Sophienlust 123 – Familienroman - Isabell Rohde - E-Book

Sophienlust 123 – Familienroman E-Book

Isabell Rohde

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Vor dem Studentenwohnheim in Heidelberg stand ein junges Mädchen. Olivia Gartenberg. In der Hand hielt sie einen kleinen Koffer, den sie nun abstellte. "Hallo, Olivia!" Aus dem Haus trat eine Gruppe junger Leute. "Fährst du auch nach Hause?" "Ja. Sascha hat versprochen, mich in seinem Wagen mitzunehmen." "Dann mach's gut. Schöne Ferien!" "Euch auch!" Olivia winkte den Studenten lächelnd nach. Sie freute sich auf die großen Semesterferien. Und besonders auf das Wiedersehen mit der kleinen Schwester. Eigentlich war Natalie ja ihre Halbschwester. Aber daran dachte Olivia überhaupt nicht mehr.

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Sophienlust –123–

An Mutterstelle

Roman von Rohde Isabell

Vor dem Studentenwohnheim in Heidelberg stand ein junges Mädchen. Olivia Gartenberg. In der Hand hielt sie einen kleinen Koffer, den sie nun abstellte.

»Hallo, Olivia!« Aus dem Haus trat eine Gruppe junger Leute. »Fährst du auch nach Hause?«

»Ja. Sascha hat versprochen, mich in seinem Wagen mitzunehmen.«

»Dann mach’s gut. Schöne Ferien!«

»Euch auch!« Olivia winkte den Studenten lächelnd nach. Sie freute sich auf die großen Semesterferien. Und besonders auf das Wiedersehen mit der kleinen Schwester. Eigentlich war Natalie ja ihre Halbschwester. Aber daran dachte Olivia überhaupt nicht mehr.

Ein übermütiger Hupton riss sie aus ihren Gedanken. Um die Ecke bog Sascha von Schoenecker mit seinem Wagen. Schnell nahm Olivia ihren Koffer auf.

Sascha sprang aus dem Wagen. »Guten Morgen, Olivia. Pünktlich wie immer. Komm, steig ein.« Er verstaute das Köfferchen auf dem Rücksitz.

Olivia setzte sich neben ihn. »Nett von dir, dass du mich mitnimmst.«

Sascha winkte großzügig ab. »Das ist doch selbstverständlich. Schließlich haben wir den gleichen Weg. Du willst nach Stuttgart, ich nach Sophienlust. Eigentlich nach Schoen­eich«, verbesserte er sich.

»Wissen deine Eltern und Geschwister, dass du kommst?« Olivia kannte die Familie von Schoenecker und ebenso das Kinderheim.

»Ich habe sie gestern angerufen. Das Hallo meiner jüngeren Brüder hättest du hören sollen.« Sascha nannte Henrik und Dominik immer nur seine Brüder, obwohl sie eigentlich Halbbrüder waren.

»Wie alt ist Nick jetzt eigentlich schon?« Niemand nannte Dominik bei seinem vollen Namen. Er wurde allgemein nur Nick gerufen. Das wusste auch Olivia.

»Ich glaube fünfzehn.« Sascha wurde ein wenig verlegen. »Er kann aber auch schon sechzehn sein. So ganz genau weiß ich das nicht.«

Olivia und Sascha waren gute Freunde, obwohl sie nicht im gleichen Semester und auch nicht das gleiche Fach studierten. »Du wirst uns doch in Sophienlust besuchen?«, fragte Sascha jetzt.

Spontan nickte Olivia. »Gern. Ich werde auch Nadja mitbringen.« So nannte sie die fünfjährige Natalie.

Sascha kannte Olivias Familienverhältnisse recht genau. Er wusste, dass Olivias Vater ein sehr vermögender Geschäftsmann war, der in zweiter Ehe eine sehr junge Frau geheiratet hatte. »Wie verstehst du dich eigentlich jetzt mit deiner Stiefmutter, Olivia? Am Anfang mochtest du sie doch nicht?«

Olivia verzog ihr hübsches Gesicht. »Wenn du mich so fragst, dann muss ich dir sagen, dass ich sie auch jetzt noch nicht mag. Aber wir haben uns arrangiert. Schließlich müssen wir ja miteinander auskommen.«

»Nennst du sie eigentlich Mutter?«

»Wo denkst du hin? Ich rufe sie immer nur bei ihrem Vornamen. Sandra. Das Wort Mutter passt nicht zu ihr. Sie ist auch Nadja keine gute Mutter. Das Kind ist ihr nur im Weg.«

»Dafür magst du deine kleine Schwester um so mehr, nicht wahr?«

Die beiden Studenten hatten Heidelberg inzwischen verlassen. Sascha schaltete nun einen höheren Gang ein.

Olivias Wangen belebten sich. »Ich hänge an Nadja, als wäre sie mein eigenes Kind. Das klingt komisch, ich weiß, aber es ist tatsächlich so. Nur Nadja zuliebe habe ich mich dazu durchgerungen, meine Stiefmutter zu akzeptieren. Ich bin freundlich und höflich zu ihr und tue das, was sie verlangt.«

»Aber du hast sie nicht gern?«

»Nein.« Olivia dachte an die Vergnügungssucht ihrer Stiefmutter und an Sandras leichtsinnige und oberflächliche Art. »Weißt du, was ich glaube? Dass sie Papa nur geheiratet hat, um versorgt zu sein.« Olivia hatte ein so vertrautes Verhältnis zu Sascha, dass sie auch solche Fragen mit ihm diskutieren konnte.

Er wiegte den Kopf. »So etwas soll ja vorkommen. Leider kann ich mir kein Urteil erlauben, weil ich deine Stiefmutter nicht persönlich kenne.«

Sie schwiegen kurze Zeit. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Dann schnitt Sascha ein anderes Thema an. »Bei unserer Ferienreise im August bleibt es doch?«, erkundigte er sich, denn sie wollten mit einem Segelboot an der kroatischen Küste entlangsegeln.

Olivia nickte. »Wie viel sind wir jetzt eigentlich?«

Sascha rechnete nach. »Sieben oder acht. Peter weiß noch nicht, ob er mitkommen kann. Auf jeden Fall fahren wir mit zwei Autos hinunter. Das Boot liegt ja schon unten.«

Das Boot gehörte den Eltern einer Studentin. Sie hatten sich bereit erklärt, es den jungen Leuten zur Verfügung zu stellen. Unter den sieben jungen Leuten befanden sich zwei Pärchen, die fest zusammengehörten und auch verlobt waren. Alle anderen waren nur durch Kameradschaft und Freundschaft miteinander verbunden. So war es auch zwischen Olivia und Sascha.

»Hoffentlich hat dein Vater nichts dagegen?«

»Auf gar keinen Fall. Ihm ist doch sowieso egal, was ich mache. Er lebt nur für seine Geschäfte. Und selbst wenn er etwas dagegen hätte, würde das nichts ändern. Ich bin immerhin schon zweiundzwanzig. Alt genug, um selbst zu entscheiden.«

»Stimmt auch wieder«, erwiderte Sascha schmunzelnd. Dann musste er sich auf das Fahren konzentrieren. Denn der Verkehr wurde dichter. »Heute scheint wieder mal alles, was vier Räder hat, auf der Straße zu sein.«

Sie schwiegen, bis sie die Stadtgrenze von Stuttgart erreicht hatten. Olivias Elternhaus lag in einem Vorort von Stuttgart. Sascha kannte die Adresse.

»Wenn ich mich nicht irre, liegt am Ende dieser Straße euer Haus.« Sie befanden sich nun in einer ruhigen und gepflegten Villengegend.

»Du irrst dich nicht.« Olivia wurde ein wenig nervös. Diese Nervosität überfiel sie jedesmal wieder, wenn sie nach Hause kam. Es war eine Mischung aus Freude und Angst. Angst davor, was sich in ihrer Abwesenheit zu Hause ereignet haben würde.

Doch dann hielt Sascha vor dem Haus. Olivia sah die vertraute Gestalt der kleinen Schwester im Garten, und ihre Angst war wie weggeblasen. Sie sprang aus dem Wagen. »Natalie!«

Die Kleine drehte sich um, sah die große Schwester und kam mit einem Aufschrei zur Gartentür gerannt. Noch im Laufen begann sie zu reden.

Olivia, die diese Angewohnheit kannte, musste lächeln. Dann hielt sie die kleine Schwester in den Armen.

»Den ganzen Tag, schon den ganzen Tag warte ich auf dich.«

»Aber du wusstest doch, dass ich erst am Nachmittag hier sein würde, Nadja. Hat Mutti dir das nicht gesagt?«

Die kindlichen Züge verdüsterten sich. »Nein. Sie erzählt mir ja nie etwas, wenn sie mit dir telefoniert.« Ein wenig schüchtern schaute sie zu Sascha von Schoenecker empor. Seine Größe war es, die sie einschüchterte.

»Das ist mein Freund Sascha«, erklärte Olivia. »Sag’ ihm guten Tag.«

»Guten Tag, Sascha.«

»Guten Tag, Natalie.«

»Du darfst Nadja zu mir sagen. Das darf aber nicht jeder«, fügte sie schnell hinzu. »Nur Olivias Freunde dürfen es.« Sie blickte lächelnd zu dem großen Sascha empor. Seine Länge ängstigte sie nun schon nicht mehr.

»Vielen Dank, Nadja. Das ist sehr lieb von dir.« Sascha beugte sich zu der Kleinen hinab. »Ich habe deine Schwester und dich nach Sophienlust eingeladen.«

»Oh!« Natalie schaute ihren neuen Freund atemlos an. Sie kannte das Kinderheim. Bei jedem Besuch von Olivia bettelte sie um einen Ausflug nach Sophienlust. »Wohnst du auch dort?«

»Nur in den Ferien«, erklärte Sascha, während er Olivias Koffer aus dem Wagen hob. Dann verabschiedete er sich.

Olivia und Nadja winkten seinem Wagen nach, bis er verschwunden war. »Fahren wir wirklich nach Sophienlust, Olivia?«, erkundigte sich Nadja.

Die ältere Schwester nickte. »Am Wochenende. Freust du dich?«

»Und wie!« Plötzlich fuhr die Kleine erschrocken herum und begann zum Haus zu laufen. »Das Baby! Es ist ja ganz allein!«, rief sie noch im Laufen.

Olivia kam hinter ihr her. »Was denn für ein Baby?«

»Na, unseres!« Nadja war stehengeblieben. »Weißt du das nicht?«

Wie vom Schlag gerührt stand Olivia da. Sprachlos starrte sie die kleine Schwester an. »Willst du damit etwa sagen, dass Mutti ein Baby bekommen hat.«

Nadja nickte.

»Das gibt es doch gar nicht«, überlegte Olivia laut. »Man bekommt doch nicht einfach so von heute auf morgen ein Kind.«

»Wir haben aber wirklich ein Baby«, widersprach Nadja kleinlaut und zog Olivia ins Haus.

Mitten im Wohnzimmer stand ein Stubenwagen. Und darin lag tatsächlich ein Baby. Es schlief.

»Wann ist es denn auf die Welt gekommen?«

Nadja hatte sich den Tag gemerkt. Sie nannte ihn.

Olivia rechnete nach, wann sie die Stiefmutter zum letzten Mal gesehen hatte. Das war zu Weihnachten gewesen. Damals hatte man noch nicht gesehen, dass sie ein Kind bekommen würde. Aber sie musste es zu dieser Zeit schon gewusst haben. Und der Vater auch.

»Warum hat Mutti mir am Telefon nichts davon gesagt?«, erkundigte sich Olivia.

Darauf wusste die kleine Nadja keine Antwort.

»Wo ist sie eigentlich?« Olivia blickte sich im Wohnzimmer um.

»Weggegangen«, antwortete Nadja lakonisch.

»Weggegangen? Du meinst, sie ist weggegangen und hat dich mit dem Baby hier allein gelassen?« Olivia war fassungslos.

Nadja nickte nur. »Das macht sie doch immer«, berichtete sie. Ganz automatisch warf sie dabei einen Blick in den Stubenwagen. Das Baby schlief noch. Da sprach sie weiter. Sie erzählte, dass die Mutter fast jeden Tag allein ausgehe. »Ich passe dann immer auf Stupsi auf.«

»Stupsi?« Olivia trat zu dem Stubenwagen. »Ist es ein Junge.«

»Ja. Eigentlich heißt er Stefan. Aber ich sage immer Stupsi zu ihm. Ist doch viel schöner, oder?«

Olivia nickte. Sie stand vor dem Kinderwagen und betrachtete das schlafende Baby. Ein ganz seltsames Gefühl beschlich sie dabei. Mitleid und daher auch Zuneigung erfassten sie. Jedes Baby braucht seine Mutter, dachte sie. Nur sie kann ihm Nestwärme und Geborgenheit geben. Aber dieser kleine Kerl liegt allein da. Nur von einem halbwüchsigen Mädchen beaufsichtigt. Von einem Kind, das sich selbst noch nach Liebe und Zärtlichkeit sehnt.

Während Olivia das Baby noch immer sinnend betrachtete, schlug es die Augen auf. Braune Augen. Das sind meine Augen, dachte Olivia. Aber natürlich kann sich das wieder ändern.

»Stupsi ist wach. Willst du ihn mal auf den Arm nehmen, Olivia?«

»Ich weiß nicht … Vielleicht fängt er dann zu weinen an.« Olivia war unsicher. Sie hatte ja keine Übung im Umgang mit Babys.

»Ach wo. Bei mir weint er ja auch nicht.« Schon griff Nadja nach dem Kind.

Olivia kam ihr zuvor. »Lass es doch lieber mich machen.« Vorsichtig hob sie Stupsi aus dem Stubenwagen. »Der Name Stupsi passt zu ihm. Wie süß er ist.« Sie legte das Baby vorsichtig in ihre Armbeuge. »Nicht weinen, Stupsi.«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, versicherte Nadja ihr schnell. »Er weint nie. Er ist richtig brav. Nur bei Mutti weint er manchmal«, fügte sie leise hinzu.

Olivia konnte immer noch nicht fassen, dass Sandra das kleine Kind allein ließ. »Kommt das wirklich öfters vor, Nadja?«

»Was meinst du?«

»Dass Mutti dich mit dem Baby allein lässt.«

Nadja nickte. »Wenn Vati nicht da ist, geht sie immer weg. Ich weiß nicht, wohin. Oft kommt sie erst dann nach Hause, wenn es schon dunkel ist.«

Das ist leichtsinnig und verantwortungslos, dachte Olivia empört. Es kann allerlei passieren, wenn die beiden Kinder allein im Haus sind. Ob Papa davon weiß?

Stupsi streckte seine kurzen Ärmchen in die Luft und betrachtete sie dann erstaunt. Doch sein Blick konnte sich noch nicht auf einen Punkt konzentrieren. Immer wieder irrte er ab. Dann begann der Kleine fröhlich zu krähen. Es war ein eigenartiger Laut. Kein Lachen, aber auch kein Weinen.

»Wie süß er ist«, meinte Olivia andächtig.

»Nicht wahr?«, freute sich Nadja. »Richtig niedlich. Ich kann viel besser mit ihm spielen als mit allen meinen Puppen.«

Olivia musste lächeln. »Ein Baby ist doch nicht zum Spielen da.«

»Aber wenn ich doch allein mit ihm bin? Und er sich langweilt? Dann kann ich doch mit ihm spielen. Ich mache das ja auch ganz vorsichtig.«

»Das glaube ich dir.« Olivia legte das Baby zurück in den Stubenwagen. »Wann hat er eigentlich zum letzten Mal sein Fläschchen bekommen?«

Nadja überlegte. »Heute Mittag. Bevor Mutti weggegangen ist. Sie hat gesagt, um vier muss er das nächstemal zu essen kriegen. Und dann wieder um acht.«

»Und das sollst du allein machen?«, fragte Olivia ungläubig.

Nadja fand das jedoch gar nicht ungewöhnlich. »Mach ich doch oft. Ich kann es. Pass mal auf.« Sie lief schnell in die Küche. Gleich darauf kam sie mit einem vorbereiteten Fläschchen zurück. »Greif mal an, es ist sogar warm.«

Kopfschüttelnd tastete Olivia nach dem Glas. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die fünfjährige Nadja in der Lage war, ausreichend für das Baby zu sorgen.

Doch Nadja machte ihre Sache sehr geschickt. Das ließ darauf schließen, dass sie sich wirklich oft um das Baby kümmern musste. Ich werde mit Papa darüber sprechen, beschloss Olivia. »Was machst du denn, wenn das Baby trockengelegt werden muss, Nadja?«

Jetzt wurde Nadja verlegen. »Das kann ich noch nicht.«

Das bedeutete also, dass Stupsi stundenlang in seinen nassen Windeln liegenbleiben musste, wenn Sandra nicht da war. Olivia spürte, wie Zorn gegen die verantwortungslose Stiefmutter in ihr aufstieg.

Obwohl Olivia so etwas noch nie getan hatte, begann sie das Baby auszuziehen. Stupsi war tatsächlich nass. »Weißt du, wo Mutti die Windeln hat, Nadja?«

»Ja.« Eifrig lief Nadja in die Küche. Gleich darauf kam sie mit einem Korb zurück. Darin befand sich alles, was man benötigte, um ein Baby trockenzulegen.

»Toll hast du das gemacht, Olivia!« Nadja klatschte begeistert in die Hände, als Stupsi frisch gewickelt da lag. »Schau, jetzt hat er sogar gelacht. Er freut sich auch.«

Gemeinsam brachten sie nun das Baby zu Bett. Stupsi hatte ein eigenes Zimmer. »Das ist ja völlig neu eingerichtet«, staunte Olivia. Mit Stupsi auf dem Arm hatte sie das ehemalige Dienstbotenzimmer betreten. Erstaunt blickte sie sich um. Neue lustige Kindertapeten, weiße Schleiflackmöbel und eine hübsche alte Bauernwiege. »Wirklich schön ist das geworden. So hell und freundlich.«

»Meinst du, es gefällt Stupsi auch?«, fragte Najda völlig ernst. »Mutti hat gesagt, er kann noch nichts sehen. Aber er hat doch Augen. Er ist doch nicht blind, Olivia?« Erschrocken und besorgt klang Nadjas Stimme.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Stupsi kann ganz bestimmt sehen. Er hat nur noch nicht gelernt, seinen Blick auf ein Ziel zu konzentrieren.«

»Lernt er es noch?«

»Ganz sicher.« Olivia legte das Baby in die hübsche alte Wiege. Liebevoll deckte sie den Kleinen zu.

Nadja stand dabei und schaute aufmerksam zu. Kein Handgriff Olivias entging ihr.

»Schlaf jetzt, mein kleiner Stefan.«

»Sag’ Stupsi zu ihm«, bettelte Nadja.

»Also gut.« Olivia beugte sich über die Wiege und hauchte einen Kuss auf die zarte Babywange. »Stupsi«, murmelte sie dabei. Dann löschte sie das Licht.

Auf Zehenspitzen verließen die beiden das Zimmer. Es wurde Abend. Aber Sandra kam immer noch nicht. Schließlich richtete Olivia für sich und Nadja etwas zu essen.

»Wann kommt Papa eigentlich von seiner Geschäftsreise zurück?«, fragte Olivia. Sie wusste, dass der Vater eine Messe besuchte, die alljährlich um diese Zeit stattfand.

Nadja hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Weiß ich nicht. Er ist doch so oft weg. Da merke ich mir nie, wann er wiederkommt. Auf einmal ist er dann immer wieder da. Aber er bleibt nie lange.«

Allmählich begriff Olivia, dass sich die Verhältnisse im Haus grundlegend geändert hatten. Der Vater war nie da, und die Mutter kümmerte sich nicht um die Kinder. Eine richtige Rabenmutter ist sie, dachte Olivia erbost. Man sollte ihr die Kinder einfach wegnehmen.

»Ich freue mich, wenn es erst Sonntag ist«, hörte sie Nadja sagen. »Weil wir dann nach Sophienlust fahren.« Die Kleine gähnte herzhaft. Dabei fielen ihr die Augen zu. Doch schnell riss sie sie wieder auf. »Ich bin noch nicht müde.«

Olivia lächelte. »Aber natürlich bist du müde. Komm, ich bringe dich zu Bett.«

Nur ungern stand Nadja auf. »Bleibst du dann noch ein bisschen bei mir? In meinem Zimmer?« Sie mochte nicht gern allein sein.

Olivia verspach es. Doch dann schlief Nadja ein, kaum dass sie im Bett lag. Leise löschte Olivia das Licht und schloss die Tür.

Dann saß sie allein im Wohnzimmer, beschäftigt mit ihren Gedanken. Als ein leises Krähen aus dem Kinderzimmer drang, sprang sie erschrocken auf. Es war schon nach halb neun. Und um acht Uhr hätte Stupsi sein Fläschchen bekommen sollen. Jetzt meldete er sich zaghaft.

Olivia nahm ihn aus seiner Wiege. Mit dem Baby auf dem Arm betrat sie die Küche und fragte sich hilflos, womit sie Stupsi füttern sollte. Mit Babynahrung kannte sie sich nicht aus. Sie wusste auch nicht, was ein nur wenige Wochen altes Baby bekommen durfte. Doch dann fand sie ein vorbereitetes Fläschchen. In einer kleinen Warmhaltevorrichtung. Sie gab Stupsi das Fläschchen. Brav trank er es bis auf den letzten Tropfen aus. Vorsichtshalber erneuerte Olivia noch einmal die Windeln. Dann brachte sie Stupsi zurück in sein Zimmer und wiegte ihn in den Schlaf.