmet sich das Kapitel auch der Förderung der HerkunftsspracheHerkunftssprache(n) und setzt sich genauer mit dem IntegrationskursIntegrationskurs auseinander. Das Schlusskapitel verdeutlicht damit noch einmal die zentrale Rolle, die Sprache für gelingende Bildungsprozesse, Integration und damit die gesellschaftliche Teilhabe im Kontext von Migration einnimmt. Dabei sollte die Förderung der Zielsprache Deutsch und der jeweiligen Herkunftssprache(n) gleichermaßen in den Blick genommen werden.

Die Darstellungen in den einzelnen Kapiteln werden durch Übungsaufgaben ergänzt, die online verfügbar sind und – einschließlich der Lösungsvorschläge – unter https://www.narr.de/Migrationslinguistik-18517-1 abgerufen werden können.

In diesem Buch plädieren wir nicht nur für eine Gleichberechtigung der Sprachen, sondern sind auch um die Gleichberechtigung der Geschlechter gleichermaßen bemüht. Da wir aber Darstellungen mit Sonderzeichen oder Binnen-​I aus ästhetischen Gründen ablehnen, haben wir uns für Beidnennungen entschieden. Bei komplexeren Konstruktionen sowie Komposita und Wiederholungen wählen wir der Lesbarkeit halber eine Gendervariante. Selbstverständlich ist die andere damit immer mitgemeint.

2Aspekte der Migrationslinguistik

In diesem Kapitel wollen wir uns mit zwei grundlegenden Begriffen der Migrationslinguistik auseinandersetzen, nämlich ‚Migration‘ und ‚Mehrsprachigkeit‘. Neben der Klärung der Begriffe werden auch einige grundlegende Aspekte der beiden Themenfelder in den Fokus genommen, wie etwa die unterschiedlichen Formen der Migration oder die verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit, je nachdem ob man sie im Alltag oder im schulischen Kontext erwirbt (lebensweltliche vs. bildungsbezogene Mehrsprachigkeit). Weitere Begriffe, die in diesem Zusammenhang geklärt werden, sind ‚HerkunftsspracheHerkunftssprache(n)‘ und ‚Sprachkontakt‘.

2.1Migration

2.1.1Der Begriff ‚Migration‘

Der Begriff ‚Migration‘ stammt aus dem Lateinischen (migratio) und bedeutet so viel wie (Aus-)Wanderung oder Umzug. Ganz allgemein spricht man von Migration, wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft verändern (vgl. Treibel 2020: 3). Wichtig ist dabei die Distanz zwischen dem bisherigen und dem neuen Lebensmittelpunkt und auch die Dauer des Aufenthalts am neuen Ort. Damit ist Migration gleichzusetzen mit Mobilität und sagt zunächst nichts über die Ursachen aus, die zu dieser Mobilität führen. Der Prozess der Migration ist dabei stets ergebnisoffen, indem das Wanderungsergebnis nicht immer der Wanderungsintention entspricht. Darüber hinaus sind auch längere Aufenthalte an Zwischenzielen häufig, sowie zirkuläre Bewegung oder sogar Rückwanderungen (vgl. Oltmer 2019: 24f.; → Kap. 2.1.4). Die permanente Niederlassung an einem neuen Ort ist damit nur ein mögliches Ergebnis von Migration. Dies lässt sich am Beispiel der Gastarbeiter in Deutschland veranschaulichen. Von den ca. 14 Millonen Arbeitsmigranten, die vom Ende der 1950er Jahre bis 1973 in die Bundesrepublik migrierten, kehrte ein Großteil wieder in ihre Herkunftsländer zurück (vgl. Münz et al. 1997: 35–42).

Findet Mobilität innerhalb eines Landes statt, spricht man von Binnenmigration. Diese bildet im Grunde die moderne Arbeitsgesellschaft ab und wird als solches in der Regel nicht problematisiert (vgl. Müller 2020: 26). In Ländern, die sich nicht als Einwanderungsland begreifen (wollen), werden unterschiedliche Begriffe bemüht (‚Migrant‘, ‚Zuwanderer‘, ‚Menschen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund‘), die für Menschen verwendet werden, die nicht ursprünglich dort heimisch waren, sondern ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlagert haben. Dem Begriff ‚Migrationsgesellschaft‘ ist hingegen immanent, dass er Migration als etwas Positives versteht und ihn als wesentlichen Motor gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse begreift (vgl. Foroutan/Ikis 2016). Häufig jedoch wird Migration problematisiert, obwohl sie eine Selbstverständlichkeit moderner Gesellschaften ist und „notwendig, um gesellschaftliche Dynamik und soziales Innovationspotential zu erhalten und zu entfalten“ (Müller 2020: 34). So benötigt etwa der Arbeitsmarkt Migration, weil globale Unternehmen nicht auf lokale Arbeitsmärkte setzen können und wollen. Sie greifen weltweit auf die Expertisen der Menschen zurück. Auch in Deutschland wird diese Debatte unter dem Stichwort des Fachkräftemangels bereits lange geführt. Insbesondere große internationale Konzerne, aber auch wissenschaftliche Einrichtungen sind stark auf international erfahrenes, mehrsprachiges Personal angewiesen. Während die grenzüberschreitende ArbeitsmigrationArbeitsmigration in Abhängigkeit der Qualifikation der Migrantinnen und Migranten als gewinnbringend oder belastend wahrgenommen wird, gilt Binnenmigration als etwas Selbstverständliches. Innerhalb der Europäischen Union wird hier mit dem Begriff ‚Freizügigkeit‘ operiert (vgl. ebd: 35). Das bedeutet, dass Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union jederzeit in jedes andere EU-​Land einwandern können, um dort zu arbeiten oder auch Arbeit zu suchen. 2021 wanderten im Zuge dieser Freizügigkeit 581.699 EU-​Staatsangehörige nach Deutschland ein, das sind ca. 64% der insgesamt einwandernden Bürgerinnen und Bürger (vgl. BMI/BAMF 2023: 38).

Durch die Benennung von Migrantinnen und Migranten und auch ihrer Nachkommen wird eine fortwährendeDifferenz bewusst erzeugt und reproduziert (vgl. Foroutan/Ikis 2016: 139f.). Menschen mit einem sog. MigrationshintergrundMigrationshintergrund (s. Kasten zum Migrationshintergrund) erfahren oft Ablehnung oder werden benachteiligt, sowohl auf dem Arbeitsmarkt, in gesellschaftlichen Führungsrollen und teilweise bereits in den Bildungsinstitutionen. Diese Auseinandersetzungen drehen sich vor allem um die Fragen nach Assimilation, AkkulturationAkkulturation und Integration und somit um das Spannungsverhältnis von kulturellem, gesellschaftlichem und identitätsbezogenem Erhalt und Wandel.

MigrationshintergrundMigrationshintergrund

In Deutschland ist die Zuschreibung des Migrationshintergrundes relativ kompliziert. Zunächst hat eine Person einen MigrationshintergrundMigrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht von Geburt an besitzt. Dies betrifft unterschiedliche Gruppen, die wie folgt differenziert werden können (vgl. Statistisches Bundesamt 2023: 5).

Zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer

Zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte

(Spät-)Aussiedlerinnen und -aussiedler

Durch Adoption eines deutschen Elternteils erlangte Staatsangehörigkeit

Kinder, die durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit haben und zu einer der vier genannten Gruppen gehören

Ausgenommen von dieser Defintion sind die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs. Gemäß des Bundesvertriebenengesetzes liegt hier ein gesonderter Status vor. Auch Menschen, die im Ausland mit deutscher Staatsagehörigkeit geboren werden und deren Eltern beide die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, haben keinen MigrationshintergrundMigrationshintergrund (vgl. ebd.).

Die Verteilung von Menschen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund innerhalb Deutschlands ist dabei sehr unterschiedlich, wie Abbildung 1 veranschaulicht:

Abb. 1:

Anteil der Personen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund 2021 in (ehemaligen) Regierungsbezirken in Prozent (Statistisches Bundesamt 2023: 28).

Wie die Karte zeigt, ist der Anteil von Menschen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund nicht überall in Deutschland gleich. Insbesondere in den neuen Bundesländern liegt der Anteil zum Teil deutlich unter dem des Gebiets der ehemaligen Bundesrepublik. Eine Ausnahme hiervon stellt Berlin dar, wie die dunklere Einfärbung verdeutlicht: Hier leben im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund als es in den umliegenden Kreisen der Fall ist. Im früheren Bundesgebiet gilt dies vor allem für die Ballungsräume wie das Rhein-​Main-​Gebiet, das Ruhrgebiet sowie die Großräume Stuttgart, Hamburg, Bremen und München.

2.1.2Bevölkerung mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund in Deutschland

Zwischen 2010 und 2020 migrierten insgesamt 15,4 Millionen Menschen nach Deutschland. Das Jahr 2015 markiert laut Statistischem Bundesamt dabei den vorläufigen Höhepunkt des Zuzugs von Migrantinnen und Migranten seit Bestehen der Bundesrepublik. So kamen 2.137.000 Menschen nach Deutschland, während im selben Jahr 998.000 Personen das Land verließen. Hieraus ergibt sich eine Nettomigration von über einer Millionen Menschen (1.139.402). Für das Jahr 2021 ergibt sich eine Nettomigration von 329.163 Menschen, was im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang von 11,5% bedeutet. Damit ist die Nettomigration vergleichbar mit den Zahlen von 2019 vor der Corona-​Pandemie: Damals betrug die Nettomigration 327.060 (vgl. BMI/BAMF 2023: 12).

Anders verhält sich die Entwicklung im Hinblick auf Personen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund. Hier zeigt sich ein deutlicher Zuwachs: Waren es im Jahr 2015 noch 17,1 Millionen Menschen, die einen Migrationshintergrund besaßen, so stieg die Zahl im Jahr 2021 bereits auf 22,6 Millionen und damit auf 27,5% der Bevölkerung in Deutschland (vgl. Statistisches Bundesamt 2023: 65). Ein Blick auf die Altersstruktur der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund aus dem Zensus des Jahres 2021 (s. Tab. 1) verrät schnell, dass sich die gesellschaftliche Zusammensetzung der Bundesrepublik in den kommenden Jahrzehnten weiter wandeln wird. So haben in der Altersgruppe der 0–5-Jährigen sowie 5–10-Jährigen bereits mindestens 40% einen Migrationshintergrund. Blickt man darüber hinaus gezielt in die Großstädte und Ballungsregionen, so ergeben sich noch höhere Zahlen. Insbesondere die junge Bevölkerungsgruppe könnte somit mehrsprachig aufzuwachsen. Diese Chance stellt allerdings gerade die Bildungsinstitutionen, von der Kita bis zur weiterführenden Schule, vor große Herausforderungen.

Bevölkerung in Privathaushalten nach Alter

Bevölkerung 2021 in Prozent

ohne Migrationshintergrund

mit Migrationshintergrund

gesamt

72,5

27,5

0–5 Jahre

59,2

40,8

5–10 Jahre

59,7

40,3

10–15 Jahre

60,1

39,9

15–20 Jahre

63,3

36,7

20–25 Jahre

66,0

34,0

25–35 Jahre

65,8

34,2

35–45 Jahre

64,9

35,1

45–55 Jahre

72,3

27,7

55–65 Jahre

82,1

17,9

65–75 Jahre

83,6

16,4

75–85 Jahre

88,8

11,2

85–95 Jahre

90,6

9,4

95 Jahre und mehr

91,0

(9,0)

Tab. 1:

Alterstruktur der Bevölkerung mit und ohne MigrationshintergrundMigrationshintergrund in Prozent in Deutschland (Tab. adaptiert vom Zenus zum Jahr 2021. Statistisches Bundesamt 2023: 39).

Anhand von Abbildung 2 ist ersichtlich, dass im Jahr 2021 über die Hälfte der Menschen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund (52,7% bzw. 11,8 Millionen) deutsche Staatsbürgerinnen bzw. Staatsbürger waren. Hiervon haben ca. zwei Fünftel eine eigene Migrationserfahrung (5,1 Millionen bzw. 43,3%). Darunter fallen 2,7 Millionen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, 385.000 Menschen, die als Deutsche geboren sind, 76.000 Personen, die von einem deutschen Elternteil adoptiert wurden, sowie 2,0 Millionen Eingebürgerte. Der Großteil der Menschen ohne eigene Migrationserfahrung und mit Migrationshintergrund besaß die deutsche Staatsangehörigkeit von Geburt an (6,0 Millionen).

47,3% (10,6 Millionen) der Personen, die 2021 nach Deutschland zugewandert sind, hatten eine ausländische Staatsangehörigkeit. Hiervon bildeten Personen mit eigener Migrationserfahrung die größte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund (39,8% bzw. 8,9 Millonen). 7,5% (bzw. 1,7 Millionen) der ausländischen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund wurden in Deutschland geboren und hatten somit keine eigene Migrationserfahrung (vgl. BMI/BAMF 2023: 145).

Abb. 2:

Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Jahr 2021 (BMI/BAMF 2023: 145).

Ungefähr zwei Drittel (62,3%) der Menschen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund sind aus einem anderen europäischen Land migriert (33,5% aus EU-​Staaten, 28,8% aus sonstigen europäischen Staaten). Als zweitwichtigste Herkunftsregion folgt Asien (22,7%). Deutlich geringere Anteile stellen Personen aus afrikanischen Staaten (4,8%) und aus Amerika, Australien und Ozeanien (zusammen 3,1%) (vgl. ebd.: 149f.).

Die wichtigsten Herkunftsländer der ausländischen Bevölkerung in Deutschland sind die Türkei (12,3%) und Polen (9,8%). Aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 wächst derzeit auch die Zahl der Menschen mit ukrainischem Migrationshintergrund deutlich. Abbildung 3 gibt eine Übersicht über die Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland nach den häufigsten Geburtsländern im Jahr 2021.

Abb. 3:

Personen mit Migrationshintergrund nach den häufigsten Geburtsländern im Jahr 2021 (BMI/BAMF 2023: 148).

2.1.3Typen von Migration

Migrantinnen und Migranten in Deutschland kommen aus mehr als 50 Herkunftsländern und haben daher einen völlig heterogenen Hintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt 2021). Sie lassen sich nach den folgenden Kriterien unterscheiden:

Nationalität und Herkunftsländer

Aufenthaltsdauer

Ausbildung und berufliche Qualifikation

Aufenthaltstitel

Migrationsursache

Die Motive zur Migration sind in der Regel vielschichtig und nicht monokausal. Häufig handelt es sich um wirtschaftliche, politische, soziale, religiöse und persönliche Beweggründe, die in verschiedenen Konstellationen mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung eng miteinander verknüpft sind (vgl. Oltmer 2019: 25f.). Dennoch wird Migration häufig nach verschiedenen Ursachen oder Motiven differenziert.1 Diese Differenzierung erfolgt allerdings nicht einheitlich, sodass sich unterschiedliche Kategorisierungen finden lassen (vgl. Han 2016; Oltmer 2017, 2019; Petersen 1958). Der Migrationsbericht des Jahres 2019 des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge unterscheidet die folgenden Zuwanderungsgruppen (vgl. BMI/BAMF 2020: 5):2

Erwerbsmigration (inklusive hochqualifizierter Fachkräfte mit beruflicher und akademischer Ausbildung sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern)

Bildungsmigration (Ausländische Studierende, Schulbesuche, sonstige Ausbildungszwecke)

Humanitäre Migration (insbesondere Flucht und Asyl)

Migration aus familiären Gründen (Familiennachzug)

Migration aus weiteren aufenthaltsrechtlichen Gründen

Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler

Zuwanderung von deutschen Staatsangehörigen

Irreguläre Migration (illegale Migration)

Die häufigsten Ursachen für Migration sind die ArbeitsmigrationArbeitsmigration sowie aktuell die humanitäre oder FluchtmigrationFluchtmigration. Diese werden im Folgenden erläutert, bevor auf weitere Typen der Erwerbsmigration eingegangen wird.

2.1.3.1FluchtmigrationFluchtmigration

Die FluchtmigrationFluchtmigration hat in Deutschland v.a. ab 2014 erheblich an Bedeutung gewonnen, als der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien eine Flüchtlingswelle auslöste. Schätzungen zufolge kamen 2015 etwa 890.000 syrische Flüchtlinge nach Deutschland, bei denen vor allem Arabisch als Erstsprache vorherrschte (vgl. Hünlich et al. 2018: 8f.). Allerdings ist ein Teil von ihnen auch zweisprachig aufgewachsen z.B. mit Arabisch und Kurdisch. Durch den russischen Überfall auf die Ukraine zu Beginn des Jahres 2022 suchen erneut und vermehrt Menschen Schutz in Deutschland oder anderen europäischen Ländern. Bis Anfang Juni des Jahres 2023 wurden ca. 1.069.730 ukrainische Flüchtlinge in Deutschland gezählt (vgl. Statista 2023).

Die hohen Antragszahlen auf Asyl und häufig langwierigen Prozesse, die Gerichtsverfahren, Prüfungen von Abschiebungshindernissen oder Verfahren zur Aufenthaltssicherung aufgrund von Integrationsleistungen umfassen können, führen oft zur Verzögerung der rechtlichen Entscheidungsprozesse. Mehrjährige Wartezeiten, in denen die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens nur sehr eingeschränkt gegeben ist, sind daher oft die Regel. Dies hat auch Auswirkungen auf das Deutschlernen. Häufig besteht bis zur Anerkennung des Verfahrens kein Rechtsanspruch auf einen IntegrationskursIntegrationskurs (→ Kap. 14.3). Eine ungewisse Zukunftsperspektive dürfte sich auch nicht förderlich auf die MotivationMotivation zum Sprachlernen auswirken, auch wenn sich Geflüchtete und Zuwanderinnen und Zuwanderer mit anderem Migrationsgrund zunächst nicht im Kompetenzzuwachs in Deutschkursen unterscheiden (vgl. Scheible/Rother 2017). Neben motivationalen Aspekten schaffen auch eine Reihe von anderen Faktoren ungünstige Voraussetzungen für gelingende Lernprozesse, z.B. spezifische Fluchterfahrungen und daraus resultierende Traumata, andere oder weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, erschwerte Lebensumstände durch die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sowie ungewisse Zukunftsaussichten. Hinzu kommt häufig auch noch die Sorge um Familienmitglieder, die sich entweder noch in der Heimat befinden oder selbst geflüchtet sind.

Eine besondere Herausforderung stellt die Gruppe der unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten dar, die vor allem aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und Somalia stammen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge registrierte in den Jahren 2015 bis 2017, was als ein vorläufiger Höhepunkt der syrischen Flüchtlingskriese gilt, ca. 67.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (mit und ohne gestellte Asylanträge) (vgl. BAMF 2018: 18). Diese fliehen ohne ihre Familie in Transit- bzw. Ankunftsländer und sind unter 18 Jahre alt. Oftmals werden unbegleitete Minderjährige, vor allem junge Männer, von ihrer Familie und/oder der Community auf die Flucht geschickt. Zudem fliehen auch immer mehr Mädchen und Frauen auf Grund von sexueller Gewalt, Zwangsheirat, Zwangsprostitution, aber auch fehlenden Bildungsmöglichkeiten und Diskriminierungen in ihren Herkunftsländern. Durch die Flucht aus meist patriarchalen Gesellschaften müssen sich junge Geflüchtete auch mit dem Spannungsverhältnis ehemaliger und neuer Rollenverständnisse auseinandersetzen. Die Lebenssituation junger Geflüchteter unterscheidet sich von der Lebenssituation Gleichaltriger vor allem durch ihre Vorläufigkeit (vgl. Klaus/Millies 2017), die sich insbesondere in der oftmals mehrjährigen Unterbrechung ihrer Bildungsbiographie ausdrückt. Diese wird in Deutschland gar nicht oder aber verspätet fortgesetzt. So haben eine Vielzahl junger Geflüchteter in Deutschland aufgrund der lebensbeeinträchtigenden Situation in ihrem Herkunftsland und der sich anschließenden Fluchtgeschichte oftmals wenig oder gar keine schulische Bildung erfahren.

2.1.3.2ArbeitsmigrationArbeitsmigration

Im Gegensatz zur FluchtmigrationFluchtmigration hat die ArbeitsmigrationArbeitsmigration in Deutschland eine längere Geschichte. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. siedelten sich etwa polnische Migrantinnen und Migranten im Ruhrgebiet an, die in der Schwerindustrie und im Bergbau beschäftigt waren, im Süden Deutschlands gab es italienische Wanderarbeiter (vgl. Riehl/Ingrosso 2023). Die große Welle der Migration setzte dann nach dem 2. Weltkrieg ein, als Gastarbeiter ab 1955 vorwiegend aus dem südeuropäischen Raum angeworben wurden (→ Kap. 1). Die größte Gruppe der als Folge von Arbeitsmigration entstandenen Migrantengruppen in Deutschland bilden dabei die aus der Türkei stammenden Menschen, inzwischen in dritter und vierter Generation. Die GastarbeitermigrationGastarbeitermigration wirkte sich auch auf die deutsche Bildungslandschaft aus, da es ab Mitte der 1970er Jahre vermehrt zu Familienzusammenführungen kam (→ Kap. 13 und 14). Kinder, die im Ausland geboren waren und zunächst kein Deutsch sprachen, traten somit vermehrt in die Bildungsinstitutionen ein. 1975 waren bereits 20% der ausländischen Bevölkerung in Westdeutschland Nachkommen der ersten Generation (vgl. Pfaff 1981a: 167). Je nach Bundesland gab es an den Schulen unterschiedliche Konzepte der Beschulung, von getrennten Klassenformaten wie beispielsweise in Bayern (die sog. ‚Rückkehrerklassen‘) bis hin zu einer möglichst schnellen Integration in die Regelklassen in NRW. Dass dies oftmals aber in der Realität anders umgesetzt wurde und die sprachliche Segregation die Regel war, ist hinreichend belegt (vgl. Hünlich 2022: 105f.; Meyer-​Ingwersen et al. 1977a, b). Dies führte zu neuen Fragen im Zusammenhang von Migrationsprozessen und Sprache, die im Kontext der Bilingualismusforschung und des (früh-)kindlichen Zweitspracherwerbs diskutiert werden (→ Kap. 4).

2.1.3.3Weitere Typen von Erwerbsmigration

Ebenfalls in den Bereich der Erwerbsmigration gehören beruflich hochqualifizierte Migrantinnen und Migranten. Bei dieser Art der Migration wird teilweise auch von einer sog. ‚ElitenmigrationElitenmigration‘ gesprochen (vgl. Erfurt/Amelina 2008). Damit werden Personen bezeichnet, die vornehmlich einen Hochschulabschluss besitzen oder über besondere spezifische Fachkenntnisse verfügen. Exemplarisch kann hier auf internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verwiesen werden, die führend in ihrem Gebiet sind und somit von Universitäten und Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt umworben werden. So hatte Ende 2018 jede(r) dritte Zugewanderte einen Hochschulabschluss (vgl. Seibert/Wapler 2020). Im Gegensatz zu anderen Migrationsformen wird diese Variante von den Zielländern forciert. So wurde beispielsweise in der Europäischen Union 2012 das Instrument der sog. Blue Card geschaffen. Hierbei handelt es sich um eine befristete Aufenthaltsgenehmigung speziell für akademische Fachkräfte aus Nicht-​EU-​Staaten.

Diese Gruppe wird wie in Kapitel 1 bereits erwähnt, statt mit dem Begriff ‚Migranten‘ häufig auch als ‚internationale Führungskräfte‘ bezeichnet, die sich als Teil einer Expatriate CommunitiyExpatriate Communities sehen. Wie Lüdi (2011: 29) richtig bemerkt, ist das nicht nur ein terminologischer Unterschied, sondern bringt auch eine unterschiedliche Akzeptanz für die Sprachen der Einwanderinnen und Einwanderer zum Ausdruck. In diesen Gruppen spielen auch unterschiedliche Kriterien eine Rolle, ob und welche Sprachen gelernt und verwendet werden. Da der Integrationsdruck auf die Anglophonen ungleich geringer ist als auf anderssprachige Migrantinnen und Migranten, wird von dieser Gruppe der Erwerb der Landessprache weit weniger gefordert und ist oft auch nicht notwendig (vgl. ebd.: 30). Dabei ist nicht nur die Aufenthaltsdauer, sondern auch die Integration der Familie in die Mehrheitsgesellschaft von entscheidender Bedeutung. Denn auch für hochqualifizierte nicht englischsprachige Zuwanderinnen und Zuwanderer besteht oft die Möglichkeit der schulsprachlichen Sozialisation im Englischen (vgl. ebd.). So schließt etwa Lüdi:

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich die anglophonen Elitemigranten in ein internationales Ghetto zurückziehen, dahin von anderssprachigen Mitgliedern der Expatriate Community begleitet werden – und dass ihnen auch ein Teil der einheimischen Bevölkerung Gefolgschaft leistet. (ebd.: 31)

Das bedeutet, dass im Falle der ElitenmigrationElitenmigration die sprachliche Integration nicht in Richtung der sprachlichen Mehrheit, sondern in Richtung des Englischen erfolgt.

2.1.4Dynamik

Wie in Kapitel 2.1.3 dargestellt wurde, handelt es sich bei Migration um einen ergebnisoffenen Mobilitätsprozess, der sich über mehrere Generationen erstrecken kann. Dabei können die Motive der Migration zwischen verschiedenen Gruppen und Generationen variieren. So weist etwa Pries (2013: 67f.) darauf hin, dass Migrantinnen und Migranten aus der Türkei nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch aufgrund von politischer oder religiöser Verfolgung (etwa nach dem Militärputsch 1980) nach Deutschland kamen. Migrationspfade, die bereits durch soziale Netzwerke etabliert sind, können auch wiederbelebt werden.

Ein weiterer Aspekt ist, dass aufgrund der allgemeinen Zunahme von Mobilität, eine Vielzahl von Migrantinnen und Migranten zwischen den verschiedenen Welten hin- und herpendeln (vgl. etwa Ingrosso 2021 zu den italienischen NewcomernNewcomer). So bemerkt Pries:

Internationale Migration ist als ein ergebnisoffener Prozess heute zu verstehen, der über mehrere Generationen hinweg fragil und revidierbar bleibt, und der durch wechselseitige Selbst- und Fremdwahrnehmungen/-zuordnungen zwischen Migrierenden und Nicht-​Migrierenden zu multiplen (ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen) Formen der plurilokalen Einbindung und Teilhabe führt. Damit ergeben sich für das Verständnis der Migrationsvorgänge selbst sowie der ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Teilhabe der Migrierenden und ihrer Familien in unterschiedlichen Ländern und lokalen Bezügen verschiedene Modelle. (Pries 2013: 68)

Betrachtet man diese Möglichkeiten der transnationalen Migration, dann ist die Einwanderung im klassischen Sinne nur eine Perspektive, moderne Alternativen sind die Pendelwanderung oder transnationale Migration. Die Lebensvorstellungen der transnationalen Migrantinnen und Migranten orientieren sich nicht nur an einem Land, sondern an einem „transnationalen Sozialraum“ (Pries 2013: 77). Die Migrantinnen und Migranten haben sich noch nicht festgelegt, wo sie leben wollen, können auch vorübergehend in ein Drittland gehen, z.B. in die Niederlande oder nach Frankreich. Pries (ebd.) verweist hierzu auf das Beispiel von türkeistämmigen Menschen, die eine hybride Identitäthybride Identität annehmen, als Deutschtürken oder -türkinnen oder Türkischdeutsche.

In diesem Sinne ähneln diese Gruppen den eigentlichen Transmigrantinnen und -migranten, d.h. Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens in vielen verschiedenen Ländern aufhalten. Darunter fallen vor allem Facharbeiterinnen und -arbeiter, Firmenangehörige im Auslandsdienst, Diplomatinnen und Diplomaten oder Entsandte internationaler Organisationen und Beschäftigte im Bereich der Kulturvermittlung. Auch diese bilden einen Teil der Expatriate CommunitiesExpatriate Communities und lernen in der Regel die Landessprache nicht. Gerade in dieser Gruppe spielen sehr unterschiedliche Kriterien eine Rolle, ob und welche Sprachen gelernt und verwendet werden. Thrul (2013) konnte in einer Fragebogenstudie mit 26 befragten Familien, die für eine befristete Zeit entsandt waren, zeigen, dass sich diese Elitemigrantinnen und -migranten oft als Fremde oder Gäste betrachten, die sich aufgrund dieser Rolle und der begrenzten Aufenthaltsdauer auch nicht integrieren müssen. Deren soziales Netzwerk ist deshalb nicht sehr stark in der deutschen Gastgebergesellschaft verankert.

2.2Mehrsprachigkeit

2.2.1Wer ist mehrsprachig?

Zunächst einmal sei darauf hingewiesen, dass Mehrsprachigkeit keinesfalls ein Phänomen von Migration ist. So gehen Schätzungen davon aus, dass etwa zwei Drittel aller Kinder weltweit in mehrsprachigen Umgebungen aufwachsen (vgl. Crystal 2003: 17). Somit gibt es mehr mehrsprachige als einsprachige Menschen auf der Welt. Aus einer mitteleuropäischen Perspektive ist diese Tatsache eher überraschend. Denkt man jedoch an weite Teile Afrikas und Asiens, den indischen Subkontinent, aber auch an Teile Osteuropas wird klar, dass Mehrsprachigkeit der Normalfall ist und nicht etwa ein problembehafteter Einzelfall als Folge von Migration.

Die Tatsache, dass auch heute immer noch viele Menschen Einsprachigkeit als die Regel wahrnehmen, hängt vor allem mit dem Verständnis zusammen, wann eine Person überhaupt als mehrsprachig gilt. Diese Frage wird seit Beginn der Mehrsprachigkeitsforschung intensiv und vor allem kontrovers diskutiert (vgl. Appel/Muysken 1987: 2f.; Földes 2005). Dabei gilt die normative Definition, dass eine Person mehrsprachig ist, wenn sie mindestens zwei Sprachen fließend spricht („native-​like control of two or more languages“, Bloomfield 1933: 56), als überholt. Diese Sicht auf Mehrsprachigkeit, wonach eine quasi-​muttersprachliche Kompetenz in zwei oder mehreren Sprachen vorhanden sein muss, prägt auch heute noch entscheidend das Alltagsverständnis von Mehrsprachigkeit. Allerdings legt diese Sichtweise die unrealistische Bedingung nahe, Mehrsprachige müssten in allen Bereichen ihres Lebens beide (oder mehrere Sprachen) in derselben Weise verwenden. Vielmehr ist der Gebrauch der Sprachen häufig an unterschiedliche Kontexte gebunden, die zu spezifischen Kompetenzanforderungen führen. In der aktuellen Forschung zu Mehrsprachigkeit hat sich deshalb eine funktionale Definition von Mehrsprachigkeit etabliert. Hierbei wird die sprachliche Kompetenz in zwei oder mehreren Sprachen an den Sprachgebrauch in unterschiedlichen Situationen, Domänen sowie sozialen Rollen geknüpft. Die lässt sich wie folgt beschreiben:

Funktionale Mehrsprachigkeit bezeichnet Sprachhandlungskompetenzen in mehreren Sprachen, die für eine spezifische Situation, eine bestimmte Domäne und den jeweiligen Kommunikationskontext angemessen sind. Dabei wird u.a. zwischen den einzelnen Fertigkeiten differenziert (Lesen, Schreiben, Hören, Sprechen sowie Sprachmitteln und Hörsehverstehen) und auf eine Nutzung derjenigen Fertigkeit(en) gesetzt, die in einer Situation oder einem Sachverhalt notwendig und ihr angemessen sind. (Bradlaw et al. 2022: 44)

Demnach sind alle Menschen mehrsprachig, die im Laufe ihres Lebens neben ihrer Erstsprache eine oder mehrere weitere Sprachen erworben haben und zwischen diesen, je nach Kontextanforderungen, hin- und herwechseln können. Grosjean (2008: 10) betont in seiner Definition von Mehrsprachigkeit, dass dieser Wechsel regelmäßig geschieht. Damit stehen weniger die Bedeutung von Sprachwissen als vielmehr die von Sprachfertigkeiten im Fokus der Definition. Mehrsprachigkeit ist außerdem nicht an die Bedingung geknüpft, von Geburt an mit mehr als einer Sprache aufzuwachsen (→ Kap. 4.3). Berücksichtigt man in diesem Kontext, dass Kinder neben der Standardsprache sehr häufig mit DialektenDialekt oder sozialen Varietäten aufwachsen, stellt sich die Frage, ob so etwas wie Einsprachigkeit überhaupt existiert (vgl. Tracy 2008: 65f.). Mit dieser Frage setzt sich auch das Konzept der sog. ‚inneren Mehrsprachigkeit‘ auseinander (vgl. Wandruszka 1979). Dieses Konzept geht davon aus, dass auch vermeintlich einsprachige Menschen kontextabhängig zwischen verschiedenen Registern und Varietäten ihrer Sprache wechseln, etwa zwischen Fach- und Alltagssprache oder auch zwischen einem DialektDialekt und der Standardsprache.

2.2.2Was ist Mehrsprachigkeit?

In der Mehrsprachigkeitsforschung unterscheidet man in der Regel zwischen der Fähigkeit eines einzelnen Individuums, mehrere Sprachen (oder Varietäten einer Sprache) verwenden zu können, und dem Gebrauch von verschiedenen Sprachen in Gesellschaften oder Institutionen. Im ersteren Fall steht die psycholinguistische Betrachtungsweise im Vordergrund, nämlich, wie die verschiedenen Sprachen und Varietäten im Gehirn eines Individuums gespeichert und miteinander vernetzt sind. Im zweiten Fall geht es stärker um soziolinguistische Fragestellungen, d.h. um den Status und das Prestige von bestimmten Sprachen in einer Gesellschaft oder innerhalb eines Staates, und den Umgang mit verschiedenen Sprachen (oder Varietäten). Vor diesem Hintergrund spricht man daher von individueller, gesellschaftlicher und institutioneller Mehrsprachigkeit, die sich in jeweils ganz unterschiedlichen Formen äußern. Dabei muss man aber davon ausgehen, dass diese verschiedenen Typen von Mehrsprachigkeit gekoppelt sind: gesellschaftliche Mehrsprachigkeit geht in der Regel mit individueller Mehrsprachigkeit einher, und umgekehrt beeinflusst auch die Gesellschaft die Verwendung und Dominanz von Sprachen einzelner Sprecherinnen und Sprecher. Unterschiedliche gesellschaftliche Voraussetzungen und Konstellationen von Sprecherinnen und Sprechern bedingen wiederum unterschiedliche Formen mehrsprachigen Sprechens, was man unter dem Begriff ‚diskursive Mehrsprachigkeit‘ (vgl. Franceschini 2011) fassen kann. Dieser Begriff bezieht sich auf die pragmatische Komponente von Mehrsprachigkeit, d.h. verschiedene Muster mehrsprachiger Praktiken in bestimmten Gruppen (wie SprachmischungSprachmischung(en), Übersetzung, Verwendung einer Lingua FrancaLingua Franca etc.).

Betrachtet man nun die individuelle Mehrsprachigkeit, so ist eine Grundannahme der Mehrsprachigkeitsforschung, dass Sprachwissen und Sprachkompetenz mehrsprachiger Menschen nicht aus getrennten oder trennbaren Subsystemen (beispielsweise ein System für das Deutsche, Französische oder Russische) bestehen, sondern ein sprachliches Gesamtrepertoire darstellen (vgl. u.a. Busch 2012, 2021; Matras 2020). Dies läss sich mit dem folgenden Beispiel einer Interaktion zwischen einem Brasilianer (Kunde) und einem Schweizer Bahnmitarbeiter (Beamter) veranschaulichen (Beispiel adaptiert von Lüdi 2011: 20f.):

(1)

1

Beamter:

guete tag

 

2

Kunde:

pardon

 

3

Beamter:

pardon? Oui oui?

 

4

Kunde:

je parle português

 

5

Beamter:

oh je parle pas português

 

6

Kunde:

Brasilia

 

7

Beamter:

okey. italien ou français oui oui?

 

8

Kunde:

duos passagem para Freiburg deutsch

 

9

10

11

12

Beamter:

Freiburg Deutschland jä okey. voilà, si vous faire la carte à la machine? oui. Va bene. c’est sans une code. vous fais la signature après. non non il va revenir. (der Kunde lässt die Kreditkarte nicht los) Si vous fais votre signature pour cinquante huit?

 

13

Kunde:

(unterschreibt)

 

14

Beamter:

voilà. il prossimo treno. binario cinco hm? Dodici diciotto

 

15

Kunde:

merci. obrigado

 

16

Beamter:

bitteschön. Service

 

17

Kunde:

obrigado

 

18

Beamter:

molto grazio

 

19

Beamter:

(zum Forscher) es goht mit händ und füess aber es goht