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Die Nebula Chroniken: 1887 Buch 4 »Miss O'Shea und der Sohn des Meeres« »Steh an meiner Seite und gebiete mit mir über die Muintir na hÉireann!« Winter 1887. Die treibende Macht ist enthüllt! Doch was will der Sohn des Meeres? Und was hat er mit Caoimhe ›Kiwa‹ O'Shea vor, die immer noch nach ihrem Platz innerhalb der Nebula Convicto sucht? Während die Unendliche Legion zum Krieg rüstet und zahlreiche Kräfte versuchen, die finsteren Pläne ihres Gegenspielers zu entschlüsseln, reist Miss O'Shea nach Hause. Nach Boston. Sie fürchtet, dass es dort auf ein finales Aufeinandertreffen von Wasser und Eis hinauslaufen wird! Ein Kampf, der nicht nur Boston vernichten könnte – sondern auch die gesamte Welt. Ein Kampf, den sie führen muss, wenn sie all das beschützen will, was sie liebt. Um sich dieser letzten Herausforderung zu stellen, muss sie eins werden, mit der äonenalten Cailleach, die in ihrer Seele ruht. »Der Winter ist schön, aber er kann auch grausam sein.«
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Seitenzahl: 739
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Miss O'Shea und der Sohn des Meeres
von
Dan Dreyer
Unter Mitwirkung von
Torsten Weitze
Für Torsten
Autor: Dan Dreyer
(Unter Mitwirkung von Torsten Weitze)
Ackerstraße 127
40233 Düsseldorf
Germany
NEBULA CONVICTO CHRONIKEN: 1887
»Miss O’Shea und der Sohn des Meeres«
© Dan Dreyer, Düsseldorf 2023, 1. Auflage
(NC04EB_V01– Nummer für internen Gebrauch)
Lektorat & Korrektorat: Rainer Knietzsch
Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG
Cover-Illustration: © Mi Ha | Guter Punkt, München
unter Verwendung von Motiven von iStock / Getty Images Plus
Satz: Dan Dreyer mit Alegreya Free
Karte: All items/pictures within the Public Domain
Map reproduction courtesy of the Norman B. Leventhal
Map & Education Center at the Boston Public Library
Maps: No copyright restrictions. Public domain.
*Texte in Altirisch sind frei erfunden, mit keinerlei
Anspruch auf Korrektheit, seitens des Autors.
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Das Werk, einschließlich seiner Teile,
ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der
engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist ohne Zustimmung des Verlages
und des Autors unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische
oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,
Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
›NEBULA CONVICTO CHRONIKEN: 1887 – Buch 4‹
Herzlich willkommen zurück!
Schön, dass du wieder da bist, um Kiwas finalen Reiseabschnitt mitzuerleben, der auch ›Cailleach versus Manannán Mac Lir‹ heißen könnte.
(Oder wie ich ihn im internen Dialog nannte: Fighting Irish :)
[Apropos ›Irish‹: Wenn du magst, findest du im hinteren Teil des Buches eine Liste altirischer Wörter und deren Aussprache. (Ohne Gewähr! Bin kein Kelte!) Sie kann dir helfen, die Kapiteltitel auszusprechen.]
Das Wort ›Cailleach‹ und die Legende dahinter sind älter als die irische Sprache selbst und ein Konzept, das seit Jahrtausenden tief im irischen Bewusstsein verankert ist.
In der Mythologie gilt die Cailleach als die Personifizierung des Winters, ihr Schleier als Symbol für ein Land, das unter einer Frostschicht verborgen ist. In der Regel wird sie dargestellt, wie sie die Sommervegetation zurückschlägt, Berge aus ihrer Schürze schüttelt oder Wellen im Meer aufwirbelt. Obwohl diese Bilder unheimlich erscheinen, ist sie eher eine notwendige Kraft, ein Katalysator für den erforderlichen Wandel, den das Land und seine Menschen brauchen, um sich zu regenerieren.
In den moderneren Interpretationen der Cailleach wird sie als alte, oft verschleierte Frau dargestellt, die sich nicht an die Konventionen der Gesellschaft hält und besondere Kräfte besitzt. Gemeinden in ganz Irland haben ihre eigenen lokalen Geschichten über die Cailleach, die sich oft auf reale Personen und die Kräfte, die sie besaßen, beziehen.
Im Zuge meiner Recherchen bin ich in den Mythen vieler Länder und Nationen auf ähnliche Frauengestalten gestoßen, die den Winter repräsentieren. Die zuvor erwähnten Teng Liu und Snegurotschka sind nur zwei davon. Männliche gibt es ebenfalls. Väterchen Frost und/oder Santa Clause dürften die bekanntesten sein.
Diese spielen für den vorliegenden Teil der Nebula Convicto Chroniken aber keine Rolle.
Denn dort beherrscht nur eine den Frost.
Und das ist Miss Caoimhe O’Shea.
Es freut mich, dass du dabei bist, wenn sie ihre vorläufig letzte Reise durch den Nebel antritt.
Im ersten Buch durfte ich dich ins kalte Boston mitnehmen und ihre ersten Schritte hinter dem Schleier zeigen, wo sie dem Löwen von Boston begegnete.
Im zweiten Buch führte es sie zuerst nach London, dann an die Westküste Amerikas und Kanadas, in der Hoffnung, den schwerverletzten John retten und heilen zu können.
Buch drei begann in London, doch bald wurde ihre Quadriga nach Hongkong entsendet. Am Ende fand sie heraus, dass Yifan Zhang nur eine Marionette im Spiel eines wesentlich schlaueren Gegners war: Professor Sam Waterman.
Die beiden begegneten sich auf der Isle of Man.
Nach diesem Aufeinandertreffen hat nun die Heimkehr Kiwas oberste Priorität. Sie weiß nicht, was Manannán Mac Lir, der Sohn des Meeres, plant – sie weiß nur, dass es für ihre Heimat Boston nichts Gutes verheißen kann.
Doch bevor sie ihrem ehemaligen Freund und Mentor die kalte Stirn bieten kann, muss sie nach London.
Zur Lady vom See, die eigene Pläne zu haben scheint.
Und zu ihrer Mom.
Ich hoffe, du, liebe Leserin und Leser, hast weiterhin genauso viel Spaß hinter dem Schleier wie ich.
Und jetzt … auf geht’s!
Bei Bedarf, hier eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse.
Die junge Irin Caoimhe ›Kiwa‹ O’Shea arbeitete als Fotografin für das Boston Police Department. Aber in ihr steckt mehr, als sie selbst je vermutet hätte: Weibliche Mitglieder der Familie O’Shea vererben sich die Talente der Cailleach, der Winterherrin. In dieser Funktion diente bereits Kiwas Mom, Liadan O’Shea, der Nebula Convicto. Auf Bitten des Rates wanderten die O’Sheas nach Boston aus.
Als Liadan vom Tod ihrer Mutter – Kiwas Großmutter – erfuhr, reisten sie und ihr Mann zurück nach Irland. Doch unterwegs geriet ihr Schiff in einen schweren Sturm und Liadan wandelte sich zur Black Annis, eine rasende Schreckgestalt mit unstillbarem Hunger nach Fleisch.
Die Unendliche Legion, eine Schutzmacht des Verhangenen Rates, dem politischen Organ der Gemeinschaft hinter dem Nebel, griff ein. Die Black Annis wurde gefangen genommen. Doch das Schiff sank. Kiwas Vater, Devlin O’Shea, war unter den zahlreichen Opfern dieses Unglücks, das als ›die Black Annis Situation von 1883‹ in die Geschichtsschreibung des Rates einzog.
Kiwa, mit 24 zur Vollwaise geworden, fand Unterschlupf bei Mister Samuel Waterman, einem Freund der Familie und Dozent an einer Bostoner Mädchenschule. Er wurde ihr Mentor und Unterstützer. Auf Kiwas nächtlichen Fotografie-Exkursionen, während denen sie die ärmsten Bewohner und ihre Lebensumstände ablichtete, um auf diese Missstände aufmerksam zu machen, begleitete sie Kay-Ellis Cadogan. Ein vermeintlicher Police-Constable, der sich allerdings als vom Rat entsandter, unsterblicher Ritter herausstellte. Seine Aufgabe war es, im Fall der Erweckung, auf die heranreifende Cailleach achtzugeben und sie zu beschützen.
Wovor er sie nicht schützen konnte, war der Übergang hinter den Schleier, der die Welt der Nebula von der der Menschen trennt.
Eingeleitet durch Morgan Worthington, Magier und Mitglied einer Ratsquadriga, fand sie sich auf ihrer Reise in die Nebula Convicto. Sie begegnete der Quadriga, zahlreichen weiteren Wesen dieser Gemeinde im Nebel, und schließlich besuchte sie sogar den Rat selbst, der in London unter dem Westminster Palace tagt.
Nachdem die Konfrontation mit ›dem Löwen von Boston‹ im ersten Teil ihrer Geschichte ihr blutiges Ende fand, reiste sie mit der Quadriga nach San Francisco und Kanada, um den schwer verletzten Custos, John Broken Tree LaHood, ein Sasquatch und Schamane, zu seinem Stamm zu bringen und zu retten. Dabei wurden sie von einem Wendigo verfolgt.
Unterwegs manifestierten sich die ersten Fähigkeiten der Cailleach. So wurde sie vom Eisriesen zur Banshee und hätte wahrscheinlich Mühe gehabt, bei sich zu bleiben, wenn nicht der Quästor der Quadriga, ein alter Vampir namens Michael Saint George, mit Rat und Tat an ihrer Seite geblieben wäre.
Die Tatsache, dass Liadan O’Shea entgegen Kiwas Wissen immer noch lebt –, und im Kerker der Nebula Convicto als Black Annis dahinvegetiert –, erschütterte sie zutiefst.
Nachdem die chinesische Zauberin Yifan Zhang als Verursacherin des Unheils ausgemacht war, zog die Quadriga, unterstützt von einer Schocktruppe der Unendlichen Legion, nach Hongkong, um sie zu stellen.
Dort wurde die Quadriga durch kollabierende Faltenportale aufgespalten.
Morgan und Eve, nach Ausfall Lulous die neue Sagittaria, mussten sich in San Francisco mit Yifan Zhang und ihren Katzengeistern herumschlagen.
Saint George, Ellis und Soldaten der Legion kämpften in China gegen eine Armee von steinernen Kriegern, während Kiwa in Hongkong einen Drachen stellte, der sich als der Dämon Gonggong herausstellte und riesige Flutwellen auf die Stadt hereinbrechen ließ.
Mit Hilfe des Erzdrachen Long Wang, der den Dämon besiegte, gelang es Kiwa, die finstere Kraft der Black Annis abzustreifen und bei klarem Verstand zu bleiben. Ein Schicksal, wie das zuvor ihre Mutter ereilte, blieb ihr so erspart.
Im Gegenzug forderte ihr der Drache eine Mission ab.
Sie sollte den wahren Drahtzieher finden und festsetzen, so dass er selbst es nicht tun musste. Sein Eingreifen hätte möglicherweise eine Auseinandersetzung der vier Erzdrachen untereinander heraufbeschworen, was nichts weniger als den Untergang der Welt zur Folge gehabt hätte.
Kiwa nahm die Aufgabe des Erzdrachen notgedrungen an und erfuhr den Namen des bislang unbekannten Gegenspielers: Manannán Mac Lir – oder besser – Sam Waterman.
In der Mythologie Irlands ist Manannán Mac Lir eine Art Meeresgott. Ein mächtiges Mitglied der Túatha Dé Danann – dem mythischen Feenvolk der irischen und keltischen Mythologie.
Nicht nur Kiwa und ihre Quadriga werden in diesem Buch mehr von ihm, seinen Plänen und seiner Motivation erfahren.
Du, liebe Leserin und lieber Leser, wirst es auch.
In Stein geritzte Inschriften in Altirisch (Sean-Ghaeilge), ca. 750 n. Chr.
Gefunden1826 durch einen Chronisten der Nebula innerhalb eines Ganggrabes
auf einem Hügelzug nahe Oldcastle im County Meath auf Irland,
bekannt als Sliabh na Cailleach – Berge der Cailleach.
›Caointe na Draoí Firineach‹
Túatha seancha insciu de chumachtaib seanchu,
Fúaim an gaoith fuara, an domhan faoi liathróit íse.
I fuaim an ísoich, faoi cumhacht dorcha luíonn,
An fuacht fhuar, ailionna gorma ag léiriú in na spéartha.
Séasuair ag casad, faoi chois aigid an láidir
I scíath sneachta, taispeánann Cailleach a fuacht.
Oíche fhuar, áit a bhfuil grian an tsamhraidh briste,
Stoirmeacha geimridh ag casadh, a gcumhacht ag coimeád.*
•••
›Verse des frierenden Druiden‹
Uralte Berge flüstern von uralter Macht,
Atem aus Frost, das Land in Eis taucht,
In eisigem Odem die düstere Kraft.
Klirrende Kälte von blauen Lippen gehaucht.
Jahreszeiten wandeln, von eisiger Hand erdrückt.
In Schnee gehüllt, erscheint Cailleach kalt,
Frierende Nacht die Sommersonne erstickt,
Winterstürme wirbeln, ihre Macht bitter und alt.
Gefunden und archiviert von Melbus O’Hare.
Übersetzt von Dan Dreyer.
Isle of Man, Mittwoch, 30. November 1887, 01:25 Uhr
Mit geballten Fäusten und mahlenden Zähnen stand Kiwa am Rand der Klippe, ihr nasses Gesicht gepeitscht von rauem Wind, eisigem Schneeregen und Hagelgarben. Zerschlissene Lumpen, vormals ein kostbares Kleid von einem der besten Schneider Londons, umflatterten ihren Körper, der die Eiseskälte längst nicht mehr spürte. Ihr Blick durchdrang die finstere See weit unter ihr, die trotz der mondlosen Nacht vor ihren Augen wie hinter einem blutroten Schleier sichtbar war.
Sams Worte an sie hatte sie im Kreischen der Black Annis beinahe überhört. Aber nun hatte Kiwa alle Zeit, die Sätze wieder und wieder zu vernehmen, denn sie hatten sich wie Egel oder Zecken in dem Raum zwischen ihren Ohren festgesetzt und sie wusste ohnehin nicht, wie sie mitten in der Nacht von diesem Haufen Steine herunterkäme, der vermutlich die Isle of Man war.
»Überbringe Michael meine Grüße. Wenn du mir nicht zuhören willst, so höre wenigstens ihm zu. Er sollte wissen, dass es nicht ratsam wäre, mir in die Quere zu kommen. Es täte mir leid um dich … um eine weitere von den O’Shea …«
Der Speichel, der sich in ihrem Mund gesammelt hatte, fühlte sich auf ihrer Zunge wie zerbröseltes Eis an, kratzte im Hals und schmeckte sauer, als sie ihn schluckte.
Die unverhohlene Drohung, dass sie ihm besser nicht in die Quere käme, wischte sie beiseite. Denn sie würde alles daransetzen, ihm so gewaltig wie nur möglich in die Quere zu kommen!
»Verlass dich drauf!«, knurrte sie und eisiger Wind rupfte ihr die Silben von den blauen Lippen.
In grimmigen Gedanken wanderte sie zu der fauchenden Schreckgestalt, die ihre Mutter war – und zu der sie selbst hatte werden müssen.
Wilder Zorn und rasender Hunger hatten jede Zelle ihres Seins in Beschlag genommen. Als Black Annis war sie über den Peak geflogen und hatte Gonggong, den Dämon, niedergerungen. Dabei war sie stark und zäh gewesen! Furchteinflößend und gewaltig. Spitze Klauen und Reißzähne. Blitzschnelle Reflexe und blutrote Sicht. Dünne Muskeln aus geschmeidigem Stahl. Sehnen wie Drähte und Knochen aus Eisen.
Es war herrlich gewesen!
So herrlich!
Kiwa schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und sog die eisige Luft tief in ihre Lunge.
»Eine weitere von den O’Shea …«, hauchte sie mit Atem, der vor ihren Lippen zu dichten Wolken wurde.
Dann öffnete sie ihre Augen wieder.
»Bist du so weit, mein Kind?« Im tosenden Unwetter hörte sie die äonenalte Cailleach in ihrer Seele kichern. Die Winterherrin lachte lauter, als Sams blasierte Stimme ertönte.
»Kind, mein Name ist Manannán Mac Lir, Sohn der See.«
»So war er immer schon«, murmelte sie zahnlos und rieb sich die Hände. »Selbstgefällig und hinterlistig.« Die Alte wackelte mit dem Kopf und schüttelte einen knorrigen Zeigefinger. »Aber auch tapfer und heldenmütig. Damals.«
»Ihr kanntet euch«, stellte Kiwa fest.
Die Cailleach nickte. »Damals«, wiederholte sie und klang diesmal bedrückt, geradezu traurig.
»So wie ich«, wisperte Kiwa. Auch sie hatte gedacht, sie kenne Sam Waterman. Ihren Mentor, ihren Freund. Der Mann, der sie bei sich aufgenommen hatte, als es hieß, ihre Eltern seien im Atlantik ertrunken. Der Mann, von dem sie nun wusste, dass er für das Schiffsunglück verantwortlich war. »Eine weitere von den O’Shea …«
Wie eine tonnenschwere Last drohte sich das Gewicht seines Verrats auf ihre Schultern zu legen, sie zu erdrücken. Ihr den Atem zu rauben. Sie brauchte sich nichts vorzumachen: Hätte Sam sie mit seinem Zweihänder töten wollen, er hätte es gekonnt. Die Wut der Black Annis hatte ihm nichts antun können. Aber er hatte sie nicht niedergestreckt. Im Gegenteil. Er hatte ihr einen Platz an seiner Seite angeboten.
Sie war also Teil seiner Pläne …
Kiwa knurrte und ballte die Fäuste.
»Nein«, brodelte es tief aus ihrer Kehle. Flüssiges Eis strömte aus ihren Poren und verdichtete sich über Haut und Kleiderfetzen zu fingerdicken Platten, stemmte sich gegen die erdrückende Ungerechtigkeit und perfide Bosheit, die Professor Waterman über sie ergoss. Kiwa wuchs. Schnee knarzte, Eis krachte und Frost klingelte. Es dauerte nur den Zeitraum von drei Wimpernschlägen und sie stand als golemgleiche Eisriesin an der Klippe. In dieser Gestalt musste sie sich nicht mehr gegen den Wind stemmen, der vom Meer aus auf sie eindrosch. Sie war ein Fels in der stürmischen Brandung des Sturms. Frost nagelte sie an den kalten, gefrorenen Boden. Ihr Helm aus Eis wurde dicker und fester. Sie spürte die Hagelkörner nicht mehr auf ihrer Haut, hörte sie nur noch auf die harte Schicht prasseln. Wie getrocknete Erbsen, auf Marmor ausgestreut. Kiwa hob weinfassgroße Fäuste empor und schüttelte sie.
Dann öffnete sie den Mund und schrie. Ihre Kehle wurde zum Zentrum der trichterförmigen Wellen aus schrillem Schall. Gesteinsbrocken und Kiesel lösten sich aus der Steilwand der Klippe und polterten in die Tiefe, wurden nach lautem Aufklatschen von anbrandenden Wellen geschluckt.
Sie schrie und schrie und wurde nicht heiser.
Auch nicht, als sie vollständig zur Banshee wurde und immer noch schrie.
Hieß es nicht, die Bean sídhe künde vom nahenden Tod?
Sollte es so sein, posaunte sie nun Samual Watermans Ableben in den Sturm und hoffte, ihr Schrei erreichte ihn, wo auch immer er war. Die Eisplatten auf ihrer Haut waren verschwunden und Kiwa spürte das schneeweiße, nasse Haar an ihre Wangen klatschen. Immer noch schreiend betrachtete sie ihre weißen Hände durch die grauen Schlieren, die die gespenstischen Augen der Banshee der Nacht abtrotzten. Dann riss sie ihr Maul so weit auf, dass die Kieferknochen in ihren Ohren knackten. Fangzähne schossen aus ihrem Zahnfleisch. Ihre Haut färbte sich eisigblau, ihr Haar nachtschwarz. Lang und länger wuchsen ihre Fingernägel zu schwarzen, sichelförmigen Klauen. Kiwa warf die Hände nach hinten und reckte ihren langen, dürren Hals in den Wind. Sie fauchte und genoss für einen Moment die irrationale Wildheit der Black Annis. In dieser Gestalt über das Meer zu fliegen, war durchaus eine Möglichkeit, um fortzukommen. Aber konnte sie sich selbst in der Form der Black Annis trauen? Was wäre, wenn sie besiedeltes Gebiet erreichte und ihre Triebe nicht beherrschen konnte? Gab es einen Erzdrachen in der Nähe, der sie besänftigen konnte … und würde er sich herablassen, überhaupt zu erscheinen?
Und dann …
Dann dachte sie an ihre Eltern, an Saint George, Morgan, Johnjohn und Lulou. Eve und die Mitglieder des Ostküstenrudels, der alte Ralph, vom Stamm der Chehalis, und Ellis zogen, frisch entwickelten Fotos gleich, vor ihrem inneren Auge vorbei. Wie lose Kalenderblätter im Wind trudelten sie vor ihr herum, stiegen hoch und höher und vermengten sich dort mit den zahllosen Blättern, auf denen sich Watermans Opfer fanden, zu einem Orkan.
Tiefe, dröhnende Worte, vorgetragen in uralter Stimme übertönten ihr Fauchen, das Rascheln des Fotopapiers und den Sturm.
»Es wird deine Aufgabe sein, den Sohn des Meeres zur Verantwortung zu ziehen. So muss ich nicht nach ihm suchen und in Sphären anderer vorstoßen«, sagte Long Wang und Meng Pos Stimmchen mischte sich mit hinein. »Dun… Dunkelheit … schlägt Dunkelheit. Besser … als Licht.«
»JAHHH!«, hauchte die Black Annis mit irrem Flackern in den rotglühenden Augen.
Wieder hob Kiwa die Hände vor die Augen, betrachtete fauchend die Klauen.
»Eine weitere von den O’Shea … Nein!«
Die schwarzen Sicheln schrumpften, zogen sich in die Nagelbetten zurück. Haut wandelte sich von blau zu grau, dann weiß.
Weiß wurde auch ihre Sicht. Weiß wie der Winter.
»Da bist du ja, mein Kind«, sagte die Cailleach mit gütigem Lächeln auf den verschrumpelten Zügen. Schalkhafte Blitze in den grauen Äuglein.
»Ja«, sagte Kiwa leise. »Da bin ich.«
Mit einem Gedanken befahl sie Sturm und Hagel zu schwinden.
Das Wetter gehorchte und Caoimhe O’Shea, die Winterherrin, betrachtete ihre schneeweißen Hände, in denen die Macht über eine der Jahreszeiten schlummerte.
Die See beruhigte sich. Ein kalter, gleichwohl milder Wind wirbelte Strudel von frisch gefallenem Schnee vom schartigen Stein und trieb sie in riesigen, wirbelnden Spiralen aufs Meer hinaus.
Es wurde still.
Dann öffnete die Cailleach ihren strengen Mund. »Wir sehen uns in Boston, Manannán Mac Lir«, flüsterte sie.
Leise Schritte knarzten im Schnee hinter ihr.
Kiwa wandte sich nicht um.
Sie wusste, wer sich dort zögerlich näherte.
Ilja von den Bogatyr, der Legionär, hatte ihr verraten, dass Amber, die Bernsteinhexe, vor Kiwa durch die Falte getreten war – und unter den Gefallenen war sie nicht gewesen. In Gestalt der Black Annis hatte Kiwa ihren wummernden Herzschlag vernommen. Die Legionärin hatte versucht, sich vor ihr zu verbergen. Warum auch immer …
»Miss … Miss O’Shea?« Vorsichtig wie ein scheues Reh setzte Amber einen Fuß vor den anderen. Dass Kiwa nicht herumwirbelte, um sich als finstere Schreckgestalt auf sie zu stürzen, schien ihr frischen Mut einzuflößen, wie ihre nächsten Worte verrieten. »Also, ich muss schon sagen … Sie sind weit gekommen, Miss O…«
»Kiwa«, sagte Kiwa.
»Sie … du … Sie …«, stammelte die Bernsteinhexe und Kiwa konnte die eisige Kälte in ihren schlotternden Gliedern hören. »Woher wusstest du, dass ich …?«
Nun drehte Kiwa sich um und sah die Legionärin an. »Wir müssen nach Boston«, sagte sie. »So schnell wie möglich.«
Amber nickte vorsichtig und betrachtete sie aus aufgerissenen Augen. Rund um ihre geballten Fäuste schillerte bernsteinfarbenes Licht. Sie wirkte, als rechnete sie jeden Moment mit einem erneuten Ausbruch und wäre bereit, im Nu einen magischen Schutzwall zu errichten.
»Äh … wir … wir müssen wohl oder übel auf einen Rettungstrupp der Nebelwacht warten …«, brabbelte die Legionärin. »Oder …«
Kiwa schnaufte. »Wenn du noch eine bessere Idee hast, die uns vor allem schneller von hier fortbringt, lass sie mich hören.«
»Ja, es gäbe da noch eine Möglichkeit.« Das Leuchten um ihre Fäuste flackerte und zog sich langsam in die Mantelmanschetten zurück, als Amber die Hände entspannte.
»Gut«, sagte Kiwa. »Dann erkläre sie mir … und wenn du musst, erkläre sie auch dem Rat.« Mit dem letzten Wort deutete sie auf den kleinen ovalen Taschenspiegel in der Hand der Hexe, die einen zischenden Atemzug ausstieß und kopfschüttelnd näher kam.
Sie rieb sich Flocken aus dem schneefeuchten Haar. »Du bist wahrhaft weit gekommen, Kiwa«, murmelte sie.
Versprengte Quadriga & erste Rituale
San Francisco, Alcatraz, Dienstag, 29. November 1887, 18:32 Uhr
»Es war alles gespielt!«, fauchte Morgan und ließ eine Faust auf den Tisch krachen.
Sowohl Eve als auch Yifan Zhang und die Wachen, die sie umstellten, zuckten erschrocken zusammen. Die chinesische Zauberin hatte sich als erste wieder gesammelt und lächelte entrückt.
»Shì de, Shì de«, säuselte sie auf ihre eigentümlich schwingende Art nickend.
Schnaufend stemmte sich Morgan von der Tischplatte und streckte sich.
Yifan Zhang saß ihm gegenüber. Die Handgelenke in magischen Ketten auf dem Tisch fixiert. Silbrig leuchtende Runen schimmerten auf dem Boden rund um ihre Stuhlbeine. In ihrem Rücken lauerten zwei wahrlich finster aussehende Brocken von Wildmännern mit schwarz lackierten Knüppeln in den Fäusten, über deren Holz magische Sigillen und Runen in schillernden Farben wanderten. Die Zellentür wurde von zwei Magiern flankiert, einer Frau und einem Mann in den dunkelblauen Uniformen der Nebelwacht, die die tiefsten Verliese der Gefängnisanstalt befehligte. Morgan wusste, dass Chevejo, der Hopi und Skinwalker, in den oberirdischen Hafträumen des mundanen Alcatraz inhaftiert gewesen war. Hätte er hier in der Tiefe in einer Zelle gehockt, hätte er schwerlich ausbrechen können.
Morgan seufzte, drehte den Kopf auf dem Nacken hin und her und ließ seine Wirbel knacken. Viel geschlafen hatte er nicht – um nicht zu sagen überhaupt nicht. Er war müde und überaus verdrießlicher Laune. Seine Augen brannten, er hatte Hunger und war sichtlich angestrengt vom zähen Verhör.
Er hatte Yifan Zhang die Informationen wie widerspenstige Würmer aus der Nase ziehen müssen. Ihr spöttisches ›Ja, ja‹ war dazu angetan, seinen Geduldsfaden reißen zu lassen, und so musste er jedes Gramm gentlemanhafter Zurückhaltung einsetzen, um nicht »Schmeißt den Schlüssel weg!« zu brüllen und davonzustürmen.
Er blies die Backen auf. Ein imaginärer Ringrichter zwischen seinen Ohren bimmelte zur nächsten Runde.
»Sie wussten also, dass er uns allen und der gesamten Nebula Convicto etwas vormacht?«, fragte er.
»Bù, bù«, machte sie.
»Bubu?«
Die Chinesin grinste und entblößte schmale Fangzähne in ihren Mundwinkeln.
»Das heißt ›Nein, nein‹ in meiner Muttersprache, Zauberer.«
Morgan krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und zupfte am Saum der Weste. Er strich sie glatt und fischte die Taschenuhr an ihrer Kette hervor. Mit einem Fingernagel tippte er auf das Glas über dem Ziffernblatt. »Ich würde wirklich zu gern Ihre Sprache erlernen, meine Liebe. Leider fehlt mir dafür die Zeit …«
»Das sehe ich genauso«, fiel sie ihm ins Wort.
»Hm.« Geräuschvoll schnappte der Deckel zu und Morgan ließ sich wieder auf den Stuhl plumpsen. Mit einem Zeigefinger wedelte er mahnend unter ihrer Nase herum. »Sie ringen mir Irritation ab, werte Miss Zhang.«
Ruckartig zuckend legte sie den Kopf auf die Seite und hob die schmalgezupften Augenbrauen. »Ach ja?«
»Ja, ja, durchaus. Sehen Sie, uns zwang sich der Eindruck auf, in Ihnen eine Komplizin dingfest gemacht zu haben.« Er breitete die Arme aus. »Doch Ihr Verhalten ist dieser These nicht entsprechend.«
Die Zauberin kicherte heiser und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Rasselnde Ketten begleiteten jede ihrer Bewegungen.
»Was daran liegen könnte, dass ich nicht Manannán Mac Lirs Komplizin bin«, fistelte sie.
»Verstehst du das?«, fragte Morgan an Eve gewandt, die wie ein drohender Schatten neben dem Tisch stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
Die Sagittaria zuckte mit den Achseln und schnaubte, ließ sich aber keine Antwort entlocken.
»Tja, Miss Zhang, Sie sehen uns also wundern. Möchten Sie uns Ihre Motive nicht einmal erläutern?« Morgan stellte zwei Fingerspitzen auf den Tisch und ließ sie wie Miniaturbeine eine kurvige Route tippeln. »Einen Werlöwen in Boston von der Leine lassen. Katzenwesen in Unruhe versetzen, um Ratsquadrigen zu beschäftigen. Faltenportale unterhalten und Dämonen beschwören. Von Katzengeistern und manipulierten Wendigos fange ich gar nicht erst an. Was sollen wir bloß davon halten, hm?«
»Er zwang mich, zwang, zwang, zwang mich«, säuselte Yifan Zhang.
»Also bitte!«, entfuhr es Morgan.
Die Zauberin knurrte ärgerlich. Es klang nach entrüsteter Katze.
»Erklären Sie sich!«, forderte er.
»Vor zwei Monaten … die Katastrophe …«, sagte sie.
»Die große Flut?«, fragte Eve und beugte sich vor.
Yifan Zhang nickte. Ihre Kaumuskeln traten unter ihrer straffen Wangenhaut hervor, als sie mit den Zähnen mahlte.
»Der Sohn des Meeres schickte Gonggong über den Gelben Fluss. Regen. Sturm. Dämme brachen.« Sie breitete die Arme aus – beziehungsweise versuchte sie es. Die Ketten unterbanden eine allzu ausschweifende Geste, was sie nicht davon abhielt weiterzuerzählen. »Die Flutwelle, angetrieben vom Dämon, war riesig! Wirklich, wirklich! Jùdà de, Jùdà de! Millionen verloren ihr Heim, ihr Hab und Gut! Hunderttausende ertranken in den Fluten und starben!«
Eve stützte ihre Pranken auf die Tischplatte und nickte. »Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Das will schon was heißen. Normalerweise berichteten amerikanische Gazetten nur über Amerikanisches, doch die Flut am Gelben Fluss war eine Naturkatastrophe gigantischen Ausmaßes!«
»Öhm …«, machte Morgan mit betroffener Miene. »Wie wir nun jüngst erfuhren, trifft es ›Naturkatastrophe‹ nicht so ganz.«
Yifan Zhang fauchte und benetzte damit den Tisch mit einem Nebel von Speichel.
»Errr issst es gewesen!« Ihre Fingernägel hinterließen tiefe Rillen auf der lackierten Oberfläche. Hinter ihr machten sich die Wildmänner mit ihren Knüppeln bereit, doch Morgan hob beschwichtigend die Hände.
»Ganz ruhig, Miss Zhang. Gerade erfreue ich mich an Ihrer Gesprächigkeit, da möchten Sie doch keinen Beulenregen provozieren, hm?« Per Kopfnicken deutete er hinter sie zu den alarmierten Wachen.
Zischend saugte die Zauberin Atem ein, sammelte sich aber.
»Also, Sie sagen, es war Mister Waterman, der den Dämon beschwor«, brachte Morgan das Gespräch wieder auf die Bahn.
»Shì de, Shì de. Er drohte, es wieder zu tun, wenn der alte Steinebeschwörer und ich ihm nicht gehorchen.«
»Das hat ja nicht so gut geklappt, hm?«
Wieder fauchte sie. »Nein. Er hat versprochen …« Ihre Stimme wurde leiser und verlor sich, bevor sie den Satz beendet hatte.
»Es tut mir leid, Miss Zhang«, sagte Morgan. Die chinesische Zauberin wirkte wie ein regelrechtes Häuflein Elend, wie sie angekettet in taubenblauer Sträflingskleidung und ohne ihre schmucke Blumenkrone mit den Katzenohren aus Blüten vor ihm saß. Er war versucht, eine Hand auszustrecken und ihren Handrücken troststiftend zu tätscheln, doch die jüngsten Ereignisse hielten ihn davon ab. Es kam ihm mitunter immer noch so vor, als rauchte sein Mantel im Nachgang des heißen Odems des Präfekten von San Francisco. »Apropos Präfekt …«, verlieh er den eigenen Gedanken Ausdruck, »… es ist davon auszugehen, dass Ihnen die Liktoren weitere Fragen stellen werden. Sie warten bereits vor der Tür. Daher komme ich zum Ende. Was können Sie uns noch über Mister Waterman sagen, was uns helfen könnte, ihn aufzuhalten? Den Wert seines Ehrenwortes dürften Sie ja nun erkannt haben. Sie sind ihm zu nichts mehr verpflichtet.«
»Die Falten …«
Morgan legte den Kopf auf die Seite.
»Dasss war er. Esss sssind seine.«
Morgans Augenbrauen hüpften nach oben. Noch bevor er seine Verwunderung einfangen konnte, klopfte es und die Zellentür wurde geöffnet.
Der ältere Liktor, der in seinem langen Mantel und unter dem Westernhut mit breiter Krempe wie ein Gunslinger aus einem illustrierten Schundheftchen aussah, steckte seine habichtschnabelförmige Nase in den Raum und pochte mit den Fingerknöcheln an den eisernen Rahmen.
»Wir übernehmen jetzt, Magus. Sie hatten recht: Sämtliche Falten in und um San Francisco sind kollabiert. Aber ein Schiff wartet bereits und Sie können sofort aufbrechen. Es ist das schnellste Dampfschiff unserer Flotte.«
Morgan lehnte sich weit nach hinten und knickte dabei den Nacken, sodass er den Mann über Kopf sehen konnte. »Was ist mit den Mitgliedern der Mù-Triade? Die müssten wir auch noch …«
»Sind wir schon dran, Magus. Die Ergebnisse unserer Befragung stehen Ihnen in Kürze vollumfänglich zur Verfügung. Hier, nehmen Sie das.« Er reichte Morgan einen schimmernden Gegenstand.
»Hui!«, entfuhr es ihm, als er einen klappbaren Taschenspiegel in silberner Hülle entgegennahm.
»Jup«, machte der Liktor. »Sie dürfen den magischen Spiegel mitnehmen.« Diesen Satz beendete ein warnender Zeigefinger nebst ernster Miene. »Aber wenn ich Ihnen einen Rat mitgeben dürfte? Öffnen Sie ihn, wenn der Präfekt sich meldet, aber unterlassen Sie Kontaktaufnahmen von Ihrer Seite. Das liegt ihm gar nicht. Sie wissen ja, wie es ist, wenn er aufbraust, richtig?«
»Nicht im Traum und in der Tat!«, murmelte Morgan und verstaute das wertvolle Artefakt in der Mantelinnentasche. So ein magischer Spiegel war keine Spielerei! Es bedurfte weitreichender Talente, einen derartig magisch geladenen Gegenstand zu erschaffen, der Gespräche in beide Richtungen über weite Entfernungen ermöglichte! Er selbst führte lediglich einen ›Ruftrichter‹ in Form eines Glaskristalls, wie man sie an Kronleuchtern finden konnte, mit sich, der einen einmaligen Kontakt zum Besitzer des Gegenstücks ermöglichte und danach zerbrach. Bislang hatte er gezögert, ihn einzusetzen. Doch bald war es so weit. Sobald er die Informationen von Yifan Zhang und den Triaden beisammenhatte, musste er den Duke of Wellington kontaktieren.
Ob er zuvor den Spiegel nutzen sollte, um sich bei Ol’ Fire zu bedanken?
Nein, nein, dachte er und klopfte von außen gegen das Artefakt.
Er hatte es einmal geschafft, einen Phoenix zu verärgern und die Begegnung entgegen aller Erwartung überlebt. Lieber nicht noch einmal probieren, hm?
Oder …?
Immerhin waren sie in den rauchenden Trümmern des Triadenlagers gut miteinander ausgekommen, oder nicht?
Vielleicht würde er es vom Schiff aus versuchen. Dann, wenn es meilenweit im Atlantik schipperte. Er war schließlich ein Gentleman – und als solcher hatte er sich manierlich zu bedanken!
Launischer Feuervogel hin, launischer Feuervogel her.
Hongkong Island, Victoria Harbor, Mittwoch, 30. November, 10:37 Uhr
Saint Georges Laune war mit ›finster‹ ausreichend beschrieben. Mit den Fäusten tief in den Taschen seiner silbergrauen Magua – einer klassischen Manchu-Reiterjacke im formalen chinesischen Kleidungsstil mit Stehkragen und Froschknöpfen –, die er von einem Adjutanten der Präfektin von Hongkong gegen seine zerfetzten Klamotten erhalten hatte –, stapfte er verdrossen über den Uferkai und mahlte mit seinen Zähnen. Knurrend starrte er zum Meer und die endlose Weite, die ihn vom europäischen Kontinent trennte.
Wenn Miss O’Shea die Begegnung mit Sam Waterman überlebt hatte, befände sie sich nach Joãos Vermutung auf der Isle of Man. Von dort könnte sie mit der Hilfe des Schattens verhältnismäßig rasch nach England übersetzen. Und wäre sie einmal dort angekommen, war London nicht mehr weit.
Wenn sie die Begegnung überlebt hatte …
Immer noch knurrend legte er den Kopf in den Nacken. 10.000 Kilometer Luftlinie trennten ihn demnach von der tapferen Irin und dem Rat. Weiterhin knurrend überschlug er den Zeitbedarf, den er zu investieren hätte, wollte er diese Strecke fliegend hinter sich bringen. Es würden sieben bis zehn Tage werden, wenn er sich beeilte und nicht schonte. Er müsste also sieben bis zehnmal unterwegs Beute schlagen. Und dabei gluckerte noch Wasserbüffelblut durch seine Adern. Der erdig-schweißige Geschmack der Haut des Tieres lag wie schmierige Seife auf seiner Zunge und belagerte seine Geruchssinne.
Oder waren es die Wachen der Präfektin, die diesen Gestank ausdünsteten?
Mit gehobener Augenbraue wandte er den beiden sein Gesicht zu.
In ihren Tarnungen sahen sie aus wie zwei stämmige, wohlhabende Unternehmer. Ihre fassförmigen Oberkörper waren ebenfalls von schnittgleichen Jacken bedeckt, auch wenn für die Herstellung ihrer Kleidung deutlich mehr Stoff verwendet worden war.
Es war eine ausgesprochen aufwändige und hochwertige Tarnung, die ihre wahren Gestalten von Pferd und Stier verdeckte – doch für Saint Georges Nase hätten sie auch auf allen vieren grasen können.
Nicht dass es in Hongkong derzeit viel zu grasen gab …
Feuchter Schlamm in dicken Schichten, gespickt mit Trümmerresten, bedeckte den gemauerten Kai und die wenigen Piere, die dem Wüten des Dämons standgehalten hatten. Rund um den Hafen waren sämtliche Bauwerke dem Erdboden gleichgemacht. Manche hatten die weichenden Fluten sogar vollständig ins Meer gesaugt, so dass nur noch Reste von Fundament darauf hinwiesen, dass es überhaupt einmal Bebauung in Wassernähe gegeben hatte.
Was für ein unfassbares Wüten!
Und dieses Wehklagen!
Rufe, Schreie, Weinen. All das lag in der Luft, die mit Möwenschwärmen überladen war. Die großen, weißen Vögel suchten in weiten Kreisen den aufgewühlten Boden nach Beute ab, stießen hin und wieder aus der Höhe hinab, schnappten sich etwas und stiegen wieder auf. Sie gaben ihm eine Vorstellung dessen, was er tun musste, so er gedachte nach London zu fliegen.
Zahllose Menschen bewegten sich durch und über die Trümmer. Sie suchten nach Überlebenden. Saint George hätte ihnen gerne geholfen, doch die abertausend aufgebracht rasenden Herzschläge in der direkten Umgebung machten es ihm unmöglich, einzelne herauszufiltern und zu finden.
Abgesehen davon war seine Laune wahrlich finster.
Er konnte seinen Emotionen nicht trauen und wollte den Überlebenden nicht zumuten, dass er einen Verschütteten fand und ihn aus lauter Frust brüllend ins Meer warf.
»Sie müsste gleich wieder zurücksein, Quästor«, brummte der wuchtige Mann, dessen Poren den Geruch nach Rind verströmten.
Saint George nickte mit knirschenden Zähnen.
Außer in finsterster Laune zu warten, konnte er derzeit nicht viel tun.
João war auf seinen Befehl zu Miss O’Shea gesprungen und seine Rückkehr stand nicht zu erwarten, alldieweil einer der Anker in Boston und der andere bei Miss O’Shea war. Die Legionäre bewachten die zerstörte Halle auf der Spitze des Peaks. Ellis, Alphios und die Legionäre waren vermutlich noch am Tempel bei Changsha. Vom Rest der Quadriga fehlte jede Spur. Solange er nichts anderes hörte, musste er davon ausgehen, dass Morgan und Eve in San Francisco waren und dort gegen Yifan Zhang gekämpft hatten. Vielleicht lebten sie noch.
Vielleicht aber auch nicht.
Saint George grub die Fingernägel in die Ruine einer gesprungenen Kaimauer und knurrte.
Schlurfende Schritte und klappernder Hufschlag erreichten seine sensiblen Gehörgänge. Mit zuckenden Ohren wandte er sich um.
Ellis!
Der wuchtige, graue Hengst an der Seite des Ratsritters kam Saint George einigermaßen bekannt vor und unter normalen Umständen hätte er sich eines spöttischen Grinsens nicht erwehren können. Doch das Unglück, das Hongkong befallen hatte, war kein ›normaler Umstand‹. Es war eine Tragödie. Eine Katastrophe, die ihren Ursprung in der Welt hinter dem Schleier hatte und von dort über die mundane hereingebrochen war. Eben dies stellte laut der Gesetzgebung der Lex Nebula ein ungeheuerliches Verbrechen dar, für das es nur eine Strafe geben konnte: lebenslange Haft im Kerker. Doch wie sollten sie Manannán Mac Lir festsetzen, wenn sie bis heute nicht einmal gewusst hatten, dass es er war, der hinter all den Untaten steckte? Wie war einem derartigen Gegenspieler beizukommen?
Der Quästor ballte frustriert die Fäuste und begrüßte Ratsritter und Legionärshauptmann lediglich mit einem verkrampften Kopfnicken.
»Es ist …«, setzte Cadogan an, doch der Quästor winkte ab und schnaufte. »Du weißt es schon?«
Saint George nickte.
»Verdammt«, entfuhr es Ellis. Er stützte sich erschöpft auf die Kaimauer und ließ den Kopf hängen.
»Du sagst es.«
»Wo ist Kiwa?«, brummte der Ratsritter in seine Unterarme, auf die er sein offensichtlich schweres Haupt gelegt hatte.
»Sie hat sich in die Falte gestürzt, die zur Isle of Man führt. Beziehungsweise geführt hat. Das Portal ist kollabiert bevor ich zu ihr konnte.«
»Scheiße«, grollte der graue Hengst. »Wie kommen wir jetzt nach London? Der Rat muss schnellstmöglich wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»Ich denke, das weiß der Rat bereits«, sagte Saint George.
»Das Auge?«, fragte Ellis.
»Das Auge.«
Der Hengst schnaubte, schüttelte seinen Schädel und brachte es irgendwie fertig, sein Hufgescharre grimmig klingen zu lassen. »Was ist mit London? Glaubt mir, ich habe wenig Lust, diese alberne Tarnung aufrechtzuhalten, um sechs Wochen unter Deck in einer Box herumzustehen.«
»Ich fürchte, wir haben keine sechs Wochen Zeit, wenn wir Sam einen Strich durch seine Pläne machen wollen«, sagte Ellis und richtete sich auf. Er streckte den Rücken durch. »Und dabei wissen wir noch nicht einmal, welche Pläne er überhaupt hat.«
»Du sagst es.« Saint George lehnte sich an die Mauer und verschränkte die Arme. »Aber es dürfte keine allzu gewagte These sein, zu behaupten, dass es finstere sind. Warum sonst sollte er die Aufmerksamkeit des Rates und damit sämtliche Quadrigen auf die Umtriebe der Feliden ziehen? Warum sollte er einen mächtigen Dämon über Hongkong entfesseln und eine Armee von Steinernen erwecken lassen? Von Löwen und Wendigos fange ich gar nicht erst an.«
»Das war ein Dämon?«, fragte Ellis mit sorgenvoller Miene und einem langen Blick über den aufgewühlten Hafen, der eher einem gepflügten Acker glich.
»Laut der Präfektin einer namens Gonggong, der zuvor bereits für eine weitere Flutkatastrophe verantwortlich war. Wir vermuten, dass Sam damit Zheng und Zhang zu Gehorsam zwang.«
»Wo ist der Dämon hin?«
Saint George blies die Backen auf und rieb sich im Nacken. »Miss O’Shea wurde zur Black Annis und hat ihn aufgehalten.« Ellis zuckte zusammen und wäre ihm beinahe ins Wort gefallen, doch der Quästor mahnte ihn zu warten, indem er ruckartig einen Zeigefinger hob. »Ich kam zu spät und erfuhr dies nur von Madame Meng Po Pionug. Sie berichtete mir, dass Miss O’Shea ihre Sache recht gut gemacht hat. Sie lockte den Dämon zum Peak und unterband so weitere Flutwellen. Aber jetzt halte dich fest, Ellis …«
In Erwartung weiterer Katastrophen krallte der Ratsritter die Fingernägel in den rauen Stein der Kaimauer.
»Der Erzdrache Long Wang hat sich eingemischt, den Dämon vernichtet und Miss O’Shea aus der Gestalt der Black Annis geholfen.«
»Wie bitte?«, entfuhr es Ellis. Im gleichen Atemzug wich ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht und auch die Miene des grauen Hengstes verlor sich in Fassungslosigkeit – sofern dies in Pferdegesichtern überhaupt möglich war.
Saint George nickte. »Unsere wackere Custos hat einen Handel mit ihm geschlossen.«
»WIE BITTE?!« Der Ratsritter fuhr sich mit beiden Händen ins Haar und raufte es. »Sie hat was?!«
»Long Wang trug ihr auf, den Sohn des Meeres zu finden und seine Pläne zu vereiteln. Im Gegenzug versprach er, es nicht selbst zu tun. Unnötig zu erwähnen, dass Waterman laut João eben jener Sohn des Meeres ist, hm?«
Hengst und Ritter tauschten einen Blick, bekamen aber keine Fragen heraus.
»Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte …« – Saint George deutete mit dem Kinn zu den beiden Wachen der Präfektin – »… war es eben dieser Dämon, der im September für die große Flut am Gelben Fluss verantwortlich war. Auch da hatte ihn Sam beschworen und auf die Welt losgelassen. Dies dürfte den Erzdrachen aufgeweckt haben und als es sich in Hongkong wiederholen sollte, sah er sich gezwungen zu handeln. Aber vielleicht war es auch das Auspusten von Faltenportalen. Die alten Echsen reagieren auf derartige Dinge meist ungehalten, stört es doch den Fluss der Linien.«
»Was hat Sam nur vor?«, flüsterte Ellis, dessen Miene Erschöpfung und Erschütterung im gleichen Maße ausdrückte.
»Das gilt es herauszufinden«, raunte Saint George. Dann ruckte sein Kopf in Richtung Hang. »Madame Meng Po kehrt zurück.«
Wenig später erschien die kleine Frau in Begleitung des Oberhauptes der Metall-Triade und unter dem Schutz einiger Leibwächter. In kleinen Trippelschritten bahnte sie sich den Weg durch die Trümmer und den Schlamm.
»Es ist, wie wir hofften, Quästor«, sagte sie, als sie sie erreicht hatte. »Die natürliche Falte ist noch intakt. Ich lasse Sie hinführen.«
Saint George verbeugte sich leicht. »Ich danke Ihnen, Präfektin.« Er richtete sich auf, fuhr mit beiden Händen über die seidige Jacke und richtete die Brillengläser auf Ellis und Captain Alphios. »Wollen wir dann?«
»Es gibt noch eine Falte? Nach London?«, fragte Ellis.
»Hamburg«, sagte Saint George und es war das erste Mal seit gefühlten Ewigkeiten, dass er so etwas wie Hoffnung in sich keimen spürte. Sam Waterman mochte in der Lage sein, von ihm erzeugte Falten einzureißen. Aber dem Anschein nach hatte er keine Gewalt über die wenigen natürlichen Portale, die seit Anbeginn der Zeit die Erde spickten.
Und dank Miss O’Sheas Einsatz gegen den Dämon gestatte ihm die Präfektin von Hongkong die Benutzung.
London, City of Westminster, tief unter dem Westminster Palace, Mittwoch, 30. November, 03:24 Uhr
»Eijeijeijei«, machte Sir Arthur Wellesley, der Duke of Wellington. Er pflückte eine runde Nickelbrille ohne Bügel vom Nasenrücken und rieb fest über die geröteten Stellen. Dann schüttelte er den ovalen Taschenspiegel, steckte ihn in die Manteltasche und richtete den Blick zum violett illuminierten Blätterdach. Milchigweiße Schleier lagen über seinen Augen, die dennoch alles andere als blind waren.
»Was siehst du?«, fragte die Lady.
Von der Ratsvorsitzenden war lediglich der Kopf zu sehen. Der Rest ihres Körpers war unter dem stillen, dunklen Wasser ihres Sees verborgen.
Leder knarzte, als sich Sir Arthur Wellesley gegen die Rückenlehne fallen ließ. Er wusste, es war seinem hohen Alter geschuldet, dass sie einen bequemen Sessel mit Löwentatzenfüßen hatte herbeiholen lassen. In Zeiten der Krise war es unabdingbar, dass er viel Zeit mit ihr verbrachte, Taktiken und Strategien mit ihr besprach, Herausforderungen und Lösungen diskutierte, um Schaden von dem zivilisierten, derzeit ausgesprochen fragilen Konzept der Nebula Convicto abzuwenden.
Und beim roten Ganesha und allen Gottheiten Indiens: Dass sich Sam gegen den Rat gestellt hatte, war als Krise außerordentlicher Ausmaße zu bezeichnen!
Wie hatte es bloß so weit kommen können?
Lange, sehr, sehr lange, bevor Wellesley 1802 von einer indischen Hexerin hinter den Schleier geführt worden war, war Samuel Waterman bereits vom Rat zum ›Meister der Portale‹ ernannt worden. In dieser Funktion hatte er die Errichtung des weltweiten Netzes von Falten koordiniert und überwacht und hatte diese Aufgabe seit Jahrhunderten verlässlich ausgeführt. Es war Arthur nie in den Sinn gekommen, den Eifer, den Sam an den Tag gelegt hatte, zu hinterfragen oder daran zu zweifeln, dass er etwas anderes im Sinn haben könnte als die Sicherheit der Nebula Convicto. Warum auch?
Sein altes Herz machte einen Satz, als ihm aufging, dass Waterman möglicherweise seit Jahrhunderten an den Plänen werkelte, die sich ihnen nun scheibchenweise offenbarten.
»Art«, sagte die Lady. »Was siehst du?«
»Ich sehe Amber und Miss O’Shea an Deck eines Raddampfers«, murmelte er. »Es ist eine Fähre der Steam Packet Company. Sie hat das Schiff der Nebelwacht verpasst, das wir zu ihr nach Peel entsandten.«
»Wo werden sie ankommen?«
»Liverpool, denke ich.« Seine Lider flatterten, als er die Blicke sämtlicher Augen absuchte, die er unter Mitgliedern der Nebula verteilt hatte. »Quästor Pike wird in einigen Tagen in New York eintreffen. Das Legionsschiff, das ihn mitnimmt, kommt trotz des Winters und des stürmischen Atlantiks gut voran. Sobald das Regiment landet, wird es sich auf Abruf bereithalten. Pike und seine Quadriga werden unverzüglich nach Boston aufbrechen.«
»Was ist mit Saint George?«, fragte die Lady mit Sorge in der Stimme.
»Das Auge, das ich ihm gab, ist Miss O’Shea zugefallen.«
Er hörte seichte Wellen über Uferkiesel rinnen, als die Lady etwas tiefer ins Wasser sank. In dieser Geste steckte eine gehörige Portion Frustration, also beeilte er sich, die nächsten Sätze auszusprechen, mit denen er im gleichen Maße für noch mehr Verdruss, aber auch Hoffnung sorgen würde.
»Jedoch ist es Captain Alphios gelungen, uns über einen Ruftrichter eine Mitteilung zu senden. Sie war etwas kryptisch, umschrieb einen Kampf mit einem Heer von steinernen Kriegern. Viele Mitglieder seines Trupps sind gefallen aber er und Cadogan haben überlebt. Sie sind unterwegs nach Hongkong und wir dürfen hoffen, alsbald von ihnen zu hören, wenn sie zu Präfektin Meng Po gelangen.«
»Was ist mit Michaels Quadriga?«
»Oh, sie ist in alle Winde verstreut, aber der gute Morgan ist auf Alcatraz und wir konnten bereits miteinander sprechen. Ihm und der neuen Sagittaria ist es gelungen, die Zauberin dingfest zu machen und einen Wutausbruch des Präfekten zu verhindern. Ignis stellt ihm sogar sein schnellstes Schiff zur Verfügung. Der alte Feuervogel schien von unserem überaus begabten Magus sehr beeindruckt zu sein.«
»Ein Schiff nach Boston?«, fragte die Lady, und der Duke konnte aus ihrer Stimmlage heraushören, dass sie irritiert die Nase rümpfte.
Er gestatte sich ein leichtes Lächeln. »Nein, Flugschiffe sind derzeit recht rar, Mylady. Das Ziel des Schiffes wird Acapulco sein.«
»Ah«, machte sie. »Wissen wir denn, ob die Falte in Chichén Itzá intakt geblieben ist?«
Wieder lächelte er. »Sam mag ein schlauer Gegenspieler sein, Mylady. Er ist bestimmt auch dreist und wagemutig, doch selbst er wird es nicht wagen, ein uraltes Portal in Quetzalcoatls Behausung zu schließen. Es ist eine Sache, sich mit dem Rat anzulegen. Eine ganz andere ist es, im Bau eines Erzdrachen herumzuzaubern.«
»Hoffen wir es«, raunte die Lady. Sie tauchte kurz ab, atmete aus und ließ dabei das Wasser vor ihren Lippen blubbern. Dann tauchte sie wieder auf. »Wen haben wir noch vor Ort?«
»An der Ostküste?«, fragte der Duke, ohne zu ihr zu sehen.
»Ja.«
Seine Lider flatterten eifriger. »Ich spreche heute Abend mit Cathbad. Wir müssen uns seiner Loyalität versichern, Mylady. Zu viele unserer Quadrigen sind noch durch rebellierende Feliden gebunden und viel schneller werden wir keine zusätzlichen Truppen der Unendlichen Legion verschiffen können.«
»Was ist mit der Four-Leaved-Clover Society?«
»Hm …« Wellesley tippte sich mit dem Zeigefinger an die Unterlippe. »Die sind im besten Fall unzuverlässig. Im schlimmsten Fall stellen sie sich an Sams Seite. Es wäre zu riskant, sie zu diesem Zeitpunkt zu informieren.«
»Was ist mit dem Ostküstenrudel?«
Der Duke nickte. »Der Pakt mit der Winterherrin hat Bestand. Sie werden eher Miss O’Shea gehorchen als uns.«
Träges Wasser platschte, als die Lady näher an den Rand ihres Teiches schwamm und ihre Unterarme am Rand des Ufers auflegte. Gespannt sah sie zu ihrem Minister hinauf, der seine Augen nach wie vor zum dichten Blätterdach gerichtet hielt, ihren Blick aber auf sich spürte.
»Miss O’Shea einfach einen Zug besteigen zu lassen, stellt ein Risiko dar, Art. Was ist, wenn Sam …«
Wellesley tippte mit den Fingern der Rechten auf die Lehne.
»Das dachte ich auch. Daher habe ich einen Freund gefragt. Er war erpicht, ihr beizustehen.«
Das Schmunzeln auf den Lippen der Lady entging ihm, aber er konnte es in ihrem Tonfall hören.
»Wen hast du gefragt?«
»Ambros.«
»Und?«
Nun schmunzelte auch der Duke. »Er hat einen Clan bei Connah’s Quay kontaktiert. Sie werden Miss O’Shea abholen und begleiten.«
»Das ist nicht weit von Liverpool«, murmelte die Lady. »Sehr gut, Art.«
»Danke.«
Sie stieß sich vom Ufer ab und schwamm in Rückenlage zur Mitte des Sees. »Wenn nicht so viel auf dem Spiel stehen würde, wäre es eine spannende Partie, findest du nicht?«
Der Duke schüttelte sich und klimperte mit den Lidern, bis sich seine Pupillen wieder mit Farbe füllten und sein Blick wieder der seine war.
»Und wie beim Schach bringen wir unsere Figuren in Stellung«, murmelte er.
»Leider wissen wir noch zu wenig über Sams Absichten.«
»Ja, das stimmt«, sagte Wellesley nachdenklich nickend. »Aber früher oder später werden sie sich uns offenbaren, Mylady.«
»Hoffentlich werden wir dann bereit sein«, sagte sie und tauchte in die Tiefe.
»Hoffentlich …« Ächzend stemmte er sich aus dem Sessel und streckte sich. Er spürte das Alter in jeder Faser seines Körpers und sehnte sich einem Bad im Teich der Lady entgegen, das ihm einen Teil seiner Kraft zurückgeben konnte. Doch dies musste warten. Es gab zu viel zu tun.
Alles konzentrierte sich auf Boston, dachte er und bückte sich, um die lederne Mappe mit seinen Notizen vom Waldboden aufzuheben. Ächzend drückte er sich in die Höhe.
»Warum Boston? Was hast du vor, Sam?«
Mit schlurfenden Trippelschritten wackelte er zum Ausgang. Dieses Mal hatte er keine Augen für den wunderschönen Wald, der den Teich der Lady umrahmte.
Sein Blick wurde woanders gebraucht.
Boston, Mission Hill, Francis Street, Basilica and Shrine of Our Lady of Perpetual Help, Dienstag, 29. November 1887, 23:52 Uhr
Dunkelheit und Schneedecke umhüllten die kompakt gebaute römisch-katholische Basilika mit ihrem kruzifixförmigen Grundriss und der mittig auf dem Dach thronenden Rotunde wie ein dicker, wallender Wintermantel. Doch statt das Bauwerk zu verbergen, betonte der Schnee die majestätische Schönheit dieses Symbols von christlicher Nächstenliebe und religiösem Glauben, das das Herz eines jeden Betrachters mit Ehrfurcht erfüllen musste.
Die ›Basilika Unserer Lieben Frau von der immerwährenden Hilfe‹ war 1878 auf den Fundamenten einer bescheidenen, hölzernen Missionskirche, der ›Mission Church‹, der der Stadtteil seinen Namen verdankte, errichtet worden, und war bis heute Stolz ihrer Gemeinde. Diente die Holzkirche noch als ›Missionshaus‹ als Heimatbasis für Priester, die in entfernte Teile von Massachusetts, Kanada und anderswo reisten, um das Wort Gottes zu verbreiten, legten heutzutage hier die Gemeindemitglieder ihre Buße ab, besuchten den Gottesdienst oder erhielten die Heilige Kommunion. Die im romanischen Stil gehaltene Fassade mit prächtigen Buntglasfenstern im Kirchenschiff bestand aus roten Steinen, dem sogenannten Roxbury Puddingstone, was ihr ein solides und imposantes Aussehen verlieh. Die Schneedecke, die in allen Fugen und Ecken, auf sämtlichen Graten, Verzierungen und Dekorationen lag, ließ sie märchenhaft und verwunschen aussehen.
Erhabenheit und Würde ausstrahlend erhob sie sich über die viktorianischen Reihen- und Stadthäuser von Mission Hill, der längst kein nennenswerter ›Hill‹ mehr war – denn besagter Hügel war im Laufe des letzten Jahrhunderts immer weiter abgeflacht worden. Dennoch befand sich die Basilika am höchsten Punkt der riesigen, planierten und mittlerweile vollständig bebauten Kuppe, die von der einstigen Erhebung übrig geblieben war.
Aber trotz des geglätteten Hügels war genau hier der richtige Ort, um das Eröffnungsritual einzuleiten.
Sam lächelte, als er an die Tage im Jahr 1874 zurückdachte, die er an der Seite der ambitionierten Architekten William Schickel und Isaac Ditmars verbracht hatte. Er hatte immer wieder Anmerkungen und Vorschläge eingestreut, damit dieses Bauwerk 1878 endlich so vollendet werden konnte, wie er es für das Ritual benötigte: perfekt ausgerichtet über einem mächtigen Knoten im Netz der magischen Linien, mit dem höchsten Punkt der zentralen Rotunde genau darüber.
Nun, da er auf seinem Weg durch das menschenleere Kirchenschiff auf seine Erinnerungen zurückblickte, dachte er an die Zeit, als das Dach der Rotunde noch aus Holz bestanden hatte. Ein architektonisches Juwel, zweifellos, doch undicht wie ein altes Boot. Erst im Jahre 1877 hatte Sam die Lösung gefunden: Paul Reveres Copper Company.
Schon bevor der Mann durch einen nächtlichen Ritt – um die Kolonialmiliz im April 1775 im Vorfeld der Schlachten von Lexington und Concord vor dem Herannahen der britischen Streitkräfte zu warnen – zum Helden der Patrioten und der amerikanischen Unabhängigkeit geworden war, war er ein Pionier in der Bearbeitung von Metallen gewesen. Im Jahr 1800 war er der erste Amerikaner gewesen, dem es gelungen war, Kupfer zu Blechen zu walzen, die für die Ummantelung von Marineschiffen verwendet werden konnten. Paul war zwar seit 1818 verstorben, hatte den Betrieb aber seinen Söhnen vermacht, die ihn bis zu ihrem Ableben mit Bravour weitergeführt und -entwickelt hatten. James Davis Jr. war amtierender Direktor, als Sam sein Anliegen vorgetragen hatte – und danach hatte es nur ein, zwei Jahre des Zuflüsterns bedurft, die Erzdiözese Bostons davon zu überzeugen, mit diesen Blechen das leckende Dach abzudichten.
Nach Aufbringung der Kupferbleche war das gesamte Gebäude in neuem Glanz erstrahlt! Wie wunderschön die Sonne auf den blanken Flächen geschimmert hatte!
Es war herrlich gewesen!
Es war … magisch … gewesen!
Jedoch längst nicht perfekt!
Das Kupfer war angelaufen. Zuerst dunkel, dann grün. So hätte das Ritual nie funktioniert! Im Anschluss an diese Erkenntnis hatte es Jahrzehnte der Überredungskünste gebraucht, die Stadtvorderen dazu zu bringen, die Kosten abzunicken, die erforderlich waren, um das Kupferdach mit Blattgold einzukleiden.
Mit eben jenem Metall, das Sam brauchte, um das erste Ritual einleiten zu können …
Aber gut. Was waren schon ein paar Jahrzehnte im Vergleich zu den Jahrtausenden, die er bereits investiert hatte?
Müde lächelnd grüßte er das Bildnis der Muttergottes über dem Hauptaltar, durchquerte die Sakristei – den Nebenraum, in dem sich die Geistlichen auf die Gottesdienste vorbereiteten – und spazierte noch einen Flur entlang, an dessen Ende er die marmornen Stufen ins Untergeschoss hinabstieg. Die gasgespeisten Wandlampen mit schwungvollen Armen aus Messing und Abdeckungen aus Milchglas blieben erloschen. Doch Sam brauchte kein Licht, um sich im vertrauten Innern des Gebäudes zurechtzufinden.
Unterwegs hinterließ er eine Spur von Tropfen auf poliertem Marmor. Sein langer Mantel war von Meerwasser durchgetränkt und hing schwer über den Schultern. Die Wavesweeper, das magische Boot, das seit Jahrtausenden in seinem Besitz war,hatte ihn erwartungsgemäß in atemberaubender Geschwindigkeit von der Isle of Man zurück nach Boston gebracht. Wenn er dabei ein wenig nass wurde, so war ihm dies einerlei. Immerhin war er Manannán Mac Lir, der Sohn des Meeres, und Wasser war sein Element.
Wie viel schwerer als der Mantel wog dagegen die Erinnerung …
Flüsternd und im Takt seiner auf Marmor treffenden Absätze rezitierte er den Eid, den er sich selbst auferlegt hatte. Holzvertäfelte Wände und harter Stein warfen die Worte, von anderen Ohren ungehört, zurück.
Im Keller angekommen und mit den letzten Silben auf den Lippen waren seine Augen voller Tränen. Seine Finger zitterten, als er in langen Schritten den äußeren Rand der im Boden eingebrachten Vertiefungen entlanglief und nach der Umrundung am Ausgangspunkt anhielt. Er wischte sich in schneller Geste mit feuchtem Mantelärmel die Tränen aus den Augen.
Er hatte keine Zeit für Rührseligkeiten, denn nun begann es.
Endlich!
Mit diesem ersten Ritual, dem weitere zu folgen hatten, würde er eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, die sein Ziel greifbar machten!
Sam brauchte keine komplizierten Instruktionen in alten Büchern, um die Handlungen auszuführen, die vor ihm lagen. Er kannte das Ritual ›Hügel der Weisheit‹ auswendig und hätte es im Schlaf vollführen können.
Während er die bevorstehenden Schritte überdachte, folgte er den aufwändigen Ritzungen mit den Augen und bewunderte dabei deren eindrucksvolle Vollkommenheit.
Das kreisrunde Zeichen bedeckte einen Großteil des Kellerbodens und bestand im Wesentlichen aus einer großen, zwei Schritte weiten Spirale in der Mitte, um die sich weitere acht Spiralen kräuselten und damit das Symbol wie eine übergroße, von Künstlerhand gemalte Blume oder eine keltische Sonne aussehen ließen. Wochenlang hatte er damals, als die Basilika errichtet worden war, mit Kreide vorgezeichnet, dann gemeißelt und schließlich geschliffen. Die Geräusche seines heimlichen Handwerks waren im Rumoren der Baustelle untergegangen. Ein simpler Aversionszauber hatte seinerzeit die Mundanen davon abgehalten, den Raum zu betreten – und er tat es noch heute.
Das Zeichen war in all den Jahren unberührt geblieben und es war nach wie vor perfekt. Die Spiralen rund und gleichmäßig, dabei dennoch schwindelerregend wild, mit den dicksten Kerben im Zentrum und kurvigen Linien, die nach außen hin immer filigraner und verästelter wurden. Es war wunderschön und erinnerte an die längst zusammengebrochenen Paläste der verlorenen Heimat, bei denen ähnliche Verzierungen Säulen und Wände geschmückt hatten.
Heimat …
Das Reich der Túatha Dé.
Sein Reich.
Sam holte tief Luft und wischte sich fahrig über tränenfeuchte Wangen und durchs schüttere Haar.
»Konzentriere dich!«, brummte er und rollte die Schultern unter dem dunkelgrauen Mantel, dessen Taschen prall und schwer gefüllt waren und den Wollfilzstoff an Schultern und Brust spannten. Zeit, sie zu leeren, dachte er mit leichtem Lächeln auf den harten Mundwinkeln.
Nachdem er seine aufwallenden Gefühle besänftigt hatte, zog er zwei Bündel grüner Blätter aus einer Manteltasche.
»Beltane«, murmelte er und bückte sich, um jeweils einen Strauß aus Bärlauch und Waldmeister ins Zentrum einer der Randspiralen zu drapieren, die perfekt ausgelotet und gen Nordwest ausgerichtet war.
Einen Schritt und eine Spirale später legte er Eisenkraut und drei Eicheln ab.
»Litha.«
Er richtete sich auf und holte eine alte, verrostete Sichel und ein Bündel Getreideähren hervor.
»Lugnasad«, sagte er, nachdem er diese ebenfalls abgelegt hatte. In der Erinnerung an Lugh, zu dessen Ehren die hochsommerliche Jahreszeit der Ernte getauft worden war, huschte ein Lächeln über seine Mundwinkel. Langsam senkte er sich in die Hocke. Mit den Fingerspitzen wischte er über die Vertiefung und schloss die Augen. Oh, wie Lugh geleuchtet hatte! Wunderschön, wissbegierig, in allen Künsten begabt, schlau und tapfer. Selbst wenn Manannán lediglich der Ziehvater des Burschen gewesen war – einen solchen Sohn konnte man sich nur wünschen.
»Auch wir werden uns wiedersehen …«, wisperte Sam und brachte sich seufzend in die Höhe. »Bald …«
Zusammen mit drei großen Blättern in herbstlichen Farben platzierte er eine kleine, korbummantelte Flasche Wein auf der vierten Spirale.
»Mabon.«
Mit leichtem Summen und flackerndem Glitzern erwachte das Zeichen.
Der Ton vibrierte in seinem pochenden Herzen und das schillernde Licht tauchte die Backsteinwände in goldgelben Schein und zuckende Schatten.
Mit Gänsehaut auf den Unterarmen ließ er eine Handvoll Körner auf die fünfte Spirale rieseln. Ein Stück Engelwurzwurzel folgte. Summen und Lichterspiel wurden eindringlicher.
»Samhain«, murmelte er.
Mit dem nächsten Schritt holte er ein fingergroßes, abgebrochenes Geweihende und einen Mistelzweig aus der Manteltasche.
»Yule.«
Den Teil des Symbolkreises, der für die Geburt des Lichtes stand, versah er mit einer Krokuszwiebel und einer Kerze, deren Docht er mit einem Streichholz in den zitternden Fingern entzündete.
»Imbolc.«
An der achten Position vollendete er das Platzieren von Gegenständen, indem er ein Hühnerei neben getrockneten Klee in der Mitte dieser Spirale ablegte.
»Ostara.«
Sam richtete sich auf und betrachtete sein Werk.
Ganz langsam und kaum merklich wich das Glitzern, und die Einritzungen füllten sich mit flüssigem, gleichmäßig pulsierendem Licht. Es schien aus dem Stein des Bodens zu quellen wie Schweiß aus Poren. Das Summen wurde zu tiefem Brummen, als die Kraftlinien weit unter der Basilika auf das erste Ritual reagierten.
Lächelnd nahm er einen langen Speer auf, den er vor gefühlten Ewigkeiten neben der Kellertür abgestellt hatte, und wischte Staub und Spinnweben vom Schaft. Es war ein einfaches Werkzeug. Die Waffe eines Kriegers. Holz, Leder, Bronze.
Nur die Zauber, die er vor Ewigkeiten aufgebracht hatte, machten es zu etwas Besonderem. Machten es zu ›Crann Buide‹ - dem ›gelben Baum‹.
Mit verträumtem Schleier vor den Augen streichelte er die blattförmige Spitze. Es war lange her, dass er diese Waffe im Kampf geführt hatte. Sehr lange. Und dennoch schmiegte sich das von rauen Handflächen polierte Holz vertraut in den Griff seiner schwieligen Hände.
»Fáilte, a chara aí!«, hieß er seinen alten Freund willkommen und spürte dessen vertrautes Gewicht. Er packte zu und senkte die Spitze zu Boden. »Mit dir wird es beginnen – und durch dich wird es enden.«
Behutsam trat er über die Symbole und Opfergaben und begab sich in die Mitte des Raumes und des Zeichens. Mit leisen, altertümlichen Silben auf den Lippen hob er den Speer mit der Spitze nach unten senkrecht in die Luft.
Der goldene Schimmer durchdrang die Rillen, füllte sie bis zum Rand und hüllte den Kellerraum in behagliches Licht, das träge pulsierte und den Raum wandelte, als sei er von einem magischen Schleier umgeben, durch den die Jahreszeiten in rascher Abfolge mit unterschiedlicher Strahlkraft der Sonne strömten. Mit einem Mal erschien dieser Ort nicht mehr wie eine einfache Lagerstätte für Dokumente, aussortierte Kleidungstücke und liturgische Utensilien, sondern vielmehr wie ein verzauberter Rückzugsort, ein behaglicher Kokon, über dessen Wände ein heimeliges Lichtspiel wanderte.
Die geraunten Fetzen, die über Sams Lippen strauchelten, vereinten sich zu melodischem Gesang, der nach rauschenden, raschelnden Blättern klang. Er reckte das Kinn, legte den Kopf weit in den Nacken und sang lauter. Das Leuchten wurde heller. Aus dem Brummen wurde ein träge wummernder Puls. Wie der Herzschlag eines Drachen. Staubiger Putz rieselte aus den Fugen der Wandverkleidung. Kleine, vom Licht durchdrungene Staubwolken stiegen vom Boden auf.
»Éirigh, céad ritheal!«, brüllte Sam, spannte die Muskeln und stieß die Spitze des Speers hinab. Wie durch Butter fuhr die Bronze in das Zentrum des Gebildes zwischen seinen Stiefeln.
