Sophienlust 117 – Familienroman - Isabell Rohde - E-Book

Sophienlust 117 – Familienroman E-Book

Isabell Rohde

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Ein lauer Sommerwind wehte Carlotta Hansen entgegen, als sie auf das alte Häuschen der Dörings zuschritt. Kein Laut rührte sich. Es war so still, dass sie das zarte Geräusch der hin und her wiegenden Tulpenstengel wahrnehmen konnte. Carlotta sah sich um, bevor sie das Haus betrat. Der Garten der Dörings war wundervoll gepflegt, und der Rosenstock, der sich an der Hausmauer bis unter das tiefgezogene Dach emporrankte, zeigte die ersten Knospen. Es war Mai, und überall schien neues Leben zu erwachen. Auch hier, bei dem alten Ehepaar. Bevor Carlotta eintrat, klopfte sie heftig gegen die Holztür. Dann öffnete sie diese und rief in den Flur hinein: "Frau Döring, ich bin es. Carlotta Hansen."

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Sophienlust –117–

Nur das Spielzeug ihrer Mutter

Roman von Isabell Rohde

Ein lauer Sommerwind wehte Carlotta Hansen entgegen, als sie auf das alte Häuschen der Dörings zuschritt.

Kein Laut rührte sich. Es war so still, dass sie das zarte Geräusch der hin und her wiegenden Tulpenstengel wahrnehmen konnte.

Carlotta sah sich um, bevor sie das Haus betrat. Der Garten der Dörings war wundervoll gepflegt, und der Rosenstock, der sich an der Hausmauer bis unter das tiefgezogene Dach emporrankte, zeigte die ersten Knospen. Es war Mai, und überall schien neues Leben zu erwachen. Auch hier, bei dem alten Ehepaar.

Bevor Carlotta eintrat, klopfte sie heftig gegen die Holztür. Dann öffnete sie diese und rief in den Flur hinein: »Frau Döring, ich bin es. Carlotta Hansen.«

Sofort hörte sie schnelle Schritte. Die alte Dame eilte die Treppe herab. Sie war zierlich und schlank. Ihr weißes Haar war noch voll, ihre Augen strahlten in einem intensiven Blau. Aber als sie der jungen Sozialhelferin die Hände entgegenstreckte, ging nicht mehr so viel Lebensfreude von ihr aus wie sonst.

»Kommen Sie, Carlotta. Kommen Sie in die Küche. Ich habe einen Kaffee gekocht. Den trinken Sie doch so gern. Und Kuchen habe ich auch.« Fürsorglich tätschelte sie die Hand der jungen Frau und zog sie mit sich.

In der Küche hingen rot-weiß karierte Gardinen. Aus dem gleichen Stoff war die Tischdecke. Das dunkelbraune Keramikgeschirr darauf wirkte äußerst gemütlich. Und ein selbstgebackener Marmorkuchen prangte in der Mitte des Tisches.

»Aber Frau Döring, wie viel Arbeit haben Sie sich wieder gemacht! Sie sollten nicht so viele Umstände machen. Jetzt, da ihr Mann aus dem Krankenhaus zurück ist, müssen Sie ihn doch pflegen, damit er wieder gesund wird.«

Über das Gesicht der alten Dame huschte ein nervöses Zucken. Sie holte die Kaffeekanne vom Herd und schenkte Carlotta und sich selbst ein. Unruhig blickten ihre Augen über den Tisch, als fehle etwas.

Carlotta Hansen glaubte ihre Gedanken zu erraten. »Ist Sonja nicht zu Hause?« fragte sie.

Sonja war die Enkelin der Dörings. Sie wuchs bei den Großeltern auf und war der Sonnenschein der alten Leute.

»Sie ist heute zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Drüben, in der Stadt. Darum habe ich Sie ja so dringend zu mir gebeten, Carlotta. Ich muss wegen Sonja mit Ihnen sprechen.«

»Ist etwas geschehen? Hat sie Schwierigkeiten in der Schule?« Carlotta setzte die Tasse ab. Die siebenjährige Sonja war ein heiteres intelligentes Kind. Carlotta konnte sich kaum vorstellen, dass sie den Großeltern irgendwelchen Kummer machte.

Anna Döring schüttelte langsam den Kopf. Ihre Hand nestelte ein Taschentuch hervor. Sie legte es vor ihre Augen, bevor sie erwiderte: »Es geht nicht einmal um Sonja, Carlotta. Sondern um meinen Mann.«

»Geht es ihm denn nicht gut? Er ist doch gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden …«

Carlotta sprach nicht weiter. Als Sozialhelferin sah sie viel Elend. Sogar hier, in dem Provinzstädtchen, gab es viel verstecktes Leid. Das Ehepaar Döring hatte immer zu ihren Freunden gehört, obwohl sie sich beruflich darum kümmern musste, dass Sonja bei den beiden gut aufgehoben war. Bisher hatte sie noch nie irgendwelche Beanstandungen gehabt. Das Kind fand bei den alten Leuten die Geborgenheit und Liebe, die es benötigte. Sollte das nun anders sein, weil der Großvater eine schwere Krankheit überwunden hatte? Oder war sein Gesundheitszustand doch nicht so zufriedenstellend, wie sie angenommen hatte?

»Mein Mann schläft jetzt«, sagte Anna Döring ruhig. »Er kann uns nicht hören.« Sie griff über den Tisch nach Carlottas Hand. Die Sozialhelferin spürte, wie ein Zittern durch die abgearbeiteten Hände der Frau ging. »Seine Krankheit ist unheilbar, Fräulein Carlotta. Er ist nur deshalb aus dem Krankenhaus entlassen worden, damit er die letzten Wochen seines Lebens in meiner Nähe verbringen kann. Noch kann ich ihn allein pflegen. Aber schon in einem Monat werde ich eine Krankenschwester benötigen. Bald wird es dem Ende zugehen.«

Die alte Dame hatte ruhig und gefasst gesprochen. Aber Carlotta war nun den Tränen nahe. Wie gut erinnerte sie sich noch an Sonjas Großvater. Noch letztes Jahr hatte er ihr immer vom Garten aus entgegengewunken, wenn sie ihr Fahrrad den kleinen Hügel hinaufgeschoben hatte. War sie dann bei ihm angelangt und hatte schwer geatmet, hatte er immer gutmütig gelacht.

Zu gern hätte Carlotta einige Worte des Trostes gesagt, wie sie sie sonst immer parat hatte. Aber diesmal fand sie sie einfach nicht. Ausgerechnet bei den Menschen, die ihr so ans Herz gewachsen waren, versagten ihr die Worte.

»Ich habe Sie hergebeten, weil es um Sonja geht, Carlotta. Ich will nicht, dass das Kind die letzten Lebenswochen seines Großvaters miterlebt. Sollte er wirklich in diesem Häuschen seinen letzten Atemzug tun, wird es für Sonja ein Schock sein. Sie hat ja nur uns.«

Carlotta begriff nun, worum es ging. Das Ehepaar Döring hatte erst nach fünfzehnjähriger Ehe einem Mädchen das Leben geschenkt. Stolz und glücklich, wie sie über ihr einziges Kind gewesen waren, hatten sie es maßlos verwöhnt. Irina Döring hatte ihnen das nicht gedankt. Kaum war sie einigermaßen selbständig gewesen, hatte sie sich in die Großstadt abgesetzt und war Serviererin geworden. Sie war erst dann zurückgekehrt, als sie ein Kind erwartet hatte. Und kaum war die kleine Sonja geboren worden, war sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

»Und Ihre Tochter, Frau Döring? Wird sie nicht erfahren, wie es um ihren Vater steht? Wird sie sich nicht ausnahmsweise um Sonja kümmern?«

Anna Döring hob hoffnungslos die Schultern. »Was soll Sonja bei ihr? Irina ist nun eine bekannte Sängerin. Aber sie hat seit Jahren kein gutes Wort und keine Stunde für das Kind übriggehabt.«

Carlotta sah auf ihren Teller. Das große Stück Marmorkuchen war noch unberührt. Sie konnte keinen Bissen herunterkriegen. Als sie aufblickte, sahen die Augen der alten Frau sie bittend an.

»Ob Sonja nicht einige Zeit bei Ihnen leben kann, Carlotta? Sie liebt Sie über alles. Und zu Ihnen haben wir viel Vertrauen.«

Die Sozialhelferin erwiderte den Blick ruhig. Ihr klares Gesicht mit den leicht schräggestellten Augen und der rötlichen Haarmähne drückte aus, wie intensiv sie überlegte. Auf ihrer Stupsnase waren eine Menge Sommersprossen, die nun stärker hervortraten. Denn Carlotta war blass geworden. Sie dachte daran, dass sie Sonja Döring gern um sich gehabt hätte. Aber wie sollte sie das anstellen? Konnte sie das siebenjährige Mädchen tagsüber allein in ihrer winzigen Wohnung lassen? Oder sollte sie es immer mitnehmen, wenn sie zu ihren Sozialfällen und Patienten ging? War es dem Kind zuzumuten, all das Elend mit anzusehen? War das nicht genauso schlimm, wie hier bei dem sterbendem Großvater zu leben?

»Irgendeine Lösung werde ich finden, Frau Döring. Sie können sich auf mich verlassen.« Die Worte gingen Carlotta nur mühsam über die Lippen. Sie wusste, wie sehr sie die alte Dame enttäuschen musste.

»Tun Sie es nicht für mich, Carlotta. Tun Sie es für Sonja und …« Anna Döring stockte. In ihren Augen glänzten Tränen.

Carlotta dachte an den gutherzigen Mann, der Sonjas Großvater war und oben in seinem Bett lag. Rasch versprach sie: »Wenn ich Sonja nicht zu mir nehmen kann, werde ich einen guten Platz für sie suchen, Frau Döring.« Ihre Hand legte sich auf den Arm der tapferen alten Frau.

»Soll das Kind zu Fremden gehen?«

»Ja, zu Fremden. Aber dort sind Kinder. Noch kann ich Ihnen nichts versprechen. Sprechen Sie vorläufig auch noch nicht mit Sonja darüber. Sonst macht sie sich umsonst Hoffnungen, in ein Heim zu kommen.«

»In ein Heim? Hat die Kleine nicht schon genug Kummer erlebt? Die Mutter kümmert sich nicht um sie, und wir sind alt und schwach. Nein, Sonja soll nicht in ein Heim.«

»Das Heim, das ich meine, ist ein Paradies für Kinder, Frau Döring. Vertrauen Sie mir doch.«

Carlotta erhob sich. Sie hatte noch andere Besuche zu machen. Außerdem wollte sie auch gleich an Schwester Regine schreiben. Hoffentlich ist sie noch in Sophienlust, dachte sie, als sie das Haus verließ.

Bevor Carlotta in ihr kleines Auto einstieg, das sie seit neuestem besaß, sah sie sich noch einmal um. Frau Döring stand unter der Tür. Ihre Kopfhaltung drückte Sorge aus. Leise winkend hob sie den Arm. Da wusste Carlotta, dass sie helfen musste.

*

Der erste Eindruck, den Carlotta von Sophienlust gewann, nahm ihr eine Riesenlast vom Herzen. Aufatmend fuhr sie an den hübschen Wegweisern vorbei. Sie zeigten ihr in doppelter Weise, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Als sie ihren Wagen vor dem großen Haus parkte, rannten einige Kinder gerade die Freitreppe herunter und in den Park hinein. Sie lachten und schrien um die Wette.

Eins von ihnen – es war Fabian Schöller – blieb bei ihr stehen. Neugierig sah der Junge sie an und fragte: »Wollen Sie zu Tante Isi?«

Carlotta wusste gar nicht, wer das war. »Nein, ich möchte zu Schwester Regine. Und auch zu Frau von Schoenecker. Ich bin angemeldet.«

Fabian sah sie mit einem triumphierenden Gesicht an. »Also doch zu Tante Isi. Das habe ich mir schon gedacht. Die meisten Leute, die ankommen, wollen zuerst einmal zu Tante Isi.«

»Und wer – bitte schön – ist Tante Isi?« Carlotta klemmte eine rote Haarsträhne hinter das Ohr und beugte sich in das Wageninnere, um ihre Handtasche hervorzuholen.

»Tante Isi ist Frau von Schoenecker, Nicks Mutter und vorläufige Chefin auf Sophienlust.«

»Oh, Regine!« Carlotta hatte nicht bemerkt, dass Schwester Regine herangekommen war. Nun drehte sie sich um und umarmte die alte Freundin.

»Bitte, Fabian«, wandte sich Schwester Regine an den Jungen, »sag’ Tante Isi Bescheid, dass Frau Hansen gekommen ist. Wir wollen etwas besprechen.«

Fabian trottete davon. Offensichtlich wusste er ganz genau, wo Denise von Schoenecker zu finden war.

»Schön ist es hier, Regine. Ich kann mir vorstellen, dass du dich hier wohl fühlst. Nach allem, was du mitgemacht hast, muss dir die Beschäftigung hier doch sehr viel Freude bringen.«

Untergehakt schlenderten die beiden jungen Frauen auf das Herrenhaus zu.

»Ja, es ist wunderbar hier, Carlotta«, bestätigte die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust. »Man hat immer das Gefühl, wirklich etwas für andere Menschen tun zu können. Du wirst mich verstehen. Auch du hast ja mit deiner Berufswahl ausgedrückt, was dir am Herzen liegt. Wie ist es dir seit unserer Ausbildung ergangen? Wir haben uns fast acht Jahre lang nicht mehr gesehen.«

Carlotta blieb unter der Freitreppe stehen und blickte sich um, als habe sie die Frage gar nicht gehört. Genüsslich sog sie die gute Luft ein. Dann nickte sie lächelnd.

»Ach, Regine, vieles ist seitdem geschehen. Auch ich wäre fast schon einmal im Ehehafen gelandet. Aber dann endete alles mit einer großen Enttäuschung. Seitdem bin ich vorsichtig geworden. Verstehst du das?«

Regine sah sie verständnisvoll an. »Meine Liebe zu meinem Mann endete zwar nicht mit einer Enttäuschung, sondern mit seinem Tod, aber auch ich kann mir kaum vorstellen, dass ich mich noch einmal an einen Menschen binde. Hier werde ich gebraucht und geliebt. Aber du, du solltest noch nicht so tun, als wäre deine Jugend schon vorbei. Du möchtest doch bestimmt einmal Kinder haben, nicht wahr?«

Carlotta antwortete nicht. Statt dessen wies sie mit dem Kinn zum Park hinüber. Von dort kam eine junge Frau auf sie zu. An ihrer Hand hüpfte ein kleines Mädchen. Fabian ging neben ihr her.

»Ist das Frau von Schoenecker?«, fragte Carlotta erstaunt. »Ich habe sie mir ganz anders vorgestellt.«

»Wie denn?«, wollte Regine wissen und blickte die Freundin amüsiert an. Carlotta hob die Schultern. »Anders, Regine. Ganz anders. Irgendwie strenger und älter und dicker und …«

Sie mussten beide lachen, als wären sie noch die jungen Mädchen, die gemeinsam die Schwesternschule in Norddeutschland besucht hatten.

Denise von Schoenecker blickte die Besucherin offen und freundlich an. Sie trug ein bezauberndes Dirndl, und ihre Wangen waren rosig angehaucht. Gerade noch hatte sie mit den Kleinen auf der Spielwiese herumgetobt.

Carlotta ging ihr einige Stufen entgegen und stellte sich vor. Danach reichte sie auch der kleinen Heide Holsten die Hand.

»So«, meinte Denise zu dem niedlichen Mädchen und zu Fabian. »Vielen Dank, dass ihr mich hierher geleitet habt. Nun weiß ich allein weiter.«

Die Kinder lachten. Dann liefen sie gemeinsam zurück.

Kurz darauf saßen Carlotta, Schwester Regine und Denise im Biedermeierzimmer. Bewundernd glitt der Blick der Sozialhelferin über das gepflegte Mobiliar. »Ruinieren Ihnen die Kinder nicht die kostbaren Möbel?«, fragte sie neugierig.

»Ruinieren?« Denise lachte. »Nein, warum denn? Die Kinder haben genug anderes zu tun. Sie haben ihr Spielzimmer und viel Auslauf. Außerdem versuchen wir ihnen eine gewisse Hochachtung vor dem Leben und allen damit verbundenen Schönheiten zu vermitteln. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch nie ein Verbot oder eine Maßregelung aussprechen musste, was unsere Einrichtung anbelangt.«

Je länger Carlotta dieser Frau zuhörte, desto heftiger wurde ihr Wunsch, Sonja würde hier Aufnahme finden. Als Denise sie dann aufforderte, von dem Kind zu erzählen, tat sie es nur zu gern.

Ruhig und aufmerksam hörte Denise ihr zu. Dann fragte sie: »Und zwischen der kleinen Sonja und ihrer Mutter besteht keinerlei Verbindung? Wie ist so etwas möglich?«

Carlotta hatte dunkelbraune Augen, die einen eigenartigen Kontrast zu ihrem rötlichen Haar bildeten. Diese Augen leuchteten auf, als sie erwiderte: »Aber es ist doch nur gut, dass das Kind so unbelastet bei seinen Großeltern aufwachsen darf. Wir vom Vormundschaftsgericht haben diese Lösung immer akzeptiert. Natürlich haben wir nicht damit gerechnet, dass Herr Döring so schwer erkranken würde.«

»Weiß Sonjas Großvater, dass sein Gesundheitszustand hoffnungslos ist?«

»Nein, Frau von Schoenecker. Wenn Sonja zu Ihnen kommen kann, werden wir …, das heißt, dann werden Frau Döring und ich zu einer Notlüge greifen müssen. Aber für Sonja wäre es eine zu schreckliche Erfahrung, ihren geliebten Großvater leiden zu sehen. Sie war schon so verstört, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde.«

»Und wenn alles vorüber ist, Carlotta? Was soll dann mit dem Kind geschehen?« Regine Nielsen dachte schon weiter.

»Sie wird dann zu ihrer Großmutter zurückkehren. Frau Döring ist sehr rüstig und eine sehr liebenswerte Frau. Nach dem Tod ihres Mannes wird sie die Gesellschaft des Kindes doppelt brauchen.«

»Sonja kann sofort kommen, Frau Hansen. Und sie kann so lange bleiben, wie Sie es für richtig halten. In unserer Schule wird sie sich wohl einleben, nicht wahr?«

»Bestimmt, Frau von Schoenecker. Sonja ist ja schon über ein Jahr in der Schule. Ein blutiger Anfänger ist sie nicht mehr.«

Carlotta war so erleichtert, dass sie nun wieder lachen konnte. Als sie sich eine halbe Stunde später von Schwester Regine verabschiedete, umarmte sie ihre alte Freundin und sagte: »Hab Dank, Regine. Obwohl wir uns so lange aus den Augen verloren hatten, warst du doch gut zu mir.«

»Zu dir?«, fragte Schwester Regine amüsiert. »Doch wohl eher zu der kleinen Sonja Döring. Außerdem hoffe ich, dass du uns recht oft besuchen wirst, wenn dein Schützling bei uns lebt.«

»Natürlich, Regine.« Carlotta setzte sich hinter das Steuer. »Ich muss doch Großmutter Döring berichten, wohin ihre Enkelin kommen soll«, entschuldigte sie ihre rasche Abreise.

Dann fuhr sie schwungvoll von dannen. Jetzt erst konnte sie die Fahrt durch die hübsche Landschaft genießen. Sie wusste nun, dass sie der lieben Frau Döring eine große Sorge abnehmen konnte.

*

Als Carlotta Hansen den kleinen Hügel zum Döringschen Haus hinauffuhr, verlangsamte sie ihre Fahrt unwillkürlich. Vor dem alten Haus standen mehrere Autos. Ein Wagen der Landpolizei, ein weißes Krankenauto und zwei Privatwagen. Viele Menschen hatten sich im Vordergarten versammelt.

Was tun die Leute da? dachte die Sozialhelferin. Sie werden doch nicht die zarten Pflanzen in Opa Dörings Garten niedertrampeln?

Doch dann beschlich sie eine fürchterliche Ahnung. Sie starrte beunruhigt in die Gesichter der Neugierigen, bevor sie ihr Auto verließ.

Sofort trat einer der Polizisten auf sie zu. Carlotta kannte ihn vom Revier der Kleinstadt.

»Ein Glück, dass Sie endlich da sind, Frau Hansen. Ich habe schon bei Ihnen angerufen, aber es hat sich keiner gemeldet.«

»Was ist denn geschehen?«, fragte Carlotta.

»Sie müssen sich um Sonja Döring kümmern, Frau Hansen.«

»Wo ist sie?« Die Art, wie er von dem Kind sprach, ging ihr nahe. »Ist ihr etwas passiert?«

»Ja und nein. Sie hat ihre Großeltern entdeckt. Die beiden haben sich das Leben genommen. Aber unsere Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Ebenso ist es möglich, dass Herr Döring seine Frau und dann sich selbst vergiftet hat. Auf jeden Fall waren die beiden tot, als Sonja aus der Schule kam.«

»Um Gottes willen«, brach es aus Carlotta heraus. Tränen traten in ihre Augen. »Aber warum denn? Warum denn?«, stammelte sie.

Sogleich bildete sich ein Kreis von Neugierigen um sie. »Sind Sie mit denen verwandt?«, fragte eine ältere Frau.

Carlotta schüttelte den Kopf. Nein, sie war nicht mit den Dörings verwandt. Aber die beiden alten Leute hatten ihr so nahegestanden wie eine Familie.

»Frau Hansen ist Sozialhelferin«, erläuterte der Polizist. »Sie hat die Dörings und Sonja seit Jahren betreut. Bitte machen Sie Platz«, forderte er dann die Leute unwirsch auf.

Für einen Moment stand Carlotta ganz allein da. Trostlos blickte sie auf die verwüsteten Blumenbeete. Ein entsetzliches Gefühl überkam sie. Vielleicht hatte sie die Verzweiflung der alten Frau nicht genau erkannt? War es ihre Schuld, dass die Dörings zu diesem letzten Ausweg gegriffen hatten? Nun hatte Sonja genau das miterleben müssen, was um jeden Preis hatte verhindert werden sollen.

Sonja! Ich muss zu ihr, dachte Carlotta und riss sich zusammen. Sie wollte dem Polizisten ins Haus folgen, um von ihm zu erfahren, wo das Kind sich aufhielt. Doch man ließ sie zunächst gar nicht hinein. Erst als sie sich auswies, trat der andere Beamte zur Seite.

Das sonst so gemütliche Haus ähnelte nun einer Behörde. Überall wurden Türen geöffnet und wieder zugeschlagen. Herren in weißen Kitteln und in Uniform eilten die Teppe hinauf und wieder herunter. Carlotta fasste das Geländer ganz fest an. Sie bebte am ganzen Körper. Doch mitten in ihrem Schmerz erkannte sie, dass sie Glück gehabt hatte. Sie konnte Sonja sofort von hier weg nach Sophienlust bringen. Sie wusste, dass die Atmosphäre dieses Kinderparadieses ihren Schützling über das Schreckliche hinweghelfen würde.

»Sie wollen wissen, wo Sonja Döring ist?« Ein junger Polizist trat auf sie zu.

Carlotta nickte.

»Aber bringen Sie sie bloß nicht noch einmal her«, fuhr der junge Mann fort. »Irgendwo müssen Sie eine Pflegestelle für das Kind finden. Wir sind ja noch lange nicht fertig.«