Minima Amoralia - Marcus Steinweg - E-Book

Minima Amoralia E-Book

Marcus Steinweg

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Beschreibung

Der Titel des Buchs verweist auf Theodor W. Adornos Minima Moralia. Nicht um ihm zu widersprechen, sondern um daran zu erinnern, dass Denken auch für Adorno nur als Konflikt mit dem Bestehenden zu haben ist, mit dem Zeitgeist, der Tradition, der Gesellschaft. Wahrhaft moralisches Denken fällt amoralisch aus. Es arrangiert sich nicht opportunistisch mit den ökonomisch wie ideologisch kontrollierten Verhältnissen und Zwängen, sondern befragt sie, zeigt ihre Gelenktheit auf, sowie die Tatsache, dass niemand ungelenkt, also frei, existiert. Die Notizen, die dieses Buch versammelt, handeln von Gespenstern, saurer Milch, Hans Blumenberg, verweigerter Schläfrigkeit, nichtheroischem Schreiben, aber auch von Heraklit, Sprachlust, vergesslichem Wasser, der Materialität der Sprache und dem Regenbogen, dem sich jedes Denken, das aufs Äußerste geht, anvertraut.

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2025

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MINIMA AMORALIA

Fröhliche Wissenschaft 248

Marcus Steinweg

MINIMA AMORALIA

INHALT

1. Traumgespinste

2. Gespensterlärm

3. Gewisse Leben

4. Theatrales Denken

5. Identitätskomödie

6. So gut wie Beckett

7. Begriffsdramatik

8. Grenzgänger

9. Ballistik

10. Chaos / Physis

11. Konsistenzlüge

12. Nichts Rätselhaftes

13. Nichtselbst

14. Geisterreich der Fantasie

15. Entsubjektivierung

16. Glaube

17. Notiz zu Kierkegaard

18. Pfeil

19. Wachsen

20. Nur einen Sommer

21. (Un)Gerettete Zukunft

22. Kitzel

23. Index

24. Fantasie

25. Versuchung

26. Spinne

27. Freiheit in actu

28. Hyptnotisch

29. Sehen des Unsichtbaren

30. Beides in einem

31. Traurige Metamorphose

32. Mit und ohne Blumenberg

33. Metaphorologie

34. Notiz zu Nietzsche

35. Trost

36. Denkspiel

37. So viele Gespenster

38. Vitalismus

39. Harmlosigkeitsmanagement

40. Saure Milch

41. Notiz zu Handke

42. Selbstexposition

43. Zeitgenossen

44. Irreversibel

45. Nicht heroisches Schreiben

46. Füße

47. Verweigerte Schläfrigkeit

48. Feuerbach

49. Denkbar präzise

50. Ins Unbekannte

51. Notiz zu Friedrich Schlegel

52. Ohne

53. Atemlose Produktion

54. Notschrei

55. Universalität

56. Linie / Kurve / Bahn

57. Notiz zu Günther Anders

58. Liebe oder Profit

59. Notiz zur Grausamkeit

60. Ein spezifischer Kartesianismus

61. Topologie

62. Schrei

63. Ich

64. Wechselspiel

65. Streben

66. Verrücktes Subjekt

67. Diät

68. Gezeigtes Gefängnis

69. Jenseits des Zugriffs

70. Dringlichkeit

71. Genuss

72. Engagierte Neutralität

73. Notiz zu Heraklit

74. Selbstverfehlung

75. Problematischer Kredit

76. Längst im Abseits

77. Ikarisches Denken

78. Vokabelskepsis

79. Sprachlust

80. Im Labyrinth der Sprache

81. Apologeten des Nichtdenkens

82. Thanatophilosophie

83. Versuch

84. Identität

85. Sumpf

86. Entwirklichung

87. Horizont

88. Spur

89. Ambivalenz der Aufklärung

90. Indefinit

91. Suche

92. Selbstbetrug

93. Stelzen

94. Übersetzt in Farbe

95. Vergessliches Wasser

96. Syntagmen

97. Nüchternes Funkeln

98. Maschine

99. Rennen

100. Wahrheitsberührung

101. Am helllichten Tag

102. Blindflug

103. Regenbogen

104. Materialität der Sprache

105. Loch im Sein

106. Filmemachen

107. Komische Vergeblichkeit

108. Seiltänzer

109. Seinskasino

110. Fallen

111. Ego morior

112. Hommage

113. Lesen

114. Heiliges Chaos

115. Gegenstandslos

116. Hurrikan

117. Nicht fertig mit Nietzsche

118. Liebesdynamik

119. Selbstbezichtigungsnarzissmus

120. Sinn

121. Verhexung

122. Vulkan

123. Entselbstung

124. Notiz zu Louise Bourgeois

125. Don’t cry – think!

126. Noch einmal zu Barthes

127. Notiz zu Cixous

128. Müde

129. Unverzichtbare Überstürzung

130. Horizont 2

131. Anfang

132. Das Unaufhörliche

133. Nebel

134. Konvergenz mit dem Nichts

135. Larvensubjekt

136. Sonne

137. Jetzt

138. Wahrheit

139. Wohnen

140. Ohnmacht

141. Vorhölle

142. Notiz zur Freiheit

143. Inkompatibel

144. Hysterie

145. Ewiges Opfer

146. Abstraktes Denken

147. Fehl der Sprache

148. Hellsichtigkeit

149. Keine Gegenwart

150. Gespenstisches Selbstverhältnis

151. Brücke

152. Notiz zu Karl Kraus

153. Kostümliebe

154. Ewiger Winter

155. Stilist

156. Im Dunkeln

157. Jetzt oder nie

158. Instabile Gegenwart

159. Metaphysik der Jugend

160. Materialismus der Freiheit

161. Hieroglyphen

162. Nachtwächter

163. Noch einmal zu Susan Sontag

164. Monströse Normalität

165. Berstende Kraft

166. Sexualität

167. Notiz zu Heidegger

168. Schlamassel

169. Was Agnes Martin weiß

170. Fröstelnder Narzissmus

171. Notiz zu Adnan

172. Sperrung

173. Gnade

174. Karikatur

175. Intensität

176. Objekt / Subjekt

177. Glut

178. Strindberg

179. Zerrissener Traum

180. Langer Weg

181. Emphase

182. Fragen

183. Phantasmen

184. Transzendenz & Immanenz

185. Leere

186. Was macht der DJ?

Anmerkungen

TRAUMGESPINSTE

Versuchte man, das Charisma einer Person zu ermitteln, käme man nicht ohne Metaphysik aus. Was Bertolt Brecht an Walter Benjamin moniert, mit dem ihn eine unwahrscheinliche Freundschaft verband, war dessen Festhalten am metaphysischen oder mystischen Moment. Benjamin blieb zeit seines Lebens Metaphysiker. So metaphysikkritisch sein Denken auch ausfiel, so sehr blieb es den Anteilen am Phänomen zugewandt, die sich der Greifbarkeit entziehen. Nie war er in Versuchung, sich einem platten Positivismus anzuschließen. Sein Dinguniversum ist belebt. Es ist durchgeistigt, weil lauter Geister es bevölkern. Mit Kafka teilt er die Liebe zu Gespenstern. Allerdings zeugen die Gespenster nicht von positiver Transzendenz. Sie wohnen in den Dingen und zwischen ihnen. Und manchmal ergreifen sie vom menschlichen Subjekt Besitz, um es selbst als Gespenst erscheinen zu lassen. An ihnen ist etwas Fremdes, das sich weder verstehen noch bestreiten lässt. Georges Didi-Huberman spricht in seinem Buch zu Sandro Botticellis Venus den Entzugscharakter von dessen Bildpersonal an.1 Wie bereits Aby Warburg bemerkt, sind die dargestellten Figuren, ob Jünglinge oder Mädchen, eigenartig abwesend. Sie sind da, ohne da zu sein, wie Gespenster. Ihre Präsenz ist zugleich Absenz. Was man ihre Gegenwart nennen kann, bleibt von einer Art Widerständigkeit bestimmt, als kehrten sie sich von uns ab. Man könnte sogar meinen, dass sie sich von sich selbst distanzieren, wie Traumgespinste, die im Moment ihres Erscheinens schon im Verschwinden begriffen sind. Didi-Huberman erkennt in dieser Präsenz-Absenz-Dialektik die gespenstische Bilddialektik schlechthin. Bilder entziehen sich als solche im Modus ihrer Vergegenwärtigung. Sie schleichen sich ins Vergessen, bevor man sie, immer unzureichend, erinnern kann. Vielleicht ist es das, was Benjamin mit der Aura im Blick hat: dieses primordiale Vergessen dessen, was nie gegenwärtig war, und die Erinnerung an es wie an etwas apriorisch Verlorenes, dem keine Trauer entsprechen kann.

GESPENSTERLÄRM

Nachdem er in einem Brief vom Januar 1914 Bertrand Russell von seiner »schrecklichen Angst« und »Depression« berichtet hat, räumt Wittgenstein ein, nie gewusst zu haben, »was es heißt, sich nur noch einen Schritt vom Wahnsinn [getrennt] zu fühlen.« Bis es schließlich doch zum Gefühl der Besserung seines Zustands kommt. »Erst seit zwei Tagen kann ich wieder die Stimme der Vernunft durch den Lärm der Gespenster hören und habe wieder angefangen zu arbeiten.«2 Wie Kafka fühlt sich Wittgenstein von Gespenstern umfangen. Es sind die Dämonen des Wahnsinns, die an ihm zerren. Ihn weht der kalte Atem der Psychose an. Mit ihrem Eintreten würde sein Denken sich aufzulösen beginnen. Er ist Logiker, er glaubt an die Kraft des Verstands und verfügt über eine ungewöhnlich hohe Intelligenz. Etwas zugespitzt kann man sagen, dass seine Intelligenz seine Intelligenz bedroht. Hinzu kommt der Eindruck, nicht mit sich im Reinen zu sein. »Wie kann ich Logiker sein, wenn ich noch nicht Mensch bin!«3, heißt es in einem anderen Brief an Russell um Weihnachten 1913. Bis in die Tagebuchaufzeichnungen der 1930er-Jahre festigt sich das Gefühl, an der Grenze zum Wahnsinn zu operieren. Wichtig ist, alles dafür zu tun, diese Grenze nicht fahrlässig zu überschreiten. Die gesamte Philosophie Wittgensteins liegt hier: in diesem Appell, der zunächst an ihn selbst ergeht, die Grenze zum Unaussprechlichen anzuerkennen, sich ihr zu nähern, aber sie keinesfalls zu übertreten. Daher Wittgensteins Imperativ, stehen zu bleiben, wo andere weitergehen. Erstens, weil er nicht dem sinnwidrigen Gequassel derer erliegen will, die es tun, zweitens, weil er weiß, dass in der Zone des Nichtsinns der Wahnsinn auf ihn wartet. Sein Denken resistiert sowohl dem Nichtsinn wie dem Wahnsinn. Es ist widerständig, geradezu militant in diesem Sinn.

THEATRALES DENKEN

Es gibt eine Theatralik des Denkens, die zwischen den auf seiner Bühne befindlichen Agenten nicht eindeutig zu unterscheiden erlaubt. Das sokratische Theater gewisser platonischer Dialoge lässt Sokrates bald als Wissenden, bald als Unwissenden, oft als Fragenden auftreten. Nicht immer weiß man, an wen die Fragen, die er stellt, gerichtet sind. An seine Gesprächspartner, an eine ferne Zukunft, an ihn selbst? Bei Nietzsche stößt man auf ein inszeniertes Maskenspiel, das sich in die Tiefe des Chaos bohrt, das er als dionysischen Ungrund konzipiert. Und auch Foucault und Deleuze sind theateraffine Denker, die sich dem Maskenspiel hingeben, schließlich bewegt sich alles, was sie sagen, an der Grenze zum Schein oder zur ontologischen Inkonsistenz, die weitere Namen des Chaos sind. Und Lacan? Seine exzentrischen Lehrauftritte fallen komödiantisch aus. Der ungeheure Ernst und die messerscharfe Intelligenz seiner Überlegungen kippen leicht ins Komische. Auf dem Grund des Komischen allerdings wartet oder persistiert das Reale, von dem er sagt, dass man es sich nicht einverleiben kann. Was möglich ist: es aus der Distanz des Bühnensubjekts herbeizuwinken, es also als das zu markieren, dem man sich nicht ungeschützt nähern soll. Die Bühne ist der Schutzraum, in dem verhandelt wird, was nur indirekt angesprochen werden kann, damit es, um es mit einer Formulierung Rilkes zu sagen, »gelassen verschmäht, uns zu zerstören.«6

IDENTITÄTSKOMÖDIE

Will man die Wahrheit eines Denkens ausmachen, genügt es, herauszufinden, in welchen Spiegel es sich verirrt. Wo sucht es sich, wo glaubt es sich zu erkennen, in welchem Identitätsspektakel bildet es sich ein, auf sich zu treffen, auf ein Selbst, das es selbst wäre, kein Gespenst also und mehr als ein Abbild? Die narzisstische Fantasie, im Draußen auf sich zu stoßen, dass da irgendwo entschieden wäre, wer man sei, generiert eine Ontologiekomödie, der sich jeder Identitarismus unterwirft, während er tragische Züge anzunehmen beginnt. Plötzlich ist alles grotesk und man findet sich in einer Geisterbahn wieder, aus der es kein Entrinnen gibt. Es ist ein Spiegelkabinett ohne Ausgang, das jedes Identitätsdenken hervorbringt. Was es sich unter sich vorstellt, hat den Charakter einer ewigen Versuchung angenommen. Das Begehren erstickt am Begehren seiner selbst (oder dessen, was der Spiegel ihm zu versprechen scheint).

SO GUT WIE BECKETT

Man kann nicht aufhören zu schreiben, weil mit allem, was geschrieben wurde, noch nichts gesagt ist. Oder nichts als nichts, weshalb alles zu sagen bleibt und Schreiben und Denken nicht aufhören. Das weiß Derrida so gut wie Beckett.

GRENZGÄNGER

Nie fiele es Susan Sontag ein, das Lob der Morbidität anzustimmen. Ihre Intelligenz verbietet ihr noch das der Gesundheit, da sie weiß, dass es zwingend reaktionär ausfällt. Deshalb kann sie schreiben, dass »Schriftsteller wie Kierkegaard, Nietzsche, Dostojewski, Kafka, Baudelaire – und Simone Weil – gegenwärtig [1963] gerade deshalb bei uns im Ansehen [stehen], weil ihre Werke eine Atmosphäre des Ungesunden umgibt. Gerade in diesem Ungesunden liegt ihre Gesundheit und ihre Überzeugungskraft.«9 Was Sontag hier sagt, darf weder dem Kult der Gesundheit noch seinem Gegenteil zugeschlagen werden. Es unterminiert ihre Kultivierung wie ihre Gegensätzlichkeit. Dass die Gesundheit der Genannten im Ungesunden liegt, heißt, dass sie Grenzgänger sind. Sie assimilieren sich nicht dem Bestehenden, sondern widersetzen sich ihm. Mit fiebriger oder anorektischer Entschiedenheit gehen sie gegen die Imperative ihrer Zeit vor, seien sie kultureller, religiöser, sozialer, politischer, medizinischer oder ökonomischer Natur. Sontag erkennt die Überzeugungskraft ihrer Helden in deren Weigerung, Helden zu sein. Obwohl sie sie »Kulturheroen« nennt, insistiert sie auf ihnen als Protagonisten eines künstlerischen Extremismus, der sie der Verausgabung sowie faktischem Leid aussetzt. Natürlich ist ihr die Gefahr pathetischer Leidensstilisierung bewusst. Nur hindert sie dieses Bewusstsein nicht daran, in ihnen Grenzfiguren im bürgerlichen Sozialtheater zu sehen, die dessen Beliebigkeit unter Preisgabe ihrer Gesundheit demonstrieren. Es sind Autoren von »ätzender Originalität«, sagt sie. Ihre Nachahmer fallen hinters von ihnen Verworfene zurück. »Es gibt Leben, die einen exemplarischen Charakter haben, und solche, die ihn nicht haben; es gibt solche, die uns zur Nachahmung einladen, und solche, die wir mit einer Mischung aus Abscheu, Mitleid und Ehrfurcht aus der Distanz betrachten. Hier liegt, grob gesprochen, der Unterschied zwischen dem Helden und dem Heiligen (wenn man diesen Begriff im ästhetischen statt im religiösen Sinne gebrauchen darf).« Als herausragendes Beispiel eines solchen »Heiligenleben[s]« nennt Sontag dasjenige von Simone Weil, die in den Hungerwahn getriebene Anorektikerin, deren Denken sich am Limit seiner Möglichkeiten überschlug, ohne der Versuchung des Irrationalismus zu verfallen, ohne den geringsten Kompromiss mit der Doxa und ihrer Gesundheitsreligion einzugehen, ohne der Lüge aufzusitzen, dass das Leben umsonst sei, solange man sich endlichen Autoritäten beugt.

BALLISTIK

Dass es Denken nur als sich selbst denkendes Denken gibt, wissen wir spätestens seit Descartes. Das heißt nicht, dass es sich in der Bemühung um Gewissheit auf den Zweifel verlässt. Es muss noch den Zweifel bezweifeln, wie Wittgenstein weiß. Ein unendlich verlängerter Zweifel wäre keiner. Vor allem wird der Zweifel vom Unbezweifelten getragen oder flankiert. Ein wenig Glaube gehört noch zur rigorosesten Skepsis. Man muss sich klarmachen, dass der Glaube auf dem Zweifel ruht. Das gilt nicht nur für den religiösen Glauben; aber wer will entscheiden, ob es einen nicht-religiösen gibt? Glauben heißt bereits an der Verlässlichkeit des Glaubens zweifeln und Zweifeln heißt ahnen, dass es ohne Glauben nicht geht. Das Denken erstreckt sich in sein Jenseits. Es katapultiert sich ins Ungewisse. Bevor es dies tut, prüft es seine Mittel und die Wahrscheinlichkeit seiner Flugbahn. Es gibt es nicht, ohne eine gewisse Ballistik. Das aber heißt, dass es sich noch im selbstbewussten Flug seiner Schwerfälligkeit versichert. Grenzen überschreitet nur, wer seine Grenzen kennt.

KONSISTENZLÜGE

Dem Selbstverlust beizuwohnen, als ginge er einen nichts an, ist Grunderfahrung des Subjekts, sofern es sich ins Nichts seiner Subjektivität versenkt, das heißt, mit Hegel gesprochen, in die präsubjektive Substanz. Es ist das Meer der vorgeistigen Materie, in die das Bewusstsein zurücktaucht, um sich der Gefahr auszusetzen, endgültig mit ihm zu verschwimmen. Was Sigmund Freud mit dem ozeanischen Gefühl assoziiert, ist Ausdruck dieser Regression. Es gibt sie auch als Progression, immer dann, wenn das Subjekt seinen Grund als Abgrund erfährt, um aus dieser Erfahrung ernüchtert, erneuert, erleuchtet hervorzugehen. Man sollte diese Erfahrung nicht als Esoterik abtun. Sie ist Erfahrung aller, die eine Erfahrung machen, um ihr Selbst an ein Licht zu verlieren, das ihre Nacht zum Leuchten bringt. »Erfahrung«, schreibt Peter Sloterdijk, »ist, was eine Wendung des Subjekts gegen sich selbst bewirkt und die vernichtende Befreiung von einer Vormeinung mit sich bringt.«14 Sie verstört und redefiniert die Ökonomie des Subjekts. Es weiß nun, auch ohne Freud gelesen zu haben, nicht bei sich zu Hause zu sein. Plötzlich begreift es sich als sein Draußen. Denken heißt jetzt, der Fremdheit mittels einer Sprache zu entsprechen, deren Gebrauch das Selbst verrät. Die Erfahrung erweist sich als Verrat, der das Subjekt zum Schauplatz seines Entgleitens macht. Und dennoch handelt es sich erst dann um eine Erfahrung, wenn sie luzide, kompromisslos, mutig ausfällt. Es gibt Menschen, die es schaffen, sich an ihrer Leere sattzusehen. Ihnen gelingt, mit der Lüge ihrer Konsistenz zu brechen, weil sie es riskieren, ohne sie zu existieren.

NICHTS RÄTSELHAFTES

Bewusstsein als Droge. Es gibt Hellsichtigkeit, die einen taumeln lässt. Wie schützt man sich vor ihr? Indem man in den Rausch flüchtet, während sie selbst einen Rausch darstellt? Es gibt das Wissen, ums bewusstseinserweiternde Wissen. Es wirkt wie eine Droge, die das Bewusstsein derart zuspitzt, dass es sich der Ohnmacht nähert oder dem Wahn. Sollten Halluzinationen wie Psychosen Strukturen sein, die das Subjekt der angsteinflößenden Wahrheit nähern, dass es keine Geheimnisse, keinerlei Dunkelheit, nichts Rätselhaftes gibt?

GEISTERREICH DER FANTASIE

Obwohl sich das Objekt des Begehrens leicht benennen lässt, ist mit dieser Benennung fast nichts über das Begehren gesagt. Hinterm Objekt, von ihm unsichtbar gemacht, persistiert, wofür es einsteht. Immer ist es Substitut dessen, was es nicht zum Verschwinden bringen kann. Indem sich das Begehren aufs Objekt richtet, öffnet es sich dem, was an ihm mehr als dieses Objekt ist. Es eröffnet den Raum der Objektlosigkeit. Man kann auch vom Geheimnis einer Dingwelt sprechen, die das Geisterreich der Fantasie ist. In ihm ist nichts greif- oder besitzbar, weshalb die Objekte als Stellvertreter der Dinge fungieren. Indem sie es tun, reißen sie das Subjekt der Begierde in die Objektwelt zurück, die die Welt vorläufiger Befriedigung oder relativer Satisfaktion genannt werden kann. Vorläufig und relativ deshalb, weil das Begehren über sie hinausschießt, um sich der Erfahrung des Unverfügbaren zu exponieren.

ENTSUBJEKTIVIERUNG

Im Meskalinrausch glaubt Henri Michaux sich der »Mathematik des Weltgeheimnisses«15 zu nähern. Seine Drogenprotokolle überzeugen schon deshalb, weil sie keinerlei Obskurantismus implizieren. Im Gegenteil: Sie klären auf! Worüber? Über das, was man die Metaphysik des Körpers und seiner überschwänglichen Zustände nennen könnte, über die Maßlosigkeit, die ein Gefühl der Überfülle freisetzt, während sie das Subjekt einer Entsubjektivierungserfahrung aussetzt, die es zu gesteigerter Genauigkeit der Wahrnehmung zwingt, damit ihm nichts vom Nichts, das mit der Überfülle in eins fällt, entgehen möge, um sich schließlich beim Verlust seiner Sinne durch die Intensivierung ihrer Leistung als nahezu unbeteiligter Zeuge zuzusehen.

GLAUBE

Simone Weil verbindet mit Kierkegaard das Wissen, dass jedes Wissen an den Glauben grenzt. Es muss sich ausreizen, bis es kaum noch wissen kann, ob es nicht längst glaubt. Hierin liegen sein Hyperbolismus und seine Gefahr. Kierkegaard assoziiert den Glauben mit dem Absurden. Er transzendiert den Verstand und verschafft ihm durch diese Transzendenz Gültigkeit. Der Glaube ersetzt den Verstand nicht, er bestärkt ihn, indem er ihn an seine Grenze und über sie hinausführt. Natürlich handelt es sich nicht um den Glauben an eine personale Instanz. Der Glaube, notiert Kierkegaard im Tagebuch, ist, »was die Griechen den göttlichen Wahnwitz nannten.«16 Er richtet sich auf die Leere aus, die Gott heißt. Wer aber sein Sein an der Leere misst, muss wahnsinnig sein. Es ist dieses Wahnsinnigwerden des endlichen Subjekts, das dem Unendlichen, das Glaube heißt, in seinem Leben Gültigkeit verschafft.

NOTIZ ZU KIERKEGAARD

Kierkegaard hat den (abstrakten) Begriff mit der (konkreten) Existenz kurzgeschlossen. Man könne »einen Begriff ohne die Erkenntnis haben, aber nicht die Erkenntnis ohne den Begriff«, heißt es in der Mitschrift einer Vorlesung Schellings zur Philosophie der Offenbarung vom Wintersemester 1841/42.17 So sehr Kierkegaard eher Schriftsteller als Philosoph genannt werden kann (was Heidegger tatsächlich abschätzig tat, während er massiv von ihm beeinflusst blieb), so sehr stimmt das Gegenteil. Das existenzielle Denken fällt bei ihm als Begriffsdenken aus. Die Begriffe sind, wie in Hegels Phänomenologie des Geistes, existenziell temperiert. Sie bersten vor Vitalität und Unruhe, was nicht heißt, dass sie nicht streng im Sinne der von Kierkegaard praktizierten Vitalitäts- und Unruhedialektik sind.18 All dies findet in den Berliner Tagebüchern in Auseinandersetzung mit dem späten Schelling statt, einem Denken, das seine ursprüngliche Leidenschaft – zumindest sieht es Kierkegaard so – verloren hat. Die Diagnose lässt sich aufs Heute übertragen. Seine Zeit sei »so erbärmlich, weil sie keine Leidenschaften hat.«19