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»Gefühle machen zu keiner Zeit Urlaub.« Paul ist durch eine Angsterkrankung gezwungen, gegen seine inneren Dämonen anzukämpfen. Sein Sohn Tim und seine Freundin Mila geben ihm den Halt, den er so dringend benötigt. Als ein ungeplanter Mitbewohner in die frische Beziehung von Mila und Paul gerät, wird diese auf eine harte Probe gestellt. Nach einem gemeinsamen Urlaub zu dritt ändert sich das Leben aller Beteiligten in einem entscheidenden Augenblick, der es in sich hat. Eine Geschichte über die Liebe, das Leben und die Vergangenheit. Ein Liebesroman, wie es ihn kein zweites Mal gibt. Im 2. Band der »Mila und Paul«-Reihe glänzt der Schriftsteller Tino Dietrich trotz der durchaus ernsten Themen des Lebens wieder einmal mit einem lockeren und angenehm zu lesenden Schreibstil und seinem Sinn für Humor. Die Geschichten sind so ehrlich, humorvoll und lebensnah, wie nur der Schriftsteller selbst sie schreiben kann.
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Mila und Paul
Sonne im Herzen
Band 2
von Tino Dietrich
Über den Autor:
Tino Dietrich, geboren 1976 in Norddeutschland, absolvierte ein Literaturstudium in Hamburg. Er hat viele Jahre als Inhaber von erfolgreichen Betrieben in der freien Wirtschaft gearbeitet. Seit 2012 arbeitet er als freiberuflicher Schriftsteller, zertifizierter Texter im Online-Marketing und als verlagsunabhängiger Buchautor. Tino Dietrich bildet sich fortan weiter und ist begeistert vom Selfpublishing. 2014 wurde u. a. seine Kurzgeschichte „Im letzten Winter“ bei einem Schreibwettbewerb prämiert.
Mit seinem Romandebüt „Mila und Paul: Sonne im Norden“ fand der Autor aus dem Norden seinen Platz in einer stetig wachsenden Lesergemeinschaft.
Mila und Paul
Sonne im Herzen
Band 2
von Tino Dietrich
www.tinodietrich.de
1. Auflage 2024
© 2023 Tino Dietrich - Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat/Korrektorat: Laura Stadler
Cover: canva.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, auch auszugsweise, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Erich-Kästner-Str. 2, 21629 Neu Wulmstorf, Deutschland. Dieses Werk ist pure Fiktion.
www.tinodietrich.de
Für mich!
Kapitel 1
Bei meinen Eltern anzurufen und uns pflichtbewusst aus dem Urlaub zurückzumelden, war mein Plan gewesen. Stattdessen packten wir alle Mitbringsel ein und fuhren spontan mit dem Auto zu ihnen. Mila belastete mein Gewissen damit, dass wir es uns mit einem Besuch leichter machten. Ungeachtet dessen gab es frischen Matjes, der in kurzer Zeit verderben könnte. Durch einen Anruf hätte ich den Besuch nur unnötig hinausgezögert.
Ihr Blick auf die alltäglichen Situationen waren aus einer anderen Perspektive, einer, die mich häufig aus meiner Komfortzone holte. Ich sagte häufig, dass ich keine Lust hätte, oder suchte mir manchmal irgendwelche Schutzbehauptungen, wusste aber in Wirklichkeit, dass sie richtig lag.
In dem Moment, als wir in die Straße einbogen, in der meine Eltern wohnten, bekam ich Herzrasen und zittrig-schwitzige Hände. Meine Füße fühlten sich wie Eisklumpen und kraftlos an. War ja klar. Kaum bin ich zurück, bekomme ich schon die erste Panikattacke, dachte ich.
Beim Vorbeifahren an der elterlichen Wohnung konnte ich die Köpfe meiner Eltern hinter der Fensterscheibe erkennen. Sie saßen. Der kleine Esstisch stand natürlich nur zufällig genau dort, wo man jeden Nachbarn kommen und gehen sah oder die Bushaltestelle gegenüber gut im Blick hatte. Alles andere wäre ja eine Unterstellung. Dieser Gedanke zog mich spürbar zurück aus der fiesen Angstspirale. Genau rechtzeitig. Denn Mila entdeckte eine Parklücke, bremste abrupt ab und löste damit ein Hupkonzert der anderen Autofahrer aus. Irgendwer brüllte seinen Frust aus voller Kehle heraus, was Mila und mich zum gemeinsamen Lachen animierte. Ein lustiger Klang, der sich wie ein neunjähriger Death-Metal-Sänger anhörte.
Nach Milas gekonntem Einparkmanöver in der viel zu kleinen Parklücke stiegen wir aus. Ich öffnete den Kofferraum, holte die beiden Taschen heraus und schlug die Heckklappe mit Schwung zu. »Dann wollen wir mal«, sagte ich, während ich versuchte, über den Grünstreifen zu springen, ohne dabei in einen Hundehaufen zu treten. »Die reinste Minenwiese«, beschrieb Mila mir die vollgekackte Verschönerung mit ihrer zurückhaltenden Art. »Alles vollgeschissen«, fügte sie abschließend hinzu, womit sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. »Dabei gilt dieser Stadtteil in Hamburg als besonders schön«, setzte ich dem Ganzen noch einen drauf. »Winterhude ist auch nicht mehr das, was es mal war.« Ich bestätigte mir mit einem Nicken selbst das zuvor Gesagte und lauschte in mich hinein. Mit großer Freude stellte ich fest, dass sich mein Innerstes wieder beruhigt hatte. Doch ich wusste, dass ich etwas gegen diese ständigen Angstschübe unternehmen musste. Zum Glück war ich im Urlaub weitestgehend davon verschont geblieben. Doch jetzt stand erstmal der Pflichtbesuch auf der immateriellen Tagesordnung geschrieben, den wir mit dem Eintreten in das Sichtfeld meiner Eltern einläuteten. »Auf geht’s«, sagte ich und mein Gesicht formte sich wie von selbst in ein lächelndes.
Der Türöffner summte nur wenige Sekunden später, um uns Einlass zu gewähren. Durch den vorbeifahrenden Lastwagen nahm ich ihn erst wahr, als der laut brummende Motor sich von uns entfernte. Den Dieselgeruch sog ich in dem Moment auf, als ich über die Türschwelle des Mehrfamilienhauses trat. Der Geruch erinnerte mich sofort an frühere Zeiten, als ich noch ein Kind von etwa sechs bis acht Jahren gewesen war. Die bleihaltigen Autoabgase lagen damals alle schwer in der Luft. Im Sommer konnte man das besonders gut wahrnehmen, da die Fenster im Familienauto wegen der Wärme heruntergekurbelt waren, weil die Lüftung keine Abkühlung schaffte und es dadurch ziemlich schnell stickig im Inneren werden konnte. Der Fahrtwind sorgte dann für etwas Erfrischung, wenn man nicht gerade im Stau gestanden hatte. Es machte für mich ebenfalls keinen Unterschied, als der Kraftstoff bleifrei wurde.
»Ach, das ist ja eine Überraschung«, sagte meine Mutter. »Ich dachte, ich guck nicht richtig.« Die Freude über den spontanen Besuch war ihr deutlich anzusehen. Wir gingen direkt durch den schmalen Flur, in das Wohnzimmer, wo auch mein Vater war. Am Tisch vor dem Fenster natürlich. Nebenbei lief der Fernseher und zeigte Tiere in der Savanne während der Jagd. »Na, Papa«, sagte ich, was er ebenso knapp erwiderte.
»Ich setz schnell einen Kaffee auf.« Kaum ausgesprochen eilte meine Mutter bereits in die Küche. Sie wirkte nervös. »Mach alles langsam, bitte«, rief ich hinterher. Im selben Moment folgte Mila meiner Mutter in die Küche und ich setzte mich auf die weinrote Ledercouch, die ich schon immer als gemütlich und modern empfand. Während meine Freundin mit meiner Mutter in der Küche über Gott und die Welt sprach, beobachtete ich meinen Vater dabei, wie er konzentriert Lottozahlen ankreuzte. Mittlerweile ein Hobby für ihn, wie mir bei fast jedem Gespräch erzählt wurde. Seine Haare gingen ihm allmählich aus, was mir die größer werdende Halbglatze verriet, und er war dazu weißhaarig geworden. Auch sein Gesicht alterte in den letzten Monaten sichtbar. Obwohl ich recht häufig zu Besuch war, fiel es mir besonders in diesem Moment auf. Auch meiner Mutter sah man ihr Rentenalter mittlerweile an. Bei unserem Kaffeekränzchen hatte ich genug Zeit, um mir die Gesichter meiner Eltern genauer anzusehen. Ich fühlte Mitleid in mir aufsteigen. Und dieses Gefühl stimmte mich traurig.
»Ich freu mich schon auf den Matjes heute Abend«, sagte meine Mutter und erlangte damit sofort meine Aufmerksamkeit.
»Der ist saulecker«, konnte ich mit ruhigem Gewissen behaupten.
»O ja«, fügte Mila hinzu.
»Habt ihr den mitgebracht?«, fragte mein Vater und schaute in die Runde.
»Ja, durchgehend in Kühlschrank und der Kühltasche gekühlt. Gestern fangfrisch gekauft, soweit wir wissen«, antwortete Mila.
»Da bin ich dann mal gespannt. Was gibt’s dazu?« Er sah meine Mutter an.
»Du wieder. Ich kann Bratkartoffeln mit Speck dazu braten, wenn du möchtest.«
»O ja. Richtig krosse aber«, sagte er und rieb sich seinen unübersehbaren Bauch, der dem einer hochschwangeren Frau glich. Diesen optischen Männermakel habe ich leider geerbt. Schlimmer fand ich aber den Männerbusen. Dafür sind die Beine und der Hintern bisher schlank geblieben, was hoffentlich auch so bleibt. Schon oft wurde meines Vaters Wampe mit einem Bierbauch betitelt, was aber grundsätzlich nicht zutrifft. Er trinkt kein Alkohol, isst aber gerne und viel. Es gab Tage, da rief er nur an, um mir das neueste Rezept anzukündigen, welches er mir einlaminiert hatte, um es mir beim nächsten Besuch mitzugeben. Meistens geriet es aber in Vergessenheit, bis er die auf eine ganze Sammlung angewachsenen Rezeptstapel entdeckte und sie mir alle bei nächster Gelegenheit sortiert übergab. Doch zum Glück nicht bei unserem Überraschungsbesuch, obwohl ich mich doch irgendwie immer sehr darüber freute. Vor allem, weil er sich damit immer so viel Mühe gab. Ich habe auch schon Vieles davon nachgekocht. Aber ich habe es niemals so lecker kochen können, wie mein Vater es kann. Ich dachte schon häufig, dass er Koch werden sollen hätte. Besonders die asiatische und persische Küche lag ihm im Blut. Eine Probierportion, die er mir oft anbot, war im Grunde eine komplette Mahlzeit. Danach war ich einfach nur noch satt.
»Wir bleiben nicht lange«, sagte ich, nachdem eine unbehagliche Schweigeminute stattfand, für die es nur den Grund des mangelnden Gesprächsstoffs gab. »Wir sind total kaputt und müssen noch den Rest auspacken und die Wäsche machen.«
Es klingelte an der Wohnungstür und meine Mutter sprang auf. »Das wird Tim sein«, rief ich hinterher und fügte hinzu, »ich habe mit ihm während der Fahrt geschrieben«. Tim kam freudestrahlend herein und wir begrüßten uns mit einem in die Luft winken, wie wir es immer taten und ohne anschließendes Küsschen, seitdem die Pubertät ihn im Griff hatte.
»Und, wie war’s?«, wollte Tim wissen und steckte sich nebenbei einen Zwanzig-Euro-Schein in seine Hosentasche, den er von Oma oder Opa zugesteckt bekommen haben musste, als keine Menschenseele hinsah. Oder schon beim Hereinkommen. Das passt perfekt zu dem Verhaltensmuster von Tims Oma. Das machte schon meine Oma so. Liegt also in der Familie, wie man so schön sagt.
»Geil. Einfach nur geil. Leckeres Essen, überall Fischbrötchen, toller Strand, der übrigens wirklich lang ist, und überhaupt, ist die ganze Atmosphäre dort viel entspannter. Und die Luft, die ist einfach nur …«
»Ist gut Papa, ich hab’s kapiert«, unterbrach er mich in meiner Darlegung, die nur auf das Wesentliche beschränkt gewesen war.
»Hach, es ist einfach nur schön dort. Am liebsten würde ich direkt wieder nach Niendorf fahren. Die Ostsee ist einer meiner Lieblingsorte«, erklärte ich, nicht ausgeschlossen, dass es nicht das erste Mal gewesen war.
»Das ist jetzt allen hier klar, oder?« Tim grinste und suchte nach Bestätigung bei den Anwesenden, die er von allen bekam.
»Die Ostsee ist wirklich schön«, sagte mein Vater. »Als du noch der verfressene kleine Paul warst, waren wir oft am Timmendorfer Strand oder auch Scharbeutz. Und wenn es zu voll gewesen ist, sind wir einfach so lange weitergefahren, bis wir irgendwo einen Platz gefunden haben.«
»Ja, das war immer toll«, bestätigte meine Mutter.
»Ich wollte immer mit Tim dahin, hab’ es aber leider nie geschafft«, sagte ich zu meiner Entschuldigung. »Aber das holen wir nächstes Jahr definitiv nach, oder?«
»Meinst du mich?« Tim wirkte überrascht, als ich meine Frage stellte.
»Klar, wen denn sonst.«
»Da lassen wir es uns dann so richtig gut gehen.« Erst, als Mila das sagte, löste es bei Tim Begeisterung aus, was durch sein breites Grinsen erst so richtig deutlich wurde. »Erzähl doch mal, was du geträumt hast«, forderte sie mich auf.
»Warum nicht«, willigte ich ein und fing sofort an, zu erzählen. »An einem der letzten Tage im Urlaub waren wir auf einer Liege an der Strandpromenade eingeschlafen, was wohl mit am schönen Wetter und dem Wellenrauschen gelegen haben muss. Jedenfalls träumte ich davon, dass wir mit Tim in einem Eiscafé saßen, wo es übrigens leckeres Eis gibt, und er zufrieden einen riesigen Eisbecher löffelte. Wir machten Fotos, zogen Grimassen, tranken Kakao und Kaffee. Mila hatte auch ein Eis und ich ein Stück Kuchen. Später saßen wir in einem Restaurant und Tim trank ein Alsterwasser zu seinem Putensteak mit Pommes. Dann waren wir plötzlich am Strand, hatten einen großen Strandkorb und haben in der Ostsee gebadet und getobt. Dann waren wir noch Pizza essen und den Rest weiß ich gerade nicht mehr.«
»Gibt es das alles wirklich da?«, wollte Tim wissen.
»Ja, alles«, antwortete Mila und streichelte mir über die Wange.
»Pass mal lieber auf, dass du nicht irgendwann platzt«, sagte mein Vater unerwartet und spielte mit einem Augenzwinkern auf meine Figur an.
»Musst du gerade sagen«, konterte meine Mutter, noch bevor ich reagieren konnte. Alle lachten darüber, wie mein Vater in scherzhafter Manier einen Spruch vortragen wollte, der aber gewaltig nach hinten losging. Seine Reaktion war die eines trotzigen Kindes. Mit Schmollmund und verschränkten Armen.
»Jedenfalls freuen wir uns schon jetzt tierisch auf den Urlaub«, sagte ich abschließend und erlöste damit meinen Vater aus dieser Situation. »Auch wenn wir erst im nächsten Jahr fahren können. O man, mir kribbelt immer der Magen, wenn ich an den Strand und so weiter denke.« Ich sah schon in den Augen meines Vaters, dass er unbedingt etwas loswerden wollte. Dieses schelmische Grinsen in den Augen und ein zuckender Mundwinkel waren ein eindeutiger Indiz dafür.
»Vielleicht musst du auch nur furzen«, sagte er, was diesmal sofort für einen Lacher bei allen sorgte.
»Du bist unmöglich!« Meine Mutter lachte zwar auch über ihren Mann, wollte aber den Schein des guten Benehmens wahren, was meinen Vater nur noch mehr zum Lachen animierte. Sein Kopf war schon knallrot und er bebte regelrecht, während er mit einer Hand seinen Bauch festhielt. Die andere Hand wedelte in der Luft, als wollte er einen Schwarm Fliegen loswerden. Das machte er schon immer, wenn er einen Lachkrampf hatte. Sogar wenn er der Einzige war, der über seinen Spruch lachen musste und ihn alle nur entsetzt ansahen. Das waren immer solche Momente, auf die ich stolz war, dieser Familie anzugehören. Ich mochte diese lockere Stimmung schon immer gern. Da gab es wenigstens keine ernstgemeinten Vorhaltungen, lauten Streit oder sowas in der Art.
Ich genoss den Anblick unserer kleinen Runde. Es fehlten nur noch meine beiden älteren Geschwister. Die kamen allerdings ziemlich selten zu Besuch. Meistens nur zu den Geburtstagen und an Weihnachten, seltener zwischendurch, wenn ich nicht anwesend war. Mein Bruder war eine eigenartige Mutation eines Workaholics und meine Schwester war ständig unterwegs, mit ihren Freunden oder einfach nur shoppen. Aber so ist das eben, wenn jeder sein eigenes Leben zu bewerkstelligen hat. Vor allem mit eigener Familie. Ich bin damals oft mit meiner Mutter bei meiner Oma zu Besuch gewesen, die – was ich als kleiner Spross als wahnsinnig aufregend empfunden und nicht wirklich begriffen hatte –, gleichzeitig auch ihre Mutter gewesen ist. Erst etwas später schnallte ich das Prinzip der Ahnen. Oma war halt Oma. Der Rest war nur beiläufiges Material für mein Gehirn, das ich zwar hörte, aber nicht bewusst in meinem Gedächtnis abspeicherte. Viel wichtiger war mir, dass ich diese Oma gern hatte. Nicht nur weil ich immer Geld von ihr zugesteckt bekam, sondern weil sie mich so akzeptierte, wie ich war: Schüchtern und verfressen!
Mit meinen Segelohren und dem Entenarsch hatte ich so meine Probleme. Wenn ich mit anderen Kindern gespielt oder in die Schule gemusst hatte, war ich ständig gehänselt worden, was man heute als Mobbing bezeichnen und die schuldigen Kinder von der Schule beurlauben würde. Damit hatte ich jedoch größtenteils alleine klarkommen müssen. Meine Oma hatte gesagt, ich sollte denen mal ordentlich eine auf die Fresse hauen. Gesagt, getan. Es wirkte nicht bei jedem, wurde danach aber erträglicher für mich. Oma sagte jedem, was sie dachte, und beschützte mich, soweit sie es konnte. Ich war sozusagen in ihrer Obhut. Als sie später starb, brach für mich eine Welt zusammen. Ich mache mir noch immer Vorwürfe, weil ich sie noch besuchen wollte, als sie im Krankenhaus lag. Ich tat es aber aus meinem großen Interesse an den Mädchen aus meinem Umfeld nicht. Ich hoffe, sie kann mir das verzeihen.
Die Mutter meines Vaters war weniger Oma für mich, was wohl an einer gewissen Distanz zwischen uns gelegen haben muss, obwohl sie auch in Hamburg wohnte. Sie war megaselten zu Besuch und wir noch seltener bei ihr. Am Muttertag fuhr ich mit meinen Vater jedes Jahr mit dem roten Lada zu ihr. Er brachte ihr einen Blumenstrauß und ich wartete währenddessen im Auto. Kaum zehn Minuten später waren wir schon wieder auf dem Rückweg. Als sie später starb, war es für meinen Vater sehr hart, obwohl er es vor uns verbergen wollte. Man merkte ihm die Trauer an. Logisch, sie war auch seine Mutter gewesen, auch wenn die Mutter-Kind-Beziehung nicht die Beste gewesen ist und er als Kind geschlagen wurde. Ich fühlte zwar mit ihm und empfand Beileid, doch so richtig getrauert habe ich nicht um sie. Damals habe ich die Unterschiede nicht so sehr wahrgenommen und hätte sie wahrscheinlich auch nicht verstanden. Wie meine Geschwister das alles verarbeitet haben, weiß ich nicht. Über echte Gefühle wurde in unserer Familie weitestgehend nicht geredet. Das wurde vielmehr verarbeitet, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Es ging in erster Linie immer darum, zu funktionieren. Aufstehen, waschen, anziehen, arbeiten, essen, schlafen und wieder von vorn. Egal, wie man sich gefühlt hat. Trotzdem war ich oft krank und setzte mich durch, zu Hause zu bleiben. Dass meine Körpertemperatur teilweise die Vierziggradmarke überschritten hatte, war der entscheidende Punkt. Nebenbei bemerkt, habe ich es nicht ausstehen können, diese riesigen fiebersenkenden Zäpfchen in meinen zarten Hintern gestopft zu bekommen, von wem auch immer!
Ich schaute zu Mila und sie zwinkerte mir zu, was ich als Signal deutete, dass wir langsam aufbrechen sollten. Tim wollte direkt mit uns mitkommen, um ein paar Tage mit uns zusammen zu verbringen.
Unser Aufbruch kam mir seit dem Herzinfarkt meines Vaters vor ein paar Jahren gelegen. Auch ein Grund, warum ich es nicht mehr so lange bei ihnen aushalten konnte, obwohl ich es wollte. Den eigenen Vater zu reanimieren, bis der Rettungsdienst endlich eintrag, war eine traumatische Erfahrung für mich gewesen. Darunter leide ich noch immer sehr.
Noch während wir uns verabschiedeten, bekam ich einen dicken Kloß im Hals und musste einen Heulkrampf unterdrücken. Das hielt so lange an, bis wir ein paar Straßen weiter in meiner Wohnung waren. Es fühlte sich jedes Mal wie der letzte Abschied an.
Am Abend klingelte das Telefon. Meine Eltern.
»Ja, ich will auch nicht weiter stören«, sagte meine Mutter sofort, nachdem ich ein kurzes Hallo in den Hörer sprach.
»Na, was gibt’s denn?«, hakte ich nach.
»Den Matjes haben wir eben schon verputzt. Dein Vater hat den in sich reingeschaufelt. Ich hatte mir auch zwei Stücke genommen, dafür mehr Bratkartoffeln aufgefüllt.«
»Den ganzen Matjes? Alles aufgegessen?«
»Ja, wieso? Der ist so lecker, da kann man nicht mit aufhören.«
»Ist euch nicht schlecht von so viel Matjes?«, wollte ich wissen.
»Nö, wieso? Matjessalat essen wir ja auch jeder so eine große Packung vom Fischheini, wenn wir uns den mal gönnen.«
»Ich finde den auch lecker. Aber so viel kann ich dann auch nicht auf einmal davon essen.«
»Ja, stimmt. Da warst du als Kind schon immer so empfindlich mit.«
»Jetzt, wo du das erwähnst, fällt es mir wieder ein. Aber nur bei Fisch oder bei ganz fettigem Essen hab’ ich das.«
»Na, ist ja auch egal. Ich wollte das nur kurz erzählen. Papa sitzt jetzt im Sessel und streichelt sich seine Wampe.«
»Lass mich raten. Er guckt zufrieden und grinst leicht?«
»Ja, kennst ihn doch. Wenn es ums Fressen geht, ist er immer der Erste.«
»Jo, das stimmt. Na gut, Mama, dann ruht euch mal aus und entspannt noch ’ne Runde.«
»Ja, grüß nochmal alle schön von Papa und mir.«
»Mach’ ich. Wir schnacken wieder. Bis dann, tschüss.«
»Ja, tschüss«, ertönte es aus dem Hintergrund. Es war mein Vater. Natürlich wollte er auch noch zu Wort kommen.
»Hast gehört?«, fragte mich meine Mutter.
»Ja, klar. Ich leg’ jetzt auf. Tschüss Mama, tschüss Papa.« Ich wartete trotzdem ab.
»Tschüss … ich hatte das Gefühl, das er nicht mit mir …« hörte ich sie noch sagen. Um keine unangenehmen Sätze zu hören, die man nicht hören möchte, beendete ich das Telefonat mit der roten Taste. Ich widmete mich nun wieder meinen zwei Liebsten und richtete pflichtbewusst die Grüße meiner Eltern aus.
Kapitel 2
Es klingelte an der Tür. Ich zuckte zusammen. Die Türklingel meiner Wohnung gab keinen liebevollen Ton von sich, mit dem sie jeden Besucher zaghaft ankündigte, nein. Sie hatte diese bescheuerte Eigenschaft, elektrisch zu knattern und schließlich wie ein krächzender Feueralarm einer US-amerikanischen Highschoolserie zu enden – nervtötend und schrill. Ein durchdringender Ton, der sich markerschütternd durch den Gehörgang zwängt. Besonders, wenn man fast daneben steht.
Da ich sowieso mit Herzrasen an der Wohnungstür stand, öffnete ich diese und drückte gleichzeitig auf den Türöffner für die Haustür. Es eilte ein bärtiger Mann mit einem Turban auf dem Kopf herein. In der Hand hielte er eine durchsichtige Plastiktüte, wie es sie in den Obst- und Gemüseabteilungen in Supermärkten gab. Nur war darin unser Essen – knusprige und heiße Croques. Etwa dreißig Zentimeter lang und zehn Zentimeter breit. Ich hatte mir wie immer gleich zwei bestellt. Einen mit Kochschinken, Tomate und Chiliremoulade, den anderen mit Salami, dänischer Gewürzgurke, extra Zwiebeln und Knoblauchremoulade. Diese unsagbar leckeren belegten Baguettes werden in einem Heißluftofen mit Käse überbacken und anschließend mit Salat oder Kraut belegt. Als Soße hat man meistens eine Auswahl zwischen verschiedenen Remouladen: Chili, Curry, Dänisch, Knobi oder Kräuter. Allerdings weiß ich nicht, ob es die überall gibt. Ich habe während einer mehrmonatigen Zwischenstation in Rhede, ein Ort in Nordrhein-Westfalen, vergeblich danach gesucht. Da gab es diese Leckerei leider nicht, dafür aber andere kulinarische Dinge, wie zum Beispiel die niederländischen Bami-Scheiben oder die superleckere Dönerpizza mit Salat und Knoblauchsoße on top. Muss man probiert haben. Zurück in Hamburg konnte ich mich mit meinen geliebten Baguettes vollstopfen.
Mila und Tim hatten sich jeder nur einen Croque bestellt. Tim wollte einen Croque-Dog, was im Wesentlichen ein überdimensionierter Hot Dog mit Ketchup und dänischer Remoulade ist, und ebenfalls sehr lecker ist. Und Mila bestellte sich einen mit Salami, Feta und Knobi-Remoulade. Für welchen man sich auch immer entscheidet, ich kenne und mag sie alle. Ich hatte dort schon so oft bestellt, dass mir sofort aufgefallen ist, dass dieser Fahrer mit unserem Essen neu sein musste, ich ihn aber dennoch kannte.
»Hey, wie geht’s?«, fragte ich den Lieferanten, als er auf mich zukam.
»Ah, ja. Gut, Gut. Du auch?«
»Klar. Bist du nicht mehr beim Inder?«
»Ja. Ich machen beide. Große Familie, viel Geld«, verriet er mir und übergab mir die Tüte mit den Köstlichkeiten.
»Glaub ich dir. Wie viele Kinder?«
»Sieben, alle Mädchen«, sagte er und fügte hinzu, »Ah, online bezahlt.«
»Oha, sieben Töchter. Ist bestimmt laut zuhause?«, wollte ich wissen.
»Ah, ja. Hause immer laut.« Er lachte und machte auf dem Absatz kehrt.
»Halt!«, stoppte ich ihn, »Hier, für dich.« Ich gab ihm ein Zweieurostück als Trinkgeld in die Hand, als er mich fragend anstarrte. Das machte ich immer so.
»Ah, danke Chef. Musse los, Kunde warten«, sagte er und ich verabschiedete mich und schloss die Tür.
Im Wohnzimmer saßen Mila und Tim bereits am Couchtisch und warteten auf das Essen. Ich packte die heißen Baguettes aus. Sie waren in Alufolie gewickelt und warteten darauf, von uns verspeist zu werden. Ich wickelte immer eine handbreit der Alufolie von oben ab, damit mir die Soße nicht auf die Hose tropfte. Aber ein Garant dafür, dass mir das trotzdem nicht passieren würde, war das nicht. Stattdessen klatschte es beim ersten Bissen von Mila auf ihre Hose.
»Fuck!«, brüllte sie und lachte, als sie unsere Blicke auf sich gezogen hatte. Ich holte die Rolle Küchenpapier aus der Küche und stellte sie für alle in die Tischmitte. Meinen Croque hielt ich unentwegt in meiner Hand.
»Ist es okay, wenn ich in meinem Zimmer weiteresse?«, fragte Tim.
»Klar, warum nicht«, antwortete ich.
»Danke. Ich möchte mir noch Videos von Gronkh ansehen. Der hat wieder ein neues Let’s Play angefangen«, erklärte er uns.
»Maak dat mien Jung.«Das brachte mir skeptische Blicke der beiden ein.
»Was?« Tim grinste.
»Mach das mein Junge, heißt das«, erklärte ich. Ich spürte, wie ich rot anlief. Eigentlich wollte ich damit cool wirken. In meiner Vorstellung fanden das alle lustig.
»Dann sag das doch.« Tim nahm sein Essen mit in sein Zimmer und verschloss die Tür hinter sich.
»Geht mich zwar nichts an, aber darf ich dich was fragen?«, meldete sich Mila.
»Klar. Was denn?«
»Macht ihr das immer so? Ich meine, dass ihr nicht zusammen an einem Tisch esst?«
»Nicht immer, aber auch nicht selten. So kann auch mal jeder für sich sein, wenn Bedarf besteht. Ich würde es schlimmer finden, wenn ich ihn zum Sitzenbleiben zwingen müsste und dadurch die ganze gute Stimmung den Bach runtergeht. Weißt du, wie ich meine?«
»Ja, glaube schon. Du möchtest nur, dass alle zufrieden sind. Ich finde das ja gar nicht schlimm, wollte nur mal nachfragen. Schließlich kenne ich die familiären Abläufe von euch noch nicht wirklich. Als ihr bei mir gewesen seid, saßen wir beisammen. Da wusste ich ja nicht, dass es bei dir so locker abläuft«, sagte sie.
»Er hat sich nicht darüber beschwert«, stellte ich fest, dann: »Ich habe aus meinen verflossenen Beziehungen etwas lernen können. Da gab es genau deshalb immer wieder Streit. Jedes zweite Familienessen war ein Desaster, weshalb ich mich einfach mit meinem Essen in eine ruhigere Ecke verzogen habe. Dieses Theater jedes Mal, weil man dem Kind etwas aufzwingen wollte. Mir war es immer viel wichtiger, dass das Kind mit Freude isst und nicht voller Wut.«
»Wie gesagt, ich wollte es nur verstehen, Schatz.« Mila schaute sich den fettigen Fleck auf ihrer Hose an und wir lachten gemeinsam darüber.
»Gewöhn dich daran, so esse ich häufiger«, sagte sie.
Wir ließen den Abend vollkommen satt auf der Couch mit dem Abendprogramm im Fernsehen ausklingen und hatten einen immensen Knoblauchbrand.
Nach ein paar Tagen wollte Tim zurück zu seiner Mutter. Sein Freundeskreis wohnte in ihrer Nähe und das machte ein regelmäßiges Treffen mit der Clique für ihn einfacher. Mit ihm und seiner Mutter hatte ich abgesprochen, dass er jederzeit zu uns kommen kann. Ohne einen festen Plan oder gar ein festgelegtes Konstrukt aus Regeln. Wer Tim wann sah, entschied er selbst, oder man verabredete sich einfach mit ihm. Das funktionierte ziemlich entspannt. Auf diese Weise war Tim recht häufig, auch mal über einen längeren Zeitraum, bei uns. Es mag für manche ein Unding sein, dass das Kind über so viel Entscheidungsfreiheit verfügt, doch war mir das erstens schon immer scheißegal und zweitens hatte ich ihn wesentlich öfter bei mir, als wenn er nur alle vierzehn Tage an einem Wochenende kam. Das vierzehntägige Besuchsrecht war ja irgendwie weit verbreitet und meiner Meinung nach auch nicht fair. Das Kind muss ja nicht darunter leiden, wenn sich die Eltern nicht mehr mögen. Es sei denn, es gibt einen triftigen Grund dafür. Ansonsten war das eine Regel aus längst vergangenen Tagen, aufgesetzt von bärtigen und vermeintlich weisen Männern, die die Erziehung ohnehin allein der Frau auferlegten. War ja damals so. Und aus genau dieser Zeit stammen diese bescheuerten Regeln. Ich habe noch nie verstanden, warum es Eltern gibt, die mit ihren Kindern nicht über so etwas Wichtiges sprechen, um herauszufinden, was die Kinder wollen. Klar würde man zuerst zu hören bekommen, dass die Eltern sich wieder vertragen sollen, dass gehört dazu. Ich kann in jeder Hinsicht stolz behaupten, dass unsere Regelung ohne Regeln perfekt funktioniert. Und viel Stress hat mir das auch erspart. Ist ja nicht schlimm, einen kleinen Bonus zu haben.
Mila ging zuverlässig ihren beruflichen Pflichten nach. Ich bewunderte sie für ihren Fleiß und noch mehr dafür, dass sie fast zeitgleich mit dem Weckerklingeln aufstehen konnte. Mein Gehirn hat da immer so seine Schwierigkeiten mit, ignoriert den Weckton und bleibt letztlich einfach liegen. Alles vor neun Uhr morgens wirkt auf mich wie mitten in der Nacht. Nur wenig später verließ sie schon die Wohnung, gab mir vorher immer einen Kuss, obwohl ich beim Ausatmen nicht den ersten Platz bei einem Geruchswettbewerb gewinnen würde. Sobald ich dann wach war und mindestens den ersten Kaffee in mich hineinschüttete, kümmerte ich mich um den Haushalt, saugte staub, wischte die Fußböden, folterte die Waschmaschine mit einigen Waschladungen und quälte mich in den Supermarkt, um Dinge wie Lebensmittel oder Hygieneprodukte einzukaufen. Allerdings bekam ich beim Schlendern durch die Regalreihen immer häufiger Panikattacken. Erst war es nur ein Zittern und starkes Schwitzen, das sich mit jedem Einkauf steigerte. Artig an der Kasse anstehend bekam ich dann nicht selten einen Beinahe-Blackout. Mir wurde so schwindelig, dass ich dachte, ich legte mich jeden Moment auf den pissgelb gefliesten Kachelboden, der mit einer hauchzarten, fast unsichtbaren Schicht aus Staub, undefinierbarem Dreck, garantiert auch Hundekacke und was weiß ich noch alles überzogen war. Die Leute vor und hinter mir in der Schlange raubten mir die Luft zum Atmen. Ich konnte dort nicht weg, dachte ich, obwohl mich niemand daran hinderte, einfach zu gehen. Ich war durch die Macht einer immensen Angst in eine Gefangenschaft geraten, aus der ich mich nur durch Ausharren oder Weglaufen befreien konnte. Ich harrte aus, sah den anderen, situationsvermeidenden Fluchtweg nicht. Mein Blickfeld kippte zur Seite, als würde mich ein Bilderrahmen langsam auf den Kopf drehen wollen. Kippschwindel, glaube ich. Ein furchterregendes Erlebnis, das sich in unerfreulicher Weise immer häufiger bemerkbar machte, mir sozusagen damit sagen wollte: Fick dich, du Schisser!
Diese neuartig störende Belastungsprobe hielt sich nicht an meine oder überhaupt an irgendwelche Regeln. Ich kämpfte unablässig gegen Windmühlen an. Und irgendwann verlor ich dieses kraftraubende Machtspielchen. Meine innerlichen Dämonen hatten gewonnen. Sie metzelten so lange in meinen Gedanken herum, dass ich es kaum noch aushalten konnte. Ich ging nicht mehr aus dem Haus. Zumindest nicht mehr solo.
Ich schaffte es gerade so zu meinen Eltern, damit ich mit ihnen zusammen einkaufen konnte. Das gab mir ein sicheres Gefühl, weshalb mir der Supermarkt nur noch halb so schlimm vorkam. Um unnötige Diskussionen zu vermeiden, sagte ich zu meinen Eltern, ich hätte die Nacht durchgemacht oder zu tief ins Glas geschaut.
Leider wurde es trotz alledem noch schlimmer und ich konnte meine Angst dann doch nicht mehr mehr verheimlichen. Als meine Eltern es bemerkten, sagten Tim und Mila mir, dass sie es schon vorher bemerkt hatten, nur nichts dazu hatten sagen wollten.
An einem Abend, an dem ich mich so gut fühlte wie schon lange nicht mehr, wirkte Mila sehr ernst und ich befürchtete natürlich das Schlimmste. Was sonst?
»Setzt dich bitte neben mich«, forderte sie mich auf, »wir müssen reden.« Ich saß mehr aus Verlegenheit und meiner derzeitigen Unfähigkeit, mich den Problemen entgegenzustellen, am Computer und klickte dort auf den einen oder anderen Link im digitalen Universum. Das erweckte zumindest den Anschein, als würde ich etwas tun, das meine Aufmerksamkeit erforderlich machte. »Jupp.« Ich folgte ihrer freundlichen Bitte, trottete die wenigen Schritte zum Schlafsofa rüber und setzte mich.
»Was möchtest du trinken, Kaffee mit Milch?«
»Ja, gerne. Aber …«
»Warte bitte!« Für einen Moment war ich geschockt, dass sie mir das Wort abschnitt. Das musste ich erstmal sacken lassen und bekam die Gelegenheit unmittelbar danach. Jetzt wusste ich, dass es tatsächlich ziemlich ernst sein musste. Warum sollte sie mich sonst so einem Druck aussetzen? Der Kloß in meinem Hals wuchs zu einer Apfelsine heran, schmeckte aber nicht danach. Oder hat das Angst-vor-dem-was-kommt-Gefühl eine Geschmacksrichtung? Für verbal einen auf die Fresse bekommen gibt es die imaginäre bittere Pille, die wie meine Apfelsine schmecken soll. Für das Auffangen einer Faust mit dem Gesicht ist die Geschmacksrichtung Eisen weit verbreitet, was in der Substanz den Geschmack des Bluts beschreibt. Auf meiner Zunge lag ein leicht kupfriger Geschmack. Ist das der Geschmack von Angst?