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In der lebendigen Geschichte des selbstverwalteten Café Klatsch in Wiesbaden spiegelt sich die Praxis linker Utopien als greifbare Alltagsaufgabe. Die wechselvollen Versuche, Enttäuschungen, Diskurse und Erneuerungen dieses Mikrokosmos ermöglichen eine einzigartige Begegnung mit den historischen Linien sozialer Bewegungen – und der Frage nach einem richtigen Leben im falschen. Hier muss jede Theorie in der Praxis bestehen. Das Buch wird so zu einem Beitrag linker Gegenwart – eine Ermutigung für alle, die anders leben und arbeiten möchten –, aber auch einer Warnung.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2024
Jannek Ramm, geboren in Schleswig-Holstein, studierte Kunstgeschichte und Medienwissenschaften in Marburg. Mittlerweile lebt er als freier Autor in Wiesbaden, ist Mitgründer des Einerseits Magazins und war rund neun Jahre lang Teil des Café-Klatsch-Kollektivs.
Jannek Ramm
Mikrotopia
Das Café Klatsch als Alltagsbeispiel sozialer Bewegungen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Jannek Ramm:
Mikrotopia
1. Auflage, Mai 2024
eBook UNRAST Verlag, Oktober 2024
ISBN 978-3-95405-200-4
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Intro: Das alles.
Teil 1: Das Café
Kapitel 1: Die Angst vor 1984
Kapitel 2: 1984
Kapitel 3: Das Projekt
Kapitel 4: 80 Tage im Mai
Kapitel 5: Halts Maul.
Kapitel 6: Stöpsel und Siebe
Kapitel 7: Kornblumen und Mohn
Kapitel 8: Das Ende der Geschichte
Kapitel 9: Der Schach Opa
Kapitel 10: In Wiesbaden fehlt ein Klaus
Kapitel 11: Bekannt und beliebt aus Funk und Fernsehen.
Teil 2: Das Klatsch
Kapitel 1: Kleine geile Firmen
Kapitel 2: Dichtung und Wahrheit
Kapitel 3: Bambule
Kapitel 4: Café Knacks
Kapitel 5. Läuft.
Kapitel 6: THE CLATSH
Kapitel 7: Du und ich
Kapitel 8: Die Miete ist schon mal die halbe Miete
Kapitel 9: Gegenstandpunkte
Kapitel 10: Unter den Masken
Outro: No future is now!
Quellen
Bildnachweise
September 2014. Es sind sorgfältig Pläne gezeichnet worden, am Ende steht die Bühne aber doch ganz anders – irgendwie schräg auf der Kreuzung. Halb zeigt sie die Straße hinunter, halb Richtung Eingangstür des Café Klatsch. Für einen Augenblick regt sich Unmut über diese spontane Planänderung, auch bei mir. Doch das Kopfschütteln verliert sich rasch im allgemeinen Gewusel. Zu viel ist zu tun, in zu kurzer Zeit, um jetzt in Diskussionen oder Streit zu verfallen. Aus kollektiver Überforderung kann eine Einigkeit erwachsen, die keinen Alltag kennt. 30 Jahre Café Klatsch: Selbstbestimmung. Selbstverwaltung. Selbstverständlich. Das ist die Losung und der Anlass für ein opulentes Straßenfest, auf dem, eher unseriösen Quellen zufolge, etwa 2.000 Menschen feiern werden.
Seit ziemlich genau einem Jahr arbeite ich an diesem Tag im Café Klatsch. Noch weiß ich nicht recht, was das genau heißt, aber ich taue auf. Man gibt mir Aufgaben, den Vormittag über male ich vor allem Schilder: Für das Bühnenprogramm, die Leergutstation, den Suppen- und den T-Shirt-Stand. Um 14 Uhr geht’s los. Andalusische Arbeiter*innenlieder. Ich habe nicht wirklich etwas zu tun und streife eher sorglos umher, treffe hier und da auf hyperventilierende Mit-Kollektivist*innen und versuche auszuhelfen.
Am späten Nachmittag spielt die Band »Front« Wave-Punk-Hits mit Namen, wie »Prada Meinhof« oder »Onanie und Alltag«. Danach ist Pause auf der Bühne. Ich habe noch immer kaum konkrete Aufgaben zu tun und stehe am Bordstein herum. Ein halbes Bier im Kopf, ein halbes in der Hand. Alle Leute, die ich kenne, laufen gestresst irgendwo hin – und so bin ich allein, als mich ein Mann anspricht. Wir kennen uns vom Sehen, er ist Stammgast im Klatsch, wir haben allerdings nie länger miteinander gesprochen.
Er stellt sich als einer der Gründer*innen des Cafés vor, einer der Ersten Elf, wie man sagt. Das weiß ich zwar, nicke aber, als wäre es mir neu und als wolle ich ihn dazu ganz herzlich beglückwünschen. Für einen Augenblick stehen wir da und sagen nichts. Wir sind beide nicht gerade das, was man gesprächig nennt. »Schon verrückt«, sagt er dann und lässt den Blick über das Fest streifen. »Ja«, sage ich, nicke nochmal ganz genau so wie zuvor.
»30 Jahre. Das hättet ihr damals wahrscheinlich nicht gedacht, hm?«, mutmaße ich und lächle in nachdenkliche Augen. »Ach so«, sagt er wie aus einem Gedanken gerissen »ach, du, ne, das meine ich gar nicht unbedingt«, – und verstummt wieder. »Was meinste?«, frage ich also. »Schon eher: das alles«, sagt er und lacht.
»Als das alles losging mit dem Klatsch damals, hat kaum jemand daran geglaubt, dass wir überhaupt das Jahr 2000 noch erleben werden. Irgendeine Katastrophe, irgendein Krieg, ein Unfall, eine Umweltkatastrophe – ach, im Zweifel irgendwelche Nazis, irgendwas würde schon passieren. Also ich dachte das damals zumindest. Und das dachten, glaub’ ich, viele!«
Irgendwie überrascht mich das. Die Geschichten, die ich bis dahin kannte, über die Gründungszeiten, die wilden 80er, das alles hatte immer so beseelt geklungen, von einer besseren Zukunft, einer anderen Gesellschaft und so weiter. Ich hatte deshalb angenommen, dass sich die mir durchaus bekannte Sorge um die Zukunft erst später eingeschlichen hatte. Interessant. Unser Gespräch wird jedoch jäh unterbrochen, als es auf der Bühne wieder laut wird. Dem Booking war ein geheimer Coup gelungen. Obwohl sich die Wiesbadener Ska-Band Frau Doktor zu diesem Zeitpunkt offiziell aufgelöst hat, spielen die zwei Nachfolgeprojekte auf der Straßenfestbühne gleich hintereinander weg. Und die Gerüchte, die sich über den Tag verbreiteten, bewahrheiten sich:
Am Ende spielen sie doch noch ein angeblich letztes Mal als Frau Doktor auf. Und als es am Ende der drei oder vier Songs anstelle von »Du und ich auf dem Weg in die Stadt« heißt: »Du und ich auf dem Weg ins Klatsch«, sehe ich um mich herum einige Kolleg*innen mit kleinen Tränchen in den Augen – es ist nicht zuletzt der Moment, in dem die Anspannung abfällt und in die Lust, selbst mitzufeiern und zu tanzen umschlägt.
Bis tief in die Nacht stehen Hunderte auf der Kreuzung und auf den umliegenden Straßen, feiern drinnen und draußen und selbst die älteren Herrschaften aus der Nachbarschaft scheinen sich nicht weiter an offenkundig linksradikalen Spaßoffensiven zu stören. An der obrigkeitskritischen Grundstimmung schien sich schließlich sogar die lokale Presse angesteckt zu haben, als sie schon am folgenden Mittag zu berichten weiß: »Angenehm zurückhaltend erschien auch die Ordnungspolizei, die sich immer mal zeigte, aber von Störungen des herrlichen Spätsommernacht-Festes absah.« Na ja, gegen frühen Morgen störten sie dann doch noch ein wenig – der Artikel aber schraubt sich unbeirrt noch ein wenig weiter in die Höhe: »Ein unglaubliches Fest ist Geschichte, das Café Klatsch hat Zukunft«, heißt es am Ende furios. – Ja?
Etwa neun Jahre später schreibe ich einen Teil dieses Buches auch im Raucherraum des Café Klatsch. Gerne früh, dann ist es ruhiger. Gegen sechs, halb sieben wird es für gewöhnlich voll und stickig. Vom großen Gastraum aus ist dieser Nebenraum nicht einsehbar – wer die schwere Tür aufstößt, meist etwas umständlich, weil mit Getränk in der Hand, schaut sich zunächst um, wer so da ist, wo ein Tisch frei ist, oder ob man vielleicht jemanden kennt.
Es kommt vor, dass ich an einem Kapitel schreibe und wie in einem seltsamen Theaterstück tritt jemand ein, der*die in eben dieser Zeit im Café Klatsch gearbeitet hat oder Gast war oder sonst gerne erzählt. Meistens aber, sobald es voller wird, setzen sich Fremde dazu. Es ist nicht unüblich, dass sich im Café Klatsch Menschen gemeinsam an einen Tisch setzen, die sich nicht kennen. Ausgerechnet, als ich dieses Intro schreibe, sitzen mir zwei junge Typen gegenüber, vielleicht 19 oder 20 Jahre alt. Sie blicken sich um, scheinen zum ersten Mal hier zu sein. Eine Weile sprechen sie, sichtlich beseelt von den Stickern und Plakaten an den Wänden des Raums, darüber, was Linkssein für sie bedeutet. Es ist offenbar etwas sehr Wildes.
Irgendwann kippt das Gespräch in eine allgemeine Diagnose der Weltlage, bis einer den anderen fragt: »Was würdest du wetten, wer das Rennen macht? Klimawandel, Krieg oder Nazis?« Sein Nebenmann scheint die Optionen für einen Moment lang ernsthaft abzuwägen, lässt seine Gedanken jedoch unvermittelt fallen, schüttelt den Kopf und meint: »Junge, ich hab’ noch 40 Euro für den Rest des Monats. Ich wette gar nichts.«
In drei Tagen ist Heiligabend. 2023.
Bevor es richtig losgeht, vielleicht noch zwei Anmerkungen. Die Zitate in diesem Buch sind jeweils so wiedergegeben, wie sie in den Quellen zu finden sind. Das heißt, sie enthalten nicht immer gendergerechte Sprache. Ich habe mich dennoch dazu entschieden, sie so zu belassen, auch weil dieses Buch eine kleine Geschichte der Ideen neuer sozialer Bewegungen sein möchte und die jeweilige Sprache den Zustand dieser Ideen verdeutlichen mag.
Ganz allgemein ließe sich aus dem Material, das sich in der Recherche zu diesem Buch aufgetan hat, ein weiteres Buch schreiben, ohne auch nur eine Quelle doppelt zu verwenden. Dieses Buch ist entsprechend eine subjektive Auswahl, ein möglicher Versuch, die Geschichte eines Projekts zu erzählen. Es gibt andere. Womöglich mindestens so viele andere, wie Menschen im Café Klatsch gearbeitet haben – denen dieses Buch gleichsam gewidmet ist.
»Freiheit bedeutet, wenn überhaupt, das Recht, den Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen.«
George Orwell
Das Café Klatsch wäre nicht denkbar, ohne etwas, das man ›Neue Soziale Bewegungen‹ nennt. Dabei gilt natürlich: Wird etwas mit dem Zusatz ›neu‹ versehen, setzt das zunächst etwas voraus, das ›alt‹ ist. Der Verleger Theo Pinkus, der nichts mit dem gleichnamigen Münsteraner Bio-Bier zu tun hat, betont in diesem Sinne die Kontinuität mit der Arbeiter*innenbewegung vor 1933. Der eigentliche Kern der neuen sozialen Bewegungen, sagt er in einem Interview 1980, sei »die alte sozialistische Formulierung vom Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit und etwas von dieser Freiheit vorwegzunehmen, ein Stück Utopie zu verwirklichen« [1].
In diesem Sinne bildet das Ende des Faschismus 1945 einen Neuanfang – denn die alten sozialen Bewegungen wurden in den Jahren des Nationalsozialismus verboten, zersetzt, verfolgt, vertrieben oder ermordet.
Die frühen Jahre nach dem Krieg sind, hinsichtlich dieses Neuanfangs vor allem durch Streiks, Arbeitskämpfe, gewerkschaftliche Arbeit und Sabotage-Aktionen geprägt – die Neubelebung alter Formen stößt jedoch sehr bald an Grenzen. Im Sinne der Besatzungsmächte darf Deutschland nie wieder dem rechten Totalitarismus anheimfallen. Im selben Augenblick jedoch, vor allem aus der Sicht der Westmächte, darf die junge BRD erst recht nicht vom Osten eingenommen werden – weder militärisch noch ideologisch. Vor dem Hintergrund der Teilung Europas und Deutschlands im Speziellen wird die staatliche Architektur der Bundesrepublik Deutschland ab 1949 mit einem antikommunistischen Grundmotiv versehen. Im Augenblick des militärischen Sieges über den deutschen Faschismus und der Befreiung seiner Überlebenden wird der Osten zum größten Feind – größer gar als die natürlich nach wie vor vorhandenen nationalsozialistischen Gesinnungen in Westdeutschland. Und so wird nicht immer allzu genau auf die persönlichen Karrieren jener weit überwiegend männlichen Altnazis geschaut, die bald in entscheidenden Positionen der bundesrepublikanischen Sicherheitsarchitektur sitzen. Sie kennen schließlich die linken Strukturen und verstehen sich seit vielen Jahren auf deren Überwachung und Zersetzung.
Gleichsam bedeutet Nationalsozialismus natürlich immer auch Exil, Vertreibung und so innere Teilung. Viele, die die Shoah überleben, gründen den Staat Israel als Schutzraum für jüdisches Leben. Vergleichsweise wenige kehren zurück in eine fremde deutsche Heimat. In Frankfurt etwa, und so nähern wir uns dem Ort unserer Geschichte, arbeiten zuvor Vertriebene an einem Wiederaufbau des »Instituts für Sozialforschung«. Am Vorabend des Krieges verfasst der Leiter dieses Instituts, Max Horkheimer, seinen berühmten Satz: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen« [2].
Er diagnostiziert, dass Faschismus immer eine Reaktion auf Krisen des Kapitalismus sei – das heißt: immer eine Fortführung der Ziele des Kapitalismus mit totalitären Mitteln. Die auslösenden Krisen allerdings seien bereits im Wesen des Kapitalismus angelegt.
Doch wenn Faschismus jederzeit aus dem Kapitalismus hervorgehen kann oder geradezu muss, wie glaubwürdig ist dann die Losung: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus in dieser Bundesrepublik? Aus dem Exil zurückgekehrt und vom schuldbewussten Teil der Elite begrüßt, werden Rückkehrende wie Max Horkheimer, und freilich viele andere, zur Brücke zwischen dem Altem und dem Neuen. Doch nicht nur an den Universitäten gerät in diesem Sinne etwas in Bewegung.
Der Zugang zu Eigentum durch Arbeit oder Kapital und die damit verbundenen Möglichkeiten demokratischer Teilhabe sind außerdem strukturell unfair verteilt. Global wie innerhalb der Bundesrepublik selbst. Im Bonner Bundestag sitzen ausschließlich weiße Männer, in den alsbald vom Wirtschaftswunder ergriffenen Unternehmensführungen deutscher Betriebe ebenfalls sehr überwiegend. Frauen sind weder gleich vor dem Gesetz noch hinsichtlich ökonomischer Kategorien. Homosexuellen, nicht-binären oder Trans-Menschen wird gleichsam nach wie vor ein Recht auf selbstbestimmtes Leben abgesprochen. Auch hier setzt sich etwas in Bewegung.
Aufschwung und Wohlstand kommen indes so einhellig mit der Verheißung von Frieden daher, dass sie zu oft gegenüber der Aufarbeitung eigener Schuld bevorzugt werden. Doch diese Versprechungen werden brüchig – spätestens als die Fernseher in den Wohnzimmern der Eigenheime nicht aufhören wollen, die Kriegsverbrechen der freien Welt in Vietnam und anderswo sichtbar zu machen – und ihren Frieden und jene Freiheit so mit einem Preisschild zu versehen. Und so gerät auch hier etwas in Bewegung – in den westlichen Wohnzimmern, so wie auch in der damals sogenannten Dritten Welt.
Produktion, Konsum und Wachstum eines Industriekapitalismus sind dabei mehr und mehr auf Energie angewiesen. Aus der physikalischen Revolution war während des Krieges das Atomzeitalter geboren – im Westen, wie im Osten. Auch die Bundesrepublik steigt rasch in die Verheißungen der nuklearen Stromerzeugung ein – lässt Risiken verleugnen, Unfälle vertuschen und stellt im Zweifel das ökonomische Wohl ihrer Wirtschaft über die Unversehrtheit ihrer Bürger*innen. Auch gegen diese Logik gerät bald einiges in Bewegung – und über alledem schwebt außerdem die ständige reale Möglichkeit eines globalen, nuklearen Weltkriegs, der keine Nachgeborenen kennt.
Die Frage, welche ideologische Auseinandersetzung eine Aufrüstung in dieser Hinsicht rechtfertigt, setzt ebenso etwas in Bewegung wie die blanke Feststellung, dass all das Genannte nicht getrennt betrachtet werden kann. Und so geraten auch neue Formen des Zusammenlebens, des Zusammenarbeitens, des Liebens, der Erziehung, der Auseinandersetzung, des Streits und des Wiederzusammenfindens – insgesamt: neue Vorstellungen von Gesellschaft – in Bewegung. Und dies alles, wenngleich hier lediglich sehr grob skizziert, wird man bald Neue Soziale Bewegungen nennen.
Das Neue dabei meint neben der Kontinuität zum Alten natürlich auch Elemente, die sich in früheren Bewegungen nicht finden. Robert Jungk ist einer der Vielen, die zu den Pionieren dieses Neuen zählen. Anders als Theo Pinkus mit seiner Betonung der Kontinuität mit Altem, beschreibt Jungk das Wesen der Neuen Sozialen Bewegungen lieber als »Vorgriff auf eine Art des Lebens und Zusammenlebens, das die historischen politischen Bewegungen zwar in ihren Programmen zum Teil andeuten, aber in ihrem Alltag nicht verwirklichen«[3]. Durchaus im Sinne unseres Intros fügt Jungk jedoch nahtlos hinzu:
»Ich sehe die aktuellste, vordringlichste Rolle der ›Alternativen‹ allerdings darin eine Bewegung für das Überleben zu sein in einer Periode der Menschheitsgeschichte, die so kritisch ist wie keine frühere. Die durch fehlentwickelte und fehlgelenkte Wissenschaft und Technik geschaffenen Vernichtungsmöglichkeiten werden von der Mehrheit der heute Lebenden noch gar nicht in ihrem vollen Umfang wahrgenommen.«[4]
Für die Entstehung des Café Klatsch scheint diese Definition die griffigere zu sein. Es geht um Alltag, um Zusammenleben, um Protest gegen Umweltzerstörung, Kapitalismus, Diskriminierung, Faschismus, Patriarchat und Kriegstreiberei – aber gleichsam auch um Wege, die ihrem Wesen nach eben keine große Revolution voraussetzen, sondern im Gegenteil versuchen, ihre Anliegen im Hier und Jetzt zu erproben.
Vor diesem Hintergrund bilden die Ereignisse, die uns zum Ausgangspunkt des Café Klatsch im engeren Sinne führen, ein bemerkenswertes und in der deutschen Nachkriegsgeschichte in dieser Form seltenes Phänomen. In nur wenigen historischen Momenten greifen Motive unterschiedlichster Neuer Sozialer Bewegungen so einhellig ineinander und entfalten derart breite gesellschaftliche Bündnisse wie an der Startbahn-West in Frankfurt Anfang der 1980er-Jahre.
Bis in die Sphäre des Symbolischen hinein verdichtet sich die deutsche Nachkriegsmentalität in den Versprechungen einer neuen Massentechnologie: dem Fliegen. Der neue Wohlstand, mit all seiner Verdrängungskraft stimmt weltoffen, vernetzt und integriert. Wer etwas auf sich hält, fliegt in den Urlaub – spätestens seit dem Wirtschaftsboom der 1960er-Jahre. Ein Europa gilt es zu erschließen, eine Weltordnung zu festigen, eine Wirtschaft zu beschleunigen und im Sinne neuer Bündnisse: den Atlantik zu überbrücken. Selbst einer der zentralsten Flughäfen des westlichen Europas gerät in diesem Rausch an seine Belastungsgrenze. 1966 genehmigt der hessische Landtag also, dass die Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens großflächig ausbauen darf. Eine neue Startbahn soll kommen, im Westen.
Im Norden und im Osten verlaufen schließlich die A3 und die A5. Im Süden liegt die US-amerikanische Rhein-Main Air Base. Nur im Westen ist noch nichts – wobei ›nichts‹ hier Natur meint. 130 Hektar Wald sollen schließlich für den Bau verschwinden. Ein Teil davon ist sogenannter Bannwald – der laut hessischem Forstgesetz »vor allem in den Verdichtungsräumen und waldarmen Bereichen in seiner Flächensubstanz in besonderem Maße schützenswert ist«[5]. Einen solchen für Rodungen freizugeben, lässt sich gesetzlich nur verantworten, wenn »überwiegende Gründe des Gemeinwohls«[6] dies verlangen.
Dieses Verlangen hält sich allerdings in Grenzen. Eine wachsende Zahl der rund um die geplante Startbahn lebenden Bevölkerung kann solche Gründe nicht erkennen. Weit mehr als 100 Klagen gegen das Großprojekt gehen in den folgenden zehn Jahren vor allem von lokalen Bürgerinitiativen aus. Es geht zum einen gegen den erwartbaren Fluglärm, bald aber im selben Maße gegen die geplante Zerstörung des Waldes. Immer wieder richtet sich der entstehende Protest gleichsam gegen eine mögliche Nutzung der Startbahn West durch die NATO. Es deutet sich eine Gemengelage an, in der sich Kernmotive verschiedener Neuer Sozialer Bewegungen verdichten.
Mitte der 70er zeichnet sich außerdem ein Abflachen der Wachstumseuphorie ab. Im Zuge einer Ölkrise und der darauf folgenden Rezession wird nicht nur das Fliegen deutlich teurer. Die unsichtbare Hand des Marktes zeigt sich mal wieder besonders unsichtbar – und so flachen Wachstumseuphorie und Wirtschaftswunder allmählich wieder ab. Auch die Passagierzahlen im Flugbetrieb sinken. Vor diesem Hintergrund wird das Projekt Startbahn West immer energischer infrage gestellt – zunehmend auch außerhalb der Verwaltungsgerichte und Plenarsäle. Ende der 70er kommt es, ausgehend von den lokalen Bürgerinitiativen, zu ersten sogenannten Spaziergängen durch die betroffenen Waldgebiete. Und diese finden regen Zulauf. An Ostern 1979 nehmen schon über 3.000 Menschen daran teil.
Längst stoßen nun auch Menschen aus der erweiterten Region dazu – unter anderem aus der nahegelegenen Landeshauptstadt Wiesbaden. Und mag der juristische Weg auch Teilerfolge erzielen, den politischen Willen des hessischen Landtags vermag er nicht zu brechen. Nach fast 14 Jahren Auf und Ab wird für den Herbst 1980 schließlich eine finale gerichtliche Entscheidung zum Flughafenausbau erwartet. Um diese vielleicht letzte Chance mit einer Offensive zu begleiten, dringen im Frühling 1980 wieder Menschen in den betroffenen Bannwald ein. Als Informationsstelle und Dreh- und Angelpunkt der immer zahlreicher werdenden Bürgerinitiativen bauen sie eine Hütte. Obwohl man wohl zeitweise eine Baugenehmigung erwogen hat, wird sie schlussendlich illegal errichtet. Es ist der Beginn einer Besetzung. Schnell werden es über 60 Hütten sein, die meisten dauerhaft bewohnt, aber auch eine als solche offiziell geweihte Kirche. Die bald getroffene politische Entscheidung, dass die Startbahn im Sofortvollzug errichtet werden wird, kann man dadurch aber nicht verhindern.
Dennoch kommen Anfang November 1980 wieder rund 15.000 Menschen in den Wald und auch das Hüttendorf entwickelt sich als Mikrokosmos gesellschaftlicher Alternativen. Derweil machen hier an der Startbahn nicht nur staatliche Behörden eine bemerkenswerte Beobachtung: Ein neuer Demonstrationstyp wird diagnostiziert. Häufig wird von einem »Aufstand der Langhaarigen und der Grauhaarigen« die Rede sein – wobei das vielleicht sogar noch etwas eng gefasst ist.
Es kommen Rentner*innen, Schüler*innen, Kirchengemeinden und Gewerkschaften, Ärzt*innen und Künstler*innen, Vogelfreaks, Vereinsmeier, Hausfrauen und Jagdhornbläser, junge Union und radikale Linke. Der Betriebsrat der nahegelegenen Opel-Werke lässt solidarische Grüße an die Protestierenden ausrichten. Zeitweise tritt ein Bündnis von Lokalpolitikern der SPD, CDU, FDP und DKP gemeinsam gegen den Flughafenausbau in den Hungerstreik – dicht umringt von aufgescheuchter internationaler Presse. Ikonisch für das Hüttendorf werden auch die sogenannten Küchenbrigaden. Hausfrauen aus den anliegenden Dörfern organisieren eine zentrale Großküche im Dorf – nach den zehrenden Plena der basisdemokratischen Gruppen, nach Demos und Aktionen werden hier zu Hochzeiten Hunderte bekocht – in drei Schichten, oft rund um die Uhr. Dazu können Bewohner*innen des Hüttendorfs ihre Wäsche an zentralen Orten abgeben, auch Sturmhauben und Palitücher, und in den Haushalten rings um die Wälder waschen lassen.
Selbstverständlich gibt es aber auch Spannungen – etwa hinsichtlich der Frage, welche Formen von Protest vom Hüttendorf und der gesamten Bewegung ausgehen sollen. Zunehmend engagieren sich Aktivist*innen aus der autonomen und teils auch aus der antiimperialistischen Bewegung und stoßen mit ihrer militanten Grundhaltung auf bürgerliche, eher vom Geiste des zivilen Ungehorsams beseelte Auffassungen. Dennoch gibt es eine Phase, in der das Gemeinsame überwiegt, in der die Auseinandersetzungen innerhalb der Protestbewegung lebendig genug sind, um nicht an ihrer Diversität zu zerbrechen.
Auch in dieser Hinsicht ragt die Startbahn-West Bewegung aus der deutschen Nachkriegsgeschichte heraus. Was als Protest beginnt, zielt spätestens im Hüttendorf auch hinein in Sphären des Zusammenlebens, in die Organisation von Gesellschaft – wenn auch natürlich fragmentarisch und im kleinsten Mikrokosmos. Protest gegen etwas kippt in eine Praxis für die transformativen Anliegen der Neuen Sozialen Bewegungen. Noch lange wird von einer gelebten ›Protestkultur‹ die Rede sein.
Gleichsam, wie soll es anders sein, ist dieses ganze Hüttendorf, symbolisch wie physisch, längst ein Dorn im Auge der Macht. In einem Interview 1982 zeigt sich der hessische Ministerpräsident Holger Börner, sagen wir mal, als ganz besonders handfester Sozialdemokrat: »Ich bedauere, daß es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die Fresse zu hauen«[7], sagt er in Richtung militanter Startbahngegner*innen. Diese werden sich jedoch zu dem Einwand hingerissen fühlen, dass man das in einem hohen Staatsamt ja auch nicht selbst machen muss.
Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden sind stark von Einschüchterung und Gewalt geprägt. Dabei trifft es längst nicht nur die radikale Linke, auch bürgerliche Proteste werden mit bemerkenswerter Gewalt niedergeschlagen. Auch diese Erfahrung dürfte zum inneren Zusammenhalt der vielfältigen gesellschaftlichen Lager beigetragen haben. »Jeder war so lange gewaltfrei, bis er selbst was abgekriegt hat«[8], erinnert sich etwa eine der sicherlich nicht linksradikalen Frauen aus der Küchenbrigade. Und mit diesen Eindrücken ist sie nicht allein. Auch die Wiesbadener Friedensbewegung macht ihre Erfahrungen mit einer aggressiv auftretenden Staatsmacht, wenn auch nicht immer körperlicher Art.
1979 gelingt es vor allem kirchlichen Gruppen der US-amerikanischen Friedensbewegung, eine internationale Militärschau in Los Angeles durch ihren Protest zur Absage zu zwingen. Einige der Aussteller beschließen daraufhin, auf die MEDE (Military Electronics Defence Exposition) in Wiesbaden auszuweichen – eine sehr ähnliche Messe desselben Veranstalters. Die Aufwertung dieser Veranstaltung durch jenen Zulauf, aber auch der Erfolg des entschiedenen Protests in Los Angeles werden in der hessischen Friedensbewegung registriert. Gab es in den Jahren zuvor kaum organisierten Protest gegen die MEDE, wird sich das nun ändern. In einem Artikel in der Wechselwirkung, eine Zeitung, die sich als »Diskussionsforum für Naturwissenschaftler, Ingenieure und Techniker in ihren politischen Aktivitäten« versteht, erinnern sich zwei der Organisator*innen:
»Wir beschlossen, am ersten Tag der Ausstellung eine Demonstration zu veranstalten, zu der zahlreiche politische, kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen aufrufen wollten. Die Zeitungen waren voll von Schreckensmeldungen der Polizei über die zu erwartenden gewalttätigen Ausschreitungen. Darauf zogen einige große Gruppen wie Jusos und der DGB offiziell ihre Teilnahme zurück! So standen am Tag der Demo schließlich 2.500 Teilnehmer einem Polizeiaufgebot von 1.500 gegenüber. […]
Die Demonstration zeigte uns deutlich, daß unsere Angst vor der Zukunft kein Hirngespinst ist. Wir versuchten, gegen einen Überwachungsstaat und gegen Völkermord in der Dritten Welt zu protestieren. Schrecklich für uns war, erkennen zu müssen, daß die gesamte Öffentlichkeit aufgehetzt wurde, in uns die Gewalttäter zu sehen und keinesfalls in der bürgerkriegsähnlichen Situation in Wiesbaden und in der Waffenschau selbst. Während der Demonstration waren wir eingekesselt von einem riesigen Polizeiaufgebot […] Neuste Elektronik, wie sie auch auf der MEDE angeboten wurde, nutzte die politische Polizei, um Kundgebung und Demonstration zu überwachen und zu filmen. Uns erschien es in der Vorbereitung besonders wichtig, einen gewaltfreien Protest gegen die massiv auftretende Staatsgewalt zu artikulieren, damit erkennbar würde, von welcher Seite die Bedrohung ausgeht.«[9]
Überschrieben ist dieses Zwischenfazit mit den Worten: »Die Angst vor 1984 wächst«[10]. Und in so mancher Hinsicht passt der gemeinte Roman von George Orwell tatsächlich gut in unseren kleinen historischen Überblick. Noch 1945 reist Orwell als Kriegsreporter durch das besiegte Deutschland. Von 1946 bis 1948 widmet er sich dann seinem wohl berühmtesten Roman. Zeit seines Lebens wird er allerdings betonen, dass 1984 weniger von einer dystopischen Zukunft handelt, als vielmehr als Parodie auf die Zeit seiner Entstehung angelegt ist: Die Wahl des Titels unterstreicht diesen Gegenwartsbezug. Als Orwell sein Manuskript 1948 fertigstellt, vertauscht er als Zeitpunkt und Titel des Romans einfach die letzten beiden Ziffern der Jahreszahl: Aus 1948 wird 1984.
Krieg ist Frieden, lautet dabei eine der Parolen, die an dem von Orwell erdachten, totalitären Ministerium für Wahrheit prangen. Liest man die Stellungnahmen der ausstellenden Rüstungskonzerne auf der MEDE 1980, scheint diese Formulierung aber auch als Motto für diese Messe zu taugen. Die Proteste können nicht verhindern, dass die Messe weitgehend planmäßig stattfindet – als Ort für zukünftige Messen wählt der Veranstalter aber fortan andere Städte. Der Artikel in der Wechselwirkung gibt sich dahingehend kämpferisch. Hinsichtlich einer ähnlichen Ausstellung an einem anderen Ort heißt es schließlich: »Wir werden dabei sein, wenn dort der Widerstand wächst, gegen die Angst vor 1984, gegen die Angst vor technisch perfekten Tötungsmaschinen und gegen den Völkermord in den ärmsten Ländern der Welt.«[11]
Gegen Ende dieser hitzigen Protestwoche rund um die MEDE in Wiesbaden 1980 findet eine Fahrraddemo statt. Am Rande dieser Demo begegnet sich eine Gruppe junger Leute. Sie alle leben in Wiesbaden oder in der Nähe, einige kennen sich bereits, andere nicht. Was sie verbindet, ist die Politisierung an der Startbahn. Es lässt sich sicher nicht der eine Grund ausmachen, warum sich diese Gruppe findet, doch noch während der flüchtigen Begegnung nach jener Fahrraddemo beschließen sie, etwas in ihrem Leben anders zu gestalten – gemeinsam, die Motive und Erfahrungen des Protests in positive Alltagspraxis umzulenken. Was das konkret heißt, ist zunächst nicht so ganz klar: Selbstverwaltet und vor allem selbstbestimmter leben, darauf aber soll es hinauslaufen. Die Gruppe wird zahllose Treffen ins Leben rufen, die schlussendlich zu der Gründung des Café Klatsch führen werden.
In diesen sogenannten Sonntagsrunden, immer im Anschluss an die weiterhin stattfindenden Waldspaziergänge gegen die Startbahn-West, trifft man sich vor allem in WGs und diskutiert mögliche Formen eines anderen, freieren Miteinanders. Es sind sicher nicht die radikalsten Teile der Wiesbadener linken Szene, die sich hier zusammenfinden. Vielleicht liegt in dem Grundkonsens, sich explizit als undogmatisch zu begreifen, aber auch gerade die notwendige Breite, damit der Sprung von der Theorie in eine Praxis mit aller nötigen Bereitschaft zu Widersprüchen und Kompromissen tatsächlich gelingt.
In der stetig wachsenden Gruppe kristallisiert sich bald der geteilte Wunsch heraus, gleichsam zusammen leben und arbeiten zu wollen. Und selbstverständlich in beiden Sphären Dinge grundlegend anders zu gestalten, als es die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft vorsieht.
Es wird geträumt und gesponnen. Viele der Wunschprojekte, ein kollektives Kino oder eine selbstverwaltete Fahrradwerkstatt – vor allem aber die Herausforderungen, die Teilaspekte Arbeiten und Wohnen gleichermaßen anzugehen, stoßen auch auf nüchterne Realitäten: So richtig Geld hat in der Gruppe niemand. Hoffnungslos ist es nun auch nicht, aber nach und nach setzt sich ein zunächst recht pragmatisch scheinender Konsens durch: In einem der ersten erhaltenen Protokolle findet sich dazu die Formulierung: »Finanzen: wenig Geld – Klein anfangen.«[12] In der Praxis heißt das: Als ersten Schritt möchte die Gruppe einen selbstverwalteten Betrieb gründen, der dezidiert Geld abwirft, um dann, darauf aufbauend, jene Projekte mit geringerer kommerzieller Erfolgsaussicht zu realisieren – vor allem das Wohnprojekt. Protokolliert wird dahingehend: »Kneipe, Café, Disco + (Kino?) primäre Einnahmequelle«.[13] All das bedeutet allerdings mitnichten, dass dieses als Startschuss auserkorene Projekt keines von Herzen war.
Klaus, der seit der Begegnung am Rande der MEDE-Proteste dabei ist, erinnert sich:
»Es war, glaube ich, für uns alle GründerInnen eine recht wichtige und beeinflussende Zeit für unser Leben, egal ob es das kollektive Arbeiten, das Verlieben, die politische Visionen und Kämpfe, die Zugehörigkeit, die Kinder, den Mut oder sonst etwas betrifft. Also mein Gedächtnis bezüglich der ursprünglichen Idee ist lückenhaft. Wir waren erstmal eine große Gruppe und sehr von unserer gemeinsamen Zeit auf der Startbahn beeinflusst (wobei ich gar nicht zu allen GründerInnen auf der Startbahn Kontakt hatte), wir wollten unbedingt einen politischen und kulturellen und gastronomischen Ort in Wiesbaden aufmachen, hatten Kinder oder keine Kinder, alles war politisch, natürlich auch der Alltag, die ökologische und feministische Bewegung war sehr im Aufwind. Einige von uns kamen aus der Friedensbewegung, andere aus dem gleichzeitig gegründeten Arbeitskreis Umwelt (AKU). Wir hatten Kontakt zu anderen Kollektiven, wie Schmierdruck, Kolbenfresser, freie Gesundheitshilfe, Buchladen, Sirona usw. Doch wir selbst hatten von kollektiver Arbeit keine Ahnung, von Gastronomie auch nur sehr sehr wenige.«[14]
Weder der Elan der Gruppe, die bis dahin übrigens keinen konkreten Namen hat, noch ihr stetes Anwachsen wird dabei durch die einschneidenden Ereignisse gebrochen, die sich im Winter 1981 anbahnen. Das Hüttendorf nahe der Startbahn-Baustelle wird geräumt – und auf die Räumung folgt der Abriss. 150.000 Menschen demonstrieren daraufhin in Wiesbaden. Es ist bei Weitem die größte Demonstration in der Geschichte der hessischen Landeshauptstadt. 220.000 Unterschriften gegen das Großprojekt werden an die Entscheidungsträger übergeben. Die halten ein so gefordertes Volksbegehren allerdings für Unfug – und lehnen ab. Spätestens jetzt ist der Bau der Startbahn nicht mehr aufzuhalten.
Trotzdem, und auch in dieser Hinsicht sind die Proteste hier ein seltenes Phänomen, gehen die Sonntagspaziergänge noch Jahre weiter. Mobilisierung wie zu Hochzeiten wird die Bewegung nie wieder erreichen, doch im Sande verläuft sie sich keinesfalls. Aus den Motiven eines lebendigen Protests und der Erfahrung, dass dieser Protest in positive Formulierungen des gemeinsamen Lebens münden kann, können Strukturen erwachsen, die ihren ursprünglichen Anlass überdauern. Das Café Klatsch bzw. das Caféhaus Cumulus oder das Cafe Wildwuchs – diese drei Namen werden für das Projekt bald diskutiert – ist ein Beispiel für die Möglichkeit, dass aus der Angst vor 1984 eine Selbstermächtigung über das eigene Leben und die konkrete Aneignung der eigenen Umstände erwachsen kann. Nicht nur, sondern gerade im Mikrokosmos der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten.
Einen ersten Eindruck, wie das in der Praxis aussehen kann, lässt sich dem Protokoll eines Wochenendseminars von 1983 entnehmen. Gerade in der oft stichpunkthaften, stenografischen Form scheint durch die frühen Aufzeichnungen ab und zu beinahe etwas Poetisches hindurch, etwa wenn es an einer Stelle heißt: »Samstag: Frühstück, Ausarbeitung eines ›Gruppenvertrags‹, diskutieren der verschiedenen Möglichkeiten, Pause, Spaziergang, danach Kuchenbacken, Ausruhen, Spagettikochen, großes Essen, Besprechung der Zielvorstellungen, Gefühle, Schwierigkeiten«[15].
Take a look at my face
I am the future,
how do you like
what you see?
Alice Cooper
auf dem Soundtrack des Films The Class of 1984
Im Westen regt Orwells Roman 1984 Debatten über Datenschutz und Überwachung an. Im Osten Deutschlands steht auf den Besitz des Buches Haft. In einem Time Out im dritten Viertel des Super Bowls, dem teuersten Werbeplatz des Jahres, feiert ein Werbespot Premiere. Darin wird eine graue, gleichgeschaltete Masse von einem übergroßen Bildschirm ideologisch vereinnahmt. Ganz wie bei Orwell. Doch einer mutigen Hammerwerferin gelingt es, sich heroisch in Position zu bringen. Totalitäre Polizei eilt schwer bewaffnet herbei. Mit großer, letzter Kraft gelingt es der Frau in letzter Sekunde, ihren Hammer in den gigantischen Bildschirm zu werfen. Er explodiert. Ein weißes Licht erstrahlt auf die graue Masse, sie werden erleuchtet – und es wird ein Text eingeblendet. Die Firma Apple kündigt ihren ersten Macintosh an, und du wirst sehen, warum 1984 nicht so wird, wie 1984! lautet der Werbespruch. Nur Tage später tritt ein Herr Jobs, noch ohne Brille oder schwarzen Rollkragenpulli, vor seine künftigen Jünger. Mark Zuckerberg wird geboren, Michel Foucault stirbt.
Es ist das Jahr der Ratte in der Volksrepublik China, wo jeder fünfte Mensch der Erde lebt. Das Jahr der Frauen im Südafrika der Apartheid, wo schwarze und weiße Frauen nicht nebeneinander im Bus sitzen dürfen. In Lichtenstein stimmt mit 51,3 % nur eine knappe Mehrheit der wahlberechtigten Männer für die Einführung des Frauenwahlrechts. Männer von Herbert Grönemeyer stürmt die deutsche Hitparade, international geht Madonnas Like a Virgin durch die Decke. Der aktuelle James Bond ist Roger Moore, die sowjetische Nachrichtenagentur TASS bestätigt, dass in der DDR mit der Aufstellung von Nuklearraketen begonnen wurde. Während eines Mikrofontests verkündigt US-Präsident Reagan: Die Bombardierung Russlands beginne in fünf Minuten. Die sowjetischen Streitkräfte werden in Alarmbereitschaft versetzt. Reagan entschuldigt sich später für seinen Scherz – und wird noch im selben Jahr wiedergewählt. Im deutschen Bundestag ruft der grüne Abgeordnete Joschka Fischer dem Vizepräsidenten Stücklen zu: Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub.
Wort des Jahres in Westdeutschland: Umweltauto, gefolgt von Waldsterben und Saurer Regen. Die Firma Shell gibt eine interne Studie in Auftrag. Diese wird feststellen, dass das Verbrennen fossiler Brennstoffe »relativ schnelle und drastische Veränderungen«[1] des Klimas zur Folge sowie »bedeutende soziale, wirtschaftliche und politische Konsequenzen«[2] haben wird. Die Studie stellt weiter fest, dass Shell allein im Jahr 1984 für 4 % der weltweiten Emissionen von Klimagasen verantwortlich ist. Die Geschäftsführung beschließt, diese Erkenntnisse geheim zu halten, und ruft einen Millionenetat ins Leben, mit dem nun über Jahre Kampagnen unterstützt werden, die den Klimawandel leugnen. Zwei Nasen tanken super ist der zweiterfolgreichste deutsche Film des Jahres, nur übertroffen von Die unendliche Geschichte.
In Stuttgart Stammheim beginnt der Prozess gegen die RAF-Mitglieder Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. In einer Frankfurter Wohnung werden Helmut Pohl, Christa Eckes, Stefan Frey, Ingrid Jakobsmeier, Barbara Ernst und Ernst-Volker Staub auf einen Schlag verhaftet. Es ist das Ende der sogenannten zweiten Generation der RAF. In Wiesbaden entscheiden Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams, wohl in Folge einer eher harmlosen Autosache, ihren politischen Kampf aus der Illegalität heraus weiterzuführen.
In Kaiserslautern trifft sich derweil der vom Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz unter dem Decknamen Klaus Burkhay geführte V-Mann im Chemielabor der Universität zu einem Vier-Augen Gespräch mit seinem Kommilitonen Klaus Steinmetz. In einem etwa einstündigen Gespräch offenbart Burkhay gegenüber Steinmetz seine V-Mann-Tätigkeiten. Seit einiger Zeit kursieren Gerüchte in der Szene und Steinmetz hatte sich als Spitzeljäger ins Spiel gebracht: Die beiden Kläuse beschließen einen Plan. Hobbyfotograf Steinmetz soll sich mit einer Fotokamera auf die Lauer legen, wenn V-Mann Burkhay wieder mit den Verfassungsschützer*innen zusammentrifft. Vermutlich mit dem Ziel, die Fotos dann, mit Namen, in der linken Szene zu verbreiten, um Burkhays V-Mann-Tätigkeit als Spionage gegen den Feind zu deklarieren. Doch es kommt anders. Steinmetz schießt zwar einige Fotos, wird dann jedoch erwischt. Er kann fliehen, Burkhay wird in der Folge von Mainzer Verfassungsschützer*innen zur Rede gestellt, packt aus und wird als Quelle abgeschaltet. Auf die Warnung einer Freundin hin, sich nicht mit dem Verfassungsschutz einzulassen, erwidert Steinmetz: Er wolle lediglich zum Schein auf Angebote eingehen, um seinerseits an Informationen zu gelangen.
Zwei Tage nach dem Start des ersten Fluges von der Startbahn West demonstrieren 15.000 Menschen gegen die Eröffnung. In der Frankfurter Innenstadt kommt es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden – und doch ist es weder der Höhepunkt noch der Tiefpunkt der Bewegung. Jeden Sonntag finden weiterhin, trotz Inbetriebnahme der Startbahn, die sogenannten Spaziergänge statt. Und in den Sonntagsrunden gleich danach trifft sich weiterhin jene Wiesbadener Gruppe vom Rande der MEDE-Proteste.
Das Interesse an ihrem selbstverwalteten Projekt ist groß, die Gruppe wächst und ihre Vorstellungen nehmen Gestalt an. »Der Kaffeename steht fest: Wildwuchs«[3], heißt es in einem Protokoll. Na ja, nicht alles ist immer in Stein gemeißelt, aber die Vorstellungen und Ideen der Sonntagsrunde werden langsam greifbar. Längst wird Nützliches und weniger Nützliches in Kellern und Garagen zusammengetragen. Möbel, Baumaterial, Maschinen und Geräte, Tassen, Gläser, Gabeln, Schrauben, alles, was man halt so brauchen könnte. Auch innerhalb der Gruppe trennen sich Spreu und Weizen. Immer deutlicher zeigt sich, wer über solidarisches Interesse hinaus tatsächlich anpackt. Und so kommt es, dass bald auch ein geeigneter Ort für das selbstverwaltete Café-Projekt gefunden wird.
Ein kleiner, leerstehender Laden in der Dotzheimerstraße in Wiesbaden wird angemietet. Der Deal mit dem Vermieter: Die umfangreichen Renovierungsarbeiten übernimmt die Gruppe, die Materialkosten der Vermieter. Es wird ein Vorvertrag gemacht, der diesen Deal festhält, gleichsam aber auch vorsieht, zu einem späteren Zeitpunkt einen finalen Vertrag auszuarbeiten. Mit Hochdruck macht man sich an die Planung, doch zu einhundert Prozent zufrieden mit dem Mietobjekt sind längst nicht alle. Eher zufällig erfahren etwas später einige, dass womöglich auch ein anderes Lokal zu haben wäre.
Auf ein Bier trifft man sich also, um sich das mal anzuschauen, diese düstere Western-Kaschemme mit dem soliden Namen: Bierfestung Barbarossa. Und mag es auch ein reichlich skurriles, altbacken muffiges Eckkneipchen sein, für das, was unsere Sonntagsrunde vorhat, sind diese Räumlichkeiten eigentlich geeigneter als jene in der Dotzheimerstraße – vor allem größer, ruhiger gelegen, und renovieren muss man ja eh. Auf Nachfrage erfährt man schließlich, dass die Räume der Bierfestung in der Tat zu haben wären, quasi sofort und insgesamt sogar zu einer ähnlichen Miete wie der deutlich kleinere Laden in der Dotzheimerstraße.
Die Euphorie ist groß, nur ist der Vorvertrag mit jenem anderen Vermieter ja schon unterschrieben – und beinhaltete die Klausel, dass beide Seiten gleichsam von dem Inhalt zurücktreten müssen, um ihn ungültig zu machen. Viele fürchten, dass sie bei einer einseitigen Kündigung nicht ohne Weiteres aus der Verbindlichkeit entlassen werden, zumindest nicht umsonst.
Es wird also ein Treffen ausgemacht. Mit dem Vermieter in der Dotzheimerstraße steht ja ohnehin noch ein Gespräch über den letztendlichen Vertrag aus. Man habe sich nochmal Gedanken gemacht, wird kleinlaut eröffnet und ein aberwitziger Bauplan vorgestellt, der weit über das zuvor Besprochene hinausgeht. Zur Überraschung der Gesandten lenkt der Vermieter zähneknirschend ein. Und so werden weitere Visionen aufgetischt, die immer teurer und teurer werden. Der Eigentümer ist alles andere als begeistert, aber willig weiterhin hartnäckig ein.
Ach und, heißt es schließlich, man habe außerdem bemerkt, dass man die handwerklichen Fähigkeiten in der Gruppe vielleicht doch etwas überschätzt habe, und fragt, ob der Vermieter nicht für eine ganze Reihe der anfallenden Arbeiten doch besser Handwerker*innen kommen lassen könne. Geld habe man dafür leider auch eher wenig. Ob der Vermieter da nicht auch einspringen könne, frage man sich – und endlich, von wütenden Tiraden begleitet, zerreißt der Vermieter den Vertrag noch vor ihren Augen. Das dürfte als beidseitiger Rücktritt von dem Vertrag zählen. Es ist nicht eigentlich ein Triumph, eher fühlt man sich schäbig, aber das Ziel ist erreicht:
Ein neuer Vertrag für das alte Barbarossa kann verhandelt werden. Dessen Vermieter gilt allerdings weithin als Hai – seine Immobilienfirma hatte gerade eine dubiose Insolvenz hingelegt und so häufen sich Warnungen davor, mit so einem Verträge zu machen. Die zwei, die sich schließlich persönlich mit jenem Herren treffen, tragen an diesem Tag zufällig orangene oder ins rötliche gehende Kleidung. Erst sehr viel später werden sie erfahren, dass der Eigentümer des alten Barbarossa sie dadurch für Sannyasins hält – Anhänger*innen einer in diesen Jahren in Wiesbaden sehr präsenten Sekte um den Guru Osho Bhagwan, die stets orange oder rote Kleidung tragen – und für die der Eigentümer offenbar Sympathien hegt. Es ist entsprechend ein wohlwollendes, zugewandtes Treffen, aus dem schließlich der gewünschte Mietvertrag entstehen wird. Gleichsam erst einige Zeit später wird auch der Vermieter seinerseits bemerken, dass er die jungen Leute und ihre ungewöhnlichen Vorhaben falsch eingeordnet hat. Denn wie viel die Gründungsgruppe des Café Klatsch mit den Sannyasins gemein hat, mag eine Anekdote veranschaulichen.
Tatsächlich betreiben die Anhänger*innen Oshos Anfang der 80er-Jahre einen Club in der heutigen Wartburg in Wiesbaden. Dort feiern sie, entsprechend ihres Kults, in orange-roten Roben sowie je einem gerahmten und an einer Kette um den Hals getragenen Bildes, das ihren Guru zeigt. Eines Abends tauchen in diesem Club freundlich interessierte Klatsch-Kollektivist*innen auf. Zur allgemeinen Verunsicherung tragen die allerdings anstelle der orange-roten, vollkommen grüne Kleidung – und um den Hals, an einer Kette, ein Bildnis von Kermit, dem Frosch.
Doch auch wenn sie seltsame Gurus haben, diese Störenfriede: Der Mietvertrag im ehemaligen Barbarossa ist unterschrieben und umgehend wird mit der umfangreichen Renovierung, im Grunde einer Kernsanierung, begonnen – handwerkliche Fähigkeiten und Geld gibt es schließlich genug.
In einem Kraftakt wird die düstere Bierfestung umgestaltet und von Grund auf neu gemacht. Dabei entdeckt man nicht nur, dass sich hinter den schmierigen Sperrholzplatten alte, verzierte Vertäfelungen verbergen, die nun in kleinteiligster Handarbeit restauriert werden. Als die mit schwarzen Balken abgehängte Decke an der Reihe ist, offenbart sich darüber außerdem ein durchgängiger Jugendstil-Stuck, der zwar tief schwarz angestrichen und von Schichten vieler Jahre Nikotin völlig verdreckt, aber im Grunde gut erhalten ist. Und so entledigt man sich nun nicht nur der Balken, auch der Stuck wird freigelegt, gesäubert und immer und immer wieder weiß gestrichen. Bis es deckt.
Der Charakter des Raumes ändert sich grundlegend. Weitläufiger wird er, heller, freundlicher – und irgendwie auch zeitloser. Zumindest wird sich in der grundlegenden Aufteilung dieses Raums über die vier Jahrzehnte dieser Geschichte kaum etwas verändern. An vielen Schrauben wird gedreht, Betonmischern gemischt, Werkbänken gewerkelt und Baustellen geschafft. Eine Theke wird gebaut, in das Lager des Barbarossa eine Küche, in die alte Küche ein Kinderzimmer, dazwischen Toiletten, in den Keller ein neues Lager und natürlich für all dies die nötige Elektrik, Wasserleitungen, Kühlanlagen installiert und so weiter und so fort.
Die Vorstellungen und Ideen in Wirklichkeiten zu verwandeln – noch dazu in alltägliche, beschränkt sich dabei natürlich nicht auf physische Räume. Das alles ist ja kein Selbstzweck. Es soll ein Ort für eine andere Form des Arbeitens entstehen, einen anderen menschlichen Umgang gar. Der Weg vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit führt dabei nicht selten durchs Tal der Kompromisse.
Im vergangenen Kapitel haben wir gesehen, dass das Café Klatsch aus einer positiven Annahme entsteht. Vor dem Hintergrund von konkreten Erfahrungen in den Neuen Sozialen Bewegungen sollen deren Motive in eine Alltagspraxis münden. In der wissenschaftlichen Literatur liest sich das so: »Alternativbetriebe sind keine ›Kinder der Not‹, sondern Projekte von sozialen Bewegungsmilieus, d.h. politisch-inhaltliche Motive spielen eine zentrale Rolle.«[4] Für einen ersten Überblick lassen sich diese politisch-inhaltlichen Motive der Selbstverwaltung vielleicht so beschreiben: Ganz grundsätzlich ist da eine Kritik an den Bedingungen von kapitalistischer Lohnarbeit im Allgemeinen. Die Begriffe dieser Kritik daran kennen wir schon von Theo Pinkus, wenn wir einmal, ganz klassisch, bei Karl Marx beginnen – und lesen: »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.«[5]
Der Politikwissenschaftler und Soziologe Dario Azzelini formuliert darüber hinaus:
»Die menschliche Fähigkeit zu erschaffen, ist eine kollektive soziale Fähigkeit und kein individuelles Geschenk. Sie ist von Wissen und Fertigkeiten abhängig, die von anderen in der Vergangenheit entwickelt wurden; von den sozial organisierten Systemen des Wissenserhalts für spätere Generationen; von der Kooperation mit anderen Menschen; und der sozialen Reproduktion von Individuen. Arbeitskraft als individuelle Ware zu behandeln, die man auf dem Markt austauschen kann, ist ein Mechanismus zur Aneignung kollektiv und sozial produzierter Werte durch private Einrichtungen.«[6]
Für die Selbstverwaltung heißt das zum einen, den Umstand, dass Arbeit immer auch kollektiv und sozial ist, in ein Selbstverständnis aufzunehmen. Vor allem heißt es aber auch, dass alle in diesen Prozessen Beteiligten gleichermaßen an den Erträgen der Arbeit teilhaben sollen, zumindest als Zielvorgabe. Man möchte sich nicht von unbegründeten privaten Interessen ausbeuten lassen, sondern die Arbeit zugunsten jener kollektiven und sozialen Prozesse organisieren, aus denen sie ohnehin besteht. Anstelle individueller Arbeitskraft soll sozialen Bedürfnissen eine zentrale Rolle zukommen – vor allem jenen, die den Menschen als Ganzes begreifen und nicht als reduzierte Rolle in einem Arbeitszusammenhang. Wenn die Arbeit schon so einen großen Teil des Lebens einnehmen muss, könnte man sagen, dann sollte doch wenigsten das Leben auch ein großer Teil der Arbeit werden. Das ist das eine.
Damit das alles gelingt, soll außerdem gelten: Wer dem Betrieb Arbeitskraft leiht, soll gleichberechtigt über die Organisation dieser Arbeit verfügen dürfen – und zwar im Ganzen. Weder soll eine hohe Spezialisierung zu einer Struktur führen, die eine Position des Überblickens erfordert und so zu Hierarchie führt, noch soll eine Mehrheit die Bedürfnisse und Fähigkeiten einer Minderheit beschneiden. Denn wenngleich demokratische Prinzipien Teile der Gesellschaft bestimmen, ist die Organisation konventioneller Betriebe in wesentlichen Teilen anders gestrickt. Entscheidungsprozesse sind hier maßgeblich bestimmt von Eigentumsverhältnissen, nicht von gleichem Mitbestimmungsrecht aller Beteiligten. Es ist ein wesentlicher Anspruch der Selbstverwaltung, die Sphäre der Arbeit zu demokratisieren. Das organisatorische Prinzip der Wahl ist in der Regel die Basisdemokratie. Entscheidungen sollen nur mit der Zustimmung oder zumindest mit der Akzeptanz aller Beteiligten getroffen werden, wobei Beteiligte und Betroffene identisch sind.