Subjekt und Wahrheit - Marcus Steinweg - E-Book

Subjekt und Wahrheit E-Book

Marcus Steinweg

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Beschreibung

Marcus Steinwegs neues Buch kreist um zwei Grundbegriffe der philosophischen Tradition: Subjekt und Wahrheit. In über 300 Bemerkungen zu ›Positivismusfalle‹, ›Aktive Indifferenz‹, ›Kopflos denken‹, ›Karate (空手)‹, ›Wittgensteins Herz‹, ›Lieblingstier‹, ›Politidiotie‹, ›Chinesische Romantik‹, ›Gespensterliebe‹ oder ›Zoologische Irritation‹ geht es ebenso um die kritische Infragestellung dieser Kategorien wie um die Insistenz auf ihrer Unverzichtbarkeit. Immer hält sich Steinwegs Denken im Spannungsfeld von Konsistenz und Inkonsistenz, Vertrautheit und Unvertrautheit, Immanenz und Transzendenz.

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Marcus Steinweg

Subjekt und Wahrheit

»Entschuldige nichts, verwische nichts,sieh & sag, wie es wirklich ist– aber Du musst das sehen,was ein neues Licht auf die Tatsachen wirft.«Ludwig Wittgenstein

INHALT

1. Papagei

2. Schlinge

3. Hegel & Kafka

4. Seltsam

5. Peitsche

6. Uhr

7. Ungeheuer

8. Xeniteia

9. Löwe

10. Spiegel

11. Kunst

12. Traum und Zeit

13. Emergenz

14. Wunde

15. Zwiefache Angst

16. Notiz zu Baudelaire

17. Reise

18. Mantel

19. Maske

20. Streunen

21. Was jeder weiß

22. Notiz zu Foucault

23. Problematischer Kredit

24. Beschwichtigung

25. Scham

26. Ironie

27. Notiz aus Warschau

28. Weigerung

29. Geheimnis

30. Notiz zu Etel Adnan

31. Opposition

32. Spaziergang

33. Überraschung

34. Abgrund

35. »Liebe mich!«

36. Baltimore am frühen Morgen

37. Unerlöst

38. Fantasie

39. Karate ()

40. Melancholie

41. Substitutionslogik

42. Bellende Hunde

43. Sex oder Kino

44. Panik

45. Bloch mit Lacan

46. Notiz aus Paris

47. Lücke

48. Berührung des Unberührbaren

49. Tatsachenesoterik

50. Ohne Gespenster

51. Schmerz

52. Barfuß

53. Bummeln

54. Wolken

55. Kontingenzoffenheit

56. Mut

57. Intensitäten

58. Aufbruch

59. Kafka ohne Bataille

60. Desperado

61. Wette

62. Netz

63. Komplexe Wirklichkeiten

64. Märchen

65. Verlangen

66. Notiz zu Nancy

67. Atheismus

68. Notizen

69. Gott ist tot

70. Deleuze war Spinozist genug, …

71. Falsche Gegensätze

72. Plätschern

73. Fehler

74. Ex negativo

75. Notiz zu Karl Kraus

76. Liebe

77. Kindheit

78. Angsthasen

79. Schiefe Welt

80. How it is

81. Notiz zu Michaux

82. Sucht

83. Lektion

84. Tricky

85. Zwist

86. Kopf

87. Lust

88. Dämon

89. Traum

90. Kometen

91. Haut

92. Notiz zu Kafka

93. Milch

94. Denken

95. Romantic Shit

96. Kette

97. Notiz zu Deleuze

98. Der Knilch

99. Ja-Sagen

100. Pedanterie

101. Gespensterliebe

102. Schnori

103. Aufmerksamkeit

104. Athletik

105. Notiz zu Valéry

106. T-Shirt

107. Paradies

108. Schlüssel

109. Harmlos

110. Paraphrase

111. Nichts

112. Riss

113. Tabu

114. Einsatz

115. Unruhedialektik

116. Humor

117. Lesen

118. Parallelismus

119. Certitudo

120. Existenz

121. Null

122. Mittendrin

123. Romantisch?

124. Notiz zu Nietzsche

125. Gezischel

126. Gesetz der Liebe

127. Schiedsrichter

128. Labyrinth

129. Pferd

130. Interpretation

131. Opium

132. Nichtsnutz Odradek

133. Tänzer

134. Spinne

135. Notiz zu Lacan

136. Definition

137. Fieber

138. Eine Art Irrsinn

139. Ermutigung

140. Notiz zu Kant

141. Synopse

142. Intervention

143. Rasur

144. Romantik

145. Schein

146. Selbsteinmauerung

147. More Geometrico

148. Hier

149. Écrire

150. Collage

151. Loch

152. Wittgensteins Herz

153. Drehtür

154. Verdacht

155. Notiz zu Kojève

156. Traum 2

157. Wildes Denken

158. Liebeslüge

159. Impotenz

160. Notiz zu Cioran

161. Ontologische Faulheit

162. Katze

163. Poetische Präzision

164. Nähe

165. Eye to Eye

166. Apologie

167. Ununterscheidbarkeit

168. Mythen

169. Vergebliche Tränen

170. Erfahrung

171. Skandal

172. Geheimnis

173. Mehr ist nicht drin

174. Schreckbild

175. Vertrauen

176. Nach dem Tod Gottes

177. Kreuzung

178. Privileg

179. Mutter

180. Positivismusfalle

181. Immanenztheater

182. Essenzialismus

183. Zähne

184. Appell

185. Apriori

186. Notiz zu Adorno

187. Tanz der Begriffe

188. Walser mit Wittgenstein

189. Traurige Tiere

190. Souveränität

191. Konsistenztraum

192. Kathedralik

193. Chinesische Romantik

194. Hysterie

195. Straucheln

196. Stern

197. Deleuze mit Derrida

198. Stay here

199. Inkongruenz

200. Einfach

201. Sexualtheologie

202. Daneben

203. Wirkliche Wirklichkeit

204. Angst?

205. Intelligenzmangel

206. Kopflos

207. Drift

208. Je ne supporte pas la stupidité

209. Nichts?

210. Sekundarismus

211. Autoritätsgläubig

212. Kompromiss

213. Selbstverkennung

214. Punkt

215. Lösung

216. Komplexität

217. Kalt

218. Gespenster

219. Sätze

220. Tanz

221. Aktive Indifferenz

222. Vektor

223. Mimikry

224. Schnurren

225. Liturgie

226. Notiz aus Malta

227. Clare et distincte

228. Selbstverkleinerung

229. Faszination

230. Notiz zum Körper

231. Kafka mit Bataille

232. Kinder

233. Alchemie

234. Kleine Insektenkunde

235. Notiz zu Susan Sontag

236. Chance

237. Gespensterliebe 2

238. Witz

239. Konstruktion

240. Ekel

241. Fäden

242. Umgekehrt

243. Heiterkeit

244. Kuss

245. Notiz zu Derrida

246. Wittgenstein

247. Befremdung

248. Neue Welt

249. Notiz zu Alexander Kluge

250. Traumwesen

251. Lüge

252. Dumm?

253. Riss

254. Überwindung

255. Folie

256. Alles klar?

257. Notiz zu Barthes

258. Sensibilismus

259. Schriftsteller

260. Angst

261. Taschenlampe

Anmerkungen

PAPAGEI

»Ohne Vergessen ist man nur Papagei«1, schreibt Valéry, als wolle er Nietzsches These vom aktiven Vergessen bekräftigen, die die Kraft des Denkens statt in der Erinnerung in ihrem Versagen erblickt. Statt wie ein Papagei zu sein, der Gehörtes wiederholt, impliziert Denken die Bereitschaft zu vergessen, was man weiß. Nicht um in den Irrationalismus zu gehen, sondern um sich der Autorität des Gewussten zu entziehen. Denken erschöpft sich nicht im Wissen. Denken heißt, der Wissensautorität sein Vertrauen zu entziehen. Weder beugt es sich der δόξα noch der ἐπιστήμη. Wer beim Denken nicht bereit ist, den Kopf zu verlieren, denkt überhaupt nicht.

SCHLINGE

»Die Wahrheit«, schreibt Kierkegaard in seinen Tagebüchern, »ist eine Schlinge: Du kannst sie nicht haben, ohne daß du gefangen wirst; du kannst die Wahrheit nicht derart haben, daß du sie fängst, sondern nur derart, daß sie dich fängt.«2 Nichts anderes sagt Hegel übers absolute Wissen. Du kannst es nicht haben, weil es dich längst hat. Deshalb jagst du ihm hinterher – als Beute.

HEGEL & KAFKA

Beide setzen das Subjekt ins Verhältnis zum Absoluten, das bei Freud das Unbewusste und bei Lacan das Reale heißt. Beide kommen zu dem Schluss, dass es keinen Zugang zu ihm gibt, weil es kein Entkommen vor ihm gibt. Dass mir der Zugang zu ihm verwehrt bleibt, hat den Grund, dass es mir immer schon zugänglich ist. Die Linie zu ihm ist längst überschritten. Wollte ich sie nochmals überschreiten, verlöre ich mich mit ihm, weshalb eben diese Überschreitung unmöglich ist.

SELTSAM

Robert Walsers Prosa ist von seltsamen Gestalten bevölkert. Sie gehören der Welt an, indem sie sich ihr entziehen. Es sind Resistenzfiguren, die sich der Gesellschaft durch unmerkliche Gesten verweigern. Sie sind ganz von dieser Welt. Doch sind sie es auf eine seltsam-verstörende Art. Man könnte sie Immanenzfiguren nennen, insofern sie den Übergang zur Transzendenz verschließen, indem sie die Immanenzzone durchlöchern, um ihre Inkonsistenz zu demonstrieren. Rätselwesen, die inmitten transzendenzloser Immanenz deren Brüchigkeit indizieren. So werden sie zu Protagonisten einer noch unerschlossenen Welt. Eine dieser Figuren wird als »Doktor« beschrieben, nicht weil es sich um einen Doktor handelt, sondern weil sie »eine Art Doktorhut« auf dem Kopf hat. Seltsam am »Doktor« ist seine Entrücktheit in ein immanentes Jenseits. Er tritt inmitten der Menschen als einer auf, der ihnen nur diskret angehört. Der »Doktor« ist nicht verrückt, er verbleibt im Bereich des Greifbaren, wenn auch in Gestalt der Ungreifbarkeit selbst. Er trägt, schreibt Walser, »eine unzweideutige Verachtung gegenüber seiner Umgebung zur Schau«.3 Ihm gelingt es nicht den Abstand zu verbergen, der ihn von den anderen trennt. Walser beschreibt ihn als von Gedanken durchschossen, die ihm Realitäten öffnen, die der gesunde Menschenverstand als Gespinste beschreibt. Er ist nicht nur vom Rest der Menschheit abgeschnitten, es scheint, als leide er noch an einer unüberwindbaren Distanz zu sich selbst. Ein Subjekt ohne Wesen, wie ohne Absichten. Von Musils Mann ohne Eigenschaften, über Duras und Deleuze bis hin zu Agamben, findet sich der Gedanke eines Subjekts ohne Subjektivität. Walsers »Doktor« ist nur ein Beispiel dieser leeren Allgemeinheit: »Was dieser Mann sein eigen nannte, betrachtete er als etwas, dessen er auch schon Grund hatte, überdrüssig zu sein. Nur was er ersehnte, vermochte er zu achten, und nur was er erstrebte, schien er zu besitzen.«4 Walter Benjamin hat von Walsers Figuren gesagt, dass sie aus der Nacht kommen. Er vergaß hinzuzufügen, dass sie in sie zurücksinken, von Augenblick zu Augenblick. Und dieses Sinken wird ihr Leben gewesen sein.

PEITSCHE

Über den Selbstausbeutungskapitalismus schreiben heute alle. Zu seiner Zeit war Kafka der Einzige: »Das Tier entwendet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, daß das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn.«5

UHR

Das Subjekt zu denken – das seinen Tod nicht nur überlebt hat, sondern andauernd überlebt: seinen Tod wie seine Auferstehung – bedeutet der Wahrheit einer Torsion zu entsprechen, die es gegen sich selbst dreht wie eine gegen den Uhrzeigersinn laufende Uhr. Die Zeit des Subjekts – die seine Lebensspanne umfasst – verläuft nicht vom Vergangenen ins Künftige. Das Subjekt ist längst tot, in Gestalt eines lebenden Toten, der nicht aufhört, sich aus seiner Zukunft heimzusuchen, um als verrücktspielende Uhr, mit Zeigern wie Fingern, an seinem Ursprung zu kitzeln, der mit seinem Tod koinzidiert.

UNGEHEUER

Der Kampf mit dem Dämon erweist sich als Kampf mit sich selbst. Die Psychoanalyse kennt diesen Konflikt. Im Denken ist es der Kampf gegen »das schändliche Ungeheuer des Dogmatismus«6, wie Barthes es nennt. Das Dogma, das sind wir. Der Dämon ist in uns. Es sind nicht ausschließlich die Anderen, die irren. Dies ist die fundamentale Lektion der sokratischen Lehre. Wir müssen gegen uns selbst kämpfen, um zu verstehen, wer wir sind.7 Wichtig ist zu verstehen, dass das innere Ungeheuer keine Macht darstellt, sondern ein Außen, das in mir wohnt, ohne mir anzugehören. Barthes weiß, dass der Kampf mit dem Dogmatismus nicht gewonnen werden kann. Er hat unendlich viele Leben. Einmal geschlagen, setzt er sein Unwesen unter anderem Namen fort. Es gibt kein Jenseits des Dogmatismus, keinerlei letzte Wahrheit. Aber es gibt die Möglichkeit, sich nicht damit abzufinden, dass es so ist. Das Ungeheuer verschwindet nicht, doch es hat Schwächen. Ab und zu verliert es an Einfluss. Das sind die Momente, in denen das Denken sich von seinen Gespenstern befreit, in dem es sie als solche markiert.

XENITEIA

LÖWE

Einmal beschreibt Robert Walser den abessinischen Löwen im Zoologischen Garten Berlins. Sein Blick richtet sich auf Erscheinung wie Verhalten des Tiers. Er erkennt in ihm einen Schauspieler, dessen Inszenierung vor Publikum kontrolliert und dramatisch ausfällt, einen Tragiker, den nichts aus der Fassung bringt. Er bewahrt Ruhe noch dann, wenn er sich dem Drama seiner Sterblichkeit öffnet. Walser skizziert ihn als würdevolles und wildes Tier. Darin liegt seine Schauspielkunst: In der Gleichzeitigkeit von Anmut und Gefährlichkeit: »Er ist sein eigener Dichter und sein eigener Spieler.«9 Man muss an das heraklitische Kind denken, den Archonten des Weltspiels, in dem Heidegger, Axelos und Deleuze das Prinzip gekrönter Anarchie erblicken. Das Schicksal der Welt liegt in seinen Händen. Das Kind paart Unschuld mit Unberechenbarkeit. Wie der Löwe Walsers, der – als »eingesperrtes Tier« – Souveränität angesichts faktischer Gefangenschaft exerziert, ist das Kind Allegorie gefesselter Kontingenz. Walser spricht vom »Götterblick« des Löwen. Er erkennt in ihm Erhabenheit und Schrecken, Milde und Zorn. Rilkes Panther verwandt, blickt er durch Käfigstäbe in die Welt, um »im Gefangenenzimmer hin und her« zu gehen: »Immer hin und her. Hin und her. Stundenlang. Welch eine Szene! Hin und her, und der mächtige Schweif peitscht den Boden.« Welch eine Szene also? Unser aller Szene, die wir gefangen sind im Käfig – statt nackter Triebe, unserer Welt. Die Szene des in seinem Gefängnis schauspielernden Löwen exemplifiziert die Realität sämtlicher Subjekte, deren Lebensform ihr Leben verneint. Dem Löwen gelingt es, das Drama seiner Existenz mit majestätischer Noblesse zu bestehen.

SPIEGEL

Der Spiegel zeigt die Leere, die er verbirgt.

KUNST

Weder allein die der Welt zugekehrte noch die ihr abgewandte Seite sind das Spannende am Kunstwerk, sondern die Spannung, die es zu zerreißen droht, indem es mit gleicher Aufmerksamkeit in beide Richtungen blickt. Was ihm nicht gelingt!

TRAUM UND ZEIT

Eintrag aus Adornos Traumprotokollen vom 10. September 1954: »Ich träumte, ich hätte an einer theologischen Diskussion teilgenommen, auch Tillich war dabei. Ein Redner entfaltete den Unterschied von Equibrium und Equilibrium. Jenes sei das innere, dieses das äußere Gleichgewicht. Die Anstrengung, ihm zu beweisen, daß es Equibrium nicht gebe, war so groß, daß ich darüber erwachte.«10 Ist der zu führende Beweis, dass es weder das Wort Equibrium noch das von ihm bezeichnete Gleichgewicht gibt, deshalb so anstrengend, weil er den Traum intakter Träume erschüttert und den Träumenden seinem Traum entreißt? Wohin? In ein Außen des Traums, das zwar Gleichgewichtsverhältnisse, aber nur äußerliche kennt? Alles weist darauf hin, dass der Traum vom inneren Gleichgewicht Traum jener bleibt, die sich aus dem Außen ins imaginäre Innen verziehen. So gesehen gehörte der Traum einer Innerlichkeitsmetaphysik an, deren Konsistenz sich Ignoranz verdankt. Träumend negiert der Träumende den Kontakt zum Traumaußen, das ihn mit asymmetrischen Verhältnissen quält. Der Traum vom inneren Gleichgewicht ist der Traum errungener Stabilität. Traum aller, die das Ungleichgewicht der äußeren Welt als Bedrohung statt als Ermöglichungsgrund realen Werdens erfahren. Man muss an Kants Unterscheidung zwischen den Anschauungsformen von Raum und Zeit denken. Während der Raum diejenige des äußeren Sinns genannt wird, ist die Zeit die des inneren wie des äußeren Sinns.11 Kants Privilegierung der Zeit gegenüber dem Raum hat im Denken Derridas und Foucaults (wie bereits der Psychoanalyse samt ihrer Insistenz auf Exteriorität) eine Korrektur zugunsten des Raums gefunden. Als Denken der Verräumlichung (espacement) oder des Außen (dehors) operieren diese Denker gegen das Primat von Traum und Zeit. So wie es kein Gleichgewicht zwischen Innen und Außen gibt, sowenig ist das Innerlichkeitsphantasma aufrechtzuerhalten, das der Traum ausgeglichener Gewichtsverhältnisse oder gelungener Autoaffektion darstellt. Was Adorno seinem Traum entreißt, ist das Wissen um dessen Unmöglichkeit.

EMERGENZ

Weiß man, dass die Funktion des Subjekts in der Geschichte, statt in der Stellvertretung Gottes, der unersetzbar bleibt, darin besteht, ihm aus der Patsche zu helfen, indem es ihm dessen Inexistenz im Namen seiner monströsen Freiheit verzeiht?

WUNDE

»Die Welt, die große Wunde Gottes«12, notiert Friedrich Hebbel 1843 in sein Tagebuch. Dabei verhält es sich doch umgekehrt!

ZWIEFACHE ANGST

Wenn der Rausch die »Angst vor dem Vakuum«13 ist, wie Heiner Müller behauptet, dann ist Religion Angst vor dem Vakuum wie Angst vor dem Rausch.

NOTIZ ZU BAUDELAIRE

»Selbst wenn Gott nicht existierte«, schreibt Baudelaire, »wäre dennoch die Religion heilig und göttlich. Gott ist das einzige Wesen, das um zu herrschen nicht einmal zu existieren brauchte.«14 Was er nicht sagt: Damit es Religion geben kann und das Göttliche, darf Gott nicht existieren. Wer an Gott glaubt, bekennt sich zu dessen Inexistenz. Dies doppelte Bekenntnis – an ihn zu glauben, wie daran, dass er nicht existiert – gehört zum Wesen der christlichen Religion, weshalb (neben Bloch und anderen) Lacan und Nancy es atheistisch nennen.15

REISE

Warum sollte sich das Denken nicht verbiegen, verrenken und zerreißen, warum denkt man, es ginge ohne Akrobatik oder Athletik, die das Cogito zersplittern, um es, nach gelungener Operation, neu zusammenzusetzen, mit veränderten Gliedmaßen, einem Kopf, der nicht der eigene sein muss, Füßen, die den Kontakt zum Boden aufgegeben haben, Beinen, die es dem Unbekannten zutreiben, Händen, die ins Leere greifen, Augen, die nichts sehen, Ohren, die alles hören, ohne zu verstehen, einer Nase, die eine unbestimmte Fährte aufnimmt, einem Mund, der sich zum Schrei öffnet, einem Herzen, das seine Arbeit wie zum Spiel fortsetzt, ohne Gewissheit darüber zu erlangen, wohin die Reise geht?

MANTEL

Nancy weiß, dass zum Wissen noch dann Glauben gehört, wenn es sich im Schatten der Inexistenz Gottes hält. Das »unvermeidliche Zittern des Denkens«16 zeugt, indem es den Tod Gottes bezeugt, von der Unruhe eines Subjekts, das in der Abwesenheit eines Konsistenzgaranten existiert. Ein zitterndes Subjekt also: zitternd und lachend – um Kafka zu paraphrasieren – vor Mut. Weder seine Herkunft noch seine Zukunft sind gewiss. Lose bewegt es sich im Raum seiner brüchigen Gegenwart, um in der löchrigen Immanenz, die sein Leben ist, seine Existenz auszumachen. Denken heißt, diesem Zittern nachzugeben, es angesichts der Inkonsistenz aller Realitäten zuzulassen, die es wohlig ummanteln, um es vergessen zu lassen, dass der Mantel Löcher hat und kaum existiert. Man muss an Nikolaj Gogols Erzählung Der Mantel (1842) denken. Ab einem gewissen Moment ist der Mantel dermaßen zerschlissen, dass es keine Stelle mehr an ihm gibt, an der sich Flicken befestigen ließen. Ein neuer Mantel muss her. Vielleicht heißt dies nicht nur, dass wir schlecht geschützt gegen das uns anwehende Außen sind, sondern auch, dass jedes Subjekt selbst solch ein Mantel ist, dessen Substanz ein Loch darstellt, an das kaum noch eine Akzidenz zu heften ist.

MASKE

Die Wahrheit maskiert sich als Wahrheit.

STREUNEN

Von Walter Benjamins Flaneur unterscheidet sich Robert Walsers Spaziergänger nicht dadurch, dass er sich in der Natur anstatt in der Stadt herumtreibt. Seine Passagen sind die zwischen Kultur und Natur. Er taumelt in der Ununterscheidbarkeitszone beider Ordnungen. Auf dem »irrenden Planeten«17 Erde bewegt er sich als Irrender. Wie »ein besserer Strolch, feinerer Vagabund, Tagedieb, Zeitverschwender oder Landstreicher«18 spaziert er auf der Trennlinie zwischen Natur und Kultur. »Federn, Bänder, künstliche Blumen und Früchte auf den netten, drolligen Hüten waren für mich fast ebenso anziehend wie die anheimelnde Natur selber«19, sagt er, um über die Eitelkeit der Menschen zu lachen. Der Dichter als Streuner, dem sich die Inkonsistenz der sozialen Welt erschließt, ohne dass sie ihn in Verzweiflung stürzt. Zu lustig ist die Komödie, die in jedem ihrer Akte Vanitas inszeniert. Nichts ist von Bestand. Die einzige Gewissheit ist die ums Ungewisse. Alles, was wichtig zu sein scheint, ist in den Nebel seiner Inkonsistenz getaucht. Hier streunt der Spazierende in ungebremster Heiterkeit. Alle ihm widerfahrenden Ereignisse werden mit Genauigkeit registriert. Walsers Spaziergänger blickt mit an Indifferenz grenzender Neugierde in die Welt. Einmal trifft er auf den Riesen Tomzack. Mit ihm begegnet ihm die Wahrheit des Menschen, der an der Schwelle der Moderne die Unmöglichkeit ihrer Affirmation wie ihrer Verwerfung erfährt: »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren ihm eine wesenlose Wüste, und das Leben schien zu gering, zu eng für ihn zu sein. Für ihn existierte keinerlei Bedeutung; doch bedeutete wieder er selbst für niemand irgend etwas. Aus seinen Augen brach ein Glanz von Unterwelten- und Überwelten-Gram hervor, und ein unbeschreiblicher Schmerz sprach aus jeder seiner müden, schlaffen Bewegungen. Nicht tot, doch auch nicht lebendig, nicht alt und auch nicht jung war er. Hunderttausend Jahre alt schien er mir zu sein, und ferner schien mir, daß er ewig leben müsse, um ewig nicht lebendig zu sein. Jeden Augenblick starb er und vermochte dennoch nicht zu sterben.« In Gestalt des Untoten bedrängt den Spaziergänger die Einsicht ins Unheimliche seiner Situation. Um seine Heiterkeit angesichts des Ungeheuers nicht einzubüßen, muss er weiterziehen, im Wissen darum, dass sein Spaziergang einer Flucht zu gleichen beginnt. Wovor fliehen und wohin? – Walsers Spaziergänger flieht die Irre in die Irre. Schreiben im Horizont des toten Gottes bedeutet: seine Inexistenz in ihren äußersten Winkeln durchstöbern, um an den Peripherien der Bedeutungen neuen Sinn auszumachen, ihn zu erfinden, wo ihn die Vanitas erschlägt und kein Leben mehr möglich ist. Sich dem Glück öffnen, ohne Garantien, ohne Sicherheit, ohne Teleologie zu sein. Walsers Spaziergänger schweift im Unruheraum Realität. Statt Ausdruck dümmlicher Verklärung der Verhältnisse ist seine Heiterkeit Indiz unverwüstlicher Zuversicht angesichts der wachsenden Wüste, die Nietzsche Nihilismus nennt. Mit Walser erreicht das Evangelium vom toten Gott eine nächste Stufe der Heiterkeit. Nur der nüchterne Mensch wird ihre Indifferenz – die Albert Camus und Marguerite Duras evozieren – als Glück erfahren. Es handelt sich ums Glück, gottloser Mensch zu sein, oder um das, was Deleuze und Žižek die »Würde des Atheismus«20 nennen.

WAS JEDER WEISS

Es ist die Sprache, die am Sprechen hindert, nicht ihr Verlust.

NOTIZ ZU FOUCAULT

Der »menschliche Körper ist der Hauptakteur aller Utopien«, konstatiert Foucault. Immer sucht er Anschluss an sein Jenseits. Er grenzt an sein Außen, sucht Kontakt zu ihm, überreizt und überfordert sich. Als sei er auf der Suche nach einem unmöglichen Ort. Niemals begnügt er sich mit sich, zu keinem Zeitpunkt ist er inerte Masse. Noch wenn er sich den vegetativen Erfordernissen überlässt, kratzt er an seiner Oberfläche: »Der Körper ist auch ein großer utopischer Akteur, wenn es um Maskieren, Schminken und Tätowieren geht. Wer sich maskiert, schminkt oder tätowiert, erlangt damit nicht, wie man meinen könnte, einen anderen Körper, nur schöner, reicher geschmückt und leichter wiederzuerkennen. Tätowieren, Schminken und Maskieren sind zweifellos etwas ganz anderes. Dadurch tritt der Körper in Kommunikation mit geheimen Mächten und unsichtbaren Kräften. Maske, Tätowierung und Schminke legen auf dem Körper eine Sprache nieder, eine rätselhafte, verschlüsselte, geheime, heilige Sprache, die auf ebendiesen Körper die Gewalt Gottes, die stumme Macht des Heiligen oder heftiges Begehren herabrufen. Maske, Tätowierung und Schminke versetzen den Körper in einen anderen Raum, an einen anderen Ort, der nicht direkt zu dieser Welt gehört. Sie machen den Körper zu einem Teil des imaginären Raumes, der mit der Welt der Götter oder mit der Welt der Anderen kommuniziert.«21 Immer bereit, ein Außen zu empfangen, winkt der maskierte, tätowierte, geschminkte Körper es herbei, um sich nicht als Gefängnis zu bewohnen, und weil er weiß, dass das Außerhalb des Gefängnisses längst in ihm ist. Die Kraft des Imaginären muss ihn nicht in die narzisstische Verkennung reißen. Solange der Körper sich nicht dem immanenten Außen verschließt, ist er vor der Versuchung zur Selbsteinschließung gefeit. Es ist das narzisstische Subjekt, das sich dem Kontakt mit dem Außen verweigert, um sich in sein Selbstbild einzuschließen, was ihm übrigens nie gelingt.22 Statt im Maskieren, Tätowieren und Schminken Indizien eines Narzissmus’ auszumachen, müssen wir in ihnen Techniken der Narzissmusresistenz erkennen. Es geht um Kommunikation mit einem Außen, das die Dimension des Heiligen und Göttlichen umfasst. Kommunikation, die im Hier-und-Jetzt der Immanenz geschieht, als Herbeirufung dessen, was längst da ist, statt einer religiösen Transzendenz anzugehören. Der Körper ist transzendenzoffen, insofern es sich um immanente Transzendenz handelt. Ihre Atome sind von dieser Welt. Die Utopie markiert keine Unmöglichkeit. Sie ist in die Immanenz des Lebens eingelassen, weshalb die Kommunikation mit dem Außen Kommunikation mit sich ist, mit den rätselhaften Anteilen korporaler Existenz.

PROBLEMATISCHER KREDIT

Man darf den Narzissmus nicht als Eigensinn, Egozentrik, Eitelkeit oder in sich verrannte Selbstliebe verkennen. Im ihm drückt sich Aggression auf alles aus, was die narzisstische Imago trübt, das (imaginäre) Ichideal, kurz: auf die Welt (symbolische Ordnung). Dennoch hat Barthes recht, das Imaginäre seinem pejorativen Status zu entreißen. Die »Affirmation des Imaginären«23 koinzidiert nicht mit der des Narzissmus. Als Apologie der Einbildungskraft – das heißt eben auch einer gewissen Weltferne – resistiert sie den Realitätsvorstellungen, deren prekäre Konsistenz sich einem Tatsachenimperialismus verdankt, der sich bei genauem Hinsehen als phantasmatisch erweist.24 Ein Minimum an kritischer Anleihe beim Bekämpften ist Bedingung der Möglichkeit seiner Bekämpfung. Barthes wusste das – mit oder ohne Lacan!25

BESCHWICHTIGUNG

Kafka gesteht Milena, er wolle sie »auch von der Seite der Eifersucht« fassen, von allen Seiten. Sie solle sich keine Sorgen machen. Seine Liebe umfasse noch die Irritation, die die »ungesunden Träume des Alleinseins«26 freisetzt. Dabei gelingt ihm eine Definition der Liebe, die Treue mit Untreue interagieren lässt: Vertrauen in ihre Unerschütterlichkeit als Panik um ihren Verlust.

SCHAM

IRONIE

Es gibt Ironie nur als Bedauern der Ohnmacht, die um sich weiß. Oft ist sie Anerkennung der Verhältnisse, die ihr missfallen. Dieser Art könnte die »zarte Ironie« gewesen sein, die Adorno Benjamin attestierte und jenem »trotz des seltsam Objektivierten, Unberührbaren der Gestalt, ebenso im privaten Umgang den außerordentlichen Reiz verlieh.«32 Man muss sie sich als Emanzipation von jugendlicher Arroganz (die es auch bei Benjamin gab) vorstellen, als Austritt aus der Sphäre des Besserwissens dank gesteigerten Wissens ums Nichtwissen, das es grundiert. Das Denken verlässt den kindlichen Erkenntnisfuror, um Erwachsenenspiele zu spielen, die es einem Wissen ohne Moral zuführen.

NOTIZ AUS WARSCHAU

Dass das Subjekt mit seiner Welt verschraubt ist, heißt nicht, dass es ihr bruchlos angehört. Subjekt zu sein, bedeutet, sich von den Kräften zu emanzipieren, die es am Boden halten, um es in seiner Identität zu neutralisieren. Zu ihm gehört Widerstand allem gegenüber, was ihm Selbstkompromittierung verwehrt. Wenn sein Subjektstatus mit einer gewissen Freiheit koinzidiert, dann deshalb, weil es Freiheit als Möglichkeit zur Selbstablösung begreift. Subjekt ist, wer sich die Freiheit nimmt, es nicht zu sein.

WEIGERUNG

Es gibt Tiere, die sich weigern, menschlich zu sein. Das sind die Menschen.

GEHEIMNIS

»Was Benjamin sagte und schrieb, klang, als käme es aus dem Geheimnis«33, steht bei Adorno. Das Geheimnis, aus dem Benjamin schreibt, ist der Welt immanent. Nie geht es um raunend Mysteriöses. So wie der »Rätselcharakter«34