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Wie viele Chancen hat man, die große Liebe zu finden? Paul hat zu viel damit zu tun, an einer Angststörung zu leiden, Vater seines pubertierenden Sohnes Tim zu sein und mitten in der Scheidung von seiner Exfrau zu stecken, um sich diese Frage zu beantworten. Als Mila während alledem in sein Leben tritt, steht seine Welt kopf – und präsentiert ihm unverhofft die Antwort: Denn ja, auch geschiedene Teilzeitväter haben noch eine Chance darauf, die große Liebe zu finden. Der Beginn eines Lebens auf einem Berg aus Gefühlen. Die Liebe sucht sich ihren Weg, wie Wasser, das einer Quelle entspringt.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Mila und Paul
Sonne im Norden
Band 1
von Tino Dietrich
Über den Autor:
Tino Dietrich, geboren 1976 in Norddeutschland, absolvierte ein Literaturstudium in Hamburg. Er hat viele Jahre als Inhaber von erfolgreichen Betrieben in der freien Wirtschaft gearbeitet. Seit 2012 arbeitet er als freiberuflicher Schriftsteller, zertifizierter Texter im Online-Marketing und als verlagsunabhängiger Buchautor. Tino Dietrich bildet sich fortan weiter und ist begeistert vom Selfpublishing. 2014 wurde u. a. seine Kurzgeschichte „Im letzten Winter“ bei einem Schreibwettbewerb prämiert.
Mit seinem Romandebüt „Mila und Paul: Sonne im Norden“ fand der Autor aus dem Norden seinen Platz in einer stetig wachsenden Lesergemeinschaft.
Mila und Paul
Sonne im Norden
Band 1
von Tino Dietrich
www.tinodietrich.de
1. Auflage 2024
© 2022 Tino Dietrich - Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat/Korrektorat: Laura Stadler
Cover: canva.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, auch auszugsweise, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Erich-Kästner-Str. 2, 21629 Neu Wulmstorf, Deutschland. Dieses Werk ist pure Fiktion.
www.tinodietrich.de
Für Dich!
Kapitel 1
Erst vor Kurzem war eine Welt für mich zusammengebrochen. Ich war mitten in der Scheidungsphase, was mir ohnehin eine Seite im Leben vor Augen führte, auf die ich liebend gerne verzichtet hätte. Dazu habe ich einen rebellischen und pubertierenden Sohn, der heimlich die Nacht zum Tage macht und somit seiner Pflicht nachkommt, mir das Leben etwas beschwerlicher zu machen. Zusätzlich schwänzt er regelmäßig die Schule. Und nur wenige Wochen später erlitt mein Vater einen schweren Herzinfarkt, bei dem ich anwesend war und zum ersten Mal in meinem Leben jemanden wiederbeleben musste. Also ein beinahe durchschnittlich chaotisches Familienleben mit allem, was dazu gehört.
Doch davon abgesehen gibt es noch die glücklicheren Tage. An diesen Tagen wird der herzkranke Vater aus dem Krankenhaus entlassen, es kommt kein böser Brief ins Haus und ein belehrender Anruf der Klassenlehrerin bleibt aus. Der Sohn hat ebenfalls einen guten Tag und kommt sogar mit Hausaufgaben nach Hause, die er auch ohne Aufforderung erledigt. Um das zu belohnen, unternehmen wir irgendetwas oder statten Oma und Opa einen Besuch ab. Ich bin Paul, ein depressiver und einsamer Mann in der Blüte seines Lebens. Und so sieht mein Alltag aus.
Heute war wieder so ein herrlicher Tag, der sich seinem Ende näherte. Wir hatten das Abendessen beendet und Tim war anschließend in sein Zimmer gegangen. Er hatte die Tür zu. Für die Schule gab es nichts zu tun, weshalb ich davon ausging, dass er sich die Zeit mit einem Videospiel vertrieb. Immerhin war er schon dreizehn Jahre alt und der Letzte in seiner Klasse, der eine Spielekonsole sein Eigen nennen durfte. Ich nutzte den restlichen Abend dafür, mir ein Profil auf einer dieser Online-Partnerbörsen zu erstellen. Für den norddeutschen Raum gab es sogar eine, die von all den anderen besonders herausstach. Was war für einen Hamburger Neu-Single passender als eine Singlebörse nur für den Norden? Ich war froh, den Dschungel von Partnerbörsen, Singleseiten, Sextreffen und anderen dubiosen Kontaktseiten für Abenteuer jeglicher Art erfolgreich durchkämpft zu haben. Aber das Ausfüllen der vielen Felder war nicht weniger schlimm für mich. Noch nie habe ich so viel über meine Interessen, Vorlieben und insgesamt eine Beschreibung über mich als menschliche Person nachgedacht. Dabei stellte ich ziemlich schnell fest, dass ich kaum etwas über mich wusste. Und meine Aufgabe bestand nun darin, mich besser kennenzulernen und das Online-Profil zu vervollständigen. Anfangs hatte ich Mühe damit, doch je weiter ich vorankam, desto mehr Spaß bereitete es mir. Das Gefühl, welches ich dabei empfand, war ein mir unbekanntes, ein schönes und dennoch unheimliches. Ob es die Vorfreude, die Angst oder das Herzklopfen war, das sich in meinem Körper ausbreitete, konnte ich nicht herausfinden. Mir wurde warm im Gesicht und ich hatte ein Ziel vor Augen: Jemanden finden, der mich mit meiner Angsterkrankung akzeptieren konnte. Dabei war es mir egal, ob sich Freundschaften entwickeln oder ich doch die Liebe meines Lebens finden würde. Hauptsache, ich kam aus diesem richtig fiesen Strudel von Depressionen und Angst heraus. Seit ich diese Last mit mir herumtrug, schien mein Umfeld sich immer mehr zu distanzieren. Tim war einer der wenigen Menschen, der sich trotz seiner pubertären Dickköpfigkeit um mich sorgte, auch wenn es häufig nicht danach aussah und er gegen mich zu arbeiten schien. Doch im Bett liegend grübelte ich oft darüber nach und stellte die Theorie auf, dass mein Sohn mir nicht sagen mochte, wie sehr er sich um mich sorgte und das er mich lieb hatte. In einer SMS war so etwas viel leichter. Doch Wunschdenken brachte mich nie wirklich weiter, weshalb ich häufig ein anderes Thema zum Nachdenken in meine Gedanken rief.
Insgesamt war das Erstellen eines Profils für die Suche nach einer Partnerin oder neuen Freunden ein Spaß. Es dauerte nur knappe fünfundvierzig Minuten und zog die darauffolgenden Stunden noch etliche Änderungen von mir an meinen Texten mit sich. Das Foto hatte ich kurzerhand mit der Webcam gemacht. Es war etwas unscharf, das Licht war unvorteilhaft und ich blickte in die Kamera wie jemand, der beim Kacken im Wald von einem Bären überrascht worden war. Aufgerissene Augen, entsetztes Gesicht, Mund halb offen. Die nachfolgenden Stunden habe ich auch damit verbracht, ein passendes Foto von mir zu erstellen. Zum Glück gelang es mir nach zahlreichen Versuchen auch. Ein freches Lächeln, die Augen offen, aber nicht aufgerissen, und ein insgesamt besser ausgeleuchteter Hintergrund, der wohl nur die wenigsten interessieren dürfte, mich aber regelrecht erstrahlen ließ. Geschafft. Erst ganz zum Schluss stellte ich fest, dass mein Profil noch von einem Mitarbeiter der Betreiberseite überprüft wurde, bevor es der breiten Masse präsentiert werden konnte. Da wanderte auch mein Blick auf die Uhr am unteren Bildschirmrand, die mir mit einem kleinen Schrecken die Uhrzeit offenbarte. In zehn Minuten sollte die dritte Stunde des neuen Tages beginnen. Es fiel mir nicht leicht, doch ich schaltete den Computer samt Bildschirm aus und wollte noch kurz nachsehen, ob Tim vielleicht wieder heimlich die Nacht durchmachen wollte, was er zu meinem Erstaunen nicht tat. Er lag mit den Armen und Beinen ausgebreitet im Bett, als würde er einen Schneeengel machen wollen. Nur, dass er mit einer leicht pfeifenden Nase aufgedeckt dalag und im Land der Träume angekommen zu sein schien. Zufrieden rauchte ich noch eine Zigarette im Wohnzimmer und trank das Bier aus, was ich mir vor etlichen Stunden aufgemacht hatte, um es vor dem Computer zu trinken. Zum Wegkippen war es mir zu schade. Ich verschwendete ungern etwas, weshalb ich auch nicht selten aus fast nichts außer angebrochenen Lebensmitteln und Resten aus dem Kühlschrank und der Speisekammer ein sättigendes Mittagessen zauberte. Es schonte auch ein wenig den Geldbeutel.
Ich bin Paul und werde bald siebenunddreißig Jahre alt. Ich bin nicht gern allein und habe Angst. Und ich habe soeben einen wichtigen Schritt gewagt, was mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war. Am nächsten Morgen, an dem Tim anstandslos die Schulbank drückte, widmete ich mich mit einem großen Becher voll Kaffee bewaffnet wieder dem Computer. Andere Verpflichtungen hatte ich nicht, da ich durch die Scheidung nicht nur die halbe Familie, sondern auch meine Arbeit als selbstständiger Maler und Lackierer an die Wand gefahren hatte. Nicht freiwillig und auch ohne Absicht. Ich konnte nicht mehr zu den Kunden fahren, da ich immer wieder von Panikattacken überrascht wurde, was natürlich von den Kunden nicht unbemerkt blieb. Sie entzogen mir die Aufträge oder sagten feste Termine einfach ab und die Arbeitsaufträge blieben immer häufiger aus. Zum Glück erkannte ich das Problem rechtzeitig und löste den eigenen Betrieb einfach auf, bevor mir der finanzielle Ruin gedroht hätte. Der kam erst unmittelbar nach der unvermeidbaren Scheidung.
In meinem E-Mail-Postfach gab es Mails von der Singlebörse. In der Ersten wurde mir mitgeteilt, dass mein Profil noch überprüft werden musste, was ich ja schon wusste. In der nächsten stand, dass die Überprüfung erfolgreich abgeschlossen wurde und mein Profil nun live war. Und schlagartig hämmerte mein Herz vor dieser unbekannten virtuellen Welt, die ich nun ergründen wollte. Sofort loggte ich mich mit meinen Benutzerdaten ein und hatte auch dort zwei Nachrichten, wie mir von einer roten Zahl auf einem Briefumschlagsymbol angezeigt wurde. Total aufgeregt und doch etwas irritiert sah ich sofort in meinem privaten Postfach nach. Ich hätte da auch von selbst drauf kommen können, dass es sich um die gleichen Nachrichten handelte, die ich erst vor wenigen Minuten gelesen hatte. Aber so wusste ich wenigstens, wie es aussah, wenn mir jemand eine Nachricht innerhalb der Singlebörse schrieb, was ja in gewisser Weise etwas Beruhigendes hatte.
Ich untersuchte mein Profil auf Fehler und entdeckte dabei eine Art Matching-Liste. Das waren Fotos von anderen Profilen, wo ich mit einem grünen, nach oben gerichteten Daumen abstimmen konnte, wenn mir das Bild gefiel oder einen roten Daumen nach unten geben durfte, wenn mich das Gezeigte nicht ansprach. Der rote Daumen wurde ein toller Zeitvertreib. Die wenigen grünen, die ich vergeben hatte, hatten kaum Einfluss auf weitere Vorschläge von Profilen mit ähnlichen oder sogar gleichen Interessen, was wohl an meiner Herangehensweise lag. Aber ich empfand das alles als total spannend, weshalb ich regelmäßig damit weitermachte. Nachdem ich dann keine weiteren Vorschläge für diesen Tag mehr bekam, besuchte ich die Profile, die mich interessierten. Dort entdeckte ich eine weitere Funktion, die ich für eine ganz tolle Sache hielt: Ich konnte eine virtuelle Rose verschenken. Da wusste ich noch nicht, dass es wie mit dem Anstupsen auf Facebook war. Die einen stupsen zurück, die Mehrheit reagiert nicht oder entfreundet ein im schlimmsten Fall sofort. Aber wie sollte ich es sonst lernen, wenn nicht auf die harte Tour? Obwohl ich ja hier noch keine Freundesliste wie in den sozialen Medien hatte, spürte ich die Ablehnung durch bloße … ich nenne es einfach Annahme, denn wissen konnte ich das natürlich nicht. Die Möglichkeit, dass mein Gegenüber mich nicht als sympathisch genug oder sogar abschreckend empfand, bestand ja ebenfalls. Da kam der persönliche Geschmack oder das eigentliche Ziel dieser Person hervor, welche letztlich darüber entschied. Also machte ich fleißig weiter und besuchte ein Profil nach dem anderen. Noch bevor Tim Schulschluss hatte, kümmerte ich mich nebenbei um den Haushalt. Staubsaugen, Bad wischen, Abwasch und Essen vorbereiten. Gemüsereis, angebraten mit Ei.
Das Wochenende stand vor der Tür und Tim verbrachte die nächsten vierzehn Tage bei seiner Mutter, die in einem anderen Stadtteil lebte. Ich hatte sturmfrei und widmete mich meinem neuen Hobby: Online-Profile.
Die Tage vergingen und der Mai kündigte sich an. Das norddeutsche Schietwetter aus dem April machte immer mehr Platz für einige sonnige Stunden, wovon ich in der Wohnung nur wenig mitbekam. Mittlerweile hatte ich zwei Verabredungen mit unterschiedlichen Frauen, wovon die eine immer kurzfristig absagte und nur telefonieren wollte, was ich nach kurzer Zeit abbrach, und die andere schon nach der Begrüßung klarstellte, dass sie die Hosen in einer Beziehung anhaben muss, damit ein Mann mit ihr klarkommen durfte. Peinlich berührt verkürzte ich dieses Treffen mit der Begründung, dass mein Sohn doch mit Fieber bei meinen Eltern war und ich ihn nicht so lange alleine lassen wollte. Mit einer Entschuldigung untermalte ich das Ganze, was dem Anschein nach ziemlich gut funktioniert hatte. Ich brachte sie noch zum Bus und wir machten aus, miteinander zu schreiben, was ich aber nur tat, um ihr mein nicht vorhandenes Interesse an einer Beziehung mit ihr mitzuteilen. Eine Antwort ihrerseits kam nicht mehr. Normalerweise schrieb ich solche Dinge nicht, da ich es auf die persönliche Art, Auge in Auge, wie man so schön sagt, für angebracht hielt. Doch diese Frau machte mir wirklich Angst und ich hatte schon Sorge, dass ich sie nicht loswerden würde. Mir war eben in einer Beziehung wichtig, dass niemand die besagten Hosen trug und somit das Kommando in der Beziehung hatte. Ein gesundes Gleichgewicht war mir da definitiv lieber. Wir leben schließlich nicht in vergangenen Zeiten, in denen sich die vielen Frauen dem Mann unterworfen haben, weil es sich nicht schickte, sein eigenes Ding zu machen. Wie dem auch sei, ich war froh und schockiert zugleich. Ich dachte immer, das nur Männer so eine Einstellung vorwiesen, da ein zu groß geratenes Ego oder eine altertümliche Erziehung sich in das Gedächtnis eingebrannt hatten.
Nun war ich auf einer merkwürdigen Weise eingeschüchtert, was mich davon abhielt, die eine oder andere Frau zu kontaktieren oder um eine Verabredung zu bitten. Auch aus meiner letzten Beziehung, mit der ich nun in Scheidung lebte, nahm ich kaum etwas Positives mit. Ich widmete mich eines Abends einem Videospiel, bei dem ich in die Fußstapfen eines Spediteurs und gleichzeitig die Rolle des Fernfahrers übernehmen musste und auf den Straßen Europas unterwegs war. Ich brachte Container mit Waren unterschiedlichster Art von A nach B und nahm auf dem Rückweg noch einen Tieflader mit, auf dem ein riesiger gelber Schaufelbagger befestigt war. Ein virtueller Schwertransport sozusagen. Damit hatte ich schon immer viel Spaß. Es gab auch virtuelle Fantasie-Welten, denen ich beigetreten war und als Magier versuchte, mich gegen das Böse aufzulehnen oder als Waldelf eine Gruppe unterschiedlicher Helden gegen den Kampf einer gegnerischen Fraktion aus der Distanz heraus unterstützte. Ebenso mag ich Spiele, bei denen es um die Beschaffung von Rohstoffen, der Produktion von Waren und Nahrungsmitteln und den damit verbundenen Handel auf extra angelegten Handelsrouten zu Lande und zu See ging. Am liebsten in der Zeit ab dem 14. Jahrhundert bis in das frühe 20. Jahrhundert. Dort gab es noch Vieles ohne das Zutun von Robotern. Besonders an solchen Tagen, in denen ich mich in fremden Welten verlor, raste die Zeit in der realen Welt nur so dahin. Was mich dann wieder etwas mies stimmte, da ich dadurch das Gefühl hatte, nichts vom Tag gehabt zu haben. Wieder so ein Teufelskreis. Auf der einen Seite liebt man das Zocken von Spielen, auf der anderen Seite bekommt man nichts vom eigentlichen Leben mit, was manchmal auch ein Vorteil sein kann.
Ich wollte nur noch kurz auf mein Dating-Profil schauen, ob nicht vielleicht doch mal eine Nachricht für mich hinterlegt wurde. Die Ernüchterung kam schon wenige Sekunden später. Drei Rosen von drei Männern, keine Nachricht. Doch zu meiner Freude erblickte ich neue Kontaktvorschläge. Ein neuer Tag war angebrochen. Ich klickte mich durch die vorgegebene Auswahl und blieb abrupt bei einem Profil mit dem Mauszeiger stehen. Die auf dem Foto abgelichtete Frau hatte brünettes dauergewelltes Haar und lächelte äußerst sympathisch in die Kamera. Das war mal etwas anderes. Ich klickte mich auf ihr Profil und war entzückt. 33 Jahre alt, aus Hamburg, suchte einen Partner für eine Beziehung oder die große Liebe. Keine Abenteuer und lieber einen gemütlichen Abend als Halligalli auf der Reeperbahn. Ich las mir ihre weiteren Angaben durch, was sie mochte und was nicht, dass sie Raucherin war, genau so wie ich. Grüne Augen, perfekt. Aber anstatt ihr eine Nachricht zu schreiben, schaltete ich den Computer aus und legte mich auf das Sofa, was gleichzeitig als mein Bett herhalten durfte. Nebenbei lief der Fernseher, der mir eine Doku über den Zweiten Weltkrieg um die Ohren donnerte. In einer Werbepause sah ich die eine oder andere Werbung für Partnerbörsen, auf denen Menschen ohne akademische Bildung abwertend ausgegrenzt wurden. Mit Niveau wurde das ganze betitelt, was dem Ganzen erst recht eine regelrechte Unglaubwürdigkeit verlieh. Zumindest empfand ich es so und war damit einer von vielen tausenden Menschen auf der Welt, wie die Internetforen es bewiesen. Dann aber kam eine Werbung über die Früherkennung von Krebs. Und diese Werbung hatte es in sich. Nicht wegen der aufklärenden Worte, die mit eindeutigen Bildern untermalt wurden, was ohnehin schon eine sehr emotionale Wirkung auf mich hatte. Nein, es war ein einziger Satz in dieser Werbung, der mich dazu veranlasste, den Computer wieder einzuschalten und sofort eine Nachricht an Mila80 zu schreiben. Er lautete: Jeder Tag könnte dein Letzter sein.
Kapitel 2
Es vergingen Tage ohne eine Antwort von Mila80. Doch als ich die Hoffnung schon aufgeben wollte und mich ein letztes Mal auf meinem Profil einloggte – eigentlich mit der Absicht, es zu löschen –, fiel mir sofort eine hübsche, kleine, rote Eins ins Auge, die sich direkt neben den Worten ›Neue Nachrichten‹ auf dem Briefsymbol platziert hatte. Und holterdiepolter nahm mein Kreislauf wieder Fahrt auf, was mir für einen Moment das Herz bis in den Hals schlagen ließ. Das aber war nur der Anfang. Ich klickte auf meinen Posteingang und würde meine Hand dafür ins Feuer legen, nur um zu verdeutlichen, dass mein Herz für einen Moment einen neuen Rhythmus einstudierte, bevor es erneut damit begann, in meiner Brust zu pulsieren. Schwindel, aufsteigende Hitze, feuchte Hände, Bauchkribbeln, rasante Atmung, Herzrasen, wenn ich es nicht besser wüsste, könnte jemand denken, dass ich verliebt sei. Doch war das möglich? Bisher hatte ich ja fast null von ihr gesehen oder gehört. Nur gelesen, mit einem sehr hübschen Foto darüber, wie ich zugeben muss. Das könnte zwar jeder hochladen und sich als hübsche Frau ausgeben und in Wahrheit ein monströser Unmensch sein, der nur darauf wartete, sein neues Messer an einem lebenden Objekt der Begierde – damit meine ich mich – auszutesten, um anschließend ein Badevergnügen in Säure mit mir zu veranstalten. Nur, um zu sehen, wie mein Fleisch von den Knochen rutschte und in einen blubbernden und blutigem Schlamm aus Körpermasse in seine molekularen Bestandteile zersetzt wurde. In den Filmen mit den Psychopathen war es doch auch häufig so. Und ein Funken Wahrheit war ja bekanntlich in jeder Geschichte zu finden, sagte man jedenfalls. Also, warum sollte mich ein Irrer mit einem Blubb-Fetisch verschonen? Eben, es gab keinen Grund.
Da saß ich nun und meine Fantasie spielte mir die vielen kleinen Filmchen vor, die alle ein böses Ende hatten. Doch schaffte ich es damit auch, die Kontrolle über meinen Körper zurückzuerlangen, und ich erblickte den schönsten Nicknamen in der Absenderzeile, den das World Wide Web zu bieten hatte: Mila80. Niemand konnte mir da noch weismachen, dass es einen schöneren Namen geben könnte. Niemals! Schon gar nicht, nachdem ich mir mit der Formulierung meiner Nachricht so viel Mühe gegeben hatte, um in kein Fettnäpfchen zu treten oder gleich mit einem unschön formulierten Satz einen komplett unangebrachten Eindruck von mir zu vermitteln.
›Hallo,
hast du Lust, ein wenig mit mir zu schreiben?
Ich würde mich riesig darüber freuen.
LG Paul‹
Das war nicht die einfallsreichste Nachricht, muss ich zugeben. Ihre Wirkung erzielte sie dennoch, auch, wenn ich damit nicht mehr gerechnet hatte.
›Hi Paul,
klar können wir uns gegenseitig schreiben, warum auch nicht.
Ich kann die meiste Zeit erst nach 16 Uhr zurückschreiben, wegen Arbeit.
Ich freu mich.
LG Mila‹
Damit war die unsichtbare Barriere entfernt und meine Hände zitterten leicht und waren feucht. Ich musste kurz nachdenken. Was sollte ich jetzt nur schreiben und warum blieben mir die Ideen aus? Hatte ich einen Blackout? Minuten vergingen und ich starrte auf den Bildschirm, ohne auch nur den Funken einer Idee zu erhalten, was ich ihr nun schreiben sollte. Dabei lag die Antwort, genau genommen die Idee für eine weitere Nachricht, genau vor meinen Augen und ich erkannte sie erst nach fast dreißig Minuten. Mit der flachen Hand schlug ich mir gegen die Stirn, als ich meine Kurzsichtigkeit erkannt hatte.
›Kein Problem.
Was arbeitest du denn?
Musst du mir natürlich nur verraten, wenn du es auch möchtest :)
Alles kann, nix muss. Hoffe, der Spruch lautet so. *grübelndamkopfkratz*
LG Paul‹
Ich tippte auf einen Bürojob. Obwohl mir das mit ›ab sechzehn Uhr schon zuhause sein‹ dafür recht früh erschien. Aber Raten würde mich nicht weiter bringen, ich musste ihre Antwort abwarten. Doch die kam erst am nächsten Tag, als ich mich gleich nach dem Aufstehen an den Computer setzte. Intuition, würde ich sagen. Ich wusste ja, dass Mila erst am späten Nachmittag wieder online sein würde. Doch nach dem üblichen Einloggen erstrahlte nicht nur ich, sondern auch die hübsche Eins in meinem Posteingang. Dass ich sofort dorthin klickte, da ich neugierig und aufgeregt zugleich war, deutete ich als eine normale Reaktion meines Körpers. Wow, schon um fünf Uhr früh hatte sie geschrieben. Um diese Zeit ging ich hin und wieder erst ins Bett, wenn Tim nicht da ist.
›Guten Morgen, Paul.
Sorry, ich war gestern einfach zu müde. Frag ruhig, was du wissen möchtest. Ich hoffe doch, dass ich dich auch ausfragen darf?
Ich arbeite bei der Justizbehörde. Aber lauf nicht gleich vor mir weg :D
Und was machst du beruflich?
LG Mila‹
Ja, was machte ich denn beruflich? Das war mir jetzt ernsthaft unangenehm, wo ich doch arbeitslos war. Eigentlich konnte ich ihr nichts von mir erzählen, womit ich mich brüsten konnte. Ich wollte ihr keinen vom Pferd erzählen und bei der Wahrheit bleiben. Alles andere würde ich später bereuen, so viel stand fest. Also machte ich mich daran, Buchstabe für Buchstabe in das Textfenster einzutippen.
›Guten Morgen.
Du bist aber früh auf. Frühaufsteherin?
Und was machst du bei der Justizbehörde? Wärterin, Richterin, Staatsanwältin?
Ich will ehrlich zu dir sein. Ich leide unter einer Angsterkrankung, die es momentan nicht zulässt, dass ich arbeiten gehe. Aber ich bin kein Langzeitarbeitsloser! Das liegt nur an dieser blöden Angstsache. Normalerweise bin ich als Maler und Lackierer unterwegs, was auch mein Lehrberuf ist. Ich hoffe, dass es kein Problem für dich ist. Wäre wirklich schade.
LG Paul‹
Und gesendet. Nun war eine meiner Lasten kein Geheimnis mehr. Obwohl die Sache mit der Scheidung oder dass ich ein alleinerziehender Papa – hätte ich fast alleinerziehend schreiben sollen? – war und eine schwere Zeit hinter mir lag, stand ja in meiner Profilbeschreibung. Auch viele weitere Angaben hatte ich dort offengelegt, nur das mit der Beeinträchtigung durch diese kack Angst nicht. Das war meiner Ansicht nach auch ziemlich privat. Sollte ausreichend sein, wenn ich es, so wie eben, während eines Schriftwechsels oder bei einem Treffen erzählte. Wer das nicht verstehen kann, dem kann ich dann auch nicht weiterhelfen. Ich kochte mir eine Kanne Kaffee und entzündete mir meine erste Zigarette des Tages, nachdem ich mir einen Milchkaffee mit in das Wohnzimmer nahm. Ein kurzer Blick auf dem Bildschirm offenbarte nichts Neues. Da fiel mir wieder ein, dass sich diese Webseite nicht von selbst aktualisierte. Da konnte ich ja ewig und drei Tage den Bildschirm anglotzen, ohne eine Veränderung festzustellen. Also drückte ich mit meiner Erkenntnis auf die Taste F5, ganz oben auf der Tastatur. Knapp zwei Sekunden später war die Seite auf dem neuesten Stand geladen und zeigte mir das gleiche Bild wie Sekunden davor. Keine neuen Nachrichten, keine Rose, nur neue Matchings. Aber die interessierten mich schon gar nicht mehr. Ich war schon jetzt auf Mila80 fixiert und verspürte das Bedürfnis, sie unbedingt näher kennenzulernen. Komme, was wolle. Leider lag es nicht nur an meiner Person, diese Entscheidung zu fällen. Wenn sie plötzlich das Interesse an mir verlieren sollte, sei es durch jemand anderen oder durch meine Art, mich nicht zu verstellen und bei der Wahrheit zu bleiben, konnte ich nichts weiter tun, als damit leben zu müssen. Nach zwei weiteren Kaffees mit Milch machte ich mich frisch für den Tag und beschloss, die Wartezeit nicht in meiner Wohnung zu verbringen, die ich ohnehin schon sehr selten verließ, und kündigte mich telefonisch bei meinen Eltern an, die nur wenige Straßen von mir entfernt wohnten. Es gab schließlich Neuigkeiten zu erzählen.
»Du siehst krank aus, schläfst du nicht richtig?« Meine Mutter hatte für diese Aussage anscheinend irgendwo ein Abonnement abgeschlossen, da dieser Satz bei jedem Besuch von mir eine andere Ursache haben musste. Dabei war sie selbst diejenige, die Einschlafprobleme hatte, weil sie sich laut ihren Schilderungen um mich oder Tim sorgte. Küsschen gab es nur sehr selten in unserer Familie, weshalb ich erst mal an ihr vorbei durch den Flur ging und meine Jacke an die Garderobe hing. Mein Vater saß an dem viereckigen Holztisch am Fenster und fummelte an einem Bonsai herum, der nur noch aus Ästen bestand, aber im Wesentlichen eine schöne Form hatte. Mit grünen Blättern wäre er bestimmt noch viel schöner. Er sah kurz auf und nickte mir zu. Seit seinem Herzinfarkt hat er sich stark verändert. Er war deutlich ruhiger und auch vergesslich geworden. Genau das Gegenteil von dem, das er vorher gewesen war. Aber es ging ihm dem Anschein nach gut und ich ging zu ihm und legte meine Hand auf seine Schulter.
»Meinst du, der wird wieder?« Er sah mich an und ich deutete mit einer Kopfbewegung zu dem kahlen Minibaum.
»Hoffe ich doch«, antwortete er.
»Seit der wieder hier ist, fallen den Pflanzen die Blätter aus, weil er immer nur daran rumfummelt!« Meine Mutter konnte ziemlich biestig sein.
»Ist doch egal«, verteidigte ich meinen Vater. Ich setzte mich auf die Ledercouch und grinste vor mich hin.
»Ich hol uns einen Kaffee. Manni, du auch?« Mein Vater nickte geistesgegenwärtig, als er einen ausgetrockneten Ast mit einer schwarzen Bonsaischere vom Stamm entfernte. Kurze Zeit später hatte jeder von uns seinen Kaffee bekommen und das Frage-Antwort-Spiel konnte beginnen.
»Warum siehst du so fertig aus, Paul?« Da ich zuvor nicht auf ihre Frage eingegangen bin, hakte sie erneut nach.
»Bin halt lange auf. Außerdem sehe ich nicht krank oder fertig aus, ich bin nur etwas müde.«
»Warst auf dem Zwutsch?« Damit fragte meine Mutter lediglich, ob ich bei irgendwem zu tief ins Glas geschaut hatte oder die halbe Nacht durch die Gegend gezogen und feiern gewesen war.
»Du weißt doch, das ich das alles nicht mehr so kann. Ich hatte ein Bier zu Hause und saß vor dem Computer.«
»Irgendwann bekommst du viereckige Augen, wenn du immer nur vor dem Computer hängst.« Also hörte mein Vater doch zu. Ich hatte es mir schon gedacht. Seine Teilnahmslosigkeit war nur gespielt, damit meine Mutter ihn in Ruhe ließ. Zumindest konnte ich mir diesen Gedanken gut vorstellen. Ich war ja schließlich bei meinen Eltern und hatte auch fast zwanzig Jahre mit ihnen zusammengewohnt. Da hatte man schon nach Auswegen aus den ganzen Sticheleien, Vermutungen und Streiterein gesucht. Nun schien mein Vater seinen Weg gefunden zu haben und wirkte damit ziemlich zufrieden.
»Und was machst du da die ganze Zeit?«, wollte meine Mutter wissen.
»Entweder spiele ich ein Spiel oder ich schreibe mit Frauen.«
»Das haben wir uns schon gedacht. Du lernst auch nicht aus Fehlern. Noch nicht mal geschieden, hast du schon eine Neue. Wie oft willst du das alles eigentlich wiederholen?« Wenn ich meine Eltern nicht lieben würde, wäre ich spätestens jetzt aufgestanden und hätte ihnen nur das Beste gewünscht, während ich mich auf dem Weg zu mir nach Hause machen würde. Aber es machte mir auch irgendwie Spaß, auf ihre Vorhaltungen einzugehen. Besonders diese, die mir meine Mutter soeben ohne Skrupel an den Kopf geworfen hatte.
»Erstens geht es euch nicht die Bohne an, was ich mache oder mit wem. Zweitens ist es kein Fehler, jemanden kennenzulernen und sich mit demjenigen zu unterhalten. Und drittens wiederhole ich das alles so lange, wie ich Lust dazu habe. Mein Gott, kommt ihr aus der Steinzeit?«
»Nun sei mal nicht so frech. Wir meinen das doch nur gut. Wir wollen nicht, dass du das Gleiche noch einmal durchmachen musst, denk doch auch mal an Tim.«, verteidigte sich meine Mutter.
»Genau da liegt das Problem. Ich habe mich immer nur darum gekümmert, dass es den anderen um mich herum gut geht, und ihnen das Leben damit erleichtert. Alles, was ich wollte, ist auf der Strecke geblieben. Was das mit mir gemacht hat, kann man jetzt gut an mir sehen, wenn man sich dafür interessiert. Aber ich höre immer nur ›tu dies nicht‹, ›denk an Tim‹, ›lass dass lieber‹, ›mach das so‹, ›sag das‹, bla bla. Wisst ihr eigentlich wie beschissen es mir dadurch geht, wenn ihr mir eure Meinung aufzwängt? Mal daran gedacht?« Ich würde immer wütender, während ich eigentlich beabsichtigt hatte, alles schön und ordentlich in Ironie zu verpacken. War mir wohl nicht ganz gelungen.
»Paul, ist doch gut, wir haben es verstanden.« An der Tonart meiner Mutter erkannte ich sofort, dass sie gekränkt und angepisst war. Nachvollziehbar, wenn das eigene Kind einen mal mit der Wahrheit konfrontierte und nicht nach ihrer Geige tanzte. Mein Vater schien sich darüber nicht sonderlich zu ärgern. Er stellte seinen Bonsai in die Mitte vom Beistelltisch neben dem Sofa und räumte seine Miniaturgartenabfälle weg. Dann widmete er sich wieder der Unterhaltung.
»Was arbeitet die denn?«, wollte er wissen und lenkte damit das Gespräch glücklicherweise in eine andere Richtung.
»Irgendwas bei der Justizbehörde. Heute Abend weiß ich vielleicht mehr. Falls sie antwortet.« Der letzte Satz rutschte wie von selbst heraus.
»Wieso ›falls sie antwortet?‹«, hakte meine Mutter nach und schlürfte am Kaffee.
»Ich habe ihr von meiner Angsterkrankung geschrieben und dass ich deshalb nicht so kann, wie ich gerne möchte.«
»Ob das so eine gute Idee von dir war? Wenn sie dir wieder schreiben sollte, ist sie anders als die anderen Weiber, die du mit angeschleppt hast.« Mein Vater faltete seine Hände zusammen und legte sie auf seinem wieder größer werdenden Bauch ab, während er sein Gesagtes mit einem Dauernicken mehrfach bestätigte.
»Das stimmt. Aber warten wir mal ab. Noch ist überhaupt nichts sicher. Sobald ich etwas mehr über sie weiß oder sie sich mit mir treffen möchte, kann ich euch ja davon erzählen.« Zu meiner Zufriedenheit funktionierte meine Beruhigung, weshalb sofort ein anderes, aber altes Thema begonnen wurde.
»Wo ist eigentlich Tim?« Meine Mutter stellte immer diese Frage, wenn ich alleine zu Besuch war.
»Bei seiner Mutter, für zwei Wochen«, beruhigte ich sie.
»Hoffentlich macht er da kein Mist«, kam wie aus der Pistole geschossen. Mir war sofort klar, dass sie damit niemals aufhören würde.
»Und wenn das so ist, kann ich da auch nichts für«, antwortete ich und war schon wieder ziemlich angenervt von diesen negativen Schwingungen. Aber so waren sie schon immer. Kein Wunder, dass sie kaum Freunde hatten. Wo ich so darüber nachdachte, hatte ich auch keine Freunde mehr. War das vererbbar? Mutierte man während seines Lebens zu einem Teil der eigenen Eltern? Hoffentlich betraf das nicht nur die negativen Eigenschaften. Dann lieber das handwerkliche Geschick meines Vaters oder die Kochkünste meiner Mutter, obwohl, die Dinge habe ich ja bereits erlernt. Memo an mich: Sie meinen es gut mit mir, aber nicht so werden wie die Eltern!
Kapitel 3
In meinen eigenen vier Wänden fühlte ich mich doch am wohlsten. Keine dämlichen Fragen über mich, Tim oder sonst wen. Der Besuch bei meinen Eltern war aus der Betrachtung ›wir haben uns mal wieder gesehen‹ ein Erfolg. Die Unterhaltung glich eher einer Vernehmung bei einer Bundesbehörde und ich hatte wie immer das Gefühl, ein kleiner Junge zu sein, der nicht alleine über sein Leben entscheiden konnte. Ein schlechtes Gewissen einreden oder Vorwürfe machen konnten beide Elternteile sehr gut. Deshalb hielt ich auch eine gewisse Distanz aufrecht oder versuchte es zumindest, so gut ich konnte. Irgendwie gab es eine Co-Abhängigkeit von meinen Eltern, was vielleicht auch ein nicht zu verachtender Grund für meine Angsterkrankung sein könnte, wie ich bei meinem Besuch schon verdeutlichen wollte. Doch das lag nun hinter mir und ich hatte wieder Zeit für mich. Die Uhr zeigte mir, es wurde gleich sechzehn Uhr. Zeit, den Computer hochzufahren. Obwohl ich Lust auf ein Bierchen hatte, fasste ich den Entschluss, heute mal keins zu trinken, was mir sicher auch guttun würde. Ich schlüpfte in meine Jogginghose, drehte das Thermostat der Heizung auf drei. Obwohl wir bereits Mai hatten, war es manchmal noch recht kühl. Besonders in meiner Wohnung mit geschliffenen Holzdielenboden im Erdgeschoß. Darunter befanden sich die Kellerräume der ganzen Nachbarn. Die Kälte von dort schien durch den Fußboden zu drücken.
Ich leerte noch den Aschenbecher in den Abfalleimer in der Küche aus und setzt mich auf dem Stuhl vor dem Computer. Ich entzündete eine Zigarette, an der ich gleich zweimal hintereinander zog, bevor ich sie in den Aschenbecher ablegte, um den Browser zu starten und direkt auf meinem Singleprofil nachzusehen, ob ich eine Antwort bekommen hatte. Es war jetzt schon nach vier Uhr am Nachmittag und mein Postfach war leer. Schade, hatte ich sie mit meiner letzten Nachricht wohl doch verscheucht. Ich nahm mir vor, noch bis zum Abend zu warten, und ihr dann eine letzte Nachricht zu schreiben. Vor lauter Langeweile erkundete ich die Singlebörse weiterhin nach etwas Neuem oder Interessantem. Ich entdeckte eine kostenpflichtige Goldmitgliedschaft für nur 4,99 Euro pro Monat. Lief automatisch aus, keine Kündigung notwendig. »Warum nicht«, dachte ich und schloss einen Monat ab, wovon ich nur 2,99 Euro zahlen musste, da ich Ersttäter war und eine vierzehntägige Testphase beinhaltet war. Ich ging zu der Zeit noch davon aus, dass ich eine lange Zeit auf dieser Singlebörse unterwegs sein würde. Danach dachte ich erneut darüber nach, dass ich mein Profil schon löschen wollte, was mir anschießend wohl nur noch mehr Kummer bereitet hätte. Also war ich nun ein Goldmitglied, was durch ein hübsches goldenes Symbol in Form einer Goldmünze auf meinem Profilbild für alle sichtbar dargestellt wurde. Irgendwie schon ein lustiges Unterfangen, auf das ich mich da eingelassen hatte. Die Zeit des Wartens vertrieb ich mir mit meinem Videospiel als Spediteur. Dadurch verging die Zeit mal wieder wie im Fluge. Plötzlich war es kurz nach elf Uhr abends und ich hatte noch nicht mal etwas Vernünftiges gegessen. In der Küche kramte ich mir alles für ein dickes Sandwich aus ungesundem Weizenbrot mit Käse, Salami und noch richtig fettiger Mayo darauf heraus. Ich verschlang es noch im Stehen, während ich nebenbei alles zurück an seinen Platz stellte. Ordnung musste sein, zumindest in der Küche.
Zurück am Computer aktualisierte ich wieder mit F5 den Browser und hatte keine neue Nachricht bekommen. Aber auf meinem Profil war nun deutlich mehr Bewegung zu erkennen, seit ich diese Mitgliedschaft abgeschlossen hatte. Anscheinend einer der Vorteile für die Bezahlung. Aber von Mila80 gab es leider kein Lebenszeichen, was mich ziemlich traurig werden ließ. Es hatte doch alles so schön angefangen. Dann schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf: Was, wenn sie einfach nur bei jemanden zu Besuch war oder in ihrer Tätigkeit bei der Justiz so sehr eingespannt war und nicht antworten konnte? Ich erkannte sofort die Tendenzen meiner vorigen Gedankengänge, die der Schwarzmalerei. Und genau diese wollte ich mir nicht aneignen. Dann konnte ich mich mit meinen Eltern auf dieselbe Stufe stellen, was ich nicht wollte. Zumindest nicht wegen so etwas. Also fasste ich meinen ganzen verbleibenden Rest an positiver Energie zusammen und schrieb ihr eine kurze Nachricht.
›Hey, Mila,
ich wollte dir nur kurz mitteilen, dass du mich auf FB anschreiben kannst, wenn du da auch bist. Mein Name dort ist der gleiche wie hier. Ich würde mich darüber freuen. Also, vielleicht bis bald :)
LG Paul‹
So, fertig und ohne zu überlegen abgeschickt. Das tat irgendwie gut. Zufrieden machte ich alles aus und legte mich mit der Fernbedienung für den Fernseher in der Hand auf mein Schlafsofa. Diesmal blieb ich bei einem Dokumentarfilm über die Geschichte der Literatur hängen. Es ging um Ernest Hemingway und sein Leben mitsamt seinen Geschichten. Sehr interessant, wie ich fand. Ich schaute bis zum Ende zu. Als im Anschluss der Weg der Wikinger nach Nordamerika erforscht wurde, übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein.
Es klingelte an der Tür. Ein grässliches und penetrantes Klirren aus Metall. Eben war ich noch dabei, den Rasenmäher zu reparieren, damit ich der Nachbarschaft meine Dienste anbieten konnte, als mich dieses fiese Geräusch von der Türklingel aus dem Schlaf holte. Ich erwartete nichts und niemanden und beschloss daher, den Klingelnden zu ignorieren. Das zog die Konsequenz mit sich, dass es kurz darauf ein Sturmklingeln wurde. Genervt setzte ich mich auf und ging zur Wohnungstür. Ein Blick durch den Spion verriet mir, dass mein Vater etwas von mir wollte. Der Blick von der Wohnung durch das winzige Guckloch in der Tür offenbarte mir den freien Blick auf die verglaste Haustür, welche sich nun öffnete, da ich den Türöffner betätigt hatte. Das elektrische Summen bestätigte mir, dass er funktionierte.
»Was machst du den so früh hier?«, wollte ich wissen. Noch bevor mein Vater die Wohnung betrat, antwortete er nicht auf meine Frage, sondern stellte mir auch eine. »Hast du etwa noch geschlafen?«
»Ja, wieso?«
»Du verpennst noch den ganzen Tag«, predigte er mir, als er an mir vorbei durch den schmalen Flur geradeaus in das Wohnzimmer ging. Ich schloss die Tür und folgte ihm.