Miss O'Shea und der Zorn der Banshee - Dan Dreyer - E-Book

Miss O'Shea und der Zorn der Banshee E-Book

Dan Dreyer

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Beschreibung

»Mister Broken Tree geht es gut. Dem Sasquatch leider nicht.« November 1887. Für Caoimhe ›Kiwa‹ O'Shea ist nichts mehr so, wie es einmal war. Die Welt hinter dem Nebel – die Nebula Convicto – ist wie eine Lawine über sie gekommen und hat ihr altes Leben als Polizeifotografin hinfortgerissen. Zwischen Zauberinnen und Zauberern, Gestaltwandlern und Nachtstreifern, Unendlicher Legion und Nebelwacht sucht sie ihre Rolle und ihre Zukunft – und stößt dabei auf die Vergangenheit und uralte Talente, die man besser nicht heraufbeschwören sollte. Es sei denn, man ist der Macht der Cailleach gewachsen. Doch bevor sie sich dieser äonenalten Macht stellen kann, gilt es, sich um einen schwer verletzten Freund zu kümmern. Ein ehrenhaftes Unterfangen, das völlig aus den Fugen gerät – denn es gibt jemanden, der ganz andere Pläne hat und aus weiter Ferne seine Ränke schmiedet. Viel zu schnell entpuppt sich die Rettungsmission für alle Beteiligten zu einem Wettlauf gegen den Tod. »Der Schleier muss halten. Koste es, was es wolle!«

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vorwort
Beschwörung. Küche.
Der Alte Zheng
Der Kampf in Chinatown
Die ›Five Points Situation‹
Extraktion
Faltenwanderung
Good old London!
Die Lady vom See
Claridge’s Hotel
In den Klauen der Katze
Die Lady und der Troll
Im Bannkerker
Black Annis und rasender Wahnsinn
Im tiefen Loch
Blutender Sasquatch
Prioritäten & geschaffene Fakten
District Westcoast
Das Goldene Tor
Kichernde Katze
Keine Spur
Das Wort
Custos, Sagittaria und Magus
Die Black Annis Situation von 1883
Der Schleier muss halten!
Slaughter
Ein weiteres tiefes Loch
Reiten, hetzten, suchen
Der alte Mann holt auf
Mit Zähnen und Klauen
GEHORCHE!
Schöner Custos
Der Pfad der Ahnen
Im Tal der vielen Flüsse
Im Fluss
Eis, Stein und ein toter Toter
Ein verzweifelter Kampf
Der Zorn der Banshee
Fahler Hass und blaues Fell
Singende Schatten
Das schlagende Herz
Klarer Flussspat
Spitz auf Knopf und Abschied
Winterkind, Vampir und ein geschütteltes Auge
Epilog
Nachwort
Teil der historischen Bezüge – Achtung SPOILER!
›Die Nebula Chroniken: 1887‹
›Die Nebula Chroniken: 1887‹
›die Nebula Chroniken: 1887‹

Nebula Convicto Chroniken: 1887

Miss O'Shea und der Zorn der Banshee

von

Dan Dreyer

Unter Mitwirkung von

Torsten Weitze

Für die Sts’ailes First Nation›May your Hearts beat forever‹

NEBULA CONVICTO CHRONIKEN: 1887

»Miss O’Shea und der Zorn der Banshee«

© Dan Dreyer, Düsseldorf 2023, 1. Auflage

(NC02EB_V02– Nummer für internen Gebrauch)

Autor: Dan Dreyer

Unter Mitwirkung von Torsten Weitze

Ackerstraße 127 • 40233 Düsseldorf • Germany

[email protected]

Lektorat & Korrektorat 1: Rainer Knietzsch

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG

Cover-Illustration: © Mi Ha | Guter Punkt, München

unter Verwendung von Motiven von iStock / Getty Images Plus

Karten: ›Public Domain‹ Urheberrechtfreie Gemeinfreiheit

No copyright restrictions.

•••

Das Werk, einschließlich seiner Teile,

ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der

engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist ohne Zustimmung des Verlages

und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische

oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,

Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vorwort

›NEBULA CONVICTO CHRONIKEN: 1887 – Buch 2‹

Herzlich willkommen zurück!

Schön, dass Du da bist.

Im ersten Buch durfte ich Dich ins kalte Boston mitnehmen und Kiwas erste Schritte hinter dem Schleier zeigen.

Nun ist sie also hindurchgetreten.

Dabei wird es noch einige Zeit dauern, bis sie wirklich und wahrhaftig in dieser für sie neuen Welt ankommt und sich den Herausforderungen stellt, die am Ende ihrer Reise auf sie warten.

Der Kampf gegen den ›Löwen von Boston‹ brachte sie nach New York.

In diesem Buch führt es sie an weitere Orte.

Zuerst geht es nach London, wo sie einen ersten Eindruck vom Rat und der Lady vom See erhält.

Dort wird sie allerdings nicht bleiben.

Und so befinden wir uns nach wie vor in einer Epoche, die in Amerika ›Gilded Age‹ genannt wird. ›Das Goldene Zeitalter‹.

In dieser Zeit war die Eisenbahn der wichtigste Wachstumstreiber, während das Fabriksystem, der Bergbau und das Finanzwesen an Bedeutung gewannen. Die Einwanderung aus Europa und dem Osten der Vereinigten Staaten führte zu einer rasanten Erschließung und Besiedelung des Westens, die auf Landwirtschaft, Viehzucht und Bergbau beruhte.

Die Westküste der USA war auch 1887 noch ein Sehnsuchtsort für Millionen von Siedlern und Einwanderern.

Dörfer und Städte sprossen wie Pilze aus dem Boden. Das tägliche Leben wurde durch die jeweiligen Umstände vor Ort geprägt. So war zum Beispiel Portland ein Hafenort, der durch diverse Goldräusche und den Immigrationszug über den Oregontrail anwuchs. Seattle war eine kleine Bergbausiedlung und gewann erst durch den Anschluss an die Eisenbahn an Bedeutung. Der Ort wurde für Kohlegewinnung bekannt und belieferte weite Teile der Westküste mit dem ›schwarzen Gold‹.

1887 waren sie alles andere als die Metropolen von heute.

Städte wie San Francisco, Sacramento und Los Angeles hingegen platzten aufgrund ungebrochener Einwanderung, Siedlerwellen und Goldrauschanfällen aus allen Nähten.

Das späte 19. Jahrhundert war jedenfalls eine turbulente, mitunter grausame Zeit zwischen Wild-West-Pioniergeist und Industrialisierung.

In eben jene Welt entlasse ich nun Miss O’Shea und ›meine‹ Quadriga.

Ich hoffe, Du, liebe Leserin, lieber Leser, hast weiterhin genauso viel Spaß hinter dem Schleier wie ich.

Und jetzt: Vorhang auf! Hier kommt das verschneite Chinatown von New York im Winter 1887 …

Beschwörung. Küche.

New York City, Manhattan, 182 Canal Street, Ecke Mott Street, Mittwoch, 16. Nov. 1887, 10:20 Uhr

Mit offenen Augen bestaunte Kiwa die schneeverzierten Straßenzüge von Chinatown mit all den Läden, Straßenküchen, Teestuben, Restaurants und Tempeln. Kleine blütengeschmückte Schreine fanden sich vereinzelt in den Spalten zwischen den Häusern. All das bildete eine Enklave, die die Männer aus Asien rund um einen General Store förmlich aus der Stadt herausfiletiert hatten. Nördlich lag eine ähnliche, in sich abgeschottete Gemeinschaft, die Little Italy genannt wurde. Die Grenze dazwischen war zwar unsichtbar, denn sie bestand nur aus einer Straße, doch sie war mehr als deutlich. Auf der einen Seite wirkte das eine Viertel wie ein neapolitanisches Inseldorf, das mitten in New York wiedererstanden war. Auf der anderen sahen die Gebäude aus, als hätte man sie in Guangzhou oder Shanghai abgebaut, nur um sie in Manhattan wieder aufzubauen. Einschließlich eigener Sprache und Architektur, eigenen Sitten und Gebräuchen sowie eigenen finanziellen und kulturellen Einrichtungen.

Es war kurios.

Ebenso kurios wie es sich mit den Vierteln der Einwohner und Immigranten in Boston verhielt.

Hatte sie das Chinatown in ihrer Heimatstadt mitten in der Nacht betreten, so war es hier nun Morgen. Frischer Schnee lag wie ein dickes Tuch über allen Konturen, wo er nicht bräunlich verschmutzt war. Dazu der hellgraue Himmel, von dunkelgrauen Rauchwolken aus tausenden Schornsteinen durchzogen. Himmelszelt und Schneedecke bildeten einen malerischen Hintergrund für die bunt bemalten Fassaden der windschiefen Holzhäuser, die kaum mehr waren als Bretterbuden mit zwei bis drei Stockwerken. Quer über die Fahrbahn waren Banner und Schilder und die allgegenwärtigen Lampions aus rotem Papier angebracht. In ebenso hartem Kontrast zur Farbenpracht waren die Bewohner des Viertels, die sich mehrheitlich in schlichte Kleidung in Dunkelblau und Anthrazit kleideten. Chinesische Männer jeden Alters waren geschäftig auf den vollgestopften Gehsteigen unterwegs. Ihre Anzüge wirkten wie Uniformen einer fremden Armee. Grauschwarze, lange Jacken mit Stehkragen, weiten Ärmeln und Stoffkugeln anstelle von Knöpfen. Einer Kiwa unbekannten Tradition entsprechend hatten sie die Stirnen hoch ausrasiert und das Haar am Hinterkopf zu langen Zöpfen gebunden. Selbst unter den hohen Melonen und runden Mützen war die immer gleiche Frisur zu erkennen. Viele von ihnen nickten, wenn sie die Quadriga passierten. Ob es ein freundliches oder ein unfreundliches Nicken war, vermochte Kiwa nicht zu bestimmen, denn die Männer regten keine Miene. Gemurmel und Gebrabbel in unvertrauten Silbenfolgen lagen in der Luft, die von Gerüchen nach Ingwer, Sesam, rohem Fleisch und Schweiß angereichert war. Die Kiwa vertraute Note von Pferdedung fehlte allerdings. Die Bewohner Chinatowns transportieren ihre Frachten nicht mit Zugtieren. Rumpelnde Handkarren, turmhoch beladen, wurden von reiner Muskelkraft auf dem holprigen Kopfsteinpflaster gezogen oder geschoben.

»Da vorn sollte es sein!«, rief Morgan durch den Tumult und zeigte über die Häupter der Passanten auf einen Eingang an der Ecke. Er drängte an Saint George vorbei und setzte sich an die Spitze.

Der Magier der Truppe wirkte heiter und von Tatendrang erfüllt, was man von seinem Quästor nicht behaupten könnte.

Seitdem Saint George nackt und blutüberströmt aus dem zerstörten Wagon des Ghost Trains gestiegen war, hatte er nicht gesprochen. Im Gleisbett hatte er sich mit Schnee gereinigt und war in die saubere Kleidung geschlüpft, die ihm ein Mann der Nebelwacht gereicht hatte. Wahrscheinlich schämte er sich, dachte Kiwa, die rein gar nichts vom Gesicht des Quästors ablesen konnte. Denn selbst eine runde dunkle Brille hatte die Nebelwacht dabeigehabt, und diese saß wie die zerbrochene zuvor nun fest auf der Nase des Vampirs.

Geisterzug. Magier. Nebelwacht. Vampir …

Kiwa schüttelte den Kopf und schnaufte. Ihre eigenen Gedanken kamen ihr so fremdartig vor wie die Sprache, die die dunkelgewandeten Männer um sie herum brabbelten, schnatterten und riefen.

»Tu vas bien?«, erkundigte sich Lulou, die von hinten zu ihr aufschloss und ihr eine Hand auf die Schulter legte.

Kiwa sprach kein Französisch, konnte die Bedeutung der Worte aber an Verhalten und Mimik der Sagittaria ablesen und nickte als Antwort.

»Beaucoup de choses se sont passés, n’est-ce pas?!«

Kiwa runzelte die Stirn und erntete ein Lächeln.

»Oh, pardon! Es ist viel passiert, nicht wahr?«, übersetzte die kräftige Frau ihre eigenen Worte.

Kiwa nickte etwas energischer und drehte den Oberkörper zur Seite, um nicht mit einem der Passanten zusammenzustoßen, der sich mittig durch die Formation der Quadriga bewegte. Der Chinese glitt förmlich an ihr vorbei, ohne ihre Schulter auch nur einen Hauch zu streifen. Kiwa hielt inne und hob verwundert den Kopf.

»Hm?«, brummte John in ihrem Rücken und stoppte gerade noch rechtzeitig, bevor er sie über den Haufen lief.

Kiwa hob eine Augenbraue und ließ einen Blick über den Strom der Menschen schweifen. Vor lauter Passanten, Straßenhändlern und Handkarren war sowohl von der Straße, in deren Mitte immerhin ein schmaler Abwassergraben lag, als auch vom Bürgersteig nichts zu sehen. Doch niemand drängelte oder rempelte. Geschmeidig wie Wasser über Steine in einem Gebirgsbach glitten die Bewohner Chinatowns aneinander vorbei, ohne sich ein einziges Mal zu berühren. Bei einem solchen Auflauf wäre es in South Boston mit Sicherheit zu andauernden Rempeleien mit anschließenden Straßenschlägereien gekommen. Doch hier …

»Nichts«, murmelte Kiwa und ging weiter.

Vor ihr marschierten ein Magus und ein Vampir. Neben ihr ein Wendigo in Frauengestalt. Ein Chehalis, der sich auf Fingerschnippen in einen Sasquatch wandeln konnte, bildete den Abschluss. Bei all den Merkwürdigkeiten erschien es ihr sinnlos, ihre Gedanken ob umsichtiger Chinesen mitzuteilen, die ihr angesichts des kürzlich Erlebten wieder einmal vollkommen belanglos vorkamen.

»Einfach treiben lassen …«

Morgan hatte das Ziel als Erster erreicht. Mit dem Knauf des Spazierstocks deutete er auf ein rechteckiges Schild über dem Eingang. Unter chinesischen Schriftzeichen prangten dort die Worte ›Měiwèi de chá‹. Zwei mannsgroße, hockende Tempellöwen aus weißem Marmor flankierten die rot lackierten Säulen, die einen geschwungenen Türfries stützten.

»Tadahh!« Strahlend drehte er sich um und vollführte eine ausschweifende Geste. »Herzlich willkommen in Zhengs Teahouse!«, rief er.

Kiwa zeigte auf das Schild und öffnete den Mund. Morgan kam ihrer Frage zuvor.

»Měiwèi de chá! Köstlicher Tee!« Er tat, als hätte er ein Tässchen in der Hand, spitzte die Lippen und nippte mit gesenkten Lidern. »Ah!« Er riss die Augen auf und lachte. »Köstlicher Tee … Raten Sie einmal, was der Alte Zheng serviert, hm? Hm? Herrlich pragmatisch, nicht wahr?«

Kiwa zuckte mit den Schultern. Mit schmackhaftem Tee hatte es auch bei Madame Shenmi angefangen. Bis diese zur Wandlung in eine Tigerin angesetzt hatte. Kiwa blies die Backen auf und ließ den Atem durch flatternde Lippen entweichen.

»Einfach treiben lassen …«, murmelte sie zum wiederholten Male.

Morgan betrat die Stufe und öffnete den Perlenvorhang, der anstelle einer Tür im Eingang angebracht war. Er war schon fast hindurch, als er innehielt und hustete. Hinter dem Perlenvorhang hing ein zweiter Vorhang aus dickem, dunkelgrauem Filz, der staubte, als der Magus förmlich hineinlief.

Aber gut, dachte Kiwa, darauf hätte der ach so clevere Mister Worthington auch selbst kommen können. Schließlich war es nach wie vor bitterkalt. Und wer verließ sich schon auf einige Stränge aus geknüpften Perlen, um seinen Laden vor dem Wetter abzuschirmen?

Mit einer Hand wedelnd, mit der anderen am Vorhang ziehend, verbeugte sich Morgan mit einladender Geste. »Nur hinein, nur hinein«, krächzte er hustend.

Mit leichtem Kopfschütteln trat Saint George an ihm vorbei und verschwand im Halbdunkel des Teehauses.

Bevor Kiwa einen Fuß auf die Schwelle setzen konnte, hielt Lulou sie an der Schulter fest und ging vor. Die Französin hatte eine Seite ihres Mantels zurückgeschlagen und eine Hand ruhte auf dem Griff eines Colts.

Morgan verbeugte sich etwas tiefer. »Nach Ihnen, Miss O’Shea.«

Kiwa trat durch den Vorhang und fand sich in einem kurzen, schmalen Flur. Bemalte Papiere und allerlei Kleinkram an Schnüren bedeckten die Wände. Im Vorbeigehen erkannte sie vertrocknete Hühnerklauen und Entenfüße zwischen mit chinesischen Schriftzeichen dekorierten Pergamenten. Holzbohlen knarzten unter ihren Stiefeln und der Lärm des Viertels blieb zurück, als der Vorhang hinter John zusammenfiel. Durch einen kunstvoll geschnitzten, antik anmutenden Rahmen betrat sie die Teestube. Einen runden Raum mit acht runden Tischen und passenden Hockern aus mit Blumenmustern verziertem Wurzelholz zu beiden Seiten des Eingangs. Gegenüber befand sich ein halbrunder Tresen mit reichbestücktem Regal dahinter, eingerahmt von hölzernen Säulen, auf denen ein kleines Pagodendach ruhte. Rechts neben der Bar war ein Durchgang, aus dem für Kiwa unbekannte Wohlgerüche strömten. Es duftete nach würziger Soße, gedämpftem Gemüse und frischen Pfannkuchen – und doch irgendwie anders.

Von den Tischen waren nur zwei zur Linken besetzt. An ihnen saßen chinesische Männer, die die Ankunft der Quadriga gleichmütig zur Kenntnis nahmen und sich sogleich wieder den kleinen Porzellanschälchen in ihren Händen oder den Speisen vor ihnen widmeten.

»Setzen wir uns und warten auf den Hausherren!«, sagte Morgan und hielt auf einen Tisch zur rechten Seite zu. Saint George nickte und nahm den Sitzplatz mit Blick zum Eingang in Beschlag.

Kiwa zählte lediglich drei weitere Stühle, also sah sie sich um, um herauszufinden, ob es von ihr erwartet werden würde, stehenzubleiben. Schließlich war sie nicht Teil der Quadriga und kannte sich auch nicht aus mit Gepflogenheiten und Manieren der Nebula Convicto.

»Setz dich, Liebes!«, sagte Lulou und wies auf einen Stuhl neben dem Quästor. »Ich bleibe hier stehen und bewache den Eingang, non?«

»Äh, danke.« Mit zögerlichen Schritten näherte sich Kiwa dem Hocker und setzte sich.

Morgan nahm ihr gegenüber Platz und rieb die Hände aneinander.

»Hat jemand Hunger?«, fragte er freudig. Sein Blick traf auf Saint George und er grinste amüsiert. »Dass du keinen hast, ist mir bewusst, also sieh mich nicht so an!«, sagte er, obwohl völlig unklar war, wie und wen der Bebrillte ansah.

Der Quästor hob eine Augenbraue und schüttelte wieder sacht den Kopf.

Morgan beugte sich über den Tisch, legte sich eine flache Hand an den Mundwinkel und flüsterte Kiwa verschwörerisch zu.

»Er hatte ja schon afrikanisch. Was soll er da mit chinesisch, hm?«

Bevor er Gelegenheit hatte, sich zu setzen, zuckte John zusammen und verzog grunzend das Gesicht.

Der Magus sah auf. »Unpassender Humor?«

»Und ob«, brummte der Custos und plumpste schwer auf den Sitz.

Es war Kiwa schon zuvor aufgefallen, doch nun war es offensichtlich: John hatte Schmerzen. Seine Glieder waren steif und ließen jede Geschmeidigkeit vermissen, mit der der Chehalis sich sonst bewegte.

»Wie dem auch sei!«, unterbrach Morgan ihre aufkeimenden Sorgen. »Die Arbeit einer Quadriga mag hart und beschwerlich sein! Aber manches Mal dürfen wir in Ausübung unserer Pflichten in Köstlichkeiten ferner Länder schwelgen!« Er stieß Saint George einen Ellbogen in die Seite und zwinkerte. »Nicht wahr?«

Wieder entgegnete der Quästor nichts.

Kiwa sah an Worthington vorbei zu den besetzten Tischen.

Einer der Männer steckte seine Essstäbchen in eine Art Weidenkorb und fischte ein helles, dampfendes Teigbällchen von der Größe einer Pflaume heraus, das er sich sogleich in den Mund stopfte.

»Dim Sum!« Wieder rieb Morgan die Hände. »Müssen Sie kosten, werte Miss O’Shea! Sie werden sehen, diese unwiderstehliche Köstlichkeit der kantonesischen Küche vermag selbst die Seele zu heilen!«

»Dann bitte ein Dutzend«, raunte Kiwa.

Worthington drehte sich auf dem Hocker herum und hob eine Hand in Richtung Tresen.

Unvermittelt lehnte sich Saint George mit den Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf tief zwischen den Schultern hängen.

»Es tut mir leid, dass Sie …«, flüsterte er so leise, dass die Worte Kiwa beinahe entgangen wären. Dann ruckte sein Kopf wieder nach oben. Kurz schien er zu lauschen.

Seine nächsten Worte waren klar und deutlich zu hören.

»Beschwörung. Küche«, fauchte er und war im selben Augenblick verschwunden. Ein hellbeiger Strahl vom Sitz bis zum Eingang neben der Bar und ein wackelnder Hocker blieben zurück.

Kiwa spürte eine eiskalte Faust ihren Magen umklammern.

Weißer Frost zeichnete sich auf den Handrücken ab und bildete einen dichten Teppich kleiner Stacheln.

»Ach, verflixt!«, fluchte Morgan. Funkensprühend flackerten goldene Muster um seine geballten Fäuste, mit denen er sich von der Tischplatte stemmte.

Das Knacken von zwei Abzugshähnen wurde von einem herzhaften »Merde!« begleitet.

John stöhnte.

Dann krachte es im Nebenraum.

Der Alte Zheng

›Köstlicher Tee‹, 182 Canal Street, Mittwoch, 10:32 Uhr

So schnell Saint George im Nebenraum verschwunden war, so schnell kehrte er zurück.

Allerdings keinesfalls freiwillig.

Der Spiegel oberhalb des Tresens zerbarst und der Quästor flog hindurch. Glasscherben, Holzsplitter, Staub und verspritzter Alkohol begleiteten seinen Flug. John duckte sich gerade noch rechtzeitig. Dann prallte Saint George an die Wand.

Morgan war im Türrahmen angekommen. Er rief eine Silbenfolge und breitete die Arme aus. Ein Netz aus Gold glimmenden Linien strömte aus seinen gespreizten Fingern.

Lulou machte einige hastige Schritte und sprang mit den Revolvern in den Fäusten durch das jüngst entstandene Loch. Viermal krachten Schüsse.

»Bleib hinter mir«, brummte John. Er umfasste den Lederbeutel um seinen Hals mit einer Hand und murmelte einen Satz in seiner Sprache. Kiwa zwinkerte und Johnjohns breiter Buckel tauchte vor ihr auf, schirmte sie ab, gab ihr Deckung vor was auch immer in der Küche geschah.

»Bei Gott!«, hauchte sie erschrocken. Der Rücken des Sasquatch war von tiefen, nässenden Furchen übersäht. Drei oder vier direkt nebeneinander und kreuz und quer. Blut sickerte durch das strähnige kastanienbraune Fell, wo es nicht wie abgeschält von dunkelroten Muskelfasern abstand.

Der Sasquatch wankte, breitete aber ungeachtet seiner Verletzungen die Arme aus, um sie gänzlich zu schützen.

Kiwa schob sich unter seiner Achsel hindurch. Selbst wenn Johnjohn gewollt hätte, er hätte sie nicht davon abhalten können. Der Hüne hatte Mühe, auf den Beinen zu stehen.

»Bleib du hinter mir!«, hauchte sie. Mit dem nächsten Gedanken quoll die eiskalte Flüssigkeit durch ihre Kleidung und gefror knackend an der Luft. Johnjohn wollte sie an der Schulter festhalten, doch sie streifte die Pranke einfach mit ihrer Hand ab, die nun selbst zur Pranke angewachsen war.

Die Proportionen und Perspektiven des Raumes verschoben sich, während sie auf die Größe des Sasquatch anwuchs.

Mit beiden Händen drückte Worthington den magischen Schutzschild in die Küche.

»Ich bin’s! Morgan!«, rief er laut über den Tumult hinweg, den zerbrechendes Mobiliar und Geschirr bildeten. »Wǒ jiào Morgan!«

Wieder krachten Lulous Revolver. »Mon Dieu! Er kann oder will dich nicht hören! Tu etwas!«

»Ach, nicht doch!«, entfuhr es dem Magus. Widerwillig ließ er eine Hand sinken, hielt den Schild nur noch mit einer. Ein rotes Gebilde entfachte fauchend. »Zwing mich nicht dazu, Zheng!«

Wer auch immer in der Küche war, antwortete mit hastig aneinandergereihten chinesischen Sätzen, die Kiwa nicht verstand.

»Bleib zurück!«, hörte sie Saint George noch neben sich. Dann zischte es. Morgans Gehrock flatterte im Wind. Helles, metallisches Sausen erklang.

»DAS REICHT JETZT!«, brüllte der Quästor.

Der Lärm verhallte. Knisternd löschte Worthington die aufgebaute Magie.

»Mon dieu!«

»Morgan, das Auge. Jetzt.«

Der Magus gehorchte, langte in die Manteltasche und zog Wellingtons Auge hervor, das er umgehend schüttelte.

Rauchschwaden und Staubwolken umwehten seine Stiefel.

Offensichtlich hatten die drei das Geschehen unter Kontrolle. Kiwa drehte sich zu Johnjohn um.

Der Sasquatch war verschwunden. Hinter ihr kniete John. Der Chehalis stützte sich am Boden ab und röchelte und hustete. Rote Tropfen schossen aus seinem Mund und klatschten auf die Holzbohlen zwischen seinen Händen.

»John!«, flüsterte Kiwa und ging neben ihm in die Hocke. Das Eis zog sich zurück und ließ sie wieder schrumpfen.

Der Custos legte den Kopf in den Nacken und wischte durch sein verschwitztes Haar und über die blutbefleckten Lippen. Rasselnd saugte er Atem ein.

»Geht … gleich … wieder.«

»Du bist immer noch verletzt!«, sagte Kiwa besorgt.

»Der Sasquatch … er ist verletzt. Der Löwe …« Ein erneuter Hustenanfall schüttelte ihn.

»Komm, setz dich!« Sie legte ihre Hände unter seine Achseln und zog. Stöhnend kam er auf die Füße und wankte zu einem Hocker.

Ein Luftzug fuhr durch ihre Locken.

»Was ist mit dir?«, sagte Saint George leise. »Hat der Heiltrank nicht gewirkt?«

John lehnte sich zurück und hob den Blick zur Decke. Er lächelte sacht, doch es war ein trauriges Lächeln.

»Bei mir schon. Beim Sasquatch nicht genug. Ich fühle seine Pein.«

»Damn …«, wisperte der Quästor. Ein weiterer Luftzug pflückte Kiwa die Locken aus dem Gesicht.

»Morgan, sieh nach John! Ich rede mit dem Alten Zheng«, hörte sie die Stimme des Vampirs aus der Küche.

Absätze rutschten über den Boden, brachten Geschirrscherben zum Klingeln, stoppten aber abrupt.

»Äh, hör mal, Michael …«, sagte Morgan. »Vielleicht solltest du deine unheiligen Kräfte etwas sparsamer bemühen. Ist nicht lange her, dass …«

»Ich weiß!«, blaffte der Quästor.

Kiwa stellte sich vor, dass er wieder den horizontalen Handkantenschlag vollführte, um den Magus wissen zu lassen, dass das Gespräch zu diesem Thema beendet war.

Offensichtlich war es das, denn Morgan trabte zu ihnen. Unterwegs pflückte er eine schmale Phiole aus der Innentasche seines Mantels und entkorkte sie.

»Ich bin untröstlich, John.« Er beugte sich über den Custos. »Meinst du, die könntest Johnjohn noch einmal auftauchen lassen? Augenscheinlich müssen wir ihn ebenso versorgen, wie wir dich versorgt haben.«

John nickte schwach und wedelte mit der Hand, um anzuzeigen, dass er Platz brauchen würde. Kiwa und Morgan traten zurück.

Die Vorderseite des Sasquatchs, der mit einem Mal vor ihnen erschien, sah nicht weniger schrecklich aus. Kiwa schlug sich die flache Hand vor den Mund und riss erschrocken die Augen auf.

»Da hat dir der Löwe aber ganz schön zugesetzt«, wisperte der Magus und machte sich daran, das hellblaue Liquid aus der Phiole über die dicke Unterlippe des Hünen zu kippen. »Gleich wird es hoffentlich besser.«

Nachdem die ersten Tropfen seine Kehle hinabgelaufen waren, brummte Johnjohn befreit auf. Aber Kiwa entging nicht, dass sich die tiefen Verletzungen nur oberflächlich schlossen und keinesfalls vollständig geheilt aussahen. Da sie nichts weiter tun konnte, wandte sie sich auf dem Absatz um und lief zum Nebenraum.

Vor der Schwelle machte sie einen langen Schritt über einige ›Dimsums‹ hinweg, die herumgekugelt waren. Knirschend trat sie auf Scherben von dünnwandigem Porzellan.

Vor einer zerstörten Kochnische kauerte ein uralt aussehender Chinese, der aus milchigweißen Augen und mit offenem, zahnlosen Mund umherstarrte. Langes, graues Haar umrankte seinen Kopf, stand in alle Richtungen davon ab. Ein spitz zulaufender Schnauz- und Kinnbart reichte beinahe bis zum Boden. Gekleidet war er in die dunkelgraue Kluft seiner Landsleute.

Lulou verharrte in der Mitte des zertrümmerten Raumes und zielte mit einem rauchenden Revolver am ausgestreckten Arm genau auf das Gesicht des Alten. Der Hahn der Waffe gespannt. Ein Fingerzucken und um Zheng wäre es geschehen.

Saint George, der sich außerhalb der Schusslinie hielt, hatte beide Hände, obgleich in einer der lange Säbel ruhte, in entrüsteter Manier in die Hüften gestemmt und sah missbilligend auf den Kauernden.

»Was sollte das, Herrgott?!«, zischte er.

Kiwa schickte einen Blick quer durch die Küche. Gern hätte sie gewusst, was dieses ›das‹ denn gewesen war, bevor sie der Antwort lauschte.

Zheng brabbelte erschrocken vor sich hin und reckte seinen Kopf mal hier hin, mal dort hin, als wäre er jüngst einem tiefen Schlummer entstiegen und wüsste selbst nicht, was geschehen war.

Mit einem Poltern trat Saint George die Reste eines zerstörten Hockers beiseite und richtete die Säbelspitze auf den Alten.

»Was war das für ein Zauber?«, grollte er.

Ohne den Hahn zu lösen, steckte Lulou den Revolver in sein Holster. Ihre Hand blieb nah über dem Griff. »Ich sah, wie er ein Zeichen aus hellem Sand auf die Arbeitsplatte rieselte. Da.« Sie streckte den Arm aus.

»Verwischt«, knurrte Saint George nach einem schnellen Seitenblick.

Kiwa machte einen weiteren Schritt in die Küche. Es war ein kleiner, aber geräumiger Raum. Zu drei Seiten liefen Regalböden an den Wänden entlang. Einige waren geborsten und hatten ihren Inhalt auf den Boden gekippt, doch in anderen erkannte sie Tiegel, Töpfe, Schüsseln aus Keramik, Glas oder Blech. In der Mitte hingen diverse verschrumpelte Würste und ein paar gerupfte Enten über einer Kochstelle mit großem Eisentopf auf glimmenden Kohlen. Kiwa näherte sich der Arbeitsfläche und stupfte eine Fingerspitze in das dort verstreute Pulver.

Teigknödel lagen auf der Arbeitsplatte herum und sie fand einen kurzen, unterarmdicken Holzstab, was die Vermutung zuließ, dass an dieser Stelle die Knödel zu Fladen ausgerollt wurden, mit denen dieses ›Dimsumm‹ gemacht wurde.

»Das ist Mehl«, sagte sie. »Was für einen Zauber macht man denn mit Mehl?«

Der Alte Zheng, der nach wie vor in der Ecke kauerte, zog die Augenbrauen höher und öffnete den Mund. Er sah beinahe ehrfurchtsvoll zu Kiwa hinüber.

»Dōng Zhī Nǚwáng …«, wisperte er.

Saint George stieß ihn mit der Stiefelspitze an. »Was? Was sagst du da?«

»Dōng Zhī Nǚwáng«, wiederholte der Alte. Er wurde lauter, reihte die Worte schneller aneinander und richtete einen Zeigefinger auf Kiwa. »Dōngzhīnǚwáng …« Er wurde immer schneller, bis die Worte nicht mehr auseinanderzuhalten waren. »Dōngzhīnǚwángdōngzhīnǚwángdōngzhī…«

Mit der stumpfen Seite der Säbelklinge klopfte ihm Saint George an die Schulter. »Zheng! Wir sprechen deine Sprache nicht! Was brabbelst du da? Und was zum Henker sollte das?«

Die letzten Silben verschluckte der Alte. Sein Kopf ruckte umher und er schien ein Ohr nach der Richtung der Stimme auszurichten.

»Quästor?«, flüsterte er. »Quästor Saint George?«

»Eben jener.«

Mühsam brachte sich Zheng in den Stand und klopfte über seine verdreckte Kutte. Er streckte eine Hand aus, bis er das Revers von Saint Georges Mantel erreichte, griff fest hinein und zog sich näher.

Flugs hatte Lulou den Revolver wieder aus dem Holster gerupft. Sie richtete die Mündung auf Zhengs Schläfe.

»Sie ist es, nicht wahr?«, flüsterte der Alte, untermalt mit chinesischem Akzent. »Die Winterherrin …«

Saint George schnaufte. »Mag sein.« Mit einer Hand löste er den Griff am Mantel. »Aber sie ist nicht dein Problem. Wir sind es. Warum attackierst du eine Quadriga des Rates? Ist dir das Teigrollen zu langweilig geworden? Willst du lieber in den Tower?«

Hektisch bewegte Zheng seinen Kopf in alle Richtungen, die ihm die Nackenwirbel gestatteten. Es schien, als suche der offensichtlich Blinde nach Kiwa.

»Er ist blind …«, formulierte Lulou eben dies Offensichtliche.

»Das war er nicht immer«, vermeldete Morgan, der im Türrahmen auftauchte. »Als ich ihn das letzte Mal sah, konnte er ungetrübt … sehen …« der Magus kratzte sich am Hinterkopf. »Hätte ich gewusst, dass er blind ist, ich hätte uns den Weg nach New York erspart. Nun ist das Foto vom Zodiakbann nutzlos.«

»Ich kann es aufmalen, so dass er es ertasten kann«, sagte Kiwa. »Hier.« Sie rupfte das Bild aus der Innentasche und verteilte das Mehl zu einem halbwegs gleichmäßigen Film auf der Arbeitsfläche.

»Versuchen wir es«, sagte Morgan und stellte sich neben sie. »John ist nebenan und trinkt einen Tee. Er ist schwach, aber es wird schon wieder«, erklärte er.

Kiwa nickte und begann die Zeichen des Banns ins Mehl zu zeichnen.

»Dōngzhī…«, setzte Zheng aufs Neue an.

»Hör auf!«, fuhr ihm Saint George ins Wort. »Erkläre mir lieber, warum wir dich nicht umgehend der Nebelwacht überstellen sollten, verdammt!«

Der Alte schüttelte mit dem Kopf. »Sie sagte, ihr würdet kommen«, brabbelte er. »Sie warnte mich. Mahnte. Drohte.«

»Wer?«, fragte Saint George. In seiner Stimme schwang nicht sonderlich viel Neugier mit. Und so ging es wohl der gesamten Quadriga. Denn sie hatten ja bereits eine konkrete Idee.

»Yifan Zhang«, flüsterte Zheng.

»Die Zauberin?«

Der Alte rückte wieder nah an Saint George heran. Er war viel kleiner als der hochgewachsene Vampir, also reckte er das Kinn.

»Tā shìgè nǚwū … sie ist eine Hexe … eine Èmó … eine Dämonin.«

»Wer?«, fragte Saint George und deutete zu Kiwa. »Sie hier oder Yifan?«

»Yifan Zhang … sie ist …«

Weiter kam er nicht, denn die Außenseite des Teehauses wurde unter infernalem Getöse auseinandergerissen. Steine, Holzbalken, Bretter, Schindeln sprengte es heraus. Dort wo zuvor ein schmaler Gang gewesen war, klaffte nun ein riesiger Spalt. Ein hellweißer Leib drängte fauchend und knurrend hinein. Zerdrückte die Wände, riss den Türrahmen zwischen Flur und Gaststube aus der Verankerung. Was auch immer es war, es bewegte sich wild und schnell. So schnell, dass keine Konturen oder Details zu erkennen waren.

Kiwa sah dies alles durch die offene Tür zur Küche und die zerstörte Wand des Thekenbereichs.

Morgan brüllte etwas, das wie »LUXMURUS!« klang und baute den Schild aus Licht auf.

Saint George sauste aus der Küche, brachte sich zwischen den rasenden Eindringling und den zusammengesackten John, der vornübergebeugt am Tisch saß. Lulou zielte weiterhin auf Zheng, warf aber einen Blick über die Schulter.

Der Alte schien dies zu spüren, denn er lachte keckernd auf und sprang behände zur Seite. Schwungvoll riss er eine schmale Tür auf, die Kiwa zuvor für die Abdeckung einer Speisekammer gehalten hatte, und warf sich hinein. Tiefste Schwärze verschluckte ihn.

»MERDE!«, kreischte Lulou.

»SCHÜTZE MISS O’SHEA!«, befahl Saint George und stellte sich dem wild um sich schlagenden und fauchenden Wesen entgegen, das sich förmlich durch den Flur gebohrt hatte und nun drohte den hilflosen Custos zu zerfetzen.

Eiseskälte flutete Kiwas Adern.

Morgan brüllte einige Silben und das gesamte Gebäude erzitterte bis ins Fundament. Er warf beide Hände an ausgestreckten Armen nach vorn und entfesselte einen mannsgroßen Ball aus grellem Licht, den er in den Gastraum schleuderte.

Die Folgen seiner magischen Bemühungen waren beeindruckend.

Der Aufprall katapultierte das weiße Wesen mit hohem Jaulen hinaus und zersprengte, was von der einst so schmucken Teestube noch übrig war.

»Was war denn das?!«, rief Morgan laut über brechendes Holz, knackende Säulen und herabfallenden Schutt.

»Sah wie ein Wächterlöwe aus!«, antwortete Saint George, bevor er dem Wesen folgte.

»Oh …«, machte der Magus. »Ein Königreich für einen Custos!« Er sah zu John, zuckte mit den Schultern, beschwor neue Gebilde aus Licht in den Fäusten und setzte dem Quästor mit eiligem Schritt nach.

»Vergiss den Alten und die Falte!«, zischte Lulou, an Kiwa gewandt. »Bleib dicht hinter mir! Komm!«

Sie zog Kiwa mit sich nach draußen. Undeutlich hörte sie die Französin fluchen.

Sie sagte ›Bannbrecher‹, ›Hotel‹ – und immer wieder ›Merde‹.

Der Kampf in Chinatown

Canal Street, Mittwoch, 10:40 Uhr

Kiwa stolperte hinter Lulou her und bemühte sich, nicht über die Trümmer zu fallen. Aus dem Augenwinkel sah sie einige Männer in dunkelgrauen Jacken die Straße entlang hasten und warf einen Blick zurück ins Chaos der Teestube. Sie atmete erleichtert aus, als sie keine leblosen Leiber entdeckte und war froh, dass den Gästen wohl der erste Knall genügt hatte, um zu dem Schluss zu kommen, sich davonzumachen.

Sie lief in die Sagittaria, die plötzlich stehengeblieben war.

»Arrêt!«

Die Bedeutung des französischen Wortes erschloss sich Kiwa sofort.

An Lulous Schulter vorbei sah sie auf die Straße und schluckte.

Zwei riesengroße, weiße Löwen schlängelten ihre muskulösen, gedrungenen Leiber tief geduckt über den braungestampften Schnee auf der Fahrbahn. Tiefkehliges Knurren blubberte aus Mäulern mit gebleckten Fängen und zuckenden Lefzen.

Hätte sich Saint George aufgerichtet, er würde ihnen gerade bis zu den Schultern reichen. Doch der Quästor hielt sich seinerseits in tiefem Stand mit weit ausgestellten Beinen. In einer Faust den Säbel, in der anderen einen langläufigen grauen Revolver. Die Waffen sahen angesichts der wuchtigen Bestien lächerlich unzureichend aus.

Die Löwen liefen im Halbkreis vor Quästor und Magus hin und her. Sie schienen auf eine Öffnung in der Barriere aus Licht zu warten, die Morgan aufrechterhielt.

Lulou zog Kiwa wieder mit sich. Hinter ihnen wankte John heran. Er benötigte die Überreste des Türrahmens, um sich abzustützen.

»Was ist das?«, fragte die Französin leise.

Da Morgan weiterhin Zauber murmelte, antwortete Saint George.

»Wächterlöwen. Inwieweit sie beseelt sind, kann ich nicht sagen. Aber sie sind erwacht.«

»War das der Alte Zheng?«

»Denke schon«, brummte der Quästor. »Wenngleich ich es nicht mit Bestimmtheit sagen kann. Ich höre zwar überaus gut, doch mein Chinesisch ist nicht das Beste.«

»Merde«, flüsterte Lulou. »Was können sie?«

Saint George schnaufte. »Alles, was Löwen können. Dazu sind sie aus Stein. In diesem Fall …« – er deutete auf die Wesen – »… aus Marmor.«

»Darum der Säbel und die Knarre?«

»Hm?«

Der Quästor sah an sich herab und schien seine Waffen erst jetzt zu bemerken. Unwirsch schnaufend versenkte er den Säbel in der Scheide.

»Du hast recht …«

»Wie können wir sie besiegen?«

»Gute Frage. Ich würde ja unseren Zauberer um seine Meinung fragen, doch der hat alle Hände voll damit zu tun, sie uns vom Leib zu halten.«

Morgan nickte nur eifrig, brabbelte aber weiter.

Kiwa tippte Lulou an die Schulter. »Du hast vergessen merde zu sagen«, wisperte sie.

»Merde«, kam es auch sogleich. »Was sollen wir tun?«

»Den Alten Zheng an seinem langen Bart herbeischleifen, damit er die Beschwörung beendet?«, raunte der Quästor.

»Der ist durch eine Falte entkommen«, antwortete Lulou.

»Merde!«, zischte Saint George und Morgan nickte noch eifriger. »John, was ist mit Johnjohn?«

»Keine Chance!«, rief Kiwa. »Er kann sich kaum auf den Beinen halten!«

»Tja«, machte Saint George. »Dann muss ich Sie wohl bitten, uns zu helfen, Miss O’Shea.«

Sie zuckte erschrocken zusammen und ein eisiger Teppich strömte über ihre Brust.

»Wie kann ich denn …?«, setzte sie an.

Saint George wandte sich zu ihr um und ließ beide Augenbrauen zucken. »Wenn Johnjohn nicht kann, wie steht es mit Kevin?«

»Kev…?« Kiwa stutzte. Dann ging ihr ein Licht auf und sie musste ungeachtet der bedrohlichen Situation schmunzeln. Der Quästor hatte John in Sasquatchform den Namen Johnjohn verpasst. Nun hatte er Ähnliches mit ihr vor. Denn Caoimhe war die weibliche Form von Caoimhin, dessen anglisierte Form wiederum ›Kevin‹ war.

Sie tat es dem Vampir gleich, der Unglaube, Abfälligkeit oder Spott stets mit einem Schnaufen zum Ausdruck brachte und schnaufte.

»Wer braucht schon einen Kevin! Sie meinen wohl eher Kiwakiwa, hm?«

»Hauptsache anmutig.« Saint George grinste.

»Ich versuche es!« Kiwa konzentrierte sich auf die kalte Faust in ihrem Unterbauch.

Frost flutete ihr Inneres. Strömte nach außen. Bahnte sich Wege durch Knochen, Muskeln, Gewebe, Haut und schließlich ihre Poren. Quoll durch ihre Kleidung. Baute Schicht um Schicht um sie herum, erstarrte knisternd und knackend. Verdichtete sich zu Platten und Bruchstücken. Verschob sich. Hüllte sie in einen anschwellenden Panzer, der Lage um Lage bildete.

Kiwa wuchs.

Während Frost und Eis ihr Werk vollbrachten, musterte sie die Bedrohung, der sie sich zu stellen gedachte.

Die Wesen sahen wahrhaftig aus wie Löwen. Aber ihre Leiber waren kompakter, gedrungener. Ebenso ihre Gesichter. Ihre Mähnen waren eher gelockt und strähnenweise zu Schnecken geformt. Genau wie bei den beiden Statuen chinesischer Handwerkskunst, die den Eingang zur Teestube flankiert hatten.

Welche Zauberei vermochte leblose Götzen in knurrende Raubkatzen zu verwandeln?

Sie bewegten sich in fließender, gleichwohl kraftvoller Grazie vor der Grenze, die Morgans Schutzschildzauber flirrend markierte. Sie glitten von rechts nach links und wieder zurück. Kiwa hatte Ähnliches schon einmal gesehen, als sie mit ihrer Mutter den zoologischen Garten von Chicago besucht hatte.

Damals existierte der Lincoln Park Zoo erst seit ein paar Jahren und es gab dort nur wenige exotische Tiere. Vielmehr war es ein ganz normaler Stadtgarten mit Wiesen, Bäumen und Kieswegen um einen Teich herum, in dem zahlreiche Wasservögel lebten. An den Ufern waren diverse Bauten, Käfige und Volieren, in denen Füchse, Wölfe und ein alter Braunbär ausgestellt waren. Am aufregendsten hatte Klein-Kiwa allerdings einen zahnlosen ehemaligen Zirkuslöwen gefunden, den der findige Direktor des Gartens einer Wandermenagerie abgekauft hatte, um mit diesem spektakulären Exponat Besucher anzulocken. Wie zum Beispiel zwei irische Immigranten aus Boston. Dem Löwen gefiel die Gefangenschaft wohl nicht, denn während der halben Stunde, die Kiwa ihn bewundert hatte, war er immer nur mit schwankendem Mähnenhaupt von einer auf die andere Seite seines kleinen Geheges getapert.

Ganz ähnlich vollführten es nun die beiden Steinlöwen, wirkten dabei aber deutlich lebendiger, aggressiver und zielgerichteter.

So wie der Löwe, der Lance Henson gewesen war.

Der eiskalte Schauer, der über ihre Wirbelsäule glitt, vereinte sich mit den Platten, die dort bereits aufgeschichtet waren, und ließ sie noch einige Zentimeter wachsen.

Kummer und Trotz sorgten für ein eigenartiges Gefühlsgemisch.

»Was soll ich tun?«, fragte sie. Ihre Stimme klang hohl, als käme sie aus der Tiefe eines Brunnenschachtes. Die Eisschichten vor ihrem Gesicht warfen die Laute zurück in ihre Ohren. Doch der Quästor hörte sie.

»Ich denke, Sie werden sie niederschlagen müssen. Wir können nichts weiter ausrichten, als zu fliehen. Verschaffen Sie uns Luft, damit wir John zum Battery bringen können.«

»Dort stehen wir mit dem Rücken zur offenen See«, gab sie zu bedenken.

Saint George schüttelte den Kopf. »Nein. Vom Park aus sind es nur noch ein paar Schritte zu einem Boot, das uns nach Ellis Island übersetzen kann.«

»Und dann?«

Er sah zu ihr hinauf. »Und dann tun wir es dem feigen Zheng gleich und verschwinden durch eine Falte.«

»Lassen wir die Löwen etwa in New York zurück?«

»Mir fällt nichts Besseres ein, Miss O’Shea. Ich vermute, die Viecher werden uns nachsetzen und ich hätte sie schon lieber in einem kleinen Park oder auf dem Meer, als in dieser engen Stadt.«

»Ja, aber …«

»Die Nebelwacht schützt die Falten unter Ford Gibson auf Ellis Island. Dort befindet sich ein Knotenpunkt für Reisende der Nebula, der schwer bewacht wird. Wir locken die Wächterlöwen also in eine Art Falle. Zusammen mit der Wacht können wir sie besiegen – oder zumindest kaltstellen.«

»Kaltstellen … gutes Stichwort, Miss O’Shea«, sagte Morgan und ließ die Hände sinken. »Jetzt oder nie. Ich kann nicht mehr.«

Flirrend verging das goldene Netz.

»Sie schaffen das!«, sagte Saint George. »Wir sind direkt hinter Ihnen.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Lulou, du würdest dir die Zähne an den Viechern ausbeißen, also kümmerst du dich um John. Pass auf ihn auf!«

»Oui!«

Mit flatterndem Magen machte Kiwa einen Schritt. Und dann noch einen. Das Knirschen und Splittern von Eis begleitete jede Bewegung. Ihre unförmigen Füße setzten wummernd im zertrampelten Schnee auf. Weiße Flocken wirbelten in die Höhe. Kiwas Puls dröhnte in ihren Ohren, drosch bis in den Hals und prallte gegen ihr Gaumendach. Sie hob die Fäuste.

Fäuste aus Eis. Gefrorene Klumpen. Groß wie Weinfässer.

»O Gott…«, flüsterte sie.

Ein Wächterlöwe vor ihr setzte zum Sprung an.

Kiwa holte aus.

Der zweite Löwe duckte sich.

Wie ein Strahl schoss Saint George an ihr vorbei. Er war wieder einmal so schnell, dass er sich vor ihren Augen auflöste. Erst nah der Schnauze des zweiten Löwen wurde er sichtbar. Das steinerne Monstrum zuckte zurück. Doch es war zu spät.

Der Quästor presste die Mündung seines Revolvers in eine rotglimmende Augenhöhle und drückte mehrfach und in schneller Folge ab.

WAMMWAMMWAMM!

Das Echo schallte über die menschenleere Straße.

Der getroffene Löwe warf sich rückwärts auf die Hinterpfoten und stieg hoch wie ein scheuendes Pferd. Er brüllte so laut, dass die Erde bebte und Schneebretter von den Dächern rutschten.

Kurz dachte Kiwa, es wären ihre eigenen Schritte, die sie als eisbepacktes Riesendings vorwärts trugen und das Beben des Untergrundes auslösten. Sie verwarf den Gedanken. Holte ihn aber sogleich wieder hervor.

Denn es war tatsächlich so!

Ihre stampfenden Schritte ließen das Kopfsteinpflaster wahrhaftig erzittern.

Wie schwer war sie wohl?

Der erste Löwe warf sich ihr fauchend entgegen.

Mit einer Pranke packte Kiwa zu und erwischte die aufgerissene Schnauze.

Sie ließ die Rechte durch die Luft sausen, wie sie es im Cathbad’s bei Johnjohns Boxkampf gegen Rabjam gesehen hatte.

Der Aufschlag war krachend.

Steinstaub stieg auf. Eissplitter schossen durch die Luft.

Fauchend vergrub der Löwe seine hinteren Tatzen dort, wo bei Kiwas Riesenform der Bauch war. Doch das Eis bildete sich rascher, als es das Kratzen und Schürfen zerfetzen konnte.

Kiwa hob die Faust ein zweites Mal und schlug zu.

Sie streckte den anderen Arm. Hob den strampelnden Löwen von den Füßen. Schlug zu. Schlug zu.

WAMMWAMMWAMM!

Das Echo schallte über die menschenleere Straße.

Doch der Löwe ließ nicht nach. Seine steinernen Fangzähne schlugen aufeinander, als er versuchte, in Kiwas Handfläche zu beißen. Mit den Vorderklauen kratzte und riss er in ihrem Unterarm, konnte sich aber nicht durch die Eisplatten hindurcharbeiten. Es wuchs immer wieder nach und bildete Stacheln aus Eiszapfen.

Kiwa schrie und hob den rasenden Löwen hoch über ihren Kopf. Er zappelte und strampelte. Sie streckte sich und warf ihn von sich.

Krachend prallte er gegen die Fassade des gegenüberliegenden Hauses und zerstörte auch sie. In einem Hagelschauer aus Holzresten knallte der Löwe auf den Bürgersteig und blieb für einen Moment benommen liegen.

»Gut so!«, rief Saint George, der an ihr vorbeieilte. »Nur noch etwas länger!« Er erreichte Lulou und John, warf sich den Arm des Custos über die Schulter und half dabei, ihn durch die zertrümmerten Trittstufen auf den Gehweg zu führen.

»Wir geben euch Deckung!«, rief Morgan und entfachte in beiden Fäusten grellblaue Sphären. »Lauft!«

Die Wächterlöwen schüttelten sich. Aus dem Auge des einen rann rote Flüssigkeit. Leuchtend wie Lava. Ebenso aus dem Maul des anderen.

Schüsse und Schläge spüren sie also, dachte Kiwa. Den Keim des Bedauerns, diesen schönen Wesen Schaden zufügen zu müssen, schluckte sie herunter.

Knurrend richteten sich die Löwen auf.

»Bereit für Runde zwei?«, fragte der Magus.

»Nie gewesen«, kollerte es aus Kiwas Eisleib.

»Zum Glück habe ich nicht gefragt!«, sagte Morgan und schleuderte die Bälle aus blitzendem Licht.

»Zum Glück«, wisperte Kiwa und stemmte die säulenartigen Beine in den Boden, um sich der kommenden Attacke entgegenzustellen.

Die prompt erfolgte.

Der Löwe knurrte nun leiser – was, wie Kiwa vermutete, möglicherweise an den Marmorzähnen liegen mochte, die sie ihm ausgeschlagen hatte. Dennoch war sein Angriff so heftig und wild wie zuvor. Nur mit Mühe und einer guten Portion Glück bekam sie ihn unter dem aufgerissenen Maul an der Kehle zu fassen. Wieder schlug sie ihm die Eisfaust an den Schädel. Hektisches Kratzen und Schaben erreichte ihre Ohren unter dem Panzer. Sie holte aus und sah schnell an sich herab. Der Löwe versuchte nicht mehr, ihren Bauch zu durchbrechen. Er krallte sich im Boden fest und schob. Kiwa spürte, wie sie aus dem Gleichgewicht geriet.

Sie hatte keine Ahnung vom Kämpfen – erst recht nicht gegen lebende Statuen – doch dass es keine gute Situation wäre, hinzufallen, erschloss sich ihr. Wie ein Käfer auf dem Rücken wäre sie dem rasenden Koloss ausgeliefert. Sie drehte sich zur Seite, packte den Löwen im Nacken und schmetterte ihn zu Boden.

Viel zu schnell, als dass sie hätte reagieren können, stürmte der Zweite heran und warf sich auf sie. Eis splitterte und krachte. Schnee stieg auf. Sie stemmte sich mit aller Macht gegen die Attacke, bemühte sich, auf den Beinen zu bleiben – und war sogar in der Lage, dem Vieh einen Ellbogenschlag vor sein Maul zu verpassen – aber der Ansturm war zu heftig. Gemeinsam schlugen sie in der Fassade eines Mietshauses ein.

Eines bewohnten Mietshauses, wie sie den Schreien entnehmen konnte, die nach Panik und Schock klangen.

Mit den Hinterläufen drückte sie der Löwe in die Trümmer. Mit den Vorderpfoten drosch er auf sie ein. Kiwa konnte nichts weiter tun, als die Eisarme vor ihr Gesicht zu halten und zu strampeln, in der Hoffnung, sich befreien zu können.

WAMMWAMMWAMM! Drei Schüsse krachten in schneller Folge.

Der Angriff ließ plötzlich nach. Kiwa öffnete die Augen einen Spalt. Der Löwe brüllte, warf sich zur Seite und verschwand in den Trümmern des einstürzenden Mietshauses. Vormals war es ein zusammengezimmertes, windschiefes Ding gewesen. Nicht mehr als eine Baracke. Kiwa kannte derartige Bauwerke aus den Armenvierteln Bostons. Nun brach es zusammen, als hätte sich ein unsichtbarer Riese aufs Dach gesetzt. Die Schreie der Bewohner wurden lauter und panischer. Männer, Frauen, Kinder. Wenn es sich in New York wie in Boston verhielt, kollabierte das Gebäude über mehreren Dutzend Menschen.

Saint George erschien neben ihr. »Stehen Sie auf, Miss O’Shea! Jetzt!« Mit dem rauchenden Revolver in der Hand wedelte er in der Luft herum. Die Trommel klappte seitlich aus dem Rahmen. Es klackerte, als werfe jemand Murmeln aufs Straßenpflaster. Viel zu schnell, als dass sie es hätte sehen können, hatte der Quästor nachgeladen.

Dann zischte es und er war wieder entschwunden.

Ächzend drückte Kiwa die Ellbogen in den Boden, um sich aufzurichten. Die Koordination ihrer Gliedmaßen fiel ihr schwer. Ärgerlich begann sie vor sich hinzubrabbeln, während sie sich auf die Beine mühte.

»Verdammt, verflucht! Wie schnell soll ich denn hochkommen, hm? Alles ist so dick und schwer. Verdammt!«

Wackelnd kam sie in den Stand und sah sich um.

Ein Wächterlöwe schlug in den Trümmern wie wahnsinnig um sich. Aus beiden Augenhöhlen spritzte die rotleuchtende Flüssigkeit. Menschen flogen wie Strohpuppen umher, landeten auf der Straße, dem Gehweg. Aus allen umliegenden Häusern flüchteten ärmlich gekleidete Bürger mit geweiteten Augen.

Brüllend stürmte der zweite Löwe heran.

»Dieser Schleier ist wohl mal gerissen«, grummelte Kiwa und riss die Fäuste hoch. »KOMM SCHON!«, brüllte sie, so laut sie konnte. Sie hoffte, das Steinwesen würde sich weiterhin auf sie konzentrieren. Im Gegensatz zu den Fliehenden hatte sie zumindest einen nachwachsenden Eispanzer.

Der Aufprall war hart und schleuderte sie einen Häuserblock nach hinten.

Noch im Flug konnte sie erkennen, dass beide Löwen ihrer Bahn folgten, nachsetzten und sich überhaupt nicht für die flüchtenden Menschen interessierten.

Na, wenigstens etwas.

Die ›Five Points Situation‹

Canal Street, Ecke Bayard Street, Mittwoch, 11:12 Uhr

Die Fassaden der maroden Mietshäuser warfen das tiefe Gebrüll der Wächterlöwen zurück, ließen es klingen wie ein schweres Erdbeben im Steinbruch. Kiwa spürte das Rumpeln von den Fußsohlen bis in den Magen. Mit Schneeflocken und Schneematsch in Augen, Nase und Mund stemmte sie sich auf die Füße. Sie hustete und spuckte, wischte rasch über Lider und Lippen, zwinkerte hektisch und sah an sich herab. Der Eispanzer auf ihrer Brust zeigte tiefe Risse und vereinzelt brachen Kristalle heraus, die zu Boden purzelten.

Sie hob den Blick.

Gerade rechtzeitig.

Bevor die heranzischende steinerne Pranke des weiblichen Wächterlöwen Kiwa ein zweites Mal erwischen konnte, warf sie sich nach hinten. Knapp vor ihrer Nase zischten marmorne Klauen durch die Luft. Kiwa knallte rücklings auf die Fahrbahn. Der Fall presste ihr den Atem aus der Lunge. Sie rollte sich auf die Seite und landete vor den Trümmern eines liegenden Handkarrens, inmitten zerborstener Hühnerkäfige, auf Körnern, Federn und Schnee. Der Besitzer hatte seine Waren zurückgelassen und war längst geflohen. Ebenso die Hühner. Überhaupt waren sämtliche Passanten und Anwohner davongelaufen. Was wohl recht sinnvoll war, betrachtete man die Tatsache, dass sich eine Quadriga des Rates mit zwei gigantischen Wächterlöwen aus weißem Marmor auseinandersetzen musste.

Wieder sauste die Pranke heran.

Doch dieses Mal hatte Kiwa sie kommen sehen.

Stein und Eis trafen krachend und knirschend aufeinander, als sie den Angriff abblockte.

Knisternd bildeten sich neue Schichten über ihrem Unterarm. Mit heiserem Schrei lenkte sie den Prankenhieb beiseite und holte zum Gegenschlag aus. Ihre Faust wuchs auf die Größe einer Weinkiste.

Eis und Stein trafen krachend und knirschend aufeinander, als sie dem Schädel des Wächterlöwen einen mächtigen Schwinger verpasste.

Der Kopf des steinernen Ungetüms schnellte zur Seite. Schnee, Eis und abgeplatzter Marmor bildeten eine kegelförmige Wolke, die wie Mündungsrauch vorbeizog.

Kiwa schrie unartikuliert.

Sie war erschrocken und verwundert.

Aber sie war auch zornig.

Und sie wuchs.

Und wuchs.

Flüssiges Eis strömte aus ihren Poren. Verdichtete sich knackend über Mantel, Hose und Stiefeln. In der Zeitspanne eines Wimpernschlages war sie zu einem über zwei Meter großen Wesen aus hartem Eis geworden, das den Wächterlöwen überragte.

Unförmige Schichten aus eisenharten Eisplatten bedeckten Kiwa von Kopf bis Fuß. In den tieferen Lagen hatte es die Farbe von Granit. Auf ihrem Nacken, den Oberarmen und Oberschenkeln zeigte es sich in tiefwinterlichem Graublau und Weiß wie frisch gefallener Schnee auf Schultern, Brust, Ellbogen und Knien.

Hätte sie sich sehen können, ihr wäre die Ähnlichkeit mit Mehetabel bewusst geworden. Die freundliche Golemfrau hatte ausgesehen wie ein wandelnder Haufen Geröll mit Armen und Beinen, einem halbrunden Kopf, der in dicke Schultern überging.

Kiwa hätte sich nur zu gern betrachtet – und gewundert.

Doch dafür hatte sie keine Zeit.

Der Wächterlöwe schüttelte benommen den Schädel und duckte sich zum Sprung.

»KOMM NUR!«, brüllte Kiwa trotzig und hob die Fäuste. Eines ihrer säulenartigen Eisbeine stemmte sie hinter sich in die harte, weißbraune Kruste, die die Fahrbahn bedeckte. Das andere schob sie nach vorn.

»KOMM NUR!«

Aus dem marmornen Tiergesicht fixierten sie kleine, rotglühende Augen. Lefzen bebten. Das Knurren wurde lauter.

Vor anderthalb Stunden hatte Kiwa noch grübelnd im Batterypark gesessen und zur Statue of Liberty hinübergesehen. Vor gerade einmal zwanzig Minuten hatte sie die Teestube eines chinesischen Magiers betreten.

Nun kämpfte sie mit einem übermannsgroßen marmornen Wächterlöwen …

So viel war sicher: Der Besuch beim Alten Zheng war anders verlaufen, als es sich Saint George und Worthington gedacht hatten.

Aber so ganz anders!

Der Löwe drückte sich mit den Vorderläufen in den verkrusteten Schnee und sträubte sein lockiges Nackenfell zu scharfen Spitzen. Die Lefzen zogen sich so weit zurück, dass Kiwa beinahe das gesamte Gebiss sehen konnte. Einschließlich beachtlicher Fangzähne und kürzlich entstandener Zahnlücken. Knirschend und knackend ballte sie die riesigen Eisfäuste und hörte sich selbst knurren.

Urplötzlich schoben sich dunkle Wolkenfelder über den trüben Himmel, schluckten die letzten Farben. Bodennebel stieg auf, wurde von einem einsetzenden, strammen Wind verweht. Schneefall kam hinzu und wurde schnell dichter. Ehe sie sich versah, prasselte waagerecht über die Straße treibender Hagel auf die dicken Schollen in ihrem Rücken. Kiwa hob verwundert den Kopf.

Lebte man an der Ostküste, war man Schneestürme einigermaßen gewohnt. Sie konnten ganze Städte lahmlegen, wenn sie für kniehohe Schneedecken sorgten.

Aber meistens kündigten sie sich lange vorher an und entstanden nicht schlagartig. Bereits Stunden bevor sie ausbrachen, war es wegen des schneidenden Windes draußen kaum auszuhalten, wenn ein eisgrauer Himmel ohne Sonne und mächtige dunkelgraue Wolkenberge die Vorboten waren.

Doch dieser Sturm, der just über New York hereinbrach, war viel zu schnell und ohne Ankündigung gekommen.

Ungeachtet der sich zügig verschlechternden Sicht sprang der Löwe fauchend und mit vorgestreckten Krallen auf sie zu.

Kiwa knurrte lauter und stürmte ihm mit schnellen Schritten entgegen.

Der Angreifer hatte dieses Manöver nicht erwartet, und sie bekam seine Vorderläufe zu packen. Sie griff so fest zu, wie sie konnte, schloss die Eispranken über den Gelenken knapp unterhalb der krallenbewehrten Tatzen und sandte den gleißenden Frost aus ihrem Herzen über die Schultern in die eigenen Hände. Dort hielt sie die Kälte aber nicht auf. Mit einem simplen Gedanken schickte sie sie weiter. Von den Eispranken in die Vorderläufe des steinernen Monstrums. Bis hinauf in die Schulterpfannen. Wie verschüttete Milch bildete sich ein weißer Teppich über frierendem Marmor. Die glühenden Augen weiteten sich.

Kiwa löste eine Hand, ballte sie zur Faust und ließ sie auf den Ellbogen des Löwen niederfahren.

Begleitet von einem Schrei aus tiefster Kehle sprengte ihr Schlag die Trefferfläche. Harter Stein wurde zu Staub, in dem Kristalle funkelten, als er einer Rauchwolke gleich vom abgetrennten Glied emporstieg.

Kiwa warf den Unterarm davon. Der Löwe sprang zurück, landete auf einer Tatze, die nicht mehr da war und knickte ein. Selbst dies hinderte ihn nicht daran, die Zähne zu fletschen und zu knurren. Sie nutzte die vermutlich nur allzu kurze Kampfpause für einen Blick über die Schulter und sah eine weiße Wand aus wirbelnden Winden, Schneetreiben und Hagel. Das Weiß in verschiedenen Nuancen schluckte sämtliche Farben.

Wo waren die anderen? Waren sie entkommen? War sie nun allein mit diesem Monster im Wintersturm?

Irritiert führte sie eine Pranke vor die Augen, in dem vergeblichen Versuch ihre Sicht zu klären. Als sie sie senkte, tauchte ein dunkler Schemen in dem tosenden Sturm auf und kam näher. Mit jedem Schritt wurde er deutlicher und Kiwa konnte es kaum glauben: Mitten in diesem Unwetter preschte ein Reiter heran.

Lauter Hufschlag übertönte den pfeifenden Wind.

»ZINO, RECHTS! KURUSH, LINKS!«, brüllte der Reiter.

Ein zweiter Schemen erschien und stürmte links über den verschneiten Bürgersteig.

Ein dritter huschte rechts entlang.

Hinter dem Reiter konnte Kiwa nun noch mehr graue Flecken im Weiß erkennen.

»KONZENTRIERTES FEUER, ZIEL EINS! JETZT!!!«

Ein Gewitter von Mündungsflammen und knallenden Schüssen zerschnitt die wirbelnde Wand hinter dem Reiter. Links von ihr knatterte es wummernd. Abgefeuerte Projektile sausten an Kiwas Eisleib vorbei, trafen auf den Körper des Wächterlöwen. Es knallte und krachte immer lauter und immer schneller. Das Sausen der Geschosse um ihren Kopf verdichtete sich, klang wie ein wütender Hornissenschwarm. Die Kugeln verfehlten sie nur knapp – aber immerhin verfehlten sie sie!

Wer auch immer da schoss, hatte es ausschließlich auf das steinerne Monstrum abgesehen … und machte dabei keine halben Sachen! Unzählige Projektile trafen auf Stein, pflückten Stücke heraus, sprengten Löcher, aus denen es rotglühend schimmerte.

Der Reiter stoppte den Galopp genau vor ihr.

Es war kein Reiter. Es war ein Zentaur.

Unter dem Helm aus Eis klappte ihr Kiefer herab. Mal wieder … Aber Kiwa kannte solche Wesen nur aus den verstaubten Wälzern, die sie in der Schule hatte lesen müssen. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass diese Mischwesen aus Mensch und Pferd existieren könnten. Geschweige denn, dass sie einmal einem gegenüberstehen würde.

»Sind Sie der Custos?!«, fragte der Pferdemensch barsch.

Kiwa schüttelte sich. Der Mann – oder sagte man Hengst? – trug eine dunkelgraue Uniformjacke mit Schulterstreifen und silbernen Knöpfen. Er starrte sie unter zornig gewölbten, dichten Augenbrauen mit grauen Augen an, während der Wind seinen langen Bart und die strähnige Mähne flattern ließ.

»Äh …«, machte Kiwa.

Der Zentaur schnaubte und zeigte hinter sich. »Scher dich aus meinem Einsatzgebiet, du Anfänger!«

Kiwa wollte zu einer Erwiderung oder zumindest einem Dankeschön ansetzen, wurde aber vom Entstehen eines gigantischen Feuerballs unweit ihrer Position abgelenkt. Sie warf den Kopf herum und spürte die Hitze im Gesicht. Die obersten Schichten ihres Panzers lösten sich in Wassertropfen auf. Das Flammengebilde raste die Straße entlang, traf den Löwen, zersprang wie ein geplatzter Kürbis und breitete sich über die nebenstehenden Häuser aus. Trotz des eisigen Windes fingen sie umgehend Feuer. Weitere magische Geschosse wurden aus der Formation im Nebel nach vorn geschleudert und legten die Häuserblöcke zu beiden Seiten der Straße in Schutt und Asche. Holz und Stein zerbarst, Fenster zerbrachen, Dachstühle stürzten ein. Staub und Dreck wallten zusammen mit Schneegestöber und Nebelschwaden bis weit in den Himmel.

»ZINO, JETZT!«, krakelte der Zentaur und stieg auf die Hinterhufe. Er reckte ein langes Gewehr mit Zielfernrohr in die Höhe.

»BIN DRAN!«, antwortete einer der Schemen, der sich aus dem Weiß löste, mit tief brodelnder Stimme. Schritte von riesigen Füßen, die einen massigen Körper trugen, stampften heran.

Der Neuankömmling war ein Minotaurus. Stierschädel mit dunkelbraunem Fell, kurze schwarze Hörner und ein überaus bulliger Körper in dunkelgrauer Uniform.

»KOMMT!«, dröhnte es aus der dicken Kehle. Gewaltige Muskelberge streckten den Stoff der Uniformjacke und zeichneten sich unter stramm gespannten Hosenbeinen ab. Der Minotaurus stemmte sich nach hinten und richtete die kanonengroße Waffe mit fünf kreisrund gebündelten Läufen auf den flammenumtosten Löwen, der nach allen Seiten austeilte und fauchte.

Der Stiermensch betätigte eine Kurbel. Die Läufe drehten sich um eine Achse in der Mitte des Bündels und spuckten Krach, Feuer und Rauch in schneller Folge. So schnell hätte nicht einmal Saint George abdrücken können, wie Projektile aus den Rohren flogen. Im Rückstoß schob es den Minotaurus auf seinen breiten Hufen zentimeterweise rückwärts. Wolken aus Marmorstaub stiegen vom im Flammenmeer umherschnellenden Löwen auf. Hinter ihm perforierte der Kugelhagel die gesamte erste Etage eines baufälligen Holzhauses. Glas zersprang klirrend. Holzschindeln flogen in alle Richtungen.

Obwohl ihr Schädel unter einer handtellerbreiten Schicht Eis geschützt war, wummerte die Knallerei bis in ihr Hirn und füllte es mit einem lauten Nachhall.

Nach unzähligen Schüssen begann die Waffe leer zu knattern. Mündungsrauch verwehte im Wind. Metallisches Knacken und das Klirren von Patronenhülsen begleitete das Nachladen.

»KURUSH, STATUS!«, brüllte der Zentaur.

»Ziel eins eliminiert!«, schallte es neben Kiwa, wo nun der Umriss eines riesenhaften Mannes sichtbar wurde. Eines Mannes mit dunkelroter Haut, schwarzem langem Haar, das in einen lockigen Vollbart überging, der die gesamte Brust bedeckte. Gelbes Licht strahlte aus den Augenhöhlen. Seine Stirn zierten große, gebogene Steinbockhörner. Auch er trug die Uniform, obgleich leckende Flammen über den Stoff zuckten.

»ZIEL ZWEI?«

»Orientierungslos. Fünfzehn Yards auf zwölf Uhr. Scheint geblendet zu sein.«

Der Zentaur wirbelte auf den Hinterhufen herum. »FEUER EINSTELLEN! SCHICKT DIE BÄNDIGER REIN!« Seine Vorderhufe setzten auf und er trippelte vor Kiwa auf der Stelle wie ein aufgebrachtes Pferd.

Kiwa korrigierte ihre sich überschlagenden Gedanken: Wie ein Schlachtross – denn der Pferdekörper des Mannes war ausgesprochen kräftig und wuchtig und mit Stahlplatten geschützt, wie sie nun erkennen konnte.

»Du bist ja immer noch hier!«, brüllte er sie an. Mit dem Gewehrlauf zeigte er die Straße hinunter. »Extraktionspunkt Park Row, Ecke Pearl. Drei Blocks da entlang! Auf, auf, du nichtsnutziger Eisklotz!«

»Äh …«

Der Zentaur schob sich an ihr vorbei, rempelte sie förmlich zur Seite. Sie konnte ihn »Verdammte Amateure« grummeln hören, dann beschleunigte er und donnerte in die Richtung, aus der Kiwa gekommen war.

Sie sah ihm staunend und ratlos hinterher. In ihren Ohren wummerte noch das Echo der Ballerei.

»Zweiter Zug, aufschließen!« Der Stiermensch schnaubte, trabte von dannen und folgte dem Zentauren. Im Lauf ließ er seinen mächtigen Schädel auf dem Hals kreisen. Er nahm das Chaos von zerstörten Bauwerken augenscheinlich nur im Vorbeigehen wahr. »Hab die Five Points eh nie gemocht«, brummte er.

Five Points?

Kiwa hob die Augenbrauen. Von diesem dicht besiedelten, von Krankheiten und Verbrechen heimgesuchten Elendsviertel hatte sie einmal in einem Artikel des ›Boston Herald‹ gelesen.

Und nun stand sie mittendrin?

Verwundert sah sie sich um. Der Schneesturm wütete unvermindert und schien dem Zentauren die Straße hinab zu folgen. Die meisten Details waren vom wirbelndem Weiß verschluckt und von den berüchtigten Five Points sah sie nur perforierte Fassaden, eingestürzte Holzbauten und brennende Balken.

Ein Schemen kam ihr aus der Richtung entgegen, aus der der barsche Pferdemensch herangestürmt war und stellte sich als ältere Frau in langer, dunkelgrauer Kutte heraus. Sie schritt die verschneite Straße mit geschlossenen Augen entlang, hielt beide Hände mit den Flächen nach oben vor sich und murmelte undeutliche Silben. Eine weitere Frau tauchte auf und marschierte vorbei. Dann noch eine. Wie eine Prozession zu Ehren eines Heiligen zogen sie heiser raunend die Straße hinab, ohne Kiwa zu beachten. Im Kielwasser der Verhüllten wurden Dutzende Uniformierte sichtbar, die dem Zentauren folgten und dabei die unterschiedlichsten Waffen nachluden oder vor sich bereit hielten.

Kiwa war wieder ›geschrumpft‹. Ihr Eispanzer war vergangen und nun stand sie im viel zu großen Mantel und weitem Strickschal auf dem Gehweg. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um zu den Frauen hochzuschauen.

»Miss O’Shea!«, schallte Morgans Stimme. »Miss O’Shea!«

»Hier …«, sagte sie viel zu leise.

»Miss O… Oh! Da sind Sie!« Worthington erreichte sie und legte einen Arm um ihre Schultern. »Kommen Sie, kommen Sie! Wir müssen los.«

»Los?« Ihre Gedanken sortierten noch die Eindrücke der letzten Minuten.

»Ja! Gleich da vorn ist unser Extraktionspunkt. Kommen Sie!«

»Extrakt… was?«

Er zog sachte an ihrem Mantel. »Ja, ja. Hinter dem Ring der Magier wartet bereits eine Kutsche auf uns.«

»Ich … verstehe … rein gar nichts«, nuschelte sie.

Er zog noch etwas fester und brachte sie dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Wir werden Ihnen alles auf dem Weg zur Falte erklären, meine liebe, meine tapfere, meine wackere Miss O’Shea. Sie sind einfach unglaublich, das muss ich aber mal sagen!«

»Hm?« Das Geplapper des Magus half ihr ins Hier und Jetzt zurück.

»Hier entlang!« Er nahm ihre Hand und marschierte los. Sie ließ sich ziehen und tapste hinterher.

»Da war ein Zentaur …«

»In der Tat! Sie hatten die fragwürdige Ehre mit dem ach so großen Captain Alphios! Einem Hauptmann der Unendlichen Legion, der in der gesamten Nebula für sein überaus unsonniges Gemüt berüchtigt ist.«

Sie zog die Schuhsohlen schlurfend über den Boden und sah zu dem rauchenden Trümmerfeld zurück. Bis auf ein paar krumme Mauerüberreste und geborstene Dachbalken blieb nicht viel von den ›Five Points‹ übrig.

»Das war die Legion?«

Morgan lachte freudlos und fuchtelte mit einer Hand herum. »Nein, nein. Das war nur ein schneller Eingreiftrupp. Eine Kompanie mit zwei Zügen. Gerade einmal an die einhundertzwanzig Soldaten. Rückt ein Regiment an …« – er schnippte – »… verschwindet eine Stadt auch schon mal vom Erdboden. Sofern es die Bedrohungslage rechtfertigt, selbstredend.«

»Bedrohung… was?«, murmelte Kiwa.

Er zog immer noch und hielt nicht inne. »Mhm, ja, ja. Dafür braucht es dann aber schon den Kontrollverlust eines wahrlich alten magischen Wesens, müssen Sie wissen. So etwas passiert Gott sei Dank nicht allzu oft. Statistisch gesehen nur alle paar hundert Jahre. Aber dann!« Er hob die Faust und spreizte ruckartig die Finger ab. »BUMM! So was wollen Sie nicht …« Er verschluckte den Rest des Satzes und tat, als müsse er husten.

Kiwa stemmte die Absätze in den Schnee und riss ihre Hand zu sich, löste den Griff.

»Was will ich nicht?«