Miss O'Shea und die Drachen von Hongkong - Dan Dreyer - E-Book

Miss O'Shea und die Drachen von Hongkong E-Book

Dan Dreyer

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Beschreibung

Die Nebula Chroniken: 1887 Buch 3 »Miss O'Shea und die Drachen von Hongkong« »Ich bin der Custos, der Wächter. Ich bin der Schild der Quadriga.« November 1887. Caoimhe ›Kiwa‹ O'Shea, jüngst zum Custos der Ratsquadriga ernannt, dürstet es nach Gerechtigkeit für Yifan Zhangs Opfer! Ihre durchaus ehrenhafte Absicht trifft auf eine überaus ehrenlose Gegnerin. Und während die Zauberin geradezu spielerisch und mit scheinbar grenzenloser Tücke agiert, führt sie der Quadriga deren Grenzen deutlich vor Augen und verfolgt dabei ihre eigenen Pläne. Wieder und wieder fragt sich Kiwa, ob sie dieser Gegnerin gewachsen ist. Bald wird ihr klar, dass es nur noch einen einzigen Ausweg aus allem Leid gibt. Bald wird ihr klar, dass es nur noch einen einzigen Ausweg aus allem Leid gibt. Aber darf sie dem Anderen nachgeben, um die Bürger Hongkongs zu retten? Oder muss sie es sogar? Ist es wirklich Yifan Zhang, die die Nebula Convicto und die Welt der Mundanen bedroht? Oder lauert da noch etwas anderes, etwas, das bisher verborgen blieb? Und was zum Teufel hat es mit all den Katzen auf sich? »… ich kämpfe zuerst und falle zuerst. Solange ich atme, sind wir sicher.«

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Seitenzahl: 514

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vorwort
ON A CAVE CALLED BLACK ANNIS'S BOWER
Unheilvolle Zeremonien
Keine Dämonin, keine Domäne
Die Benennung
Eine schlaflose Nacht
Von Banshees und Vampiren
Ehrwürdige Mauern
Der Verhangene Rat von London
Unnützer Eisklotz?
Aufruhr unter Feliden und ein Duke
Austern & Eingebung
»Guten Abend, Chevejo«
Leckerleckerlecker
Zurück in New York
Die Schocktruppe
Sie kommen.
Eins, zwei, drei
Dunkelheit, Licht und Glaube
The Peak
Gedankenlesen & Faltenerkundung
Abgeschnitten & aufgespalten
Eve & Morgan
Ellis & Michael
Kiwa & João
Stampfen, Schnurren, Rauschen
Orchestriert
Stein, Blitz, Stahl und Blei
Auf der Flucht
Der schwarze Drache
Das Herz des alten Zheng
Funkenflug und Schwarzpulver
Wie besiegt man einen Drachen?
Ein heiliger Georg
Ein verärgerter Vogel
Vampir via Hongkong
Katzengeister & Altes Feuer
Von Vertrauen & Dämonen
Eine schwarze Agnes
Das Andere
Ein überaus begabter Magus
Long Wang
Ein fassungsloser Schatten
Wenn es Quästor und Ratsritter wie Schuppen von den Augen fällt
Erleuchtungen
Verpasst
Der Sohn des Meeres
Epilog: Ein Duke mit 1.000 Augen
Nachwort
Teil der historischen Bezüge – Achtung SPOILER!
Die Nebula Chroniken: 1887 Buch 1
Die Nebula Chroniken: 1887 Buch 2
Die Nebula Chroniken: 1887 Buch 3

Nebula Convicto Chroniken: 1887

Miss O'Shea und die Drachen von Hongkong

von

Dan Dreyer

Unter Mitwirkung von

Torsten Weitze

Für Karl, Lucy & Bingo.

Meine Drachenbande.

Autor: Dan Dreyer

(Unter Mitwirkung von Torsten Weitze)

Ackerstraße 127

40233 Düsseldorf

Germany

[email protected]

NEBULA CONVICTO CHRONIKEN: 1887

»Miss O’Shea und die Drachen von Hongkong«

© Dan Dreyer, Düsseldorf 2023, 1. Auflage

(NC03EB_V01– Nummer für internen Gebrauch)

Lektorat & Korrektorat 1: Rainer Knietzsch

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG

Cover-Illustration: © Mi Ha | Guter Punkt, München

unter Verwendung von Motiven von iStock / Getty Images Plus

Satz: Dan Dreyer mit Alegreya Free

Auszug aus „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ unter den Bedingungen

der Projekt Gutenberg-Lizenz, die diesem eBook beiliegt, oder online unter www.gutenberg.org

Karten: No copyright restrictions. Public domain.

•••

Das Werk, einschließlich seiner Teile,

ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der

engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist ohne Zustimmung des Verlages

und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische

oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,

Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vorwort

›NEBULA CONVICTO CHRONIKEN: 1887 – Buch 3‹

Herzlich willkommen zurück!

Schön, dass Du wieder da bist.

Im Buch 1 durfte ich Dich ins kalte Boston mitnehmen und Kiwas erste Schritte hinter dem Schleier zeigen, wo sie dem Löwen begegnete.

Im zweiten führte es sie zuerst nach London, dann an die Westküste Amerikas und Kanadas, in der Hoffnung, den schwerverletzten John retten und heilen zu können.

Buch 3 beginnt in London, wo sie einige Verabredungen und Treffen zu absolvieren hat. Doch schon bald wird ihre Quadriga, von der sie nun ein Teil ist, nach China entsendet.

Genauer: nach Hongkong.

Sprechen wir heute von Hongkong, so meinen wir nicht nur die Insel, sondern inkludieren Kowloon und die New Territories wie selbstverständlich.

1887 war dies noch nicht so.

Damals bezeichnete ›Hongkong‹ lediglich die große Insel an der Südküste Chinas.

Die Briten hatten sich im Zuge der Opium-Kriege, auch Anglo-Chinesische-Kriege genannt, den Zugang zu ihr mit Kanonenschiffen verschafft. Im Nachgang wurde die Insel Hongkong im Rahmen des Vertrags von Nanking 1842 an Großbritannien abgetreten, wodurch das Gebiet zur Kronkolonie wurde. Dabei ging es um Handelsdefizite, Tee, Opium und Silber und ist rückblickend keine ruhmreiche Episode für das British Empire – auch wenn die Geschichte dahinter aus heutiger Sicht überaus spannend, gleichermaßen erschreckend ist. Zu dieser Zeit lebten 6.000 – 7.000 Menschen dort. Mehrheitlich Bauern, Fischer und Köhler. Zwanzig Jahre später waren es bereits über 125.000. Um 1887 waren es mehr als doppelt so viele, mit ungefähr 10.000 Schiffen pro Jahr, die im ›Victoria Harbour‹ anlegten.

Ein Teil des kolonialen Hongkongs war größtenteils den Briten gewidmet, mit Rennbahnen, Paradeplätzen, Kasernen, Kricket- und Polofeldern. Wohingegen ein anderer Teil mit chinesischen Geschäften, Märkten und Teehäusern gefüllt war. Beide Gebiete verband der riesige Hafen, der die nördliche Küstenlinie vereinnahmte. Zusammen ergab dies einen wahren Hexenkessel, der geschäftig, turbulent und in stetem Wandel war.

Hongkong wurde einer der ersten Teile Ostasiens, der industrialisiert wurde. Ein Zeugnis dessen ist die Peak Tram, die bis heute Wanderer, Touristen und Erholungssuchende auf den Victoria Peak befördert. Der Gipfel bietet einen weiten Blick über Kowloon und große Teile der Insel Hongkong. Sein chinesischer Name Tai Ping Shan bedeutet ›Berg des großen Friedens‹.

›Frieden‹ wird dort für Miss O’Shea und die Quadriga allerdings nicht zu finden sein.

Im Gegenteil.

Ich hoffe, Du, liebe Leserin und lieber Leser, hast weiterhin genauso viel Spaß hinter dem Schleier wie ich.

Und jetzt: Vorhang auf! Es geht direkt nach China.

Doch zuerst: ein Gedicht.

ON A CAVE CALLED BLACK ANNIS'S BOWER

'It is said the soul of mortal man recoiled

to view Black Annis' eye, so fierce and wild;

Vast talons, foul with human flesh, there grew

In place of hands, and features livid blue

Glared in her visage; whilst her obscene waist,

Warm skins of human victims close embraced.

•••

Man sagt, des Sterblichen Seele zuckt zurück,

bei Ansicht der Schwarzen Agnes, so wild und grimmig war ihr Blick.

Riesige Krallen die Hände ersetzen,

voll Fleisch in verwesenden Fetzen.

Von fahlem Blau war ihr Gesicht, die Taille obszön und verdorben, 

Umschlossen von Häuten menschlicher Opfer. Lebendig erst, später gestorben.

•••

Poem on Black Annis by John Heyrick Jr, published in 1797/8

Übersetzung von R. Knietzsch, 2023

Unheilvolle Zeremonien

Hongkong, Victoria Harbour, Canton Wharf, Sonntag, 27. November 1887, 06:20 Uhr

Auf leisen Pfoten pirschte sich die Katze näher an die Kisten, die die Fischer eine nach der anderen vom Deck der Dschunke auf den Anleger wuchteten. Es war ein guter Fang geworden. Zackenbarsch, Schnapper, sogar ein Thunfisch. Diese waren für die Katze freilich viel zu groß. Sie war eine ausgemergelte Streunerin und hätte einen dieser Brocken niemals davontragen können. Doch das Leben auf Hongkongs Straßen hatte sie zäh und gerissen gemacht. Daher blieb sie tief geduckt über dem Boden, setzte vorsichtig eine Pfote nach der anderen auf und hielt Ausschau nach kleinerem Beifang. Sie hatte es früh gelernt: Die Fischer gingen mit Dieben unnachsichtig und brutal um, selbst wenn diese nur ein mickriges Fischlein stehlen wollten. Nicht selten wurde eine Katze einfach vom Kai ins schmutzige Wasser des Hafens getreten. Wenn sie es nicht schaffte, ihre Klauen in die glitschigen Stützpfähle zu treiben und wieder emporzuklettern, war es unweigerlich um sie geschehen.

Doch heute machten es ihr die Männer leicht.

Einer von ihnen, ein dürrer Kerl in fadenscheinigem Hemd und schmutzstarrenden Hosen, hievte eine Kiste auf eine andere und achtete nicht darauf, die obere mit der unteren genau zu treffen. Die Kiste kippte zur Seite. Beinahe wäre sie auf die Bohlen geknallt und hätte ihre silbrig glänzende Fracht verteilt. Aber der Bursche reagierte schnell und krallte sich nun ins Holz der Kiste, wie die Katzen, wenn sie sich vor dem Ertrinken retten wollten. Dennoch flutschten ein halbes Dutzend Fische über den Rand und glitten über den Anleger. Ein paar kümmerliche Kaninchenfische waren auch darunter.

Die Katze sah ihre Chance, schnellte vor und biss zu.

Mit dem Fisch zwischen den Zähnen wirbelte sie herum und rannte davon.

Das wütende Gezeter der Fischer blieb hinter ihr zurück.

Sie schimpften mit dem Ungeschickten. Die kleine Diebin war ihrer Aufmerksamkeit entgangen und flitzte mit der Beute in den Fängen über eine breite Straße, wo sie einigen Kutschen und Rikschas auswich.

Dass dieser Verkehrsweg Queen’s Road hieß, wusste die Katze nicht. Für sie war es lediglich eine Bahn aus Lehm und Kopfstein, auf der sie achtgeben musste, wollte sie nicht unter Räder oder Sohlen geraten. Die Streunerin kannte nur das Bild, das sich immer stärker und drängender in ihr Hirn brannte und sie zum Gipfel des Berges lockte.

Mit einem weiten Satz sprang sie über einen Haufen Pferdeäpfel, flitzte an Fässern und am Straßenrand aufgestapelten Waren in Kisten und Säcken vorbei und verschwand in der engen Gasse zwischen zwei weißen Häusern aus Stein.

Geduckt huschte sie durch einen Gemüsegarten, in dem es außer einigen verschrumpelten Gurken nicht viel zu holen gab. Der Hof eines Stellmachers und der eines Handelsunternehmens folgten. Zwischen Kisten, Containern, Bretterstapeln, Nagelfässern und halbfertigen Kutschenrädern entzog sie sich dem Blick der Menschen.

Caine Road und Robinson Road waren rasch überquert.

Ihr Ziel war der Berg, den die Stimme Victoria Peak nannte. Eine der höchsten Erhebungen auf Hongkong Island. Sie hielt sich am Rand der Peak Road, denn auf diesem gewundenen Pfad kam sie schneller voran, als wenn sie den Weg durch die Büsche und Wälder gewählt hätte.

Ab hier traf sie auf ihre ersten Artgenossen.

Sie trugen ebenfalls Fische in ihren Mäulern.

Fische, die sie auf dem Markt oder aus Auslagen der Lebensmittelgeschäfte gestohlen hatten. Das nasse Fell eines großen Katers ließ vermuten, dass er seinen Fang, einen dicken Süßwasserkarpfen, selbst geschlagen hatte.

Um diese Zeit war die Peak Road noch nicht sehr befahren oder begangen. Die meisten Menschen, die auf und um den Berg herum lebten, würden erst in einigen Minuten ihr Tagewerk beginnen. So konnten sich die Katzen zu einem anschwellenden Strom aus Fell und Schuppen vereinigen, der höher und höher eilte. Schnell waren es Tausende, die mit Fischen in den Schnauzen über die dürftig geschotterte Lehmstraße flitzten.

Das Wort im Schädel der Streunerin lobte und frohlockte.

Es war ein schönes Gefühl und Laufen und Schleppen fielen ihr und den anderen leicht.

China, Provinz Shaanxi, zwischen Xi’An und Weinan, Sonntag, 06:40 Uhr

Mit schlurfendem Schritt, und bepackt mit einem Rucksack im Holzgestell, in dem ausreichend Proviant steckte, betrat der Alte Zheng das Mausoleum. Die Grabstätte des Ewigen Kaisers lag in einer unterirdischen Halle von gigantischen Ausmaßen. Sie war stockfinster, doch Zheng war ohnehin blind und hätte keine Verwendung für eine Lampe gehabt, in deren Licht er seinen Weg durch die Gänge beleuchten könnte. Also tastete er sich Schritt für Schritt vorwärts. Den Lageplan und die Route zur Hauptkammer hatte er in seinem Kopf gespeichert. Ebenso die Aufstellung der Abteilungen von steinernen Kriegern. Mit trockenen Fingerkuppen tastete er sich an den Reihen der Späher vorbei und bahnte sich den Weg durch die dichte Formation der Fußsoldaten. Als Nächstes kämen die Bogenschützen und hinter diesen die Reiterei.

Die Luft war schal und kalt. Während er mit stummen Lippen die Reihen abzählte, atmete er sie ein und spürte den staubigen Geschmack von Jahrhunderten auf der Zunge.

Sein Ziel war der Kommandostand der leblosen Soldaten.

Auf dem Weg dorthin schlängelte er sich an den dicht beieinander stehenden Kriegern vorbei. Unterwegs sammelte er die Magie in seiner Seele, die er in Kürze strömen lassen würde.

Das Wort war eindeutig in seiner Forderung: ›Erwecke sie alle!‹, tönte es immer und immer wieder. Es nagte an Zhengs Verstand und bohrte sich mit mitleidloser Härte in seinen Schädel. Widerspruch oder gar Befehlsverweigerung wäre mit dem sofortigen Tod verbunden. Dessen war er sicher. Aber obgleich das Wort beharrlich war, hatte es ihm auch das nötige Wissen vermittelt, das zur Erweckung der Armee aus Stein vonnöten war.

Erwecke sie! Gaukle ihnen vor, du seist der Kaiser – und sie werden dir gehorchen!

Dabei machte sich der Alte Zheng nichts vor. Ja, die Armee würde seinen Befehlen folgen. Doch er selbst diente dem Wort – so er am Leben bleiben wollte.

Tastend fand er endlich die Stufen, die zum Kommandierenden und seinem Stab führten.

Nun würde es nicht mehr lang dauern, und der Alte Zheng hätte seinen Auftrag erfüllt.

Vielleicht würde das Wort dann aufhören, in seinem Verstand herumzukratzen.

Victoria Peak, Sonntag, 06:55 Uhr

Die Katzen brachten die Fische in einer nicht abreißen wollenden Kette. Eine nach der anderen erreichte das Plateau unterhalb der Bergkuppe und legte ihre Fracht auf den anwachsenden Haufen. Yifan Zhang war versucht, in einen Jubeltanz auszubrechen.

Doch das Wort mahnte zur Eile.

Die Zauberin konzentrierte sich auf die Gruppe eifrig scharrender Katzen, die ein kompliziertes Muster in den harten Untergrund auf dem felsigen Einschnitt scharrten. Die Rillen, die sie gruben, hatten eine Handbreit tief zu sein! Zwei Kater taumelten erschöpft zur Seite. Ihre Krallen waren kaum noch vorhanden. Yifan Zhang entließ die Nutzlosen aus dem magischen Griff, mit dem sie die Tiere beherrschte. Als sie sie erlöste, schüttelten sie ihre Köpfchen und sahen sich verdutzt um. Ein Kater sträubte sein Nackenfell angesichts der zahllosen Artgenossen um ihn herum. Er fauchte und sauste über den Hang davon.

Yifan Zhang lächelte wohlwollend.

Unter energischem Scharren von zweihundert Klauentatzen vollendeten die Katzen den äußeren Ring des Zeichens. Mit einem Fingerzeig erteilte die Zauberin den Befehl. Rasch füllten die Tiere den Ring mit toten Fischen. Sie legten ihre Beute hinein, trampelten darauf herum und machten sich daran, weitere Fische herbeizuholen.

Bald wäre das dämonische Siegel vollendet.

Das Wort brummte beruhigt.

Mausoleum des Ewigen Kaisers, Sonntag, 06:55 Uhr

Der Alte Zheng reckte die Hände zur hohen Decke und sang die Formeln im Dialekt seiner Ahnen. Die blinden Augen geschlossen, der Rücken gerade. Er spürte jeden Muskel vom Gesäß bis zu den Schultern. Es fühlte sich ungewohnt, gleichermaßen gut an.

Hätte er sehen können, er hätte die in unheilvollem Dunkelrot leuchtenden Schlieren bewundern können, die aus seinen Fingerkuppen strömten und von dort wie die beutesuchenden Tentakel eines Meermonsters ausschwärmten, über die Reihen der Steinernen glitten, bis sie nach den vorderen Spähern greifen konnten. Die roten Stränge bildeten Gabelungen wie die Äste einer Schlingpflanze. Sie legten sich um die Oberkörper der Steinkrieger, wickelten sich fest um deren Köpfe, suchten die Stellen an den Hinterköpfen – dort wo die Schädel auf den Hälsen saßen – und bohrten sich hinein.

Heiser krächzte der Alte Zheng die letzten Formeln. Dann sackte er auf die Knie und stützte sich erschöpft auf den Händen ab. Er atmete schwer und stöhnte.

Der erste Späher rührte sich. Staub rieselte auf den Boden, kaum hörbar für den schnaufenden Beschwörer, der auf allen vieren gegen eine Welle von Übelkeit ankämpfte.

»Qǐ! Juéqǐ!«, brüllte der belebte Steinerne und reckte seine Stangenwaffe in die Höhe.

Der Alte Zheng konnte dies nicht sehen, doch vor seiner dunklen Sicht leuchteten die Erweckten auf wie entzündete Straßenlaternen in der Nacht. Einer nach dem anderen.

Es war schön, einmal im Leben wieder Licht wahrzunehmen, dachte der Zauberer und lächelte. Er stützte sich am Boden ab und hockte sich kniend auf seine Waden.

Stampfende Schritte zu seiner Rechten ließen ihn zusammenzucken.

Er spürte die Präsenz eines riesigen Kriegers in voller Rüstung neben sich. Die Silhouette des Erweckten funkelte und glitzerte vor Zheng.

»Huángdì bìxià, nín yǒu shé me fēnfù?«, kollerte eine Stimme, die so tief war, als käme sie aus dem Herzen der Erde.

Der Alte Zheng kicherte.

›Wie lauten Ihre Befehle, mein Kaiser?‹, hatte der General der steinernen Armee gefragt.

»Marschiert!«, antwortete der Alte Zheng. »Gen Süden! Los!«

Dann kicherte er noch ein wenig. Er, der Erfüller des Willens des Wortes, ein Kaiser?

Nein, da machte er sich nichts vor. Er war nur ein Gehilfe.

Doch für den Moment gebot er über die mächtigste Armee aller Zeiten.

Steinerne Absätze rutschten im Staub, als der General seinen wuchtigen Leib drehte.

»Qǐchéng!!!«, brüllte der General.

Krachend und rumpelnd setzten sich die Steinkrieger in Bewegung.

Es waren über zehntausend. Ihr Marsch im Gleichtakt glich einem rhythmischen Erdbeben.

Die vordere Formation erreichte das Ende der riesigen Grabkammer und marschierte einfach durch die aus dem Fels geschlagene Wand. Steine, Erde und Wurzelwerk wurden von den ausschreitenden Reihen zerstampft.

Glucksend rappelte sich der Alte Zheng auf die Füße, um dem Tross zu folgen.

Keine Dämonin, keine Domäne

Greater London, Worthington Manor, Sonntag, 27. November 1887, 18:30 Uhr

Graphitstaub in ihrem Weg verteilend glitt die Bleistiftspitze über das Papier und durchkreuzte eine zuvor gezeichnete Linie. In einem Bogen fuhr sie herum und vollendete den großen Ring.

»Kreisrund, sagtest du?« Kiwa legte den Bleistift ab und nahm einen zweiten auf, den Morgan für sie angespitzt hatte.

»Ja. Ein vollkommener Kreis von …« João rieb nachdenklich durch seinen makellos gestutzten Bart und kratzte sich an der Schläfe. »Ich würde sagen, so um die einhundert Schritt im Durchmesser. Die Decke war hoch und kuppelförmig, verlor sich aber in der Dunkelheit jenseits der Kronleuchter, Fackeln und Flammenschalen.«

Kiwa zeichnete ein kleines Viereck ins Zentrum des Blattes. »Und der Thron stand in der Mitte?«

»Auf einem hüfthohen, halbrunden Podest mit Stufen, ja.«

Michael Saint George stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und beugte sich vor. Seine schwarzen Brillengläser waren auf die entstehende Zeichnung gerichtet und Kiwa zerbrach sich längst nicht mehr den Kopf darüber, wie der augenlose Vampir überhaupt etwas sehen konnte.

»Wie viele Faltenportale hast du erkennen können?«, fragte er leise in seiner rauchigen Stimme.

»Fünf. Sie waren vor dem Thron im Halbrund in regelmäßigen Abständen angeordnet. Da, da, dort, hier und da.« João tippte auf das Blatt. »Zwischen ihnen hingen zum Teil leere Rahmen. Bestimmt mannshoch und so breit.« Er streckte die Arme aus. »In einem war noch ein mit chinesischen Schriftzeichen bemaltes Tuch gespannt.«

»Konntest du sie entziffern?«

»Bis auf ›Raubkatze‹ keines.« João zuckte mit den Schultern. »Dieses Symbol hatten wir im Zodiakbann in Boston entdeckt und ich erinnerte mich daran. Aber ansonsten … es ist nicht weit her mit meinem Chinesisch. Vom Schreiben in dieser Sprache ganz zu schweigen.«

»Wem sagst du das«, murmelte der Vampir verständnisvoll.

»Wo war die Zelle, in der du Ellis gesehen hast?«, fragte Kiwa. Sie hatte Mühe, ihre Sorgen um den Ratsritter, den sie als Constable der Bostoner Polizei kennengelernt hatte, zu bändigen. Er war seit über einer Woche in Yifan Zhangs Domäne gefangen! Mindestens! Wie viel länger könnte er durchhalten?

Der Bericht des Schattens der Quadriga hatte sie immerhin ein wenig beruhigen können. Offensichtlich war Ellis – abgesehen davon, dass er ein Gefangener war – wohlauf und guter Dinge, denn João hatte ihn lachen hören.

Aber angesichts der Tatsache, dass sie es mit einer Zauberin voll böser Absichten zu tun hatten, konnte sich daran jederzeit etwas ändern.

Wären sie doch nur schon in Hongkong, dachte Kiwa zum tausendsten Mal, erfüllt von fiebriger Unruhe.

»Etwas versetzt hinter dem Thron habe ich zwei Türen gesehen. Stabile Pforten aus dickem Holz mit Eisenbeschlägen. Aus einer hat mir Ellis zugerufen. Sie müsste hier gewesen sein.« Wieder tippte er auf das Blatt und wieder zeichnete Kiwa. »Die andere war hier auf der gegenüberliegenden Seite. Wer dort einsaß, kann ich nicht sagen.«

»Gab es weitere Türen?«, fragte Morgan, der bislang nur zugehört hatte und in einem der Sessel lungerte, die um den Tisch herum angeordnet waren.

»Direkt hinter dem Thron dürfte noch eine gewesen sein, denke ich«, antwortete João.

»Habe ich mir gedacht.« Der Magus sah zur holzvertäfelten Decke und ließ die Augenbrauen zucken. »Wäre auch keine besonders ausgefeilte Domäne, wenn Yifan immer durch eine Falte müsste, so sie ihr Geschäft verrichten möchte, nicht wahr?«

Eve, die großgewachsene Nachtstreiferin, schnaufte amüsiert. »Du glaubst, in dem Raum dahinter wäre ihr Klosett?« Sie klappte das dicke Buch zu, in dem sie geblättert hatte, und stellte es zurück zu den anderen ins wandüberspannende Buchregal aus Edelholz.

Morgan schmunzelte breit. »Zumindest können wir vermuten, dass dort ihre Gemächer zu finden sind. Sie wird wohl auch essen und schlafen müssen, oder nicht?«

Der Schatten nickte. »Ja. Eine Dämonin ist sie nicht. Da bin ich mir sicher. Sie ist ein Mensch. Ihre Halle ist somit keine Domäne. Obwohl sie es behauptete, als ich durch die kollabierte Falte eintrat.« Er hob beide Hände, verformte sie klauenartig und wackelte mit dem Kopf hin und her. In gespielt dramatischer Miene und Sprache wiederholte er Yifan Zhangs Worte: »Wer wagt es, in meine Domäne einzudringen? Wie bist du hier hineingekommen?« Dann ließ er die Hände an die Hosennaht klatschen und schüttelte lächelnd den Kopf. »Keine Domäne. Hundert Prozent.«

»Ist das gut? Oder wichtig?«, fragte Kiwa.

Morgan legte ein Bein auf die Sessellehne und drückte sich tief ins grüne Lederpolster.

»Könnte man sagen, ja. Eine Domäne ist das Herrschaftsgebiet eines Dämons oberhalb des sechsten Kreises und gilt laut Lex Nebula als magisch autonom. Sie unterliegt keinerlei Beschränkungen bezüglich Einwohnern und Magienutzung. Des Weiteren müssen grobe Verstöße gegen Regularien mit physischen Beweisen untermauert werden, um geahndet werden zu können. Wir wären dort Freiwild.«

»Also gibt es in China ebenfalls die Lex Nebula?«, fragte Kiwa, deren Hirnwindungen kurz davor waren, angesichts der Erläuterungen mit der weißen Fahne zu wedeln. Sie erinnerte sich nur dunkel daran, dass die Gesetzgebung der Nebula zuvor in einem Gespräch mit dem Magus angerissen worden war. Irgendwann in Boston. Irgendwann vor gefühlten einhundert Jahren.

»Natürlich gibt es die Nebula in China«, sagte Morgan. »Durch die Landnahme der Briten verschlug es auch einige europäische Mitglieder dorthin, die durchaus bemüht sind, die Lex Nebula einzuführen. Bislang halten sich die Erfolge im Rahmen. Kolonialisierung ist niemals ein Nährboden für verständnisvolles Miteinander.«

»Aber …«, mischte sich Saint George ein, »… der Rat bemüht sich redlich, gegenseitige Akzeptanz und stabile Bündnisse durch Mittel der Diplomatie zu installieren.«

Kiwa schüttelte den Kopf und bat ihre Hirnwindungen, diesem Ansturm an neu aufgeworfenen Fragen standzuhalten. »Wäre Yifan Zhang eine Dämonin mit Domäne, wären wir also auf jeden Fall Freiwild. Ob in China oder in Boston.«

»Korrekt«, sagte Morgan.

»Äh …« João streckte einen Zeigefinger in die Luft. »Erwähnte ich nicht jüngst, dass sie keine Dämonin ist? Jeder weitere Gedanke über Domänen ist hiermit reine Zeitverschwendung.«

»Ja, schon«, sagte Kiwa. »Aber ich muss noch viel lernen. ›Häppchenweise‹ erscheint mir ein guter Ansatz zu sein.«

»Sie ist also eine ganz normale Zauberin«, half Saint George dem Thema zurück ins Gleis.

»Aber eine überaus mächtige!«, ergänzte der Schatten. »Wir dürfen sie nicht unterschätzen! Ich trat in eine ausgefeilte Bannfalle und hätte niemals entkommen können, hättet ihr nicht das Auge geschüttelt. Ich vermute, Sam und Ellis sind ebenfalls in eine dieser Fallen getreten. Diese Bannfallen dürften daher den gesamten Boden bedecken.«

Die Erwähnung von Samuel Waterman ließ Kiwas Herz einen Takt schneller pochen.

Was nicht verwunderlich war, dachte sie. Denn der Mann, den sie als gütigen Freund der Familie und großzügigen Vermieter ihrer Dachstube kennengelernt hatte, wäre im Notfall zuständig gewesen, ihr einen Meißel in den Schädel zu jagen, um eine Wandlung zur Black Annis abzuwenden.

Einen Meißel.

In den Kopf.

Sam.

Ein Schauer rann zwischen ihren Schultern bis zum Steiß hinab und weißer Frost bildete sich auf ihren Fingern. Der Bleistift gefror durch und durch und versagte den Dienst.

»Hier«, sagte Saint George trocken und reichte ihr in aller Gelassenheit einen neuen.

»Was ist mit Sam?«, fragte er an João gewandt. »Hast du ihn auch gesehen?«

Der Schatten verneinte mit betrübter Stimme. »Nein. Keine Spur. Möglicherweise saß er in der zweiten Zelle. Ich weiß es nicht.«

»Ob Yifan Zhang ihn getötet hat?«, murmelte Kiwa.

Morgan streckte sich und legte beide Hände auf die Lehnen. »Lassen Sie uns nicht vom Schlimmsten ausgehen, ja? Einen Magus wie Sam umzubringen, ist keine einfache Angelegenheit. Erst recht nicht für einen anderen Zauberer oder, im Falle Yifan Zhangs, eine andere Zauberin.« Er drückte sich aus dem Sessel und lehnte sich an den Tisch, der die sogenannte ›kleine Bibliothek‹ im Südflügel des weitläufigen Worthington Manor dominierte. »Nicht zu vergessen, dass Sam überaus imposante Schutzzauber wirken kann, die sowohl andere als auch ihn selbst abschirmen.«

Um die Bannfallen anzudeuten, verteilte Kiwa kleinere bleistiftgemalte Kreise im großen Rund der Halle.

»Wann können wir aufbrechen?«, fragte sie.

Die Reise über Land und See würde fünf bis acht Wochen in Anspruch nehmen, hatte Saint George an Deck des Dampfschiffes erklärt.

Fünf bis acht Wochen, die Ellis in Gewalt der nachweislich ruchlosen Yifan Zhang überstehen musste, bevor die Quadriga überhaupt daran denken konnte, ihn zu befreien.

Abgesehen davon mussten sie die ›Domäne‹ der Zauberin erst einmal finden.

Je eher sie aufbrächen, umso besser.

Der Quästor streckte den Rücken durch und rollte die Schultern unter dem schwarzen Jackett. »Morgen werden wir dem Rat vorstellig. Der wird entscheiden, wann und wie wir ausrücken.«

Kiwa rollte die Augen zur Decke, da sie das Schlimmste befürchtete. Besagter Rat hatte nicht durch Entscheidungsfreude geglänzt, als es darum gegangen war, John und Johnjohn zu retten. Ob sie zum Heil eines Ratsritters schneller zu Ergebnissen und Handlungen kommen würden, verblieb einstweilen eine leise Hoffnung auf wackeligen Beinen.

»Doch zuvor …!« Saint Georges Körper verschwamm und tauchte im nächsten Augenblick am Türrahmen auf, wo er in einladender Geste in den Flur dahinter deutete.

Morgan blies die Backen auf und ließ mit flatternden Lippen Atem entweichen.

»Angestaubter Firlefanz …«, stöhnte er.

»Ganz recht«, sagte der Quästor grinsend. Er hob eine Hand und spreizte Zeige- und Mittelfinger ab. »Und wir haben sogar zwei gute Gründe für Firlefanz, mein Bester!« Mit einem Nicken wies er auf Kiwa und Eve.

»Na gut.« Morgan winkte ab und schüttelte in gespielter Resignation den Kopf. »Aber danach wird gegessen! Ich möchte den guten Parsley nicht enttäuschen, der seit Stunden für uns kocht.«

João lachte auf. »Wie willst du denn eine Ritterrüstung enttäuschen, hm?«

Ein Stupfer an die Brust unterband, dass er in Gelächter ausbrechen konnte.

»Genau so, wie ich einen Kobold enttäuschen kann, wenn ich ihm sage, dass er nicht zum Dinner eingeladen ist!«, sagte Morgan streng.

»Oh …«, machte der Schatten. »Ich denke, es funktioniert.«

Der Magus nickte. »Bringen wir die Sache also schnell hinter uns.«

Die Benennung

Worthington Manor, Sonntag, 19:00 Uhr

Vom Südflügel aus marschierten sie durch breite Flure über Marmorböden und dicke Läufer in den mittigen Hauptteil des Gebäudes. Der Landsitz der Worthingtons, von denen es nach Kiwas Wissenstand nur noch Morgan gab – denn er schien bis auf seinen Diener Parsley allein hier zu wohnen – war weitläufig und entsprach in seinen monumentalen Weiten dem, was sie von einem englischen Landschloss erwartet hätte. Wobei die Dekoration der Räume und Gänge weitestgehend auf Kitsch und Tand verzichtete. Geschmackvoll war das Wort der Wahl, dachte Kiwa.

Wieder bogen sie ab. Wieder erklommen sie eine Steintreppe. In der nächsten Etage wies der Magus den Gang hinab.

»Wir sind fast da«, sagte er. »Die Tür am Ende des Flures.«

Kiwa atmete erleichtert auf. Ohne Morgans Führung hätte sie sich bereits nach wenigen Kreuzungen und Abzweigungen verlaufen.

Vor einer doppelflügeligen Pforte stoppte der Magus, legte beide Hände auf die Türknäufe, drehte zeitgleich an ihnen und stieß die Flügel auseinander.

»Tadahh! Herzlich willkommen in der großen Bibliothek.«

Mit weit geöffneten Augen betraten Kiwa und Eve einen Saal von viereckigem Grundriss, dessen hohe Wände über und über mit Regalen und Buchrücken bestückt waren. Die burgunderroten Vorhänge des einzigen Fensters gegenüber waren geschlossen. Auf der rechten Seite stand ein Pooltisch mit rotem Filzbezug, auf der linken ein großzügiger, gemauerter Kamin mit einer Sitzgruppe aus Sofa, zwei Sesseln und Nierentisch.

»Hier, bitte!« Morgan überholte seine staunenden Gäste und wies auf ein außergewöhnliches Stehpult in der Mitte des Saals. Anstelle einer Schreibplatte lag eine große goldene Scheibe mit Gravuren auf nur einem geschwungenen Bein, welches einem sprießenden Baumstamm nachempfunden war, einschließlich breit ausladender Wurzeln und Geäst.

»Nun komm schon, Michael! Du wolltest doch unbedingt die Benennung.«

Kiwas weiße Locken wehten im Wind, den der heransausende Quästor durch seine Geschwindigkeit erzeugte.

Mittlerweile war auch Kiwa an das Pult herangetreten und konnte den Aufbau genauer betrachten. Die Scheibe war quadratisch und jede Ecke zeigte ein eigenes Symbol. Sie erkannte einen mittelalterlichen Schild, eine stilisierte Flamme umgeben von Eiskristallen, einen Bogen mit aufgelegtem Pfeil und ein skizziertes Auge.

Vor diesem bezog der Quästor Stellung. Morgan stellte sich vor die Flamme.

Es bedurfte keiner besonderen Raffinesse, dahinterzukommen, wo Kiwa und Eve zu stehen hatten. Also stellte sich die Nachtstreiferin vor Pfeil und Bogen, während Kiwa vor dem Schild stehenblieb, der so überaus simpel wie präzise die Aufgaben eines Custos abbildete.

Saint George, Morgan und João wussten wohl um die Bedeutung der Scheibe. Der Schatten verblieb im Hintergrund und die anderen beiden wirkten sehr ernst. Sie unterstrichen damit die zeremonielle Stimmung, die im goldgelben Licht von Kronleuchter und Kamin und im Rahmen der wahrlich prächtigen Bibliothek entstand.

Kiwa schluckte aufkeimende Fragen herunter. Sie zu stellen erschien ihr nicht angemessen.

Saint George räusperte sich, klopfte mit der Faust an seine Brust und räusperte sich erneut. Dann hob er den Blick der schwarzen Brillengläser und sah in die Runde.

»Wir stehen hier als Quadriga. Vier Wesen, die eine Einheit bilden.« Nach einer kurzen Pause richtete er die Gläser auf Morgan, der sogleich nickte und sich näher zu Kiwa beugte.

Sacht nahm er ihre Hand in seine und führte sie auf das Zeichen vor ihr. Leise flüsterte er die Worte, die Kiwa langsam und unsicher wiederholte.

»Ich bin der Custos …, der Wächter. Ich bin der Schild der Quadriga. Ich kämpfe zuerst und … und falle zuerst. Solange ich atme, sind wir sicher.«

»Sehr gut, Miss O’Shea«, wisperte Morgan. Er zwinkerte und nickte sodann Eve aufmunternd zu.

Die blaufellige Nachtstreiferin, die alle Anwesenden um mindestens einen Kopf überragte – Kiwa sogar um zwei – schüttelte sich, leckte über ihre Lefzen, senkte die Pranke auf ihr Symbol und erhob die Stimme.

»Ich bin die Sagittaria, die Bogenschützin. Ich bin die Waffe der Quadriga. Ich kämpfe zuerst und falle als zweites. Solange ich atme, vergehen unsere Feinde.«

Morgan führte die Zeremonie fort, ebenfalls die Hand auf seinem Symbol: »Ich bin der Magus, der Magier. Ich bin der Zauberer der Quadriga. Ich kämpfe ständig und in Achtsamkeit. Solange ich atme, ist die Magie unser Freund.«

Saint George legte seine Hand auf das gravierte Auge vor sich und sagte laut: »Ich bin der Quästor, der Suchende. Ich bin das Auge und die Stimme der Quadriga. Ich kämpfe für alle, die nicht kämpfen können. Solange ich atme, gibt es Hoffnung.«

Kiwa wusste nicht, was als Nächstes geschehen sollte, doch da die anderen kerzengerade vor ihren Kacheln stehen blieben, folgte sie dem Beispiel, bis Saint George erneut sprach.

»Ich schwöre, diese Quadriga zu schützen, der Nebula Convicto zu dienen und den Verhangenen Rat zu ehren.«

Reihum sprachen die anderen den Schwur, und Kiwa, der aufging, dass eben dies von ihr erwartet wurde, bildete den Schluss.

Im letzten Teil ihres Satzes verschränkte sie in Gedanken Mittel- und Zeigefinger miteinander. Schließlich musste der entscheidungsunfähige Rat die Ehre, die sie ihm entgegenbringen sollte, noch verdienen.

Dann war es vorbei und alle nahmen ihre Hände von der Scheibe. Die anderen blieben in ihrer feierlichen Stimmung und schauten sich gegenseitig fest in die Augen.

Kiwa wartete noch einen Moment, bevor sie leise fragte: »Was war das gerade?«

»Was genau meinen Sie?«, fragte Morgan, in dessen Miene listiger Schalk blitzte. »Des blinden Vampirs Sprüchlein von wegen Auge und atmen? Ist immer einen Lacher wert, wenns nicht so überaus ernsthaft zuginge, was?«

Der Quästor schnaubte, wirkte dabei aber weniger verärgert als belustigt.

Kiwa meinte, ihn ein einziges Wort flüstern zu hören, das wie ›Ketzer‹ klang, bevor er zur Erklärung sagte: »Nur vier Personen, die sich gegenseitig etwas versprechen, bar jeder Magie. Ein ernstgemeinter Schwur kann bindender sein als jeder Vertrag.« Er zeigte reihum auf die Mitglieder der Quadriga und fuhr fort: »Sie wissen, dass eine Quadriga aus verschiedenen Positionen besteht, die verschiedene Rollen erfüllen. Sie ist die älteste uns bekannte Form einer Eingreiftruppe, wenn Sie so wollen. Der Custos bildet die Front. Er deckt den Rückzug, lockt Feinde auf falsche Spuren, oder kauft den anderen Zeit. Er achtet auf Bedrohungen und schützt die Gruppe mit seinen Fähigkeiten und, sofern nötig, mit seinem Leben. Deswegen heißt es in dem Schwur, der Custos fällt zuerst. Kommt einer von uns um, haben Sie Ihre Aufgabe nicht korrekt erfüllt.«

»Ich?« Kiwa tippte sich mit einem Finger an die Brust. Saint George nickte. »Aber …«

»Ja?« Fragend legte er den Kopf zur Seite.

Sie deutete auf Eve. »Sie ist die Sagittaria.«

»Korrekt.«

»Sie erfüllt die Rolle des Sagittarius.«

»Exakt.«

Sie stupfte sich wieder an. »Bin ich dann eine Custa?«

Die Augenbrauen des Vampirs ragten über den Rand der dunklen Gläser.

»Kiwa, die kalte Custa«, murmelte Kiwa nachdenklich und berührte den Schild in der Platte.

»Warum nicht«, sagte Saint George schließlich achselzuckend.

João meldete sich mit einem Räuspern. »Ohne meinen Ruf als Besserwisser unterstreichen zu wollen, aber ›Custos‹ ist ebenso männliche wie weibliche Form.«

Saint George schnaufte, winkte ab und sprach weiter, indem er auf Eve deutete.

»Sie bildet den Gegensatz. Der Sagittarius oder in diesem Fall die Sagittaria ist die Offensivkraft unserer Gruppe. Wenn sie zu kämpfen beginnt, ziehen wir alle mit. Überraschungs- oder Flankenangriffe finden unter ihrer Planung statt. Idealerweise beendet sie einen Konflikt, bevor er überhaupt begonnen hat. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, die größte Bedrohung für uns schnell und sauber auszuschalten.«

Die Nachtstreiferin knurrte zur Bestätigung und verzog ihr Maul zu entschlossenem Lächeln.

Saint George richtete einen Daumen auf Morgan neben sich.

»Der Magus der Quadriga übernimmt den Schutz vor allen Dingen, die magischer Natur sind: Bannzauber, Flüche, Feuerbälle, was immer Sie wollen. Er hält meist mehrere Schutzzauber gleichzeitig aufrecht, während wir durch die Gegend laufen. Was passiert, wenn seine Reserven erschöpft sind und diese Zauber zusammenbrechen, haben Sie kürzlich vor Zhengs Teestube in Chinatown erlebt.«

Kiwa schauderte bei dem Gedanken an den Kampf gegen die erweckten Steinwächterlöwen und schüttelte sich.

»Ich, als Quästor bin für die strategischen Entscheidungen zuständig. Wo fahren wir hin, wen fragen wir aus, wen betrachten wir als Freund und Feind? Ihr drei setzt diese Dinge auf taktischer Ebene um.« In rascher Geste vollführte er den waagerechten Handkantenschlag über der gravierten Platte und lächelte Kiwa an. »Die Zeremonie dient dazu, dass jeder seinen Platz und die jeweiligen Kompetenzen der anderen anerkennt. Außerdem soll sie Vertrauen schaffen. Darüber hinaus werden wir viel und ausgiebig zusammen trainieren, bis wir uns blind verstehen.«

Als Morgan losprustete und João kicherte, musste Kiwa all ihre Kräfte zusammennehmen, um nicht selbst aufzulachen.

»Sehr witzig«, brummte Saint George und richtete seine Brille.

Die still schmunzelnde Kiwa war dem großen Mann dankbar für die Zeremonie und die Erklärungen. Ihr selbst kam es vor, als hätte sie einen ähnlichen Diensteid geleistet, wie er von den Bostoner Officers erwartet wurde. Als Tatortfotografin hatte man ihr einen solchen nicht abgefordert, aber es bedeutete ihr viel, dass sie diesen nun auf zugegebenermaßen altertümliche Weise abgelegt hatte. Außerdem begriff sie nun besser, wie sie mit diesen drei Personen zusammenarbeiten sollte und konnte, die alle derart unterschiedlich waren.

»Dann können wir ja nun zu Abend essen, hm?« Morgan klatschte in die Hände und rieb sie frohlockend aneinander.

Eve wandte sich sogleich zum Ausgang und Kiwa sah ihre rosa Zunge zwischen den Lefzen hervorgleiten.

»Einen Moment noch«, sagte Saint George und alle hielten inne.

»Was denn?«, fragte Morgan.

»Ich habe hier ein kleines Präsent für Miss O’Shea.« Der Quästor streckte ihr ein flaches Päckchen entgegen. Braunes Papier, von einer simplen Schnur zusammengehalten. Zweifelsohne ein Buch.

Sie lächelte und hob eine Augenbraue. »Ist es …«

»Ja, ist es. Hier. Machen Sie es auf.«

Mit einem Rupf und einem Ruck waren Band und Papier entfernt. Ihre Augenbrauen hoben sich, als sie den dunkelroten Einband musterte. Ihre Finger tasteten über die geprägten Buchstaben auf dem Titel und ihr Herz hüpfte vor Freude.

»Die wahre Erstausgabe, Miss O’Shea«, sagte Saint George und sanft lächelte. »9. Juni 1876. Herausgebracht in England. Sechs Monate vor der amerikanischen Ausgabe. Twain entschied sich dafür, das Buch zuerst in London zu veröffentlichen, um das Urheberrecht zu sichern und vielleicht auch, weil er in Großbritannien ein höheres Ansehen genoss – und immer noch genießt – als in seiner Heimat. Rotes Leinen, kunstvoll auf Deckel und Rücken in Gold und Schwarz verziert. Cremefarbene Vorsätze.«

»Es ist so schön!«, sagte Kiwa und drückte es an ihre Brust. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte ihr die blaue Edition das Leben gerettet, als sie es zwischen die schnappenden Hauer des Wendigo namens Patric Mondou gerammt hatte. Die Überreste müssten noch irgendwo auf der Ebene von Chilliwhack verstreut sein.

»Gehen Sie mit diesem etwas pfleglicher um, Miss O’Shea.«

»Sehr gerne!«, sagte sie und drückte es fester.

»Es ist schön, dass Sie gute Geschichten zu schätzen wissen.« Saint George lüpfte eine Seite seines Mantels und deutete auf ein zusammengerolltes Magazin in der Innentasche. »Ich selbst kann den Impuls nicht unterdrücken, mir hin und wieder einen Schmöker zu gönnen.«

»Oh!« Kiwa strahlte ihn an. »Was ist es? Ist es gut? Kann ich es auch einmal lesen?«

»Sicher«, sagte der Quästor. »Es wird Ihnen gefallen. Morgan wird vielleicht die Nase rümpfen, wenn ich nun sage, dass es eine Ausgabe des ›Beeton’s Christmas Annual‹ ist.« Er zuckte mit den Augenbrauen, flüsterte »Stichwort Schundliteratur«, und der Magus rümpfte in der Tat die Nase. Saint George fuhr lächelnd fort: »Darin ist der Roman eines überaus begabten Schriftstellers abgedruckt …«

»Wenn hier einer begabt ist, dann bin ich das!«, sagte Morgan und tippte sich an die Brust. »Überaus begabt, wie ich anmerken möchte!«

Der Quästor schüttelte amüsiert den Kopf. »Wenn du nur halb so gut Magie wirkst, wie Arthur Conan Doyle schreibt, sehe ich dich im Olymp der Zauberer, mein Bester.«

Morgan tippte mit einer Fußspitze auf dem geölten Parkett. »Können wir dann jetzt essen, bitte? Keine Bergtour ohne gefüllten Magen!«

»Geht schon vor.« Der Quästor winkte in Richtung Tür. »Ich bleibe noch etwas, genehmige mir einen Țuică vor dem Feuer und lese.«

»An der Bar, oberstes Bord, dritte Flasche von links«, sagte Morgan. Dann drehte er sich um und marschierte los. »Auf, auf, Leute! Wir wollen Parsley nicht länger warten lassen!«

Eine schlaflose Nacht

Worthington Manor, Montag, 28. November, 1:12 Uhr

Ob es die herzhaften Speisen waren, die Morgans Hausangestellter, eine lebende Ritterrüstung namens Parsley, kredenzt hatte, oder ob es an den eintausend Fragen lag, die ihren Kopf belagerten, konnte Kiwa nicht genau sagen. An Schlaf war jedenfalls nicht zu denken. Sie hatte sich nun über zwei Stunden in dem riesigen Himmelbett in ihrem Gästezimmer hin und her gewälzt und dabei die Laken zerknüllt, ohne Aussicht darauf, zur Ruhe zu kommen und einzunicken.

Schließlich gab sie es auf, schnaufte und warf die Beine über den Rahmen. Mit den Zehen spielte sie eine Weile im Flor des samtig dichten Läufers herum, dann setzte sie die Füße auf und tapste zum Fenster.

Der Landsitz glich mit seiner Lage den unzähligen anderen Landschlösschen, die sich wohlhabende Briten erbauten. Von oben hätte der Bau die Form eines gequetschten H, mit dem Hauptgebäude in der Mitte und vier von ihm abgehenden Flügeln. Vor dem Haupteingang lag ein runder Kiesplatz als Auffahrt. In dessen Zentrum befand sich eine Fontäne mit einem aufsteigenden Schwan aus grauem Stein. Von der Auffahrt führte ein breiter, kiesgestreuter Weg zum Haupttor, dahinter zur Straße, die sich durch dichte Wälder und weite Ländereien schlängelte, die unter einer dicken Schneedecke still und leise in der Nacht lagen.

Sollten auf den Pfosten, die das geschwungene Torgitter hielten, nicht Gargoyles hocken?, fragte sie sich. Morgan hatte so etwas erwähnt, als sie im Faltenterminal mit den steinernen Wächterchen parliert hatten. Sie hätte sich zu gern zum Tor aufgemacht, um nachzusehen. Aber so ruhelos war sie dann doch nicht, sich im Nachthemd durch Eiseskälte zu den Kerlchen aufzumachen.

Oder?

Sie lächelte die eigene Reflexion in den mit Schneeblumen verzierten Scheiben an.

Als wenn ihr die Kälte noch etwas ausmachen würde!

Sie bräuchte wahrscheinlich nicht einmal mehr Stiefel.

»Finden wir es heraus«, sagte sie leise.

Auf Zehenspitzen schlich sie durch die dunklen Flure, die nur teilweise von Wandlampen erhellt wurden. Erker und Buchten in der Außenmauer ließen schattige Felder entstehen, in denen sie als Kind Monster und Albtraumwesen erwartet hätte.

Heute interessierte sie sich nicht die Bohne für die schwarzen Ecken ohne Licht.

Was sollte da schon auf sie warten?

Ein Vampir?

Ha. Der saß wahrscheinlich immer noch in der ›Großen Bibliothek‹ und trank Schnaps aus seiner Heimat.

Ein anderes Untier auf Beutefang?

Vielleicht ein Wendigo? Oder ein Werlöwe?

Die waren tot.

Sie sparte sich das triumphierende ›Ha‹, denn beide waren dank ihr tot und dies war der Umstand, der sie um den Schlaf brachte. Die Dinéfrau nicht zu vergessen. Ihr erstaunter Gesichtsausdruck im Raubkatzengesicht, bevor Kiwa sie in den Staub geschmettert hatte, stieg immer wieder vor ihr auf. Im Traum veränderte sich die Miene zu anklagender, verzweifelter Grimasse.

Sie erreichte den Treppenabsatz, packte nach dem steinernen Handlauf und setzte die Füße auf die Stufen.

»Dank Yifan Zhang«, korrigierte sie die eigenen Gedanken und spürte das Aufwallen der eisigen Kälte in ihren Knochen. Fünf bis acht Wochen erschienen ihr eine Ewigkeit zu sein, bis sie der chinesischen Zauberin ihre Untaten auf Heller und Pfennig zurückzahlen konnten. Während sie die Treppen herabstieg, dachte sie an den Rat. An den Verhangenen Rat. Der hoffentlich nicht so verhangen war, dass er ihren Aufbruch nach Hongkong unnötig verzögern würde. Auf dem vorletzten Treppenabsatz dachte sie an ihre Mutter und schluckte trocken.

Morgen. Zuerst der Rat. Dann der Tower.

Kiwa legte sich eine Hand auf die Brust und füllte ihren Herzschlag. Einerseits fühlte er sich leicht und frohen Mutes an, denn es musste sich etwas am Verhalten ihrer Mutter verändert haben! Es musste einfach! Kiwa selbst war schließlich zur Banshee geworden und hatte neue Kräfte entdeckt. Im gleichen Maße sollten diese bei Liadan O’Shea vergehen, oder nicht? So zumindest hatte es João erklärt.

Andererseits kam ihr das Herz vor wie der tonnenschwere Anker eines Kriegsschiffes. Was wäre, wenn Mom immer noch nur ›Leckerleckerlecker‹ sagen konnte?

Das Echo der zischelnden Aussprache der Black Annis geisterte in ihrem Gehörgang und sie schüttelte den Kopf, um es zu vertreiben.

Kein Wunder, dass sie nicht schlafen konnte …

Das sanfte Vibrieren des Steins im Beutel beruhigte ihre Nerven. Kiwa schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf dieses Gefühl. Es war in ihrer Handfläche und auf ihrer Brust zu spüren. Sie atmete durch und setzte ihren Weg durch die dunkle Eingangshalle fort.

Vor dem Hauptportal blieb sie stehen und sammelte ihre Kräfte. Ihre menschlichen. Nicht die der Eisriesin, mit deren Pranken sie die Doppeltür weit über die Auffahrt hätte dreschen können.

Sie drehte den im Schloss steckenden Schlüssel, umfasste die Klinke, drückte sie herab und zog eine Seite nach innen.

Kalter Wind blies ihr ins Gesicht und umspielte ihre blanken Waden und Füße.

Es fühlte sich angenehm an.

Vor sich hinlächelnd setzte sie einen Schritt über die Schwelle auf den eisigen Stein der Eingangsempore.

Es war kalt. Zweifelsohne. Aber es störte sie nicht. Im Gegenteil. Es fühlte sich vertraut an. Die von unten aufsteigende Kälte schien sich mit der in ihrem Innern zu vereinen und flutete Kiwas Körper mit wilder Freude und strömender Energie.

Der Kies knirschte, als sie die Auffahrt betrat. Ein Steinchen drückte sich unangenehm in die weiche Haut zwischen Fußballen und Ferse. Es kostete sie nur einen Gedanken und ihre Waden und Füße wurden von einer eisigen Schicht geschützt, die sie einige Zentimeter in die Höhe schob.

Mit Stiefeln aus Eis marschierte Kiwa über die Auffahrt und die Zufahrt. Das Licht des Mondes, reflektiert von der Schneedecke, erhellte ihren Weg. Das Nachthemd flatterte um ihren Körper, Wind strich durch sämtliche Öffnungen, die Ärmel, die Knopfleiste und von unten hinein.

Es war herrlich.

Sie erreichte das Tor, packte einen Gitterstab und rüttelte.

»Hallo?«, fragte sie in die Dunkelheit über dem gemauerten Pfosten. »Ist da wer?«

Etwas schmatze schläfrig. Wobei es nicht nach einem feuchten Schmatzen klang. Eher so, als würde ein Maul aus Stein versuchen, zu schmatzen.

»Hm?«, knarzte es.

Es ist also wahr, dachte Kiwa und stellte sich auf die Zehenspitzen.

Ein schneegepuderter, kleiner runder Kopf schob sich über die Kante des Pfostens. Zwei Klauenhändchen folgten. Dann leuchteten gelbe Augen auf, die klimperten, als müssten sie noch wach werden.

»Wer bist du?«, fragte Kiwa und zeigte auf ihre Brust. »Ich bin Caoimhe aus Boston.«

»Qui-was?«, rumpelte es aus einem winzigen Mund.

»Du kannst Kiwa sagen. Wie heißt du?«

»Héloise«, kam die Antwort. »Du kannst Héloise sagen.«

»Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Héloise!«, sagte Kiwa.

Stein schabte über Stein und Schneeflocken purzelten herab, als sich die katzengroße Gargoyle etwas weiter an die Kante schob, ihre Beine baumeln ließ und zu Kiwa hinabsah.

»Du bist die Irin aus Boston«, stellte die Gargoyle fest.

Kiwa nickte. »Und woher kommst du?«

»Paris!«, sagte das Steinfigürchen stolz. »Woher denn sonst?«

»Warum bist du so klein?«

»Ich?« Héloise, die Gargoyle sah sich verwundert um, als könnte sie nicht verstehen, derart angesprochen zu werden. »Ich bin doch nicht …« Mit hörbarem Klock schlug sie ein Steinhändchen an ihre Stirn. »Doch, bin ich ja. Aber warte! Ich zeig dir was!«

Kiwa trat einen Schritt zurück, um die Figur besser sehen zu können.

Das hätte sie sich sparen können, denn was nun geschah, hätte sie niemals übersehen können.

Héloise schob ihren Hintern über die Kante, fiel, breitete die Steinschwingen aus und während sie landete, wurde sie größer. Viel größer. Sie wurde größer als Johnjohn oder Patric Mondou und hoch wie ein Elefant.

Mit dumpfem Wummern setzte sie alle viere in den Schnee und hockte sich wie eine Katze auf ihren Hintern. Sie drückte die Brust raus, ließ die Schwingen wuchtig durch die Luft fahren und sah auf Kiwa hinunter.

»Und?«, dröhnte es aus ihrem Schnabel, der von der Form dem eines Greifvogels glich.

Eines verdammt großen Greifvogels!

»Ich bin beeindruckt«, sagte Kiwa. »Magie?«

»Morgans, ja«, bestätigte die Gargoyle. »Wir sind zu zweit hier auf dem Posten am Pfosten. Posten am Pfosten …« Héloise kicherte. »Adrien hat aber einen recht tiefen Schlaf.«

»Nicht tief genug«, meldete sich ein nörgelndes Stimmchen von der anderen Seite des Tores.

Unverdrossen fuhr die riesige Gargoyle fort. »Wir bewachen Worthington Manor zusammen mit denen da.« Mit dem Schädel ruckte sie in Richtung der Dunkelheit jenseits der Einfahrt. Kiwa reckte den Kopf, fand dort aber nur einen hellen Streifen der Straße und einen ungleich größeren dunklen, den die dichten Wälder zeichneten.

»Mit wem?«, fragte sie.

»Na, mit denen da.« Stein knirschte, als Héloise etwas energischer nickte und deutete.

Kiwa kniff die Augen zusammen und suchte die schwarze Wand ab.

Es dauerte einige Herzschläge, dann sah sie es:

Bernsteinfarbene Lichter, zu Paaren nebeneinander, säumten die Silhouetten des Unterholzes. Kiwas Herz pochte etwas schneller.

»Sind das Katzen?«, fragte sie.

»O mon dieu!«, entfuhr es Héloise theatralisch amüsiert. »Natürlich nicht! Der gute Mister Worthington nennt sie ›Unsere Nachbarn‹.«

Einige Augenpaare bewegten sich und schienen näher zu kommen. Als sie die hellere Straße erreichten, erkannte Kiwa, dass sie zu großen, wolfsartigen Wesen gehörten, die langsam und lautlos auf vier Pfoten schlichen. Obwohl sie nur undeutliche Schemen in der Nacht waren, sandte ihre Gegenwart einen kalten Schauer über Kiwas Rückgrat. Knisternd und knackend breitete sich ein Teppich aus weißem Frost auf ihrer Haut aus.

»Oha!«, machte die Gargoyle. »In Ihnen steckt wohl auch mehr, als der erste Eindruck vermuten lässt. Dann sind Sie also wirklich die Winterherrin?«

Wie mit Stemmeisen löste Kiwa ihren Blick von den Wesen, die im Rudel über die Straße im Unterholz verschwanden.

»Ich arbeite daran«, sagte sie. Dann schüttelte sie sich, überwand die Starre und sah zu Héloise. »Es hat mich sehr gefreut, deine Bekanntschaft zu machen.«

»Ganz meinerseits. Wenn irgendetwas sein sollte, ruf uns.«

»Danke und ebenso!«, sagte Kiwa und winkte der Gargoyle zum Abschied, die begleitet von steinernem Schaben ihren Posten am Pfosten wiederaufnahm und zu vorheriger Größe zurückschrumpfte.

»Na, das wurde aber auch Zeit«, nörgelte die zweite Stimme. »Können wir dann jetzt schlafen?«

»Ach, sei ruhig, Adrien«, hörte Kiwa Héloise sagen.

Lächelnd stapfte sie zurück zum Eingang des Haupthauses.

Gargoyles sind schon liebenswerte Geschöpfe, dachte sie.

Im weiten Foyer erwartete sie Saint George, der mit einer Handlampe ausgestattet, die breite Treppe hinunter kam. Dass die Lampe nicht für ihn bestimmt war, war Kiwa bewusst, also vermutete sie, er habe etwas gehört, sie nicht in ihrem Bett gefunden und war auf der Suche nach ihr.

»Ich war auf der Suche nach Ihnen, Miss O’Shea«, sagte er auch prompt. »Haben Sie sich mit den Wächtern angefreundet?«

»Ich hoffe.« Kiwa stemmte sich gegen den Türflügel, bis er ins Schloss fiel. Sie drehte den Schlüssel herum. »Können Sie auch nicht schlafen?«

»Ich?«, fragte der Vampir überrascht.

»Schon gut!«

Der Quästor lächelte und deutete auf die Stufen. »Möchten Sie mir beim Genuss eines Schlummertrunks Gesellschaft leisten?«

»Gerne.«

Von Banshees und Vampiren

Worthington Manor, Montag, 2:05 Uhr

Die samtige, goldbraune Flüssigkeit in ihrem Glas schwappte hin und her, als es sich Kiwa auf dem Ledersofa vor dem Kamin bequem machte. Mehr aus Gewohnheit als aus dem Umstand heraus, sich zu wärmen, legte sie ihren mittlerweile zerfledderten Wollschal um ihren Nacken und über ihre Schultern. Sie nippte am Getränk und spürte zuerst die Schärfe des Alkohols, die rasch in den sanften Geschmack von Pfirsich und Vanille aufging und am Gaumen als Mandelnougat landete. Sie schluckte und ein Strahl Wärme glitt über die Kehle bis in den Magen.

Saint George hob sein Glas und prostete ihr mit dem Țuică zu. »Auf die Heimat.«

»Sláinte.« Sie prostete mit ihrem Kilbeggan zurück und nippte ein zweites Mal.

Der Quästor hatte es sich in einem Ungetüm von Ohrensessel bequem gemacht und die Beine auf einem Lederhocker ausgestreckt. Kiwa entdeckte Stapel von Büchern zu beiden Seiten. Auf einem von ihnen stellte er sein Glas ab, dann stützte er einen Arm auf die breite Lehne, rieb über sein Kinn und sah forschend zu ihr hinüber. Zumindest interpretierte sie so den Blick seiner schwarzen Brillengläser, die den Schein des Feuers reflektierten.

Sie sah zurück und hob eine Augenbraue.

Er räusperte sich. »Wie war es für Sie, zur Bean sídhe zu werden?«, fragte er. »Sowohl Eve als auch Ralph haben mir davon erzählt.«

Kiwa hob die zweite Augenbraue. »Das war jetzt ziemlich direkt«, stellte sie fest.

Der Vampir schmunzelte. »Je älter Sie werden, umso weniger Zeit werden Sie für rhetorische Umwege haben. Glauben Sie mir.«

Mit dem Glas in der Hand zeigte sie auf ihn. »Sie müssen es ja wissen, hm?«

Aus seinem Schmunzeln wurde ein breites Grinsen. »Apropos ›direkt‹. Aber ja.«

Sie stellte ihren Drink neben sich auf einen kleinen Beistelltisch und kuschelte sich in den Schal. »Wie ist es denn für Sie, wenn Sie zu dieser wilden Version Ihrer selbst werden?«

»Hm …« Saint George schien einen Moment über seine Antwort nachdenken zu müssen. Schließlich zuckte er mit den Achseln, als wäre er zur Erkenntnis gekommen, ehrlich zu sein. »Es fühlt sich … gut an. Richtig. Als entspräche ich endlich dem, was ich wirklich bin. Einzig der diesen Zustand begleitende Verlust von Verstand und Mitgefühl ist es, der mich daran hindert, dem Erbe vollständig nachzugeben.« Während er sprach, umschmeichelte ein seichtes Lächeln seinen sonst harten Mund.

Er weiß genau, was er da sagt, dachte Kiwa und nahm das Glas wieder auf. Ihre Hand zitterte leicht.

»Bei mir war es genauso«, sagte sie leise.

»Wussten Sie, dass es innerhalb der Nebula noch andere Wesen gibt, die allgemeinhin ›Banshee‹ genannt werden?«

Es kam ihr vor, als wechselte er das Thema, daher sah sie überrascht auf. Morgan hatte es bereits angerissen, als sie bei Grant’s Pass im Zug gesessen hatten. Das Auftauchen des Quästors hatte aber eine Vertiefung in die Feinheiten von Banshees innerhalb der Nebula unterbrochen. Die Antwort auf seine Frage lag auf ihrem Gesicht, also wartete er nicht darauf, dass sie sie aussprach.

»In der Tat, es gibt noch andere Banshees, Miss O’Shea. Doch diese Wesen ähneln eher Geistern oder dämonischen Kreaturen.«

»Warum nennt man sie Banshee?«

Wieder lächelte er. »Weil sie schreien, Nebel aufziehen lassen können und sich von der Angst ihrer Opfer ernähren.«

Kiwa nippte. »Aber sie sind keine Cailleach, die vom Weg abgekommen ist …«, murmelte sie.

»Nein, sind sie nicht. Diese Wesen folgen nur ihren finsteren Instinkten. Sie sind zu keinerlei rationalem Gedanken fähig. Sie sind nicht in der Lage, ihr Handeln zu reflektieren und aus ihren Fehlern zu lernen.«

»Also nicht so wie wir …«, folgte sie seinen Erläuterungen.

Er prostete ihr wieder zu. »Darauf wollte ich hinaus, Miss O’Shea.«

»Dann habe ich noch viel zu lernen«, flüsterte sie. »Ohne den Schamanen, Johns gütigen Großvater …«

»Der nur mit dem arbeiten konnte, was bereits vorhanden war«, sagte Saint George. »Seien Sie nicht zu hart mit sich selbst. Das Erwachen wilder Talente macht jedem zu schaffen. Und auch hier könnten Sie sagen, dass ich es wissen müsste.«

Sie hob den Blick und betrachtete das flackernde Feuer in seinen Brillengläsern. Sie saß allein mit einem Vampir in einem englischen Landschloss. Mitten in der Nacht. Hätte sie ihm nicht vertraut, sie würde in die Küche hasten und panisch nach Knoblauch suchen.

Er lächelte, als könnte er ihre Gedanken lesen.

»Knoblauch macht uns nicht viel aus, meine Liebe«, sagte er leise und legte dabei den Kopf auf die Seite.

Ihr Herz vollführte einen Satz, den er mit angehobener Augenbraue kommentierte. Dass er ihren Puls spüren konnte, wusste sie.

Langsam stellte er das Glas wieder auf den Bücherstapel. Er legte einen Finger an das oberste Buch, das zugleich das dickste im Stapel war, und drehte den Rücken zu ihr, so dass sie einen Blick auf die goldenen Buchstaben werfen konnte. Auf die Entfernung und im Licht des Feuers konnte sie sie nicht lesen, aber das musste sie auch nicht, denn er sagte ihr, was dort stand.

»Band 1 der Enzyklopädie über die Wesen der Nebula. Ich lege Ihnen hiermit die Lektüre ans Herz, Miss O’Shea. Als zukünftiger Custos können Sie nicht genug wissen. Als zukünftige Cailleach erst recht nicht.«

»Wie viele Bände gibt es?«, fragte sie. Ihr Mund war trocken, doch ihr Herzschlag beruhigte sich wieder.

»Einhundertzwanzig«, sagte er.

»In welchem davon finde ich etwas über Vampire? Mir scheint, es gibt viel über sie zu lernen.«

Er lehnte sich wieder zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander.

»Was wollen Sie wissen?«

»Können Sie Gedanken lesen?«, platzte es prompt aus ihr heraus.

Wieder huschte das leichte Lächeln über seine Mundwinkel. »Manchmal. Wenn sich die Sinneseindrücke von außen im Rahmen halten. Was sie überaus selten tun. Ruhe und ein vertrautes Umfeld sind hilfreich, im Eifer eines Gefechts ist es mir unmöglich.«

»Ihnen fehlt ein Sinn«, sagte sie, deutete auf die Brillengläser, und er nickte ihr ob ihrer Direktheit anerkennend zu.

»Offensichtlich. Dafür stehen mir andere zur Verfügung, was es nicht leichter macht, Gedanken aufzuschnappen.«

»Sind alle Vampire so wie Sie?«

»Nein. Genaugenommen kenne ich nur zwei, die so sind. Mein jüngerer Bruder und ich.«

Kiwa blies die Backen auf. »Sie werfen mehr Fragen auf, als Sie beantworten.«

Saint George schmunzelte. »Verzeihen Sie mir. Also darf ich Ihnen ein wenig von Vampiren erzählen, Miss O’Shea?«

Sie schnaufte und hob das Glas. »Warum nicht? Es ist ja nicht so, als müsste ich um Schlaf bangen, der sich eh nicht einstellt. Da kommt es auf ein paar Spukgeschichten nicht an.«

Er drückte sich tiefer ins Leder und richtete den Blick auf die sanft bleckenden Flammen. »In der Nebula Convicto unterscheiden wir Vampire nach ihrem Alter. Je älter, desto mächtiger. Es geht los mit Zöglingen, Jungvampiren, niederen, normalen und Hochvampiren. Darüber gibt es noch Alte Vampire. Einige von denen finden sich in der Bleichen Garde, doch die meisten schlafen und erwachen nur alle paar Jahrzehnte mal. Jeder dieser ›Ruhenden‹ wird von einem Eingreiftrupp überwacht, der ihn im Fall einer Erweckung unter Kontrolle hält.«

»Bleiche Garde?«, unterbrach Kiwa.

Er nickte, winkte aber gleichzeitig ab. »Die zeige ich Ihnen morgen. Die Garde bewacht den Sitzungssaal des Rates.« Er hielt kurz inne, drehte ein Ohr in ihre Richtung und schien nach ihrem Herzschlag zu lauschen. Da der zumindest derzeit im Gleichtakt blieb, fuhr er fort: »Mit zunehmendem Alter wird ein Vampir schneller und stärker. Sowohl körperlich als auch im Gebrauch suggestiver Fähigkeiten. Irgendwann kann sich gar ein geringes Talent als Magus herausbilden.«

»In welche Kategorie sind Sie einzuordnen?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie mich so direkt fragen … mein Bruder und ich wären irgendwo zwischen Hochvampiren und den Alten zu finden, denke ich. Zumindest stammen wir in gerader Linie von einem Alten ab und sind … nun ja, alt.«

»Ihr Bruder …?«

Er schüttelte sacht den Kopf und Kiwa meinte, einen bedrückten Ausdruck über seine Gesichtszüge huschen zu sehen.

»Wir waren drei. Ich bin der älteste. Der jüngste starb vor langer Zeit und der andere zieht eine eher finstere Nutzung seiner Talente vor. Ich spreche nicht gern über sie. Aber lassen Sie mich erwähnen, dass mich gerade ihre getroffenen Entscheidungen auf dem Weg halten, den ich vor langer, langer Zeit eingeschlagen habe.«

»Den Weg des Quästors, oder den des beherrschten Vampirs?«, fragte sie.

»Beide.« Saint George ließ die Beine vom Hocker rutschen und beugte sich vor. »Wir können auch aus den Fehlern anderer lernen, Miss O’Shea. Nicht nur aus den eigenen.«

»Ich verstehe …«, murmelte sie und umklammerte ihr Glas etwas fester.

Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Buch. »Unter ›Cailleach‹ finden Sie den Eintrag, der Sie interessieren dürfte. Lesen Sie ihn – und lesen Sie auch den Bericht zu Ende, den ich Ihnen gab. Selbst wenn es schmerzt.«

Sie nickte und kaute auf der Unterlippe. »Das werde ich.«

»Gut.« Saint George lehnte sich wieder zurück.

»Welche Entscheidung trafen Ihre Brüder?«, fragte sie leise forschend, selbst auf die Gefahr hin, ihm zu nahe zu treten.

Der Vampir nahm das Glas auf, leerte es in einem Zug und hielt es in der Hand. Trotz seiner bleichen Haut traten die Knöchel heller hervor.

»Der jüngste bekam seine Instinkte nicht unter Kontrolle. Er wurde getötet. Um den anderen wird sich früher oder später eine Quadriga kümmern«, knurrte er heiser. »Meine wird es nicht sein. Der Rat hält mich zu Recht für befangen. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Bitte.« Er richtete die Linsen der Brille wieder auf die Feuerstelle.

»Aus Fehlern lernen …«, wisperte Kiwa. Dann hob sie ihr Glas. »Möchten Sie noch einen?«

Saint George nickte, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden. »Unbedingt.«

Ehrwürdige Mauern

London, City of Westminster, Westminster-Palast, Montag, 28. November, 8:25 Uhr

Müde und mit einem leicht brummenden Kopf lehnte Kiwa weit aus dem Fenster der Kutsche und betrachtete im Vorbeifahren das große Zifferblatt der Turmuhr im St. Stephen’s Tower, der allgemein als Big Ben bekannt war, obwohl dieser Name eigentlich die größte von fünf kolossalen Glocken bezeichnete, die zu jeder halben und vollen Stunde schlugen. Der St. Stephen’s war der höchste von drei Türmen der ›Houses of Parliament‹, dem imposanten Bau aus sandfarbenem Kalkstein im Regierungsviertel von London. Im Inneren des monumentalen Gebäudekomplexes befanden sich über eintausend Räume und einhundert Treppen und Flure. Strebepfeiler und Spitzbögen umgaben ein Rippengewölbe, dessen vertikale Konstruktionslinien in den Himmel zu streben schienen, so als wollten sie höher und immer höher hinauf, bis sie die Bäuche der grauen, regenschweren Wolken kitzeln konnten. Die durch die überall entstehenden Fabriken verschmutzte Luft der Hauptstadt hatte die obersten Zinnen, Kanten und Wasserspeier mit dreckigem Ruß überzogen, was der Würde des Baus aber keinerlei Abbruch tat. Im Schatten der wuchtigen Fassade kam sich Kiwa klein und unbedeutend vor.

Die Kutsche ratterte am langen Hauptgebäude vorbei und Kiwa war nicht überrascht, dass der Wagen nach einigen Kontrollen durch schwerbewaffnete Sicherheitskräfte vor einem Seiteneingang anhielt, wo Morgan mit absoluter Selbstverständlichkeit ausstieg und seinen Anzug glatt strich. Saint George, Eve und Kiwa folgten. Zwei Wachleute, die äußerlich wie Londoner Polizisten aussahen, aber vermutlich getarnte Nachtstreifer oder Wildmänner waren, musterten die Gruppe und deuteten Verbeugungen an, als sie den Quästor bemerkten, der sich zum Gruß an die Krempe seines kürzlich erworbenen Zylinders tippte.

»Und Aufstellung, bitte!«, sagte Morgan und vollführte eine einladende Geste, die Kiwa den Vortritt überließ. »Die Custos immer voran, meine Liebe!«

Saint George schnaufte und setzte sich an die Spitze ihrer kleinen Prozession, bevor sie sagen konnte, dass sie keine Ahnung hatte, wo es langging. Sie war zwar vor gar nicht allzu langer Zeit aus der Pforte getreten, die von den Wachen flankiert wurde, doch die zuvor zurückgelegte Route hätte sie niemals wiedergefunden. Dafür glich das Innere des Palastes zu sehr einem riesigen Ameisenhaufen mit einem Labyrinth aus Gängen und Fluren.

»Dann aber jetzt nach Ihnen, Miss O’Shea«, sagte Morgan huldvoll und wiederholte die Geste.

Und so betrat Kiwa ein zweites Mal die ehrwürdigen Mauern, in denen seit Jahrzehnten die Politik Großbritanniens entschieden wurde.

Sie gelangten in eine kleine kreisrunde Halle, an deren anderem Ende eine prunkvolle Wendeltreppe lag, die sowohl nach oben als auch in die Tiefe führte. Einige alte Gemälde hingen ringsum, und überall waren Wappen und Verzierungen in den Stein der Wände eingearbeitet. Links und rechts der Treppe war je ein Podest zu sehen, auf denen mannsgroße Gargoyles hockten.

»Hallo, ihr!«, grüßte Kiwa die Steinwesen freundlich.

Im Gegenzug antworteten die lebenden Wasserspeierwächter mit knirschendem Nicken und einem Anflug von Lächeln in den Winkeln ihrer dicken Raubvogelschnäbel.