Mission Dragonfly - Clive Cussler - E-Book

Mission Dragonfly E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Das Pentagon befindet sich in Alarmbereitschaft, und nur ein Mann kann die Katastrophe noch abwenden – Dirk Pitt, der Chef der amerikanischen Meeresbehörde NUMA.

Der Test des neuen Marschflugkörpers Dragonfly durch China geht schief. Die Hyperschallrakete stürzt ins Meer. Doch die wenigen Sekunden, in denen die neuentwickelte Waffe von amerikanischen Spionagesatelliten erfasst wurde, reichen, um das Pentagon in Alarmbereitschaft zu versetzen. Dirk Pitt, der sich mit seinem Forschungsschiff Caledonia zufällig in der Nähe befindet, erhält direkt vom Präsidenten den Auftrag, die Trümmer zu bergen. Doch bevor Dirk Pitt und seine Crew vor Ort eintreffen, erwischt sie ohne Vorwarnung eine gigantische Tsunami-Welle. Und während sie noch mit den Folgen kämpfen, hat die chinesische Führung längst selbst ein Eliteteam ausgesandt, um ihre Interessen um jeden Preis durchzusetzen!

Jeder Band ein Bestseller und einzeln lesbar. Lassen Sie sich die anderen Abenteuer von Dirk Pitt nicht entgehen – zum Beispiel »Die Kuba-Verschwörung«, »Geheimakte Odessa« oder »Die zehnte Plage«.

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Seitenzahl: 574

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Buch

Der Test des neuen Marschflugkörpers Dragonfly durch China geht schief. Die Hyperschallrakete stürzt ins Meer. Doch die wenigen Sekunden, in denen die neuentwickelte Waffe von amerikanischen Spionagesatelliten erfasst wurde, reichen, um das Pentagon in Alarmbereitschaft zu versetzen. Dirk Pitt, der sich mit seinem Forschungsschiff Caledonia zufällig in der Nähe befindet, erhält direkt vom Präsidenten den Auftrag, die Trümmer zu bergen. Doch bevor Dirk Pitt und seine Crew vor Ort eintreffen, erwischt sie ohne Vorwarnung eine gigantische Tsunami-Welle. Und während sie noch mit den Folgen kämpfen, hat die chinesische Führung längst selbst ein Eliteteam ausgesandt, um ihre Interessen um jeden Preis durchzusetzen!

Autor

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein »New York Times«-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2020 in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Dirk Cussler, Clive Cusslers Sohn, arbeitete nach seinem Studium in Berkeley viele Jahre lang in der Finanzwelt, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete. Darüber hinaus nahm er an mehreren der über achtzig Expeditionen der NUMA teil.

CLIVE CUSSLER

& DIRK CUSSLER

Mission Dragonfly

Ein Dirk-Pitt-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Devil›s Sea (Dirk Pitt 26)« bei Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2021 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (NorthShoreSurfPhotos, Erlantz, Andy Shell, aerial-dron, Kalyakan)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29573-8V001

www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

Team der NATIONAL AND MARINE AGENCY (NUMA)

Dirk Pitt – Direktor der NUMA.

Al Giordino – Direktor der Abteilung für Unterwassertechnologie der NUMA.

Rudi Gunn – Stellvertretender Direktor der NUMA.

Summer Pitt – Direktorin der Abteilung für Sonderprojekte und Tochter von Dirk Pitt.

Dirk Pitt. Jr. – Direktor der Abteilung für Sonderprojekte und Sohn von Dirk Pitt.

Hiram Yaeger – Chef des Computer Resource Centers der NUMA.

James Sandecker – U.S. Vizepräsident und ehemaliger Direktor der NUMA.

Loren Smith Pitt – Kongressabgeordnete aus Colorado und Ehefrau von Dirk Pitt.

Bill Stenseth – Kapitän des NUMA-Forschungsschiffs Caledonia.

Homer Giles – Chefingenieur des NUMA-Forschungsschiffs Caledonia.

Crew der MELBOURNE

Alistair Thornton – Eigentümer der Thornton Mining Company.

Margot Thornton – Geophysikerin und Tochter von Alistair Thornton.

Chuck Sonntag – Steuermann der Melbourne.

Dr. Yee – Ingenieur des taiwanischen Ministeriums für Nationale Verteidigung.

CHINESISCHE VOLKSBEFREIUNGSARMEE

General Xu Junhai – Kommandant des Weltraumflug-Kontrollzentrums in Peking.

Oberst Yan Xiaoming – Programmdirektor des Dragonfly-Projekts.

Dr. Liu Zhenli – Raketeningenieur des Dragonfly-Projekts.

Leutnant Zheng Yijong – Mitglied des Special Operations Command der People’s Liberation Army Rocket Force und Neffe von Yan Xiaoming.

Ning – Mitglied des Special Operations Command der People’s Liberation Army Rocket Force.

Mao Jing – Agent der People’s Liberation Army in Sikkim, Indien.

TIBETER in INDIEN

Ramapurah Chodron – Guerilla in Lhasa.

Thupten Gungtsen – Buddhistischer Mönch im Nechung-Kloster in Lhasa.

Khyentse Rinpoche – Lamaältester der Zentraltibetischen Regierung.

Kuten – Nechung-Orakel und Staatsorakel von Tibet.

Tenzin Norsang – Sicherheitsagent der Zentraltibetischen Regierung.

ANDERE

James Worthington – Skytrain-Pilot in Tibet.

Delbert Baker – Skytrain-Copilot.

Staff Sergeant Nathaniel Jenkins – Air-Force-Satellitenanalyst, 100th Missile Defense Brigade.

Dr. Chen Yuan – Direktor der Abteilung für Buddhistische und Tibetische Kunst im National Palace Museum.

Dr. Feng Zhoushan – Ehemaliger Direktor der Abteilung für tibetische Antiquitäten im National Palace Museum.

Lee Hong – Stellvertretender Direktor des National Palace Museums.

Rob Greer – Inhaber und Besitzer des Tibet Club Museums in McLeod Ganj, Indien.

Henry Buchanon – Direktor des Amerikanischen Instituts in Taiwan.

Jiang Ji – Fischer von der Insel Qimei.

PROLOG

LHASA, TIBET

18. März, 1959

Die Pratt & Whitney Sternmotoren rasselten und sägten, während sie sich abmühten, die dünne Höhenluft einzuatmen. Ein Paar der ehrwürdigen Twin-Wasp-Vierzehnzylinderflugzeugaggregate, während des Krieges zu Tausenden produziert, trieben die ungekennzeichnete C-47 Transportmaschine an, während sie sich durch eine stürmische Nacht kämpfte. Ohne auch nur ein Gramm Fracht im hinteren Rumpfabschnitt war die Maschine – bekannt als Skytrain – für die ständig wechselnden Luftströmungen, die sie über dem Dach der Welt wie einen Spielball hin und her warfen, ausgesprochen anfällig.

»Wir kratzen an den zweiundzwanzigtausend Fuß Flughöhe«, ließ sich Delbert Baker in schleppendem Tonfall aus seinem Copilotensitz vernehmen und ließ dabei einen Zahnstocher zwischen den Lippen herumwandern. Ungekämmt, unrasiert und milchgesichtig, lag in seinen Augen, die Lider auf Halbmast, der gelangweilte Ausdruck eines Mannes, der nicht mehr als ein Gähnen dafür übriggehabt hätte, hätte ihm ein Alien aus dem Weltraum auf die Schulter geklopft. »Die Maschinen sind nicht gerade begeistert.«

»Wir befinden uns deutlich unterhalb unserer Gipfelhöhe, auch wenn die Motoren anderer Meinung sind«, sagte der Pilot herausfordernd. In jeder Hinsicht das absolute Gegenteil seines Copiloten, saß James Worthington, bekleidet mit einer sauberen, sorgfältig gebügelten Flugkombination, in seinem Pilotensessel, den Steuerknüppel des Flugzeugs fest im Griff, im gleichen Maß unbeeindruckt von den Stößen und den gequälten Ächzlauten des leeren Frachtflugzeugs, während es, von Windböen herumgeworfen, durch den Himmel taumelte. Auch wenn die Maschine nahezu in Tuchfühlung über unsichtbare Bergspitzen unter ihrem Bauch hinwegsegelte, blieb Worthington vollkommen ruhig, so wie jemand, der sich auf einem touristischen Vergnügungsrundflug befand.

Ebenso wie Baker kannte er die herrschenden Flugverhältnisse nach zahllosen Transportflügen über den Himalaya aus dem Effeff. Beide hatten das Gebirgsmassiv während des Zweiten Weltkriegs regelmäßig überflogen, als die Air Force der U. S. Army die Nationalchinesen von Flugbasen in Indien aus mit Waffen und Lebensmitteln versorgt hatte. Nun flogen sie für die CIA. Aber die Gefahren beim Überqueren der hoch aufragenden Gebirgskette hatten sich – zumal bei schlechtem Wetter – um keinen Deut verringert.

Prüfend legte Worthington eine Hand auf ein Paar mit roten Knäufen versehene Hebel, die zwischen ihren Sitzen aufragten, und vergewisserte sich, dass sie bis an den Anschlag zurückgezogen waren. Der Gashebel-Quadrant steuerte die Zusammensetzung der Treibstoffmischung. Sie befand sich für die Überquerung der höchsten Gebirgskette der Welt auf der magersten Stufe.

In den Kopfhörern erklang krächzend die Stimme ihres Navigators, der in einem Abteil des Cockpits hinter ihnen saß. »Noch etwa zwanzig Minuten bis Lhasa. Aktuellen Kurs beibehalten.«

Plötzlich vollführte das Flugzeug einen Hüpfer wie ein Achterbahnwagen, der aus den Schienen geworfen wurde. Baker blickte aus dem Seitenfenster auf dichten Schneefall, der um die Tragflächen herumwirbelte. »Hoffentlich haben unsere Leute die Beleuchtung eingeschaltet.«

Worthington nickte. »Wenn sie es nicht getan haben, müssen sie den Himalaya zu Fuß überqueren.«

Das Flugzeug setzte seinen Weg durch die Nacht unbeirrt fort, wobei die Piloten ständig gegen heftige Aufwindböen kämpfen mussten, die die Maschine immer wieder in die Höhe schleuderten. Weniger häufig, aber bei weitem gefährlicher, waren die Abwinde, die sich ohne Vorwarnung auf die Maschine stürzten und sie nach unten drückten.

Nicht mehr lange, und sie näherten sich ihrem Ziel. Worthington, der wusste, dass die höchsten Bergspitzen nun schon hinter ihnen lagen, leitete den Sinkflug ein. Eine Handvoll Lampen flammten in der kalten schwarzen Nacht auf und funkelten wie weit entfernte Wachskerzen.

»Das muss der Ort sein«, sagte Baker.

Der Navigator berechnete einen neuen Kurs, Worthington nahm eine entsprechende Änderung ihres Flugwegs vor und legte die Maschine über den verstreuten Lichtern von Lhasa in eine weite Kurve. Tibets historische Kapitale war eine bunte, aber staubige Stadt, die sich in der imposanten Höhe von zwölftausend Fuß an dem schmalen Kyichu River Valley entlang erstreckte. Der einzige offizielle Flughafen des Landes lag achtzig Meilen entfernt im Nordosten, aber Worthington hatte nicht die Absicht, auf von Chinesen besetztem Terrain formell zu landen. Stattdessen lenkte er die C-47 zu einer behelfsmäßigen Landebahn, die eigens für diese Mission von freundlich gesonnenen Einheimischen angelegt worden war. Dazu hatten sie auf der Westseite der Stadt heimlich eine Fläche von Steinen und Geröll befreit.

Der dichte Schneefall ließ nach und hörte schließlich vollends auf, während Worthington im Tiefflug die Stadt überquerte und beide Piloten durch die teilweise aufgerissene Wolkendecke hindurch den Grund absuchten.

»Dort, ein Stück voraus und auf der rechten Seite.« Baker deutete durch die Windschutzscheibe. Der Zahnstocher in seinem Mund entwickelte plötzlich ein hektisches Eigenleben. Es war ein erster Hinweis auf die zunehmende Anspannung, die sich unter der Flugzeugbesatzung breitmachte.

Worthington entdeckte es ebenfalls: ein Paar blassblauer Lampen, die hintereinander von Osten nach Westen aufgestellt worden waren. Zwischen ihnen erstreckte sich ein langes schwarzes Feld.

Baker warf einen prüfenden Blick in die Ferne und fuhr das altertümliche Fahrwerk aus. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie uns die siebenhundert Meter zugestanden haben, um die wir sie gebeten hatten.«

Worthington schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es zu spät, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.« Er richtete die Nase des Skytrains auf die nächste blaue Positionslampe und drosselte die Geschwindigkeit. Ein starker Gegenwind brachte das Flugzeug anscheinend in der Luft zum Stillstand, während seine Böen an den Tragflächen zerrten. Worthington wartete noch, bis der blaue Lichtschein unter der Nase der C-47 verschwand, dann gab er Baker ein Zeichen und rief: »Landescheinwerfer!«

Baker schaltete die Positionslichter ein, während das Flugzeug tiefer sank. Mit den geschickten, minimalen Bewegungen einer erfahrenen Chirurgenhand konterte Worthington die heftigen Windattacken in Bodennähe und brachte die Maschine der schütteren Grasnarbe näher.

In den Kegeln der Landelichter erschien die Oberfläche eines ebenen und mit Lehmstaub bedeckten Feldes, während die Reifen des Fahrwerks den festen Boden höchstens einen Meter hinter der blauen Lampe berührten. Die C-47 hüpfte über den rauen Untergrund, während Worthington sein gesamtes Gewicht auf das Bremspedal verlagerte, das Heckrad aufsetzte und durch den Staub pflügte. Der Pilot brachte das Flugzeug dicht vor der zweiten blauen Lampe zum Stehen, dann wendete er und navigierte es über das Feld zurück zur ersten blauen Lampe. Dort drehte er die Maschine für den bevorstehenden Start in den Wind und schaltete die Motoren aus.

Baker öffnete sein Seitenfenster und ließ den Blick über das Feld schweifen. Südlich von ihrem Standort waren die Lichter mehrerer Häuser zu erkennen, ansonsten aber herrschte tiefe Dunkelheit. Dort wartete niemand auf sie. »Entweder sind wir zu früh«, sagte er, »oder unsere Passagiere verspäten sich.«

»Oder sie kommen überhaupt nicht«, erwiderte Worthington. »Zumindest werden wir nicht von einem Empfangskomitee erwartet.« Er legte den Kopf leicht auf die Seite, dann schob er das Seitenfenster auf und lauschte in die Dunkelheit. Er wandte sich zu Baker um, verzog missbilligend das Gesicht und schüttelte den Kopf.

Über dem Rauschen und Pfeifen der heftigen Windböen war das unverwechselbare Knattern schweren Gewehrfeuers in der Ferne zu hören.

***

Ramapurah Chodron lauschte demselben Gewehrfeuer, das im Zentrum der Stadt aufbrandete, und krümmte sich gequält. Wäre die Mission so abgelaufen wie geplant, hätte kein einziger Schuss fallen dürfen. Eine schnelle Exfiltration hätte stattgefunden, gefolgt von einem leisen Flug aus der Stadt, bevor die Chinesen noch begriffen hätten, was überhaupt geschehen war. Aber der Schusslärm aus der Nachbarschaft des Potala-Palastes sagte etwas völlig anderes.

Ram, wie seine CIA-Ausbilder ihn genannt hatten, drückte mit der flachen Hand auf seinen mit einem Schalldämpfer versehenen Colt .38 und wagte einen Blick um die Ecke einer niedrigen Steinmauer. Das Nechung-Kloster in ein paar Dutzend Metern Entfernung erweckte – so dunkel und still, wie es da stand – den Eindruck einer Leichenhalle. Aber die Schüsse in der Ferne signalisierten, dass ihre Tarnung aufgeflogen war und sie sich den Luxus eines langsamen, geduldigen Eindringens nicht mehr leisten konnten.

Er versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, konnte in der Nähe des Bauwerks jedoch keinerlei Bewegung wahrnehmen. Einer von einem Dutzend tibetanischen Guerillas war zwei Tage zuvor mit einem Fallschirm über einem breiten Tal nordwestlich von Lhasa abgesprungen. Ram war dann die Leitung der einfacheren Mission anvertraut worden. Er führte ein vier Männer starkes Kommando an, das das Nechung-Orakel, den wichtigsten spirituellen Ratgeber des Dalai-Lama, gefangen nehmen und zu der Rollbahn führen sollte, um ihn mit einem Flugzeug in Sicherheit zu bringen.

Die schwierigere Aufgabe wartete allerdings im Zentrum der Stadt. Dort sollten die restlichen acht Männer unbemerkt in den Potala-Palast eindringen, niemand anderen als den Dalai-Lama herausholen und in Sicherheit bringen.

Während chinesische Truppen Tibet seit 1950 besetzt hatten, heizte sich die Stimmung allmählich auf und mündete schließlich in den Aufstand von Lhasa. Die Angriffe Aufständischer und Rebellenproteste überall im Land fanden ihren Höhepunkt in Demonstrationen in Tibets Hauptstadt, verbunden mit der Forderung nach Unabhängigkeit. Diese Aktivitäten hatten heftige Reaktionen zur Folge. Ein paar Tage zuvor war ein umfangreiches Kontingent chinesischer bewaffneter Streitkräfte in Lhasa eingedrungen und hatte die allgemeine Anspannung um einiges erhöht.

Gerüchte machten die Runde, dass die Chinesen die Absicht hätten, den Dalai-Lama zu ergreifen, ihn aus Tibet zu entführen und einzusperren. Ins Exil verbannte tibetische Regierungsangehörige reagierten, indem sie Hilfe bei ihren wichtigsten Unterstützern suchten, der CIA.

Seit Jahren hatte die Central Intelligence Agency im Exil lebende tibetische Führungspersönlichkeiten unterstützt und die Guerillas mit Waffen versorgt, um Informationen über das chinesische Atombombenprogramm zu sammeln. Nun, da örtliche Hilfstruppen aktiv wurden, befürwortete die CIA den Versuch, den Dalai-Lama außer Landes und in Sicherheit zu bringen.

Die Tibeter, die für diese Mission ausgewählt wurden, waren der CIA bestens bekannt. Man hatte sie um die halbe Erde nach Colorado geflogen, wo sie in den Rocky Mountains zu Fallschirmspringern ausgebildet wurden. Chodron war einer der ersten Absolventen dieser Ausbildung und machte dank seiner Kenntnisse im Umgang mit Funkgeräten eine schnelle und steile Karriere.

Während er seine Pistole schussbereit in der Hand hielt, hörte Ram das Schnaufen und Stampfen eines ausgewachsenen Yaks, das über ein Feld neben dem Kloster wanderte. Die Geräusche erinnerten ihn an die Hereford-Rinder, die er auf den Weiden in den Bergen Colorados gesehen hatte. Und genussvoll rief er sich den Verzehr des ersten Beefsteaks ins Gedächtnis, das ihm in einer Autoraststätte in der Nähe von Vail serviert worden war.

Dann aber verdrängte er dieses Bild wieder aus seinem Bewusstsein, als sich einer seiner Mitstreiter in dunkler Tarnkleidung von der Seite anschlich, sich neben ihm ausstreckte und ihn am Ellbogen antippte.

»Hinten ist alles klar«, flüsterte der Mann.

»Okay. Dann sollten wir jetzt reingehen. Raj und Tagri sollen vor dem Eingang Posten beziehen und die Umgebung sichern, während wir im Innern des Gebäudes suchen.«

Der Guerilla nickte und gab die Anweisungen an zwei Männer mit Gewehren weiter, die sich hinter ihnen in die Schatten drückten. Er folgte Ram, als dieser sich erhob und sich dann geduckt dem Eingang zum Kloster näherte.

Niemand wusste, wie lange dieser Ort schon als heilige Stätte betrachtet wurde, aber das derzeitige Kloster stand bereits seit fast vierhundert Jahren auf seinem Platz. Es war ein bescheidenes, schlichtes Bauwerk am Fuß der Berge am nördlichen Stadtrand. Ram betrat es durch offene blutrot lackierte Türen und gelangte auf einen weitläufigen Innenhof. Stufen im hinteren Teil des Hofs führten zu Kapellen auf beiden Seiten, während sich an einem Flur im ersten Stock die Wohnquartiere der Mönche befanden.

Ein Feuer flackerte neben der Kapelle auf der linken Seite, und der Duft von Weihrauch erfüllte die Luft. Ram drückte sich an die Wand und schlich an ihr entlang zu den hinteren Treppen. Durch eine Türöffnung drang ein Rascheln zu ihm heraus, und er erstarrte. Eine Gestalt erschien auf der Treppe, offenbar nicht ganz sicher auf den Füßen.

Es war ein chinesischer Soldat, der ein Gewehr mit altmodischem Kammerverschluss in der Hand hielt. Er deutete mit der Mündung in Rams Richtung. »Wer ist da?«, rief er in leicht lallendem Mandarin.

Es war zu dunkel, als dass Ram die blutunterlaufenen Augen hätte erkennen können, aber der Mann kam nahe genug heran, sodass er den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. Die .38er in seiner Hand richtete sich aufwärts und spuckte zwei gedämpfte Feuerstöße aus. Der Kopf des Soldaten kippte nach hinten, und er sackte zu Boden. Sein Gewehr landete mit einem Klappern neben ihm auf dem Steinboden.

»Versteck ihn«, raunte Ram seinem Partner zu, der mit schnellen Schritten an seiner Seite erschien.

Ram ging weiter zur Kapelle und näherte sich dem kleinen Feuer, das in einem behelfsmäßigen Eisenring brannte, um den Soldaten Wärme zu spenden. Seine Flammen zauberten tanzende Schatten auf die Wände am hinteren Ende der Kapelle, wo sich ein erhöhter Altar erhob, der mit Kerzen geschmückt war. Der Raum schien leer zu sein. Dann drang ein Lichtstrahl aus einem Seitenraum. Ram brachte seine Pistole in Anschlag und drückte sich hinter eine Steinsäule, während sich eine Gestalt näherte. Ram wartete, bis der Mann ihn passiert hatte, dann sprang er hinter der Säule hervor und drückte dem Eindringling die Mündung seiner Pistole gegen die Wirbelsäule.

»Gibt es Ärger?«, fragte der Überrumpelte. Er wandte sich zu Ram um.

Im Licht seiner kleinen Kerze war ein älterer Mann zu erkennen, mit rasiertem Schädel und bekleidet mit dem roten Gewand eines Mönchs. Ungewöhnlich breitschultrig, musterte er Ram mit ruhigem, stetigem Blick.

Ram ließ die Pistole sinken und neigte den Kopf, als wollte er sich für seine Anwesenheit an diesem Ort entschuldigen. »Ich suche das Nechung-Orakel«, sagte er in der tibetischen Muttersprache des Mönchs.

»Hier ist das Orakel nicht«, erwiderte der Mönch. »Es hat sich vor zwei Tagen zum Potala-Palast begeben, um dort den Dalai-Lama zu treffen. Bisher ist es nicht zurückgekehrt.« Der Mönch betrachtete die dunkle Uniform des Guerillas. »Sind Sie hier, weil Sie ihm helfen wollen?«

Ram nickte. »Es heißt, dass die Chinesen die Absicht hätten, den Dalai-Lama und seine Berater einzukerkern. Wir sind hergekommen, um ihm die Flucht zu ermöglichen.«

Der Mönch nickte. »Das Orakel hat eine unmittelbar drohende Gefahr vorausgesagt.«

Ein Walkie-Talkie an Rams Gürtel summte, und eine von lautem Knistern verzerrte Stimme erklang. »Rothirsch, hier ist Schneeleopard. Die Zielperson hat sich vor unserer Ankunft entfernt. Wir befinden uns zurzeit unter heftigem Beschuss. Wir gehen zum Fahrstuhl. Ich wiederhole, wir gehen zum Fahrstuhl.«

»Rothirsch bestätigt, verstanden zu haben«, erwiderte Ram. »Wir machen uns auf den Weg.«

Knirschend biss Ram die Zähne zusammen. Der Plan sah vor, dass sie mit einem Vorauskommando hätten zusammentreffen sollen, das bereits am Vortag mit Fallschirmen abgesprungen war, aber die Männer hatten sich nicht am Rendezvouspunkt blicken lassen.

Jetzt ergab das Versäumnis einen Sinn. Irgendetwas musste schiefgegangen sein. Vielleicht hatten die Chinesen einen Tipp erhalten. Das Vorauskommando war entweder gefangen genommen worden oder es hatte es fertiggebracht, den Dalai-Lama zu Fuß aus Lhasa herauszuschmuggeln. Ram blickte in die ersterbenden Flammen des Feuers und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, Letzteres möge der Fall sein. So oder so war ihre eigene Mission nun sinnlos geworden.

Ram befestigte das Walkie-Talkie wieder an seinem Gürtel und sah den Mönch an. »Sind der Dalai-Lama und das Orakel bereits aus Lhasa geflohen?«

Der Mönch nickte. »Ich glaube, mit einer solchen Möglichkeit ist durchaus zu rechnen.«

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Thupten Gungtsen. Ich bin der khenpo für das Kloster und der Assistent des Orakels.«

Als Abt des Klosters und leitendem Administrator drohte Gungtsen ständig Gefahr.

»Ihr Leben ist nicht mehr viel wert, sobald die Chinesen bemerken, dass der Dalai-Lama geflohen ist. Sie müssen mit uns kommen.«

Der Mönch bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Ich bin nicht wichtig, aber dem Nechung-Götterbild darf nichts zustoßen.«

Er deutete über die Schulter hinter sich auf den Altar. In einer Wandnische darüber stand eine dunkle Statue. Ram erkannte in ihr Pehar, eine tibetische Gottheit, auch bekannt unter dem Namen Nechung und damit zugleich die Namensgeberin des Klosters. »Ohne dieses Götterbild kann das Orakel seine Aufgabe nicht richtig erfüllen. Wir müssen die Statue unbedingt zu ihm bringen.«

Ram blickte über den Tempelhof und nickte. »Beeilen Sie sich.«

»Ich brauche Ihre Hilfe.« Gungtsen machte auf dem Absatz kehrt. Er durchquerte die Kapelle gemessenen Schrittes und blieb vor der Wandnische stehen. Darin stand das dicke und schwere Standbild, umringt von einer Ansammlung kleinerer Statuen von gleicher Farbe.

Ram hatte den Tempel bereits als Junge wiederholt aufgesucht, aber er war dem alten Artefakt noch nie so nahe gekommen. Es war gut einen halben Meter groß und aus einem glänzenden schwarzen Stein herausgehauen worden. Der Mönch kniete vor der Statue nieder und begann ein Gebet zu murmeln, aber Ram ging zu ihm hin und zog ihn auf die Füße hoch. »Dazu haben wir jetzt keine Zeit mehr.«

Der Mönch nickte und sammelte die kleineren Gottheiten ein. Er wickelte sie in ein goldenes Altartuch und reichte das Bündel an Ram weiter. Der Guerilla stopfte das Bündel in seine Jacke, stellte überrascht fest, wie schwer es war, und trieb den Mönch zur Eile an.

Gungtsen wickelte ein anderes Tuch um das Nechung-Götterbild, dann lud er es sich auf die Schulter. Nachdem er es zurechtgerückt hatte, sah er Ram auffordernd an. »Ich bin bereit.«

Sie verließen die Kapelle, vor der Guerilla Nummer zwei im Innenhof des Tempels stand und auf sie wartete. Während sie durch den Vordereingang des Klosters hinausgingen, wurde aus wenigen Schritten Entfernung ein einziges Mal geschossen. Auf der anderen Seite der breiten Lehmstraße kam ein bewaffneter Mann in grüner Tarnkleidung aus den Schatten herausgestolpert und stürzte zu Boden.

Der Guerilla namens Tagri tauchte hinter einem Busch auf, mit der Hand einen M1-Karabiner umklammernd. »Er musste auf eine Patrouille achten, die hier entlangkommt.«

Seine Worte erhielten ihre Bestätigung, als ein heiserer Ruf durch die Straße hallte, gefolgt vom Knirschen schwerer Stiefel auf Schotter und Geröll.

»Das Orakel ist nicht hier«, sagte Ram. »Wir müssen das Flugfeld erreichen.«

»Was ist mit der feindlichen Patrouille?«, wollte Tagri wissen.

»Um die kümmern wir uns hier schon.«

Ram ergriff den Mönch am Arm und zog ihn hinter eine Säule. Er schob seine Pistole um die steinerne Rundung und zielte mit dem Colt auf das ferne Ende der Straße. Hinter ihm kauerte der Mönch und flüsterte ein Gebet.

Die chinesische Patrouille war klein, lediglich drei junge Männer, die mit russischen Gewehren bewaffnet waren. Ihre mangelhafte Ausbildung zeigte sich, als sie alle zu ihrem gefallenen Kameraden hinrannten und ihn mit zum Himmel gerichteten Gewehren umringten.

Ram nutzte ihre Dummheit ungerührt aus. Er zielte mit seinem .38er auf den Soldaten, der ihm am nächsten stand, und feuerte drei Schüsse ab. Die erste Kugel traf den Mann in der Schulter, während die beiden nächsten ihn verfehlten.

Aber das spielte jetzt keine Rolle. Die anderen Tibeter eröffneten das Feuer mit ihren Karabinern und streckten alle drei chinesischen Soldaten bereits mit der ersten Salve nieder.

Ram zog den Mönch am Ärmel hinter sich her. »Kommen Sie hier entlang.«

Er wartete, bis der Mönch sich die Götterstatue wieder auf die Schulter geladen hatte. Das Kloster hinter sich lassend, führte Ram sie an den Toten vorbei, während die anderen Guerillas in lockerer Formation einen Schutzwall um sie herum bildeten.

Das Nechung-Kloster stand auf einer flachen Anhöhe am nordwestlichen Rand von Lhasa. Das improvisierte Flugfeld befand sich östlich davon hinter einer Hügelkette. Der direkte Weg dorthin wäre um einiges kürzer gewesen, aber Ram wollte es vermeiden, von überlegenen Streitkräften in vollkommen freiem Gelände überrascht zu werden. Aus Geheimdienstberichten hatten sie entnehmen können, dass während der letzten Tage ein ganzes Bataillon Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee nach Lhasa verlegt worden war.

Der Lehmstraße folgend, führte er die Gruppe den Berghang hinunter in die relative Deckung der tiefer gelegenen Stadtlandschaft. Im Südosten, wo der imposante Potala-Palast auf einer felsigen Anhöhe stand, erklang heftiges Gewehrfeuer. Ram hoffte, dass die dortigen Kampfhandlungen die Chinesen von ihrem geplanten Fluchtweg fernhielten.

Als sie eine Nebenstraße erreichten, die mit Einkaufsläden und Wohnhäusern gesäumt war, bogen sie ab und folgten ihr nach Osten. Um diese späte Uhrzeit war die Straße dunkel und verlassen. Die Gruppe legte ein rasantes Tempo vor, hielt dabei jedoch weiter wachsam nach feindlichen Soldaten Ausschau. Trotz der schweren Last auf seinen Schultern hielt der Mönch das Tempo offenbar mühelos mit.

Beim Geräusch eines sich nähernden Automobils ging die Gruppe in den nächsten Hauseingängen in Deckung. Ein chinesischer Militärlastwagen bog in hohem Tempo um eine Straßenecke. Ein halbes Dutzend Soldaten klammerte sich an die seitlichen Klappgitter seiner Ladefläche.

Ram spürte, wie sich der Mönch neben ihm in den Eingang eines Stoffladens zwängte, und registrierte die athletische Gestalt des Mannes unter seinem Gewand. »Sie stammen aber nicht aus Lhasa«, stellte Ram fest.

»Nein, aus einem kleinen Dorf in Amdo.«

»Sind Sie ein Golok?«

Der Mönch nickte.

Ram kannte die Region und die Stammesangehörigen, die dort wohnten. Von den Goloks wusste man, dass sie die zähesten Kämpfer in Tibet waren, und Ram konnte auch erkennen, weshalb.

Der Lastwagen rollte mit hohem Tempo und unbekanntem Ziel an ihnen vorbei. Ram sah auf die Uhr, während sich der Staub, den das Fahrzeug mit seinem grobstolligen Reifen aufgewirbelt hatte, wieder setzte. Das Guerilla-Team war im Begriff, zu spät zu seinem Rendezvous zu kommen.

»Los«, trieb er seine Leute an. »Wir müssen einen Zahn zulegen.«

Das Team verfiel in Laufschritt und passierte mehrere Häuserblocks. Die Gebäude wurden auf der linken Seite weniger und gaben den Blick auf weite Felder frei, die sich bis an den Fuß der benachbarten Berge erstreckten. Aus dieser Richtung drang noch immer der Lärm von Gewehrfeuer zu ihnen, allerdings war es mittlerweile von Südwesten direkt in ihre Marschrichtung gewandert.

Ram vollführte einen Schwenk, um die Straßen zu verlassen und in die Berge zu ihrer Linken vorzurücken. Er führte sein Team einen felsigen Berghang hinauf. In dem steilen Gelände kamen die Männer schnell außer Atem. Gungtsen, der die Nachhut bildete, hatte sichtlich Mühe, seine Last zu bewältigen, schaffte es jedoch, den Anschluss zu halten. Nachdem sie den Grat einer felsigen Erhebung erreicht hatten, gelangten sie auf eine hochgelegene Ebene. In nicht allzu weiter Entfernung entdeckte Ram eine blaue Lichtquelle.

Sie hörten das kratzende Geräusch eines Flugzeugmotors, der angelassen wurde und zum Leben erwachte, gefolgt von einem zweiten. Mehrere Mündungsblitze und gleichzeitige Explosionslaute aus dem Dunkel hinter dem blauen Licht machten ihm klar, dass dies ein Wettlauf auf Leben und Tod werden würde.

Eine zweite blaue Lichtquelle kam in Sicht, während sie über die kahle Hügelkuppe hasteten, und dann war ein matter Lichtschein im Innern des Flugzeugs zu erkennen. Das Gewehrfeuer wurde lauter, während sie sich der C-47 näherten.

»Werden Sie es schaffen?«, fragte Ram den Mönch.

Die Statue lastete schwer auf den Schultern des alten Mannes, doch der stille Mönch erwiderte mit fester Stimme: »Aber sicher.«

Als die Gruppe die lang gestreckte Ebene erreichte, die als Rollbahn benutzt wurde, wirbelte der Wind Eisnadeln hoch, die ihre Rücken massierten. In der Nähe des weiter entfernten blauen Lichts konnten sie die C-47 sehen und hören. Kleine Rauchwölkchen stiegen von den Triebwerksgondeln hoch, während Worthington und Baker das Flugzeug startklar machten. Eine kleine Gruppe von Männern drängte sich vor der offenen Rumpftür und begann schon hineinzuklettern, als das Flugzeug sich allmählich in Bewegung setzte.

Rams Walkie-Talkie krächzte. »Rothirsch. Wir sind am Startpunkt. Wir müssen abheben. Wo seid ihr?«

»Unterwegs und gleich bei euch«, rief Ram. »Halt die Maschine zurück.« Er wandte sich zu seinem Team um. »Im Laufschritt. Schnell, schnell.«

Die Guerillas lösten ihre Formation auf und sprinteten los. Ram wartete, um in der Nähe des Mönchs zu bleiben, der einige Schritte zurückgefallen war. Trotz seiner Last bewies Gungtsen eine erstaunliche Fitness und holte schnell zu den anderen Männern auf.

Während sich das Flugzeug nach und nach vor ihnen aus der Dunkelheit schälte, flammte ein wahres Feuerwerk von Mündungsblitzen in der Dunkelheit am Ende der Rollbahn auf. Ein halbes Dutzend chinesische Soldaten hatte den Rand am Ende des Feldes erklommen und nahm nun das Flugzeug unter Beschuss. Niemand brauchte Rams Männer anzutreiben, schneller zu rennen, während Kugeln den Untergrund um sie herum aufwühlten.

Der letzte Guerilla des anderen Teams, der darauf wartete, an Bord klettern zu können, streckte sich unter der Tragfläche auf dem Boden aus und sorgte für wirkungsvollen Feuerschutz, in dessen Verlauf es ihm gelang, mehrere chinesische Gewehre zum Schweigen zu bringen. Dies reichte aus, um den drei Männern von Rams Team die Möglichkeit zu verschaffen, sich unbeschadet dem Einstieg zu nähern und sich mit einem Hechtsprung an Bord in Sicherheit zu bringen.

Ram und Gungtsen hatten das Heck des Flugzeugs fast erreicht, als der Mönch stolperte und hinstürzte. Das Nechung-Götterbild rutschte von seiner Schulter herunter, rollte ein Stück und blieb vor ihm im Gras liegen.

»Sind Sie getroffen worden?«, rief Ram über den Lärm der Flugzeugmotoren hinweg. Er blieb stehen, bückte sich, ergriff Gungtsens Arm und zog den Mann auf die Füße hoch.

»Nein, ich bin gestürzt.«

»Steigen Sie ins Flugzeug ein. Ich hole die Statue.«

Er schob den Mönch vor sich her, dann streckte er die Hände aus, um die Tempelstatue aufzuheben. Die Twin Wasps der C-47 heulten auf, als Worthington Vollgas gab, um den Start einzuleiten. Eine Wolke aus Staub und Schnee, die Ram ins Gesicht geschleudert wurde, blendete ihn, während er das Götterbild schulterte. Er kämpfte sich auf die Füße, aber gleichzeitig entfernte sich das Flugzeug. Der Mönch hatte kaum die Türöffnung erreicht, als er in den Flugzeugrumpf gehievt wurde und die Maschine Fahrt aufnahm.

Ram rannte hinter der Maschine her und kämpfte mit dem Gewicht der Statue. Er konnte kaum glauben, dass der alte Mönch diesen schweren Artefakt vom Kloster bis zum Rollfeld geschleppt hatte, ohne dass ein einziger Klagelaut über seine Lippen gekommen war. Die Statue war schwer, viel schwerer, als es ihm vorgekommen war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ihr Gewicht lähmte Rams Beine so sehr, dass er das Gefühl hatte, sie steckten in einem tiefen Sumpf fest.

Aber er musste sich bewegen, und das sofort, denn die Maschine entfernte sich immer schneller von ihm. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und blickte durch die wirbelnden Staubwolken. Das Feuerwerk der Mündungsblitze am Ende des Flugfeldes hatte nicht nachgelassen. Das Dröhnen der Antriebsaggregate füllte seine Ohren, während Ram sämtliche Kraftreserven mobilisierte, um den Laufschritt beizubehalten. Mühsam sprintete er neben dem Rumpf der C-47 her. Als er sich Zentimeter für Zentimeter nahe genug an die Frachttür herangearbeitet hatte, wuchtete er die Statue durch die Öffnung.

Bei dieser Aktion stolperte er beinahe, fing sich jedoch schnell wieder, während das Flugzeug ihn schon hinter sich ließ.

Tagri erschien in der Türöffnung. »Komm schon, Ramapurah, du kannst es schaffen!«, rief er.

Ram hatte das Gefühl, er werde jeden Moment zusammenbrechen, raffte jedoch seine letzten Energiereserven zusammen und streckte sich in einem verzweifelten Sprung nach der Tür, während sich das Heck der Maschine bereits vom Untergrund löste. Seine Finger krampften sich um den Türrahmen, und er spürte, wie er unaufhaltsam abzurutschen begann, aber Tagri und ein anderer Guerilla packten die Ärmel seiner Kampfjacke, und gemeinsam zogen sie ihn in den Flugzeugrumpf hinein.

»Bleib unten!«, brüllte ein Mann.

Ausgestreckt auf dem Bauch liegend und mühsam nach Luft ringend, befand sich Ram nicht in der Position, sich der Aufforderung zu widersetzen.

Das Flugzeug raste über die Behelfsrollbahn und erhob sich schwerfällig taumelnd in die Luft. Doch während es beängstigend langsam an Höhe gewann, nahmen die Chinesen, die seine Verfolgung aufgenommen hatten, es unter heftigen Beschuss. Zwei der tibetischen Guerillas wurden getroffen, als Einschusslöcher in die Aluminiumhaut der C-47 gestanzt wurden.

Im Cockpit zog Baker reflexartig den Kopf ein, als eine Kugel durch die Windschutzscheibe drang und seinen Schädel nur um Millimeter verfehlte. Während die Lichter von Lhasa unter ihnen wegtauchten, fuhr er das Fahrwerk ein und blickte durch das Seitenfenster. Sekundenlang beobachtete er den wirbelnden Propeller und überflog dann mit schnellem Blick eine Gruppe Anzeigeinstrumente auf der Kontrolltafel direkt vor ihm. »So wie es aussieht, verliert Motor Nummer zwei Öl. Momentan ist der Druck aber noch konstant.«

Worthington klammerte beide Hände unverrückbar um den Steuerknüppel, sein Körper war so angespannt wie eine Stahlfeder, und er hatte den Blick konzentriert auf das Dunkel vor sich gerichtet. »Auch die rechte Landeklappe lässt sich nicht mehr richtig bedienen. Aber immerhin, wir sind in der Luft. Ich hatte eigentlich mit weitaus Schlimmerem gerechnet.«

Schlimmeres stellte sich zwanzig Minuten später ein, als die Piloten aus Richtung des Steuerbordmotors ein hohles Husten vernahmen. Baker tippte auf das Deckglas eines der Öldruckmessgeräte. »Der Öldruck ist im roten Bereich, und ebenso die Temperatur.« Er wandte den Kopf zum Seitenfenster und fasste den Motor ins Auge. Schwarzer Qualm drang zwischen den Lamellen des Motorgehäuses hervor. »Das sieht nicht gut aus«, sagte er, einen Anflug von nervöser Anspannung in seiner sonst ruhigen Stimme.

»Okay«, entschied Worthington. »Schalte ihn aus. Wir müssen versuchen, uns mit einem Motor über die Berge zu quälen.«

Baker vollzog die einzelnen Schritte der Motorabschaltprozedur und drehte die Propellerflügel in den Wind, um den Luftwiderstand des stillgelegten Propellers so weit wie möglich zu verringern. Worthington richtete sich in seinem Sitz auf, erhöhte behutsam die Drehzahl des Backbordmotors und begann mit dem Steuerknüppel den leichten Linksdrall der Maschine auszugleichen.

Eine vollständig beladene C-47 mit nur einem funktionierenden Motor in der Luft zu halten, war selbst bei guten Wetterbedingungen ausgesprochen schwierig. Glücklicherweise befanden sich nur wenige Passagiere und keine nennenswerte zusätzliche Fracht an Bord. Aber die sonstigen Bedingungen waren alles andere als günstig. Das Wetter war stürmisch, und sie hatten gegen die in dieser Höhe deutlich dünnere Luft zu kämpfen. Zudem lag die mächtige Barriere des Himalaya noch vor ihnen.

Sie hatten die südöstliche Hinflugroute nach Darjeeling auf der indischen Seite des Himalaya gewählt. Von Lhasa war es ein halbstündiger Flug über das ziemlich ebene Central Tibetan Plateau, ehe sich ihnen die Gipfel des Himalaya in den Weg schoben.

Die aufragende Gebirgskette war in der nächtlichen Dunkelheit und bei dem zunehmend dichteren Schneegestöber nicht zu sehen. Die Windverhältnisse über dem Himalaya waren heimtückisch und unberechenbar, aber der Frühjahrsschneesturm verstärkte ihre Gefährlichkeit deutlich. Eisnadeln prasselten gegen die Windschutzscheibe, während Querwinde die Maschine von allen Seiten attackierten und vom Kurs abzubringen drohten. Der Navigator der C-47 gab ständig neue Kurskorrekturen durch, während er einer Zickzack-Route folgte, die in ausreichendem Abstand zwischen den Bergspitzen hindurchführte.

Während sich die Frachtmaschine der ersten Bergkette näherte, hob ein willkommener starker Aufwind sie auf eine komfortable Flughöhe. Worthington hatte schon früher versucht, mit dem Steigflug zu beginnen, musste seine Bemühungen jedoch bei neunzehntausend Fuß abbrechen, weil mit einem einzigen Motor eine größere Flughöhe nicht zu erreichen war. Daher verzog sich seine Miene zu einem erleichterten Lächeln, als er verfolgen konnte, wie die Nadel des Höhenmeters sich gerade der Zweiundzwanzigtausend-Fuß-Marke näherte.

»Schaffen wir es?«, fragte Baker, der beobachtete, wie Worthington unbewusst nickte, während er den Höhenmeter fixierte.

»Dazu besteht berechtige Hoffnung – ohne Scherz.« Der erfahrene Pilot wusste, wie launisch die Winde über dem Bergmassiv sein konnten. Was sie im einen Augenblick an Hilfe bereitstellten, mochten sie wenige Minuten später schon wieder streichen.

Den Insassen der C-47 drehte sich der Magen um, als die Maschine mehrere hundert Fuß absackte und – wie es schien – in einen Luftwirbel geriet. Der Wind kam aus mehreren Richtungen und hämmerte wie ein Preisboxer von allen Seiten auf die Maschine ein. Das Schlimmste war ein seitlicher Aufwind, der die Maschine auf Grund ihres unausgeglichenen Antriebs auf den Rücken zu kippen drohte.

Aber Worthington ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Mit sicherer Hand an den Kontrollen wehrte er die Schläge ab und hielt das Flugzeug in horizontaler Lage, bis es von der nächsten Windböe erfasst wurde. Er hoffte nur, dass die Guerillas hinten in der Frachtkabine sich an den Innenwänden angeschnallt hatten.

»Position?«, rief Worthington ins Mikrofon seines Headsets, während er weiter angestrengt in die Schwärze vor ihnen starrte.

»Wir sollten eigentlich achtzehn Meilen südlich von Kangmar sein«, meldete der Navigator. »Und uns der ersten Hochgebirgskette nähern.«

Mehrere Minuten lang war ihr Flug ruhig und gleichmäßig. Dann, ohne Vorwarnung, packte ein starker Abwind die Maschine wie eine gigantische Hand und drückte sie auf die Erde hinab. Worthingtons Augen weiteten sich entsetzt, während die Höhenmeternadel wie ein Kreisel rotierte und bei achtzehntausendfünfhundert Fuß stehen blieb. Es war eine Höhe weit unterhalb der Gipfel einiger Berge in ihrer Umgebung und auf ihrem Weg.

Der Pilot schob den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn und zog am Steuerknüppel, um schnellstens an Höhe zu gewinnen. Das Manöver erfolgte jedoch zu spät.

Mit einem dumpfen Laut setzte das Heckrad auf festem Untergrund auf. Wie durch ein Wunder streifte das Rad nur den Boden, und das Heck brach nicht auseinander, während das Flugzeug seine Geradausrichtung beibehielt und wieder in die Luft sprang.

In der Frachtkabine saß Ram auf dem Boden und beobachtete Gungtsen, der ihm gegenüber hockte und das Nechung-Götterbild in den Armen hielt, bis ein weiterer heftiger Stoß den Mönch über die Aluminiumplatten des Frachtraumbodens katapultierte. Der Aufprall entriegelte gleichzeitig die Frachtraumtür, die hinter seinem Rücken aufsprang. Während das Flugzeug nach rechts taumelte, rutschte Ram auf die Türöffnung zu. Er spreizte die Arme, um sich an den Türrahmen zu klammern, aber sein Schwung war zu groß. Er flog durch die Tür und stürzte ins Leere hinaus.

Der kalte Wind und der Schnee attackierten seinen Körper, während er in einen wilden Mahlstrom hinabtauchte. Eispartikel trafen seine Augäpfel und blendeten ihn. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, und seine Arme bewegten sich in dem vergeblichen Versuch, sie als Flügel zu benutzen.

Das Röhren der einmotorigen Maschine verhallte zu einem leisen Rumpeln, dann zerriss ein lautes Krachen und Knirschen die Nacht. Er hatte kaum Gelegenheit, sich über dessen Ursache klar zu werden, als er auf der unsichtbaren Erde aufschlug. Während er über Schneewälle und Eisrippen talwärts rutschte und rollte, verschwanden die Schatten und Geräusche in seiner Umgebung und schließlich auch die Schmerzen in seinem gepeinigten Körper, als er von einem schwarzen bodenlosen Abgrund verschlugen wurde.

TEIL I

1

Kosmodrom Wengchang Hainan, China Oktober 2022

Nach ihrem Start beschrieb die Rakete einen eleganten Bogen, während das Donnern ihres Feststoffantriebs durch den frühmorgendlichen Himmel hallte. Es war keine große Rakete, kaum sechs Meter lang, und sie wurde von einer Reservestartplattform der weitläufigen Küstenbasis auf die Reise geschickt, von der aus gewöhnlich riesige Satellitenträgerraketen aufstiegen. Aber für all jene, die diesen Flug beobachteten, war die Rakete um einiges wichtiger als der jüngste Spionagesatellit.

Der Flammenschweif, den sie hinter sich herzog, war innerhalb weniger Sekunden nicht mehr zu sehen. Doch die Kameras eines Beobachtungsflugzeugs verfolgten ihren Weg hinaus auf die offene See, unterstützt von Satelliten, die den Start ins Visier genommen hatten und jede Phase überwachten. Die fernen Linsen im All waren auf die Rakete gerichtet, als der Flammenschweif plötzlich erlosch und sie ihren Weg für kurze Zeit stumm fortsetzte. Ein naher Beobachter hätte bei ihrem Vorbeiflug einen Überschallknall hören können, gefolgt von einem Motorrauschen, das nun von dem fauchenden Geräusch des verbrennenden Flüssigkeitstreibstoffs begleitet wurde. Aber der Gehörsinn des Beobachters hätte schon empfindlich sein müssen, da die Rakete mit einer Geschwindigkeit von mehr als einer Meile pro Sekunde ihrem Kurs folgte.

In einem Operationsraum zwölfhundert Meilen entfernt im Pekinger Raumfahrtkontrollzentrum verfolgte General Xu Junhai den Flug der Rakete auf einem großen Videobildschirm. Kameras mit extremer Reichweite, die sich auf Hainan und auf Schiffen im Südchinesischen Meer befanden, zeichneten lediglich einen winzigen Fleck auf, als die Rakete beschleunigte und außer Sicht geriet. Xu wandte sich an einen der zahlreichen Wissenschaftler im Operationsraum, der vor einer Instrumententafel saß und die Telemetriedaten des Raketenflugs überwachte. »Ist der Motor angesprungen?«

Der Ingenieur, eine schmächtige Erscheinung mit dicken, rechteckigen Brillengläsern, nickte, ohne aufzublicken. »Ja, Genosse General. Die Dragonfly hat erfolgreich von Feststoffantrieb auf den Scramjet-Modus umgeschaltet.«

»Geschwindigkeit?«

»Knapp über achtundzwanzigtausend Kilometer pro Stunde und zunehmend.«

Der General drehte sich wieder zu dem Videobildschirm um, wo ihm eine kleine Rauchwolke ins Auge sprang, die auf der Flugbahn der Rakete kurz hochwallte und sich dann auflöste. »Was war das?«

Auf seine Frage folgte eine längere Pause. Dann gab sich der Ingenieur einen Ruck. »Der Datenfluss wurde unterbrochen. Wir … wir haben es wahrscheinlich mit einer Fehlfunktion zu tun.« Aus Angst, dem General in die Augen zu blicken, hielt der Techniker den Kopf gesenkt. »Der Flug ist offenbar abgebrochen worden.«

Der General, ein humorloser Mann von sechzig Jahren, der sein schütteres Haar mit Pomade nach hinten gekämmt trug, konnte sein Missfallen nicht verbergen. »Abgebrochen?«, fragte er mit dröhnender Stimme. »Schon wieder?«

Es war der dritte Fehlschlag nacheinander bei diesem Raketenprototyp.

Der Ingenieur nickte.

Der General blickte zu einem korpulenten Mann in Uniform hinüber, der auf der anderen Seite des Raums stand und sich mit dem Flugdirektor unterhielt. »Oberst Yan.«

Oberst Yan Xiaoming wandte sich um und näherte sich dem General in der schicksalsergebenen Haltung eines Mannes, auf den der Galgen wartete.

Der General funkelte ihn drohend an. »Berichten Sie mir, was geschehen ist.«

»Wir sind noch dabei, alle Daten zu sammeln und zu analysieren, Genosse General«, sagte Yan, »aber es scheint ein Flugfehler während der Beschleunigungsphase nach der ersten Hälfte des Testflugs gewesen zu sein.«

»Das blieb mir nicht verborgen. Und was ist die Ursache gewesen?«

Der Oberst starrte auf das Klemmbrett, das er krampfhaft umklammerte. »Vorab protokollierte Messwerte deuten auf eine mögliche Schwachstelle in der wärmeisolierenden Bleiverkleidung hin. Aber der Flugkörper setzte kurz vor dem Defekt eine neue Geschwindigkeitsmarke.«

»Ein thermaler Defekt? Das war doch schon die Ursache des letzten Fehlschlags, oder? Mir wurde versichert, dass dieses Problem gelöst worden sei.«

»Das Ganze ist eine ziemlich heikle Geschichte, wie wir immer wieder … neu feststellen müssen.«

Der General deutete mit einer Hand auf den Videobildschirm, auf dem nur noch ein leerer Himmel zu sehen war. »Der Präsident erwartet, heute eine Erfolgsmeldung zu hören.« Er ließ die Worte auf seinen Untergebenen wirken. »Dies ist Ihr dritter Fehlschlag, Genosse. Er wird außerdem ihr letzter sein. Was kann ich dem Präsidenten melden, wann diese Probleme beseitigt sein werden?«

»Ich … ich kann Ihnen zurzeit keine verbindliche Frist nennen. Dr. Liu überprüft mögliche Lösungen. Wir werden nicht ruhen, bis wir Antworten auf die offenen Fragen gefunden haben, Genosse General.«

»Ich gehe davon aus, dass morgen früh ein ausführlicher Bericht über die Fehlerserie auf meinem Schreibtisch liegt«, sagte Xu, »und bis zum Ende der Woche erwarte ich eine grundsätzliche Lösung.« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Kontrollzentrum hinaus, das Gesicht vor Wut gerötet.

Eine unbehagliche Stille breitete sich in dem Raum aus, dann fuhr der Techniker damit fort, die Flugdaten zu untersuchen.

Oberst Yan führte ein Telefongespräch, danach wandte er sich wieder an den Flugdirektor. »Bestellen Sie Dr. Liu, er soll in mein Büro kommen.« Er verließ mit schleppenden Schritten den Raum und warf einen letzten Blick auf den leeren Videobildschirm.

Yan ging nach oben in sein im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes der People’s Liberation Army Rocket Force gelegenes Büro. Als leitendem Manager des Dragonfly-Raketenprojekts stand Yan ein geräumiges, aber weitgehend spartanisch eingerichtetes Arbeitszimmer mit Blick auf einen kahlen Sandplatz zu. Er blickte aus dem Fenster auf eine auf und ab marschierende Kolonne frischer Rekruten der Volksbefreiungsarmee, deren Kakiuniformen die gleiche Farbe hatten wie der lehmige Untergrund, auf dem sie ihre Exerzierausbildung absolvierten.

Yan ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen und suchte in einer Schreibtischschublade nach einer Flasche japanischen Hakushu Single Malt Whiskys, den er von einem Besuch in Hongkong mitgebracht hatte. Er schenkte sich eine größere Portion ein und kippte sie in einem Zug hinunter. Während die feurig brennende Flüssigkeit seine Kehle benetzte und seine Speiseröhre hinabfloss, dachte er über seinen Absturz nach.

Angefangen hatte es mit seiner Geliebten, einer Frau, der er zwei Jahre zuvor in Hongkong vorgestellt worden war, und … mit dem Whisky. Sie war Patentanwältin einer chinesischen Elektronikfirma, die nach Peking verlegt worden war. Zumindest war es das, was sie ihm erklärt hatte. In Wirklichkeit war sie aber eine Agentin des taiwanesischen Militärs gewesen. Dies fand er erst in dem Augenblick heraus, als er hatte entdecken müssen, dass sie bei mehreren Gelegenheiten als geheim eingestufte Dateien von seinem Computer kopiert hatte. Und auch erst nachdem seine Frau sich von ihm hatte scheiden lassen.

Wussten die Führungsgremien der Kommunistischen Partei oder General Xu darüber Bescheid? Als die Frau spurlos verschwand, wurde kein Sterbenswort darüber verloren. Aber in seiner aufsteigenden Karriere kam es zu einem abrupten Stopp. Vorgesetzte ließen ihn ihre Ablehnung spüren, stellten ihn von wichtigen Aufgaben frei, und alte Freunde zogen sich zurück. Nach den bisherigen Fehlschlägen in diesem einzigen Projekt, das er noch weiterverfolgen durfte, stand er nun offenbar kurz davor, alles zu verlieren. Seinen Posten als Projektleiter, seine Mitgliedschaft in der Partei. Vielleicht sogar sein Leben.

Während er die Whiskyflasche wieder verstaute, klopfte es an der Tür. Zwei Männer, an entgegengesetzten Enden der Altersspirale, betraten das Büro. Der erste, weißhaarig und mit einem Laborkittel bekleidet, kam mit schlurfenden Schritten herein. Dr. Liu Zhenli war ein angesehener Raketentechniker, der Anfang der 1970er-Jahre maßgeblich an der Entwicklung der ersten chinesischen ballistischen Interkontinentalraketen beteiligt gewesen war.

Der andere Mann, ein Soldat im Kampfanzug, war hochgewachsen und muskulös. Sein Auftreten verströmte unerschütterliche Selbstsicherheit. Sein Name lautete Leutnant Zheng Yijong, und er war Mitglied des Army Rocket Force Special Operations Command. Außerdem war er Oberst Yans Neffe.

Yan forderte sie mit einer Handbewegung auf, auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Sich an den Mann im weißen Kittel wendend, sagte er: »Wie Sie wissen, hat es beim letzten Startversuch der Dragonfly den nächsten Fehlschlag gegeben. Offenbar sind abermals thermische Probleme die Ursache.« Er verfolgte die präzise abgezirkelten Manöver der in zackigem Gleichschritt marschierenden Rekruten. »Wir stehen unter enormem Erfolgsdruck. Zu weiteren Fehlschlägen darf es nicht mehr kommen.«

»Wir bewegen uns längst an der Grenze der physikalischen Gesetze«, erwiderte Liu, »und versuchen nicht weniger, als sie zu überschreiten. Wir haben innerhalb der Atmosphäre Geschwindigkeiten erreicht, wie sie bei einem suborbitalen Flugkörper niemals für möglich gehalten wurden. Allein dies kann als ein bedeutender technischer Erfolg gewertet werden, weil wir auf dem Weg dorthin das Problem des für eine solche Leistung nötigen Antriebs gelöst haben. Dafür haben wir es jetzt mit einem Materialproblem zu tun.«

»Schmilzt die Rakete?«, fragte Yan.

»So könnte man es ausdrücken. Wie Sie wissen, besteht das wesentliche Problem darin, dass eine innerhalb der Erdatmosphäre mit Überschallgeschwindigkeit fliegende Rakete hochgradigen thermischen Belastungen ausgesetzt wird, vor allem an den Vorderkanten. Die Raketen versagen auf Grund der Hitzeentwicklung, ausgelöst durch die bei hohen Geschwindigkeiten exponentiell ansteigende Luftreibung.«

»Ja, aber unsere ICBM-Raketen überstehen ähnliche Temperaturen beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre unbeschadet, oder nicht? Und sie schmelzen nicht während ihres Flugs.«

»Das ist wahr. Aber sie sind bedeutend größer und mit massiven Schutzschilden ausgestattet, die die hohen Temperaturen ableiten und über eine größere Fläche verteilen. Diese Möglichkeit ist bei einem taktischen Flugkörper wie der Dragonfly aber nicht gegeben. Ein klobiger Hitzeschild würde die Geschwindigkeiten, die wir bereits erreicht haben und noch zu übertreffen hoffen, verhindern.«

»Lässt sich der gleiche Materialtyp«, fragte Yan, »nicht so weit modifizieren, dass er auch bei der Dragonfly verwendet werden kann?«

»Wir haben alle Arten vom Keramik-, Karbon- und Kompositmischungen getestet, aber keine hat den Geschwindigkeiten standgehalten, die unser Flugkörper erreicht.«

»Der Flugdirektor hat angedeutet, dass Sie einer möglichen Lösung des Problems auf der Spur sind.«

»Es war eher eine Art Zufall«, sagte Liu. »Im Labor wurden einige natürliche Verbindungen durchgetestet, und dabei ist man auf eine Probe gestoßen, die sich durch eine erstaunlich hohe thermale Resistenz auszeichnete. Das Ursprungsmaterial zu finden, ist jedoch ein wenig problematisch.«

Zheng räusperte sich, und Liu wandte sich um und musterte den Mann.

Yan lieferte die unausgesprochen geforderte Erklärung. »Dr. Liu, dies ist Leutnant Zheng vom Special Operations Command. Ein besonders einfallsreicher und tatkräftiger Mann. Ich teile ihn dem Dragonfly-Projekt zu, um in jeder erdenklichen Weise dazu beizutragen, dass die Rakete ein Erfolg wird.«

Zheng sah seinen Onkel mit leeren schwarzen Augen und einer zu allem entschlossenen Miene an.

Yan wusste schon, dass Zheng kompetent war und die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen konnte, aber er war gleichzeitig auch ein zu Gewalt neigender Hitzkopf. Er hatte in einer Bar Streit angefangen und einen Mann mit dem Messer niedergestochen und wäre beinahe aus der Armee ausgestoßen worden, hätte sich Yan nicht eingeschaltet. Der Oberst hatte seine Zweifel, was die mentale Stabilität seines Neffen betraf, aber er konnte es sich nicht mehr leisten, wählerisch zu sein. Er brauchte Ergebnisse.

»Leutnant, Sie müssen den Absturzort sichern, dafür sorgen, dass keine Unbefugten Zutritt haben und den Bereich schützen, bis das Bergungsteam der Marine, sobald es eintrifft, die Trümmer ungehindert einsammeln kann. Gleichzeitig«, fuhr er fort und deutete auf den weißhaarigen Ingenieur, »könnten Sie vielleicht ein weiteres Team zusammenstellen, das Dr. Liu dabei behilflich sein wird, das hitzebeständige Material zu beschaffen, das er für seine weitere Arbeit braucht.«

Zheng nickte. »Ich werde mich persönlich um die Sicherung der Absturzstellen kümmern, Genosse Oberst. Ich verfüge auch über das nötige Personal, um Ihnen in der anderen Angelegenheit behilflich zu sein.« Er wandte sich an Liu. »Verraten Sie mir, Genosse Doktor«, fragte er mit einer kehligen Stimme, die Liu an eine Hyäne erinnerte, »wo finden wir den hitzefesten Stoff, den Sie so dringend brauchen?«

Liu lächelte väterlich. »Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vielleicht vorstellen.«

»Weshalb?«, fragte Yan.

Liu ließ sich mit der Antwort einige Sekunden Zeit. Er blickte an dem Oberst vorbei durch das Fenster hinaus auf den braunen Sandplatz.

»Weil es ein Stoff ist«, sagte er schließlich, »der nicht von dieser Welt stammt.«

2

Geistesabwesend trommelte Staff Sergeant Nathaniel Jenkins auf die Platte seines Schreibtisches, als der Monitor seines Computers begann, Pieptöne von sich zu geben. Die Sensoren eines Beobachtungssatelliten hunderte Meilen über dem Südchinesischen Meer hatten den Start einer kleinen Rakete vom Weltraumbahnhof Wenchang aufgezeichnet. Da früher aufgezeichnete Satellitendaten keinerlei Hinweise auf Startvorbereitungen an den Abschussrampen der chinesischen Raketenbasis enthalten hatten, war Jenkins schlagartig hellwach und richtete sich kerzengerade auf.

Während er die Bahn des Flugkörpers verfolgte, rief der Air-Force-Spezialist in schneller Folge ältere Satellitenfotos von der Basis auf und vergrößerte sie. Als Mitglied der 100th Missile Defense Brigade auf der Schriever Air Force Base am östlichen Rand von Colorado Springs war Jenkins einer von Dutzenden Analysten, die die Aufgabe hatten, Raketenstarts überall auf der Welt aufzuspüren und die Wege der Flugkörper zu verfolgen.

Seine Vorgesetzte, eine Frau namens Harrington, im Leutnantsrang und mit kastanienbraunem Haar, hörte das Warnsignal des Computers und trat hinter ihn. »Was haben wir da?«, fragte sie.

»Die Chinesen haben vor sechzig Sekunden irgendetwas Kleines in Wenchang gestartet. Fast zu schwach, um von den Infrarotkameras aufgespürt zu werden, und anscheinend nicht in die Atmosphäre gerichtet. Auf den letzten Fotos von den Rampen waren keine Aktivitäten zu erkennen, daher blieb uns so gut wie keine Zeit, um uns vorzubereiten.«

»Wahrscheinlich ein Marschflugkörper«, sagte Harrington. »Schauen Sie nach, ob Kyogamisaki oder LRDR den Start aufgezeichnet haben.«

Jenkins bearbeitete seine Tastatur und tippte sich durch ein kombiniertes System von Radarstationen und Sensoren, die rund um den Globus positioniert waren, um Bedrohungen durch fremdländische Raketenaktivitäten aufzuspüren. Er schaltete sich in den Datenstrom eines AN/PY-2 Radarsystems in einer Sendestation in der Nähe von Kyoto, Japan ein. »Kyogamisaki kann nur begrenzte telemetrische Daten liefern«, sagte Jenkins. »Das LRDR müsste dagegen einiges aufgezeichnet haben, das uns weiterhilft.«

LRDR, ausgesprochen »larder«, war das Akronym für Long Range Discrimination Radar, ein erst in jüngster Zeit entwickeltes und installiertes Nachverfolgungssystem, das mitten in Alaska stationiert war. Jenkins nickte zufrieden, während das System die beiden Datenströme zusammenfasste und eine visuelle Animation des Flugs der Rakete vor dem Hintergrund des Ozeans erzeugte.

»Der Flug ist beendet«, sagte er, als der Datenstrom des Nachverfolgungsprozesses abbrach. »Flugstrecke etwa siebenhundertzwanzig Meilen.«

Harrington nickte. »Muss ein taktischer Flugkörper sein. Wahrscheinlich eine HN-3.«

»Aber irgendetwas ist trotzdem seltsam und unerklärlich.« Jenkins deutete auf den Monitor. »Die Flugdauer betrug weniger als drei Minuten.«

Harrington betrachtete den Wert der errechneten relativen Geschwindigkeit und schüttelte den Kopf. »Kein herkömmlicher Marschflugkörper kann eine derartige Geschwindigkeit entwickeln.«

Jenkins beugte sich wieder über die Tastatur und fügte weitere metrische Daten aus jedem Radarsystem ein. Auf dem Schirm schuf er zwei Säulen, die die relativen Geschwindigkeiten der Rakete zu verschiedenen Zeitpunkten ihres kurzen Fluges markierten. Er strich mit einem Finger über den Monitorschirm und studierte die jeweiligen Zahlenwerte.

»Ma’am, ich habe die Daten beider Radarsysteme genauestens überprüft. Die Werte liegen vollständig außerhalb jeder bekannten Norm.«

Harrington starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. »Mach 25. Dass kann aber nicht sein. Sind Sie sich ganz sicher?« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes Haar. »Das ist einfach unmöglich.«

Jenkins überprüfte ein weiteres Mal die errechneten Werte, dann blickte er zu seiner Vorgesetzten hoch und nickte bestätigend.

»Gehen Sie noch einmal den gesamten Datenstrom durch, Jenkins. Und drucken Sie danach eine vollständige Analyse aus. Wenn Sie damit fertig sind, soll Corporal Winters Ihren Platz an der Workstation übernehmen.«

»Ja, Ma’am. Und was soll ich tun?«

»Sie schnappen sich die Daten und begleiten mich. Wir müssen den General informieren.«

3

Wie ein greiser Krieger schälte sich das versunkene japanische Kriegsschiff aus dem Dunkel. Seine graue Außenhaut war dunkel und voller großflächiger Verfärbungen, seine Decks waren unter einer dicken Schicht aus Schlick vergraben. Es wirkte überhaupt nicht massig, und seine schlanken und elegant geschwungenen Konturen verliehen ihm einen Ausdruck von Tempo und Gefährlichkeit. Ein Paar Zwillingsgeschütztürme richtete ihre Einhundert-Millimeter-Geschützrohre drohend nach oben. Aber Streifen von Rost, Algenkolonien und eine Schicht aus Muschelschalen und versteinertem Meeresgetier signalisierten, dass dieses Schiff nie mehr zum Tageslicht aufsteigen würde.

»Eindeutig ein Kriegsschiff, was sonst.« Summer Pitt beugte sich zu der Sichtscheibe vor ihr hinunter. »Es sitzt aufrecht auf dem Grund der Schlucht. In der Nähe des Hecks sind Beschädigungen zu erkennen«, fügte sie hinzu, nachdem sie sich einen möglichst gründlichen Überblick verschafft hatte. Summer war groß und attraktiv, mit leuchtend rotem Haar, das auf ihre Schultern herabfiel. Und die Konturen ihres gertenschlanken Körpers waren trotz des grau-blauen Overalls, den sie trug, deutlich zu erkennen.

Neben ihr, genauso groß und schlank, saß ein Mann mit dunklem Haar im Pilotensessel des Unterseebootes. Seine Hände bedienten ein Paar Druckstrahlruder, mit denen er das Boot manövrierte. »Der Größe nach zu urteilen ist das ein Zerstörer«, meinte Dirk, Summers Zwillingsbruder. Er betrachtete das Schiff mit einem Ausdruck freudiger Faszination. »Lass uns ein Video für die Bande oben auf dem Schiff aufnehmen. Vielleicht stoßen wir dabei auf einen Namen oder irgendeine andere Identifikation.«

Unter seiner geschickten Führung glitt das Tauchboot an dem gesamten Wrack entlang. Das gesunkene Schiff war in einem tiefen, engen unterseeischen Canyon verkeilt, und Dirk musste beim Manövrieren aufpassen wie ein Schießhund, dass ihr Tauchboot nicht die steilen Seitenwände der Felsschlucht streifte. Die hinteren Strahlruder wirbelten dichte Sedimentwolken aus den Steilwänden hoch, die sich im Wasser ausbreiteten und die Sichtweite bis auf wenige Meter reduzierten. Er stoppte das U-Boot und hielt es für eine Minute in dieser Position, bis er ihre Umgebung wieder erkennen konnte, dann lenkte er das Boot näher an das Wrack heran, um das tiefe gezackte Loch in der Backbordseite des Kriegsschiffs genauer in Augenschein zu nehmen.

»Man könnte meinen, dass der Kreuzer einen Torpedo verschluckt hat«, sagte Summer, »und vielleicht sogar noch etwas mehr.«

Dirk betrachtete die umfangreichen Schäden. »Vielleicht hat der Treffer das Munitionslager erwischt und gezündet. Jedenfalls muss sie im Rekordtempo gesunken sein.«

Während Dirk die Videoaufzeichnung abschloss, griff Summer auf einen Computer auf der Caledonia zu. Sie war das ozeanographische Forschungsschiff an der Meeresoberfläche, das sie mit allem versorgte, was sie für ihre Erkundungstauchfahrten benötigten. Auch wenn sie deutliche zeitliche Verzögerungen in Kauf nehmen mussten, gestatteten Unterwasser-Transponder den Austausch von Videos, Daten und Sprachkommunikation zwischen dem Tauchboot und seinem Mutterschiff. Summer verknüpfte sich mit dem Computer des Schiffes und benutzte ihn, um auf das Datenarchiv der NUMA zuzugreifen und nach Schiffswracks in der näheren Umgebung zu suchen. Das Zwillingspaar arbeitete für die National Underwater and Marine Agency, kurz NUMA, eine staatliche Organisation, deren Aufgabe darin bestand, alles vom Wettergeschehen über Küstenerosion und -verschmutzung bis hin zum Zustand der ozeanischen Ökosysteme zu überwachen. Summer – als diplomierte Ozeanographin – und Dirk mit seinem abgeschlossenem Schiffsingenieurstudium arbeiteten oft gemeinsam an Projekten, die sie rund um den Erdball führten.

»Das Wrack könnte die Akizuki sein«, sagte Summer. »Sie war ein von den Japanern als Typ-B-Zerstörer bezeichnetes Kriegsschiff, das in der Schlacht von Kap Engaño im Golf von Leyte gesunken ist.«

»Da sind wir hier gar nicht sehr weit entfernt«, sagte Dirk. »Wie ist sie denn gesunken?«

»Genaues weiß man nicht. Sie wurde von Flugzeugen angegriffen, könnte aber auch von einem Torpedo der USS Halibut getroffen worden sein.«

»Ich tippe auf Letzteres.«

Summer grinste. »Ein echter Glückstreffer, vor allem wenn man bedenkt, dass wir gar nicht nach einem Schiffswrack gesucht haben.«

Stattdessen befanden sie sich im westlichen Pazifik, um die Auswirkungen von Unterwasserströmungen auf die Meeresversauerung und die Kohlenstoffspeicherung zu untersuchen. Der gesunkene Zerstörer war im Zuge einer Sonarerkundung des Cagayan Canyon, der sich von der nördlichen Küste von Luzon in den Philippinen in den Ozean erstreckt, aufgespürt worden.

Eintausend Meter über ihnen saß ihr Vater in einem abgedunkelten Operationsraum im Achterschiff der Caledonia und sah sich den von dem U-Boot übertragenen Video-Stream auf einem großflächigen Projektionsschirm an. Als amtierender Direktor der NUMA hätte der ältere Dirk Pitt die Mission eigentlich von seinem Platz in der Zentrale der Agentur in Washington aus überwachen müssen. Aber Pitt gehörte nicht zu denen, die ihren Einsatzort ausschließlich hinter einem Schreibtisch sahen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit entfloh er dem vergifteten politischen Klima in der Hauptstadt der Nation, um an einem der Forschungsprojekte der Agentur aktiv teilzunehmen. Eine kurz bevorstehende ozeanographische Konferenz in Singapur eröffnete ihm die Gelegenheit, seinen Kindern in einer Phase ihres momentanen Vermessungsprojekts behilflich zu sein.

»Ein Wrack wie aus dem Bilderbuch«, sagte eine raue Stimme. Pitt wandte sich zu einem untersetzten Mann mit athletischer Figur und dunklem lockigem Haar um, der neben ihm saß. Al Giordino, der die Abteilung für Unterwassertechnologie der NUMA leitete, hatte sich Pitt auf diesem Abstecher angeschlossen. Mit den Überresten einer kalten Zigarre zwischen den Zähnen überwachte er die Energiereserven und lebenserhaltenden System des Tauchboots, während er gleichzeitig die Videoübertragung verfolgte.

»An einem absolut nicht bilderbuchmäßigen Ort«, sagte Pitt. Eine Schlickwolke füllte den Bildschirm aus, als das Tauchboot erneut an einer Steilwand der Schlucht entlangschrammte. »Sie sollen bloß aufpassen, dass sie da unten nicht hängenbleiben.«

Giordino winkte mit einem beruhigenden Lächeln ab. »Dein Sohn weiß ganz genau, was er tut. Schließlich ist er bei einem der Besten in der Lehre gewesen.«

Daran hatte Pitt nicht den geringsten Zweifel. Giordino wusste mehr über Tauchboote als jeder noch so erfahrene Schiffsingenieur auf den sieben Weltmeeren und hatte mit Dirk, seinem Sohn, bei Dutzenden von Tiefseetauch-Projekten zusammengearbeitet. »Bestell ihm nur, dass er darauf achten soll, den Lack der Außenhülle nicht zu zerkratzen. Das Tauchboot ist nämlich ganz neu.«

Giordino gab die Bitte über ein Headset weiter und grinste, während er der Antwort lauschte. »Er meint, das Boot sei ausreichend versichert. Übrigens glaubt Summer, dass es sich bei dem Wrack um einen japanischen Zerstörer namens Akizuki handelt.«

»Das Videomaterial, das sie bis jetzt geliefert haben, ist allerdings exzellent. Sie sollen da unten Schluss machen und wieder nach oben kommen. Wir müssen noch ein ziemlich großes Gebiet überprüfen, ehe ich hier meine Zelte abbrechen kann.«

Hinter ihnen drang ein lauter Schiffsalarm aus einem Lautsprecher über ihren Köpfen. Nach zwanzig Sekunden verstummte das schrille Signal und wurde von der Stimme des Kapitäns abgelöst.

»An alle Mannschaftsmitglieder! Achtung! Eine hohe Welle nähert sich dem Schiff. Bereit halten für den Aufprall! Ich wiederhole. Mannschaft bereit halten für den Aufprall!«

Giordino leitete die Warnung an das Tauchboot weiter, dann räumte er einige Schnellhefter vom Schreibtisch und deponierte sie auf dem Fußboden. Pitt blickte durch eine offene Lukentür hinaus auf die Steuerbordreling, sah jedoch nur eine im morgendlichen Sonnenschein funkelnde ruhige See. Dann bockte das Schiff wie wildes Pferd, das sich gegen den Sattel wehrt.

Beide Männer wurden hochgeschleudert, als das Deck unter ihren Füßen anstieg und gleich wieder absackte. Das Schiff knarrte und hallte von lautem Gepolter wider, als lose Gegenstände durch die Luft flogen und gegen stählerne Schotten prallten. Und dann war es auch schon vorbei. So schnell, wie sie zugeschlagen hatte, rollte die Welle unter ihnen durch, und das Schiff richtete sich auf und lag erneut kerzengerade auf ebenem Kiel.