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Als bei Sophie von Stockhausen mit Anfang dreißig eine unheilbare Augenerkrankung diagnostiziert wird, die zur Erblindung führt, begibt sie sich auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Vergeblich bemüht sie sich, die "Netzhautdystrophie" zu ignorieren, ja sogar zu leugnen, was angesichts des unaufhaltsamen Krankheitsverlaufs scheitern muss. Es wird langsam dunkel. Begleitet von Zuständen lähmender Angst, kräftezehrender Wut und Verzweiflung versucht sie, einen Umgang mit dem Unausweichlichen zu finden. Doch falsche Hoffnungen führen in eine Depression, die sie am Ende nur durch die uneingeschränkte Akzeptanz der Sehbehinderung überwinden wird. Die fünf Phasen der Trauerbewältigung und den Schritt ins neue Leben zeichnet die Autorin anhand von Erlebtem in tragikomischer, (selbst)kritischer und überaus konstruktiver Weise nach. Mit ihrer feinsinnigen Art zu vermitteln, bietet Sophie von Stockhausen viel Raum und Stoff zum Nachdenken darüber, wie ein nachhaltiges Verstehen und Zusammenleben mit eingeschränkten Menschen möglich ist. Die Diagnose, die den irreversiblen Verlust des Sehvermögens nach sich zieht, traf Sophie von Stockhausen in eben jener Lebensphase, als ihre beruflichen und privaten Ambitionen so richtig Fahrt aufnehmen sollten. Die langsame Erblindung - eine Vollbremsung ihrer Lebensqualität, die jede gelernte Alltagsroutine zur Herausforderung anwachsen lässt. Freiheiten und triviale Handlungen, wie ihre Arbeit, Konzertbesuche oder Fahrradfahren, werden plötzlich kostbar und verändern sich für immer. Alleinstehend und überwiegend alleinerziehend sah sie sich mit existenziellen Problemen konfrontiert, deren Bewältigung ihr viel abverlangte. Diesen bisweilen harten Weg schildert sie entlang persönlicher Erfahrungen, die auch den gesellschaftlichen Umgang mit beeinträchtigten Menschen verdeutlichen. Neben dem Vertrauen in die eigene Stärke nutzt die Autorin vor allem das verbindende Element des Humors, um ihren Lebenswandel authentisch zu beschreiben.
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Seitenzahl: 246
Veröffentlichungsjahr: 2023
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»Vielleicht weißt du die Antwort, Lines? Was kann man tun, wenn man das Gefühl hat, dass einen niemand mag?« »Ich würde versuchen, mich durch die Augen der anderen zu betrachten, um ein besserer Mensch zu werden. Das wäre meine Antwort, Charlie Brown.« »Hmm … ich hasse diese Antwort!«
Die Peanuts
Ein kalter grauer Morgen im Prenzlauer Berg. Ich war im Begriff, meinen damals vierjährigen Sohn in den Kindergarten zu bringen. Wir hatten einen entspannten Morgen, ohne besondere Vorkommnisse und waren wie immer mit der Straßenbahn bis zur Husemannstraße gefahren. Als wir von dort in die Dunkerstraße eingebogen waren, meinte ich eine Freundin mit ihren kleinen Zwillingen auf der anderen Straßenseite zu erkennen. Die beiden Mädchen liefen vergnügt vor sich hin brabbelnd neben dem Kinderwagen her. Ich winkte und rief den Dreien schon beim Überqueren der Straße zu: »Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen! Wie schön, euch zu treffen.« Zögerlich und mit auffallend zurückhaltendem Lächeln winkte die Freundin zurück. Wie gewohnt hatte sie die Haare zu einem losen Zopf, der unter der Kaschmirwollmütze heraushing, zusammengebunden und trug – natürlich – einen Arctic-Parka, eindeutiges Erkennungszeichen unter den »Prenzelberg-Eltern«, die sich diesen perfekten Kälteschutz für die nicht enden wollenden Spielplatzaufenthalte leisten konnten. Unbeteiligt trottete mein Sohn neben mir her. »Komm, lass dich umarmen!«, rief ich noch fröhlich, während ich bis auf wenige Schritte herantrat – nur um dann mit Entsetzen festzustellen, dass es gar nicht die Freundin war, vor der ich hier stand. Ich war kurz davor, eine mir komplett fremde Frau zu umarmen, die nur eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr und zufälligerweise Zwillingsmädchen im selben Alter hatte. Da stand ich also mit schon ausgebreiteten Armen und aufkommender innerer Panik.
Blitzschnell musste ich entscheiden, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Gab ich meinen Irrtum in letzter Sekunde zu und kam dabei in die üblichen Erklärungsnöte? Oder zog ich die Umarmung durch und versuchte mich dann so schnell wie möglich aus der Affäre zu ziehen? Ich entschied mich für Letzteres. Inzwischen stand ich nah genug, um zu erkennen, wie irritiert und unangenehm berührt die Fremde war. Dennoch umarmte ich sie kurz und schob, um mich nicht doch noch in Erklärungsversuchen zu verstricken, sofort die Notlüge als Entschuldigung hinterher: »Wir sind leider total spät dran und müssen schnell weiter.« Sie nickte kurz, lächelte betreten und unsere Wege trennten sich. Mein Sohn schien erleichtert, als wir endlich weitergingen, und fragte mich nach einigen Metern: »Mami, wer war die Frau?« Ich antworte nur knapp: »Ich habe keine Ahnung, mein Schatz!«
Beklommen ließ ich die absurde, irgendwie aber auch komische Situation vor meinem inneren Auge noch einmal Revue passieren. Zum Lachen oder zum Weinen? Zum wiederholten Male offenbarte sich mein Dilemma, das mich in solch blamable Situationen brachte. Meinem Sohn reichte meine kurze Antwort auf seine Frage völlig aus, er konzentrierte sich weiter auf seinen Stock, den er unterwegs gefunden hatte. Also entschied auch ich mich für den Moment dafür, der Komik dieses kleinen Zwischenfalls den Vorzug zu geben und ihn damit abzuhaken. Leider hielt diese Leichtigkeit der Reaktion nicht lange an, beschämende Zweifel machten sich breit und verdunkelten mal wieder einen Tag.
Diese kritischen Stimmen des Selbstzweifels, die jeden noch so harmlosen Vorfall zum Anlass für einen handfesten inneren Disput machen. Während die eine, ich nenne sie das lachende Auge, das Erlebte als vielleicht lächerliches, aber harmloses kleines Intermezzo herunterspielen wollte, beharrte die andere, von mir das weinende Auge genannt, konsequent darauf, sich vorzustellen, wie dieser Zwischenfall wohl auf Außenstehende gewirkt haben musste. Zunächst folgte ich also dem Vorschlag des lachenden Auges, die fremde Frau würde unsere Begegnung auf eine Verwechslung oder sehr flüchtige Bekanntschaft zurückführen und sei nur leicht irritiert gewesen. Wesentlich wahrscheinlicher, so soufflierte sofort das weinende Auge, sei allerdings, dass mein merkwürdiges Verhalten und meine konfusen Bemerkungen für jeden nur den Schluss zuließen, dass ich entweder komplett überfordert oder schlichtweg geistig verwirrt sein musste, der arme Junge einem in jedem Fall wirklich leidtun konnte.
Weil sie meine Schwachstellen kennen, treffen diese Stimmen in ihrer Hartnäckigkeit jede offene Wunde, wissen um jede Inkonsequenz, jede Unsicherheit und Selbstentwertung, um alles, was mich in Verlegenheit bringt und mir die Schamesröte ins Gesicht treibt. Zielsicher steuern sie diejenigen Emotionen an, die ich am meisten fürchte, schaffen es, mich mit ihrer Penetranz schließlich völlig zu lähmen.
Das Sonderbare an der geschilderten flüchtigen, ja bedeutungslosen Begegnung transportiert genau genommen ein neues Narrativ, welches inzwischen zwar meinen Alltag prägt, ja mein Leben bestimmt, das ich mich aber lange, viel zu lange weigerte anzunehmen und mich der aufgezwungenen veränderten Lebensrealität zu unterwerfen, Vertrautes und Profanes als angreifbar zu begreifen, nicht weiter meinem Selbstverständnis hinterherzueifern, kurz: Ich sperrte mich mit aller Kraft dagegen, die Folgen zu akzeptieren, die der unaufhaltsame Verlust meines Sehvermögen bereits zeitigte. Diesen drohenden Niedergang des Augenlichts und die einschneidenden Beeinträchtigungen empfand und empfinde ich subjektiv als unzulässigen Eingriff in meine natürlichen Autonomiebestrebungen.
Die Wahrnehmung von Krankheit ist eine zutiefst subjektive Erfahrung, die einen ohne Patentrezepte oder eindeutige Leitlinien allein zurücklässt. Zwar sprechen die unumstößlichen Tatsachen in Form einer Diagnose, diffusen Perspektive und eindeutiger Symptome eine klare Sprache, sagen aber nichts über meine persönliche Fähigkeit aus, sie zu begeifern und mit ihnen umzugehen. Krankheit und Perspektive als erlebter Prozess, der für das eigene Leben fortan bedeutsam, in seiner dramatischen Konsequenz aber unaufhaltsam ist. Krankheit ist, in den meisten Fällen, Ausnahmezustand und Normalität zugleich. Eine Normalität, die sich jenseits der Norm bewegt, ein Alleinstellungsmerkmal aufweist, durch das man im Außen auffällt und im Inneren auf sich zurückfällt. »Wer nicht in die Welt zu passen scheint, der ist immer nahe dran, sich selbst zu finden«, stellte Hermann Hesse lakonisch dazu fest. Meine Selbstfindung manifestierte sich in meiner Liebe zur Sprache, meiner Ehrfurcht vor der Macht der Worte, meinem reflektierenden Schreiben, das erstmals auszudrücken vermag, was mich für lange Zeit sprachlos gemacht hatte.
Schon vor geraumer Zeit habe ich mich an Verlust und Abschied, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit in meinem Lebensalltag einbrachen, gewöhnen müssen. Bei all dem, was mir unwiederbringlich verlorengegangen ist, besinne ich mich auf die Sprache als treue Begleiterin und vertraute Stimme, die mir auch von meiner Erkrankung nicht genommen werden kann. Schreiben als versichernder Rückhalt, als Quelle für Zufriedenheit und all das, was mir das Leben erträglich macht. Krankheitserfahrung verbindet sich mit ungekannter Herausforderung und war für mich lange Zeit vor allem mit Scham besetzt. Dass ich mir mit dieser ungesunden Einstellung eine zusätzliche Behinderung verschafft habe, aus der sich nur mit einer richtig guten Strategie befreien lässt, all das lag lange außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Behinderung offenbarte sich also nicht nur in Form unsichtbarer Hindernisse wie verglasten Türen oder unvermittelt auftauchenden Objekten, sondern auch und vor allem im alltäglichen Ausgeliefertsein an alles, was Krankheitserleben ausmacht. Der Gefahr, als schlecht oder kaum noch Sehende in der Unsichtbarkeit zu versinken, ist nur durch radikales Sichtbarmachen zu entgehen, weil es die Chancen erhöht, wenigstens gehört zu werden.
Mut ist Widerstand gegen die Angst, Sieg über die Angst, aber nicht Abwesenheit von Angst.Mark Twain
Seit ich mich erinnern kann, habe ich Angst im Dunkeln. Ich fürchte mich in der Nacht, vor Dunkelheit, scheue mich vor der Stille, die jedes eindringende Geräusch zur Bedrohung werden lässt. War ich als Kind bei meiner Tante im Odenwald zu Besuch, wurde in dem mir zugeteilten Gästezimmer für die Nacht stets auf vollständiges Verdunkeln geachtet, der Raum mit größter Sorgfalt in komplettes Nachtschwarz gehüllt. Die Gründe dafür blieben nebulös und durften von mir als Kind damals auch nicht weiter hinterfragt werden. Dieses ungeschriebene »Verdunkelungsgesetz« galt für alle Schlafzimmer samt Bewohner*innen, man meinte darin wohl eine besonders effektive Einschlafhilfe erkannt zu haben.
Abend für Abend lag ich von Panik erfüllt mit offenen Augen im Bett und hoffte sehnsüchtig auf den Moment, da die Augen sich an das Dunkel gewöhnt haben würden. Schier endlos erscheinende Minuten der Angst durchlebte ich, für immer in der Dunkelheit, in spontaner Blindheit gefangen zu bleiben. Und bei jedem Aufwachen als Erstes die quälende Ungewissheit, ob die Helligkeit auch wirklich zurückgekommen sei. Von diesem traumatischen kindlichen Erlebnis geblieben ist mir eine tiefsitzende, instinktive und diffuse Angst im und vor dem Dunkeln, die sich zurückmeldet, sobald ich mich, wo auch immer, alleine in ihr zurechtfinden muss. Wenn irgend möglich, vermeide ich geschlossene Gardinen, Rollläden oder andere schauderhafte Verdunkelungsmethoden.
Seit nunmehr achtzehn Jahren trage ich die Angst vor vollständiger Erblindung in mir. Mit der damals eröffneten Diagnose, die mich aus heiterem Himmel traf, stellten sich Fragen existenzieller Natur. Fragen nach dem Warum, auf die es kaum Antworten gab und gibt. Fragen nach dem Wie, nach möglichen Bewältigungsstrategien, Hilfsangeboten, Machbarkeitsszenarien, die auch noch nicht zu beantworten waren. Mein unablässiges Ringen im Spannungsfeld von Alltag und Extremsituation, euphorischem Lebenshunger und melancholischer Resignation, verzweifelter Hilflosigkeit und gebotenem Pragmatismus geschah lange situativ, zufällig, auch impulsiv, bevor ich dann irgendwann mich der Tatsache nicht mehr verschließen konnte.
Kurz vor meinem dreißigsten Lebensjahr wurde bei mir ein als irreversibel einzustufender degenerativer Gendefekt der Netzhaut diagnostiziert, eine Erkrankung, die meine Sicht auf die Welt, wie ich sie kannte, grundlegend verändern würde. Der anfangs unter Vorbehalt geäußerte Verdacht meiner damaligen Augenärztin sollte im Eppendorfer Uniklinikum in Hamburg eine verbindliche Bestätigung vom Spezialisten erfahren. Nichtsahnend, dass etliche Augenerkrankungen nach wie vor unheilbar sind, gab ich mich der Illusion hin, dass es in meinem Fall ja keine Veranlassung gäbe, gleich vom Schlimmsten auszugehen. Nach abgeschlossener Untersuchung nahm sich der junge Augenspezialist in der Klinik fünf Minuten Zeit, mir die katastrophale Diagnose zu unterbreiten. Dann ohnmächtige Stille, angehaltene Zeit, ziellose Gedanken, vergeblich darum bemüht, den Sinn des Gehörten zu erfassen. Wie in einer Blase eingeschlossen, von der Außenwelt abgeschnitten drangen nur noch Wortfetzen zu mir durch, einzig die Worte »unheilbar« und »höchstwahrscheinlich Erblindung« setzten sich bleischwer fest. »Noch Fragen?« Abruptes Ende des fachärztlichen Beratungsgesprächs. Mit dieser Hiobsbotschaft in den sterilen Krankenhausflur entlassen, wo ich nur noch Leere und Taubheit empfand, mir nicht mal mehr floskelhafte Worthülsen geblieben waren. Fragen? In meinem Kopf schwirrte es von Fragen, nur sah ich mich außerstande, den medizinischen Befund mit einer angemessenen, ja einer Bedeutung überhaupt zu versehen. Ich verstand einfach nicht und meine erste Frage hätte lauten müssen: »WIE BITTE?!?«
Um einer Panikattacke zu entgehen, musste ich an die frische Luft, raus hier, weg von all dem, was ich nicht verstand. Obwohl meinem damaligen Lebensgefährten die Brisanz der Diagnose bewusst war und er ausreichend Fachwissen und Fantasie besaß, um sich die möglichen Folgen auszumalen, schwieg auch er. Eine bedrückend schweigsame Rückfahrt nach Berlin, bis wir irgendwo im Nirgendwo an der A24 einen Nothalt einlegten, um uns weinend in die Arme zu fallen. Wieder im Alltag angekommen, wählte jeder von uns seine bevorzugte Bewältigungsstrategie. Er akribische Recherche zu Krankheitsbild, Forschungsstand oder möglichen Heilungsaussichten und vehementes Einfordern einer zweiten Meinung. Bis heute pflegt er Kontakt zu Spezialisten weltweit, Foren, Selbsthilfegruppen. Meine Reaktion folgte eher dem Fluchtinstinkt, ich übte mich erfolgreich in Rückzug, Abstand und Verdrängung. Noch hatte ich nur wenige Beeinträchtigungen zu beklagen und so wünschte ich weder Auseinandersetzung oder professionelle Begleitung noch einen Austausch mit anderen Betroffenen.
Aus aufsteigender Hoffnungslosigkeit heraus formierte sich in meinem Unterbewusstsein eine dunkle Vorahnung der lauernden Bedrohung für mein Leben. Meine anhaltende Weigerung, die Diagnose mit dem sperrigen Namen hereditäre Netzhautdystrophie zu tolerieren, gipfelte darin, mir den medizinischen Fachbegriff für meine Krankheit vorerst gar nicht zu merken. Mir reichte es zu wissen, dass die Zellen in meinem Augeninneren von fragwürdiger Qualität sind und infolgedessen die Stäbchen und Zäpfchen ihren Job nicht angemessen erledigen können. Anfangs war die Krankheit gnädig mit mir, gab mir noch ausreichend Gelegenheit, mich von ihr zu distanzieren, sie zu leugnen oder ihr auszuweichen. Ein Entgegenkommen von kurzer Dauer, denn degenerative Krankheitsverläufe stagnieren typischerweise nicht und bringen sich mit jedem erneuten Schub, jeder graduellen Verschlechterung eindrucksvoll in Erinnerung. Hier rächte sich meine Verweigerungshaltung, die mich ohnehin schon so oft in Erklärungsnöte gebracht hatte. Aber wie etwas erklären, was ich selbst nicht begreifen wollte? Egal, ich steckte weiterhin den Kopf in den Sand, je schrecklicher die vom weinenden Auge gemalten Bedrohungsszenarien ausfielen, desto tiefer. An die Stelle von Auseinandersetzung und Anpassung rückten ausgeklügelte Kompensationsstrategien. Wenn du in Eile bist, mach einen Umweg, metaphorisierte das lachende Auge. Wobei mein Umherirren mit Langfristigkeit nicht das Geringste zu tun hatte.
Mein primäres Ziel war es, die perfekte Fassade so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Konsequent verschleierte ich das tatsächliche Ausmaß meines physischen wie psychischen Leidens. Einzig mein Augenarzt und mein damaliger Lebensgefährte waren im Bilde darüber, wie wenig und was genau ich noch sah. Als handelte es sich dabei um eine unbegrenzte Ressource, machte ich von der kompromisslosen Flexibilität und Kompensationsbereitschaft meines Körpers Gebrauch. Dass diese zusätzliche Dauerbelastung auf lange Sicht ein Nachspiel haben würde, verdrängte ich ebenfalls. Solange ich mich einem offensiven Umgang mit meiner Sehbehinderung verweigerte, würden die Probleme sich häufen, peinliche Verwechslungen, unnötige Missverständnisse, schmerzliche Zurückweisungen zu Dauerbegleitern im Alltag werden. Im Endeffekt ergaben all meine Bemühungen, weiterhin als perfekt Sehende zu gelten, genau das gegenteilige Bild.
Mittlerweile ist mein Sehvermögen deutlich eingeschränkt, die Sehschärfe erheblich vermindert, die Weitsicht ein diffuser Brei aus undefinierbaren Farben und Formen. Insgesamt hat sich ein Nebelschleier über meine Sicht gelegt, den ich in der Anfangszeit noch irritiert versuchte wegzuwischen. Das Gesichtsfeld ist nach wie vor okay, auch wenn ich gewisse Abstriche beim Gesamtradius machen muss. Der betroffene zentrale Sehnerv lässt allerdings auch das Fokussieren im Nahbereich nicht mehr zu. Gesichtserkennung, Feinmotorik, das Lesen gedruckter Texte oder von Handschriftlichem zum Beispiel – diese Art detailgenauer Fähigkeiten ist ohne zeitintensive Hilfestellung nicht mehr möglich. Bei schlechten Lichtverhältnissen sind Farben graustufig, helles Licht hilft, zumindest stark kontrastierte Farben unterscheidbar zu machen. Sobald es sich allerdings um ein Grün-Blau-Aubergine-Lila-Spektrum oder die Unterscheidung von Orange und Rot, Schwarz und Blau handelt, versage ich kläglich. Ich erinnere mich, wie frustrierend es für meinen Sohn war, wenn ich bei Brett- und Kartenspielen konsequent die »falschen Farben« bediente. In solchen Fällen ist Anpassung, Geduld und Verständnis das Mittel der Wahl, um Hürden zu überwinden und den Familienfrieden zu wahren.
Meine Nachtblindheit, die genau jene in Kindertagen durchlittene tiefschwarze Dunkelheit ohne Orientierungsmöglichkeit oder Durchblick meint, lässt mich der dunklen Jahreszeit jedes Mal aufs Neue mit Sorge entgegenblicken. Gäbe es auch für Menschen eine Art Winterschlaf, würde ich ihn für mich ernsthaft in Erwägung ziehen. Extrem herausfordernd können auch Blendeffekte sein, mit denen sowohl nachts als auch bei Licht und Schatten oder Gegenlicht zu rechnen ist. Auch künstliche Lichtquellen wie Scheinwerfer, Spiegel oder Reflexionen verursachen Probleme, wenn sie mich ungünstig treffen. Rasch wechselnde Lichtverhältnisse machen die schon deutlich verlangsamte Adaption von hell zu dunkel und umgekehrt noch schwieriger. Hier ist Geduld gefragt – nicht eben eine meiner stärksten Eigenschaften –, das heißt ich muss mich ermahnen, Tempo rauszunehmen, Ruhe zu bewahren und mehr Zeit einzuplanen.
Dass Rastlosigkeit und Ungeduld ohnedies nirgendwo hinführen, erfahre ich immer wieder auf im wörtlichen Sinn schmerzhafte Weise. So geschehen auf dem Bahnsteig meiner Tramhaltestelle, auf dem ich bei tiefstehender Oktobersonne die einfahrende Bahn erreichen wollte und plötzlich ungebremst gegen einen Stahlträger prallte. Neben einer Schädelprellung hatte ich mir auf der Stirn meine ganz persönliche Halloween-Maskierung verpasst. Im ersten Moment forderte ein hämmernder Schmerz meine volle Aufmerksamkeit, dicht gefolgt von Schamgefühl, ausgelöst durch die umstehenden Passanten. Niemand eilte mir zu Hilfe, da keiner die Brisanz meiner Lage verstand. Dass ich den massiven Stahlpfosten wahrhaftig übersehen hatte, überstieg offenbar das Vorstellungsvermögen der Leute, die mich wahrscheinlich als völlig verpeilt oder sogar betrunken einschätzten. Und selbstverschuldet verunfallten Personen muss anscheinend nicht geholfen werden. Weinend stand ich am Gleis, betastete das anschwellende Horn auf meiner Stirn und fühlte mich schrecklich einsam und buchstäblich geschlagen. Das hast du nun von deiner störrischen Arroganz, glaubst, du bist unbezwingbar, kannst die Krankheit mit Sturheit besiegen, meldete sich sogleich das weinende Auge. Es hatte Recht, es war höchste Zeit umzudenken und zu handeln.
Es gibt keine Gesetzmäßigkeit im Auftreten von Krankheitsschüben mit den unvermeidlichen Verschlechterungen als Folge. Also bin ich jedes Mal aufs Neue überrascht über den kontinuierlichen Verfall, der vor allem erneutes Einschränken und Umdenken bedeutet – wie die plötzliche Unfähigkeit, gedruckten Text zu entziffern, ein belastender Einschnitt, der bis heute nachwirkt. Gegenwärtig konsumiere ich Romane, Sachliteratur und jede Form von Printmedien bevorzugt im Audio-Format und wenn es sein muss auch als eBook. Wie der geschilderte Unfall zeigt, fällt mir die Zuordnung von Dingen oder Personen in der Ferne schwer und ich sehe mich gezwungen, permanent gegen das soziale Gebot der einzuhaltenden Individualdistanz zu verstoßen. Ich gehe nah heran, berühre, taste, rieche und lausche in dem Versuch, die verbliebenen Sinne zu stimulieren und mein Gedächtnis zu trainieren. Oft genug ist noch nicht einmal ein besonders sensibler Tastsinn vonnöten – dann, wenn mir beispielsweise ein Ohrring auf die buntgemusterten Badezimmerfliesen fällt, den ich nur mit Glück und Ausdauer wiederfinde und darüber hinaus die Erkenntnis gewinne, dass unter dem Waschtisch dringend geputzt werden muss. Und obwohl in unserer Wohnung idealerweise alles seinen Platz hat und wir Ordnung halten, kommt es auch in diesem an sich sicheren Rahmen zu kleinen Unfällen, werden übersehene Gläser und Kaffeebecher umgestoßen, gibt es mittlere Überschwemmungen und gelegentlich auch Scherben. Wenn bei solchen Unachtsamkeiten eine Hausaufgabe oder ein Kinderkunstwerk zerstört wird, kommt es zu Tränen und unterdrückter Wut beim Kind und zum wiederholten Gefühl von tollpatschiger Unzulänglichkeit bei der Mutter. Selbst ansonsten gedankenlos ausgeführte Handgriffe erfordern nun Achtsamkeit, Ruhe und Geduld. Woher aber diese extra Zeit nehmen?
All meine Krankheitssymptome zusammengenommen bilden ein perfektes Gefüge, wie gemacht für Orientierungslosigkeit, Frustration und große Unsicherheit. Meine über die Jahre hartnäckig verfolgten Autonomiebestrebungen drohen vollends die Basis zu verlieren, was bleibt, ist ein Abschied von der Unbeschwertheit und Leichtigkeit des Seins. Wenn gewöhnlich passabel zu lösende Alltagssituationen in der Summe zu übermächtigen Problemen werden, dann entsteht daraus eine Kettenreaktion fernab jeder Normalität, die am Ende immer wieder von eingebüßter Selbstständigkeit, Verlust banalster Fähigkeiten und erzwungener Anpassung zeugt.
Mir fehlt der Fokus für alles Feinmotorische, die frühere Liebe zum Detail, das sonst bemerkte Besondere im Kleinen. Keine nonverbale Interaktion mehr – ein spontanes Schmunzeln, eine mimische Botschaft oder kleine Geste – all das zieht heute unerkannt vorüber. Gesichter oder Gesichtszüge, die nicht mehr zu mir sprechen, wodurch stets die Gefahr des Missverständnisses lauert. Unbefangenes, flüchtiges Flirten verliert seine Leichtigkeit, wird ungelenk, unsicher. Auch vermisse ich unbegrenzte Mobilität im Alltag und auf Reisen, die auch ohne vorherige Planung spontan funktioniert. Heute stellen unbekannte Orte und Strecken, dunkle Hauseingänge oder Firmen-, Namen- und Straßenschilder hauptsächlich Hürden dar, deren Überwindung viel Zeit und Aufwand erfordert. Für meine Vorstellung von Selbstbestimmung war es immens wichtig, niemandem zur Last zu fallen, meine Unabhängigkeit zu leben und diejenige zu sein, die Hilfsangebote macht statt sie zu empfangen. Es sind nur wenige großartige Freunde und Freundinnen, auf die ich mich verlassen kann und mag. Tapfer versuche ich, meine Selbstständigkeit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, überschreite dabei meine Grenzen, verausgabe mich und breche gelegentlich erschöpft zusammen.
Fast jede körperliche Behinderung ist ein andauernder Stresstest. Der Dauergereiztheit, die sich aus den permanent erlebten Einschränkungen ergibt, versuchte ich eine neue Gelassenheit gegenüberzustellen. Eine Gelassenheit mir selber, aber auch anderen gegenüber, die eben unmöglich beurteilen können, was es bedeutet, dass oder warum ich manchmal verzweifle. Gelassenheit in Auseinandersetzungen oder gegenüber höchst fragwürdigen Einstellungen, die eigentlich eine passende Gegenreaktion erfordern, bei mir zumeist aber nur Sprachlosigkeit auslösen. Gelassenheit, die eine Form von Genügsamkeit meint und im Tausch gegen Vielfalt oder Neuentdeckung eher dem Prinzip never change a winning team folgt. Meine Schlussfolgerung: All diese gemeinhin als Mental Load bezeichneten und bereits gesunde und nicht alleinerziehende Familien belastenden Alltagsaufgaben müssen sich der neuen Gelassenheit unterordnen. Meine Opportunitätsfähigkeit leistet Erstaunliches, hat aber auch ihre Grenzen.
Die fachliche Antwort auf die Frage, wie ich die Welt sehe, lautet: Ich verfüge über einen Restvisus von unter 20 Prozent, der ungleich auf beide Augen verteilt ist. Wer mir in die Augen schaut, kann das rechte Auge als das mit fünf Prozent Restvisus deutlich schlechtere ausmachen, da es dazu neigt, nach außen auszureißen. Es hat sozusagen den eigenwilligen Drang, sich zu entziehen, kann einem erzwungenen Fokus nicht Folge leisten und flieht. Ob es während dieser Streifzüge insgeheim etwas auszumachen vermag oder ob dies der bloße Reflex eines erschlafften Sehnervs ist, wer weiß das schon. Bislang ist nichts an mein Großhirn gemeldet worden. Die verbleibenden Prozente können dem linken zugerechnet werden, welches somit als das gute Auge eingestuft werden kann. Ohne Prognose, was den konkreten weiteren Krankheitsverlauf angeht, bleibt mir zumindest die Gewissheit, dass sich keine Verbesserung einstellen wird. Carpe diem! – der aus meiner Sicht einzig tragfähige Glaubenssatz, der die Gegenwart und die nahe Zukunft bestimmen sollte. Auch hier wieder die neue Gelassenheit als gute Beraterin, die Träumen, unerfüllten Wünschen oder Idealen einen vernunftbestimmten Rahmen bietet. Die Unvernunft gesellt sich dann von ganz allein hinzu.
Denn auch ich lebe dieses Leben zum ersten Mal und kann mich den immer neuen Fragestellungen nur situativ annähern. Nicht selten scheitert es ja schon daran, die richtigen Fragen zu stellen. Deine Welt mag verschwommen, dunkel und vielleicht auch eintöniger sein, dennoch hat die Unfähigkeit, Dinge zu sehen, auch klare Vorteile, versucht das lachende Auge mich zu ermutigen. – Soll das so etwas wie humorvoller Pragmatismus sein, der eine echte Bewältigungsstrategie ersetzen soll?, kontert das weinende Auge. Und doch, um meiner Sprachlosigkeit etwas entgegenzusetzen, ertappe ich mich immer wieder bei dem Versuch, mir meine Lage schönzureden. Taucht meine Sicht die Welt nicht doch in ein angenehmeres Licht? Oder fehlt mir einfach der Weitblick für das Wesentliche und die zwingend erforderliche Distanz? Ich weiß es nicht, strebe jedoch danach, meine blinden Flecken zum einen mit dem verstärkten Blick nach innen und zum anderen mit einer erhöhten Aufmerksamkeit allmählich auszuleuchten. Sollte mir dabei das Geschick zur selbstverliebten Zurschaustellung von Oberflächlichkeiten abhandenkommen, nehme ich diesen Verlust gerne in Kauf.
Ich habe mir wirklich sehr viel Mühe gegeben, mein Schicksal zu ignorieren, ihm aus dem Weg zu gehen, es auszuladen oder in seine Schranken zu weisen, in der stillen Hoffnung, damit der Konfrontation mit dem Selbst entgehen zu können. Aber das Schicksal hatte den längeren Atem und warf mich mitten hinein in den Haufen der unbeantworteten und drängenden Fragen. Warum gehe ich Auseinandersetzungen konsequent aus dem Wege? Sind vielleicht doch die Eltern schuld? Es ist Zeit, sich der Realität zu stellen.
Intelligenz ist die Fähigkeit, seine Umgebung zu akzeptieren.William Faulkner
Zu erkennen, was Krankheit mit uns und unserem Umfeld anstellt, macht uns den Wert von Gesundheit erst wirklich bewusst. Die Selbstverständlichkeit unserer Haltungen in und zu unserer Lebenswelt wird durch eine Krankheit zutiefst erschüttert, unser übliches Denken und Handeln massiv beeinträchtigt. Mich lassen bestimmte Körperfunktionen zusehends im Stich, mein Körper wird mir fremd und mich mit ihm zu identifizieren gelingt mir immer weniger. Im Gegensatz zu den meisten gesunden Menschen, für die ein bewusstes Körpergefühl wichtig ist, laufe ich also Gefahr, mich von meinem Körper zu entkoppeln. Möglicherweise ist das eine Erklärung dafür, dass auch ich Menschen mit dramatisch fortschreitender Sehbehinderung und bereits Erblindete konsequent gemieden habe. Überspitzt formuliert meiden gesunde Menschen den Kontakt zu Krankheit, da sie einen unmittelbar mit der Endlichkeit unseres Seins oder unserer Unversehrtheit konfrontiert. Stattdessen setzen wir auf den Glauben an grenzenlose medizintechnische Machbarkeit, die alle körperlichen Probleme irgendwie lösen kann und die schicksalhaften Anteile des Lebens wie unheilbare Erkrankung und letztlich den Tod in die Verdrängung treibt.
Betroffene können Krankheit jedoch auch etwas Positives abgewinnen – die ersehnte Neugewichtung von Werten und Einstellungen, die erträumte Veränderung der Lebenswelt, die Neuausrichtung der Perspektiven – ein Erkenntnisprozess allerdings, der einige Zeit beanspruchen kann. Wann immer ich Schwierigkeiten mit dem eigenen Realitätscheck hatte, wurde das weinende Auge nicht müde, meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen: Es handelt sich um eine lebensverändernde und allen neuen Forschungsansätzen zum Trotz irreversible Sehbehinderung mit dem Potenzial, dich gründlich aus der Bahn zu werfen. Beschwichtigend fügte das lachende Auge hinzu, dass in meinem Fall ja immerhin keine unmittelbare Lebensgefahr besteht und zudem der Sozialstaat vielseitige Hilfsangebote bereithält, die das Leben erleichtern können.
An guten Tagen gelingt es mir, die mir angebotene Hilfe vorbehaltlos anzunehmen. Doch was fange ich mit den schlechten Tagen an? Tage, an denen mein innerer Misanthrop ausbrechen und die Ungerechtigkeit nur noch verfluchen, das Schicksal überschäumend vor Wut herausfordern will. Um diese antagonistischen Gefühle wieder einfangen zu können, bedarf es einer Haltung, einer Art bekennenden Haltung – aber woher soll man die nehmen? Vielleicht mal dem abdriftenden rechten Auge folgen und Antworten jenseits des eigenen Radius suchen?
Meine immer schon vorhandene Begeisterung für Menschen und ihre Lebensentwürfe, Biografien jeder Art half diese erste Neugier anzustacheln. Ich suchte Informationen über Gleichgesinnte, die bereitwillig Einblick in ihr alltägliches und berufliches Weiterkommen mit Behinderung gewährten. Obwohl es durchaus Hinweise und Anhaltspunkte in meiner eigenen Familie gegeben hätte, war ich damals zögerlich, meine ersten Nachforschungen hier anzustellen. Schließlich hatte ich mich bewusst von der verwandtschaftlichen Lebensrealität entkoppelt und sah hier nur wenig Parallelen. Lieber studierte ich die Lebensläufe von sehbehinderten oder blinden Menschen, denen es offenbar gelungen war, ihre Teilhabe am sozialen Leben aufrechtzuerhalten. Mein erster Impuls war ehrliche Bewunderung für außergewöhnliche Leistungen, sie als Vorbild und Vorreiter für die Rechte behinderter Menschen zu sehen. An ihnen zeigte sich Haltung, aber was hatte das mit mir zu tun? Nichts, rein gar nichts.
Und dennoch: Auch mich reizte das immer wieder lockende Versprechen, dass Anstrengung sich lohne und aktive Teilhabe jederzeit möglich mache, ein Versprechen allerdings, das gerade vor dem Hintergrund öffentlichkeitswirksam präsentierter Ausnahmebiografien und einem ansonsten nur peripher geführten Behindertendiskurs fast zynisch zu nennen ist. Doch auch ich glaubte diese Erwartungshaltung erfüllen zu müssen und sah mich unweigerlich einem erhöhten Erfolgsdruck ausgesetzt. Empfand ich doch bereits alltägliche Banalitäten als mühevoll bis unüberwindbar, ein deutliches Zeichen für drohendes Scheitern also. Der Druck, der durch exemplarische Vorzeigebiografien – egal aus welchem Lebensbereich – getrieben durch unser Konkurrenzverhalten erzeugt wird, der singuläre »Erfolg« dieser Vorbilder, der eine Art forcierte Norm schafft, brachte mich bei meiner Suche nach der eigenen Haltung jedenfalls keinen Schritt weiter.
Was genau aber war meine gesuchte Haltung, mein angestrebtes Ziel? Mir dämmerte allmählich, dass diese klärende Auseinandersetzung in erster Linie auf meine innere Anerkennung bezogen war, bevor eine äußere Wirkung eintreten konnte. Einfacher gesagt als getan. Noch ehe ich auf diese Zustimmung von innen hoffen konnte, galt es, der anhaltenden Desorientierung Herr zu werden. Begleitet von einem subtilen Gefühl, das vermittelt: Die Karte stimmt, aber die Gegend ist falsch. In solchen Momenten sehne ich mich nach einem roten Faden, einem Leitsystem, das angesichts der dürftigen Faktenlage erste Schlüsse zulassen würde. Wenn das Kopfchaos oder der Schwindel übermächtig wird und die Ohnmacht droht, hilft bekanntlich nur noch ein Ordnungsprinzip mit verlässlichen Strukturen, um sich wieder zurechtzufinden, ja sich selbst erhalten zu können. Mit meiner Metamorphose war ich da keine Ausnahme, insbesondere weil sich im Kern auch bei mir alles um Verlust, Trauer und Abschied drehte. Dementsprechend ließ sich mein verzweifeltes Ringen um Haltung hervorragend unterteilen in die fünf Phasen der Trauer: Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Zumal mich schon seit längerem immer wieder eine für Trauernde typische Angst befiel – die Angst vor dem Vergessen. Egal wie sehr meine Sehkraft sich zurückentwickelte, würde ich die noch von Klarheit und Schärfe gezeichneten Bilder und Eindrücke in Erinnerung behalten? Würde mein Vorstellungsvermögen ausreichen, um all das scheinbar Verlorene vor meinem inneren Auge abspielen zu können? Die Beantwortung dieser Fragen musste erst einmal zurückgestellt werden. Ich war im Begriff zu trauern, um verlorene 80 Prozent Sehschärfe, um verblassende Farben und Kontraste. Ich nahm Abschied von der vertrauten Helligkeit und fügte mich einer ungewissen und im Wortsinn verschwommenen Zukunft. Ich beklagte den Verlust von Autonomie und unbefangener, eng an Spontanität geknüpfter Bewegungsfreiheit. Mir fehlten
und fehlen die winzigen Gesten und eine lebendige Mimik, ausdrucksstarke Gesichter, die ich nicht mehr lesen kann, die aber keinesfalls belanglos werden dürfen. Ich misstraute der Dunkelheit, wenn das nächtliche Tiefschwarz nur noch Ungewissheit mit sich bringt, fürchtete den Kontrollverlust, hatte Angst, den Überblick über mein Leben zu verlieren. Die Liste ließe sich fortführen und wird fortgeführt werden, ob ich es nun aufschreibe oder nicht.