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Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Seit Tagen konnte Pfarrer Leipold sich nicht mehr so recht an seinem Amt und seinem Dienst an Gott und seiner Gemeinde erfreuen. Und wenn ihm bewusst wurde, woran das lag, fühlte er sich dazu noch kleinmütig und schäbig. Es lag nämlich an dem Gerüst, das man im Kirchenschiff des Gotteshauses St. Quirin errichtet hatte. Und noch nie hatte er von einer Kanzlei predigen müssen, von der aus ihm so ein Ungetüm aus Stangen den Blick auf die Schäfchen seiner Gemeinde verwehrte. Nein – trotz aller Gottesfurcht – das gefiel ihm nicht. Aber noch ärger hatte ihn der Anruf des Restaurants Hartwig getroffen. Der alte und anerkannte Meister seines Fachs hatte sich den Arm gebrochen, konnte nun nicht aufs Gerüst klettern und musste einem Kollegen das Restaurieren der Deckenbilder des Heiligen Sebastian und der Heiligen Clara überlassen. Aber dass er nun eine Vertreterin schickte – und auch noch eine Frau aus der Großstadt dazu – das erschien dem Pfarrer wahrhaftig wie eine Prüfung Gottes. Womit hatte er das verdient? Eine Frau …! Einer aus der Großstadt fehlte es doch am Respekt für diesen Auftrag! Und wahrscheinlich ertrug sich das gemächliche Leben hier in Reckenfeld nicht, sehnte sich zurück in den Trubel und Vergnügungsstress Münchens und nahm sich nicht genügend Zeit für die sorgfältige Ausführung dieser feinen Arbeit. Pfarrer Leipold saß in seinem Ohrensessel, hielt die Bibel und sein Notizbüchlein auf dem Schoß und sah dabei wie ein Leidgeprüfter in den Dauerregen dieses Sommertags hinaus. Und zu allem Überfluss nahm ihm der dichte Regenschleier auch noch die Aussicht auf die Blumenpracht seines Pfarrgartens. Draußen im Flur näherten sich polternde Schritte. Das war Ludovica, seine Haushälterin. Sie klopfte energisch gegen die Tür und stand gleich darauf in seinem Arbeitszimmer, wobei sie die Hände in die Hüften stemmte und heftig ein- und ausatmete, bis ihr rundes Gesicht rot wie ein Winteräpfelchen wurde. »Diese Dame ist jetzt da, Hochwürden! Es ist doch schon Abend!
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Seit Tagen konnte Pfarrer Leipold sich nicht mehr so recht an seinem Amt und seinem Dienst an Gott und seiner Gemeinde erfreuen. Und wenn ihm bewusst wurde, woran das lag, fühlte er sich dazu noch kleinmütig und schäbig. Es lag nämlich an dem Gerüst, das man im Kirchenschiff des Gotteshauses St. Quirin errichtet hatte. Und noch nie hatte er von einer Kanzlei predigen müssen, von der aus ihm so ein Ungetüm aus Stangen den Blick auf die Schäfchen seiner Gemeinde verwehrte.
Nein – trotz aller Gottesfurcht – das gefiel ihm nicht. Aber noch ärger hatte ihn der Anruf des Restaurants Hartwig getroffen. Der alte und anerkannte Meister seines Fachs hatte sich den Arm gebrochen, konnte nun nicht aufs Gerüst klettern und musste einem Kollegen das Restaurieren der Deckenbilder des Heiligen Sebastian und der Heiligen Clara überlassen.
Aber dass er nun eine Vertreterin schickte – und auch noch eine Frau aus der Großstadt dazu – das erschien dem Pfarrer wahrhaftig wie eine Prüfung Gottes. Womit hatte er das verdient? Eine Frau …! Einer aus der Großstadt fehlte es doch am Respekt für diesen Auftrag! Und wahrscheinlich ertrug sich das gemächliche Leben hier in Reckenfeld nicht, sehnte sich zurück in den Trubel und Vergnügungsstress Münchens und nahm sich nicht genügend Zeit für die sorgfältige Ausführung dieser feinen Arbeit.
Pfarrer Leipold saß in seinem Ohrensessel, hielt die Bibel und sein Notizbüchlein auf dem Schoß und sah dabei wie ein Leidgeprüfter in den Dauerregen dieses Sommertags hinaus. Und zu allem Überfluss nahm ihm der dichte Regenschleier auch noch die Aussicht auf die Blumenpracht seines Pfarrgartens.
Draußen im Flur näherten sich polternde Schritte. Das war Ludovica, seine Haushälterin. Sie klopfte energisch gegen die Tür und stand gleich darauf in seinem Arbeitszimmer, wobei sie die Hände in die Hüften stemmte und heftig ein- und ausatmete, bis ihr rundes Gesicht rot wie ein Winteräpfelchen wurde.
»Diese Dame ist jetzt da, Hochwürden! Es ist doch schon Abend! Soll ich eine Vesper servieren? Und etwa ein Bett richten? Nein, Hochwürden, das können Sie nicht von mir erwarten.« Sie schnaufte. »Ein Mannsbild sollte kommen, um unsere Heiligen frisch anzupinseln. Ja, das wär recht gewesen. Aber so eine!«
»Ludovica …«, unterbrach der Pfarrer mit leidender Stimme. »Bitte, mäßigen Sie sich doch. Verurteilen Sie kein Menschenkind, das Sie nicht kennen. Gottes Garten ist groß, seine Geschöpfe sind ihm alle gleich lieb.«
Sie faltete die Hände über ihre Dirndlschürze und hob den Blick zur Decke des niedrigen Raums. »Aber die hat auch noch ein Kind dabei, Hochwürden!«, stieß sie hervor, als sei ihr letztes Stündchen gekommen.
Der alte Herr sprang auf und eilte an ihr vorbei. Diese Frau aus München, ob mit oder ohne Kind, durfte nicht gleich geprellt werden. Das konnte die Restaurierung der Heiligen verzögern, und dann stand das Gerüst vielleicht noch zu Weihnachten in seinem Gotteshaus!
Ludovica hatte die Haustür in ihrem ersten Schrecken schnell wieder geschlossen. Er schüttelte verärgert den Kopf, öffnete sie wieder und sah in das Gesicht eines jungen Mädchens. Der Regenschirm beschattete es, aber ihm fielen sofort die schmal geschnittenen Augen auf, aus denen es ihm grün und leicht gereizt entgegenblitzte. Und tatsächlich! Neben ihr stand ein kleines Mädchen, das ihn genauso anschaute, wenn auch mit bedeutend mehr Furcht im Blick.
»Gott zum Gruß und euch zum Segen, meine Kinder!«
Babsi Holthusen holte erstmal Luft. »Hochwürden Leipold? Ich vertrete Meister Hartwig. Ich komme wegen der Heiligenbilder.« Sie sah ihn fragend an. War der schwerhörig?
»Und … und das Kind?« Er neigte sich etwas vor.
»Das ist Jule, meine Tochter.«
»So. Brav, mein Kind, dass du deine Mutter begleitest, obwohl es doch so regnet. Da wird der Papi froh sein, wenn du wieder bei ihm bist.«
»Ich hab’ doch gar keinen Papi!«
Er lächelte gequält, weil er wusste, wie Ludovica sich wieder aufregen würde, wenn er die beiden hereinbäte. Aber dazu kam es nicht. Denn Babsi Holthusen war, wie sich herausstellte, eine energische Person und bat ihn, sofort die Kirche besichtigen zu dürfen.
Sie trug einen Jeansanzug und ihr blondes Haar straff aus dem Gesicht gebunden, was ihr entschlossenes Auftreten noch unterstrich und ihn befremdete.
»Zweimal jeweils zehn Quadratmeter, sagte mir Meister Hartwig«, erklärte sie. »Jetzt, als ich vor der Kirche parkte, fiel mir auf, wie mächtig sie ist. Wenn die Bilder größer sind, bin ich nicht sicher, ob ich den Auftrag in sechs Wochen ausführen kann. Und dann, Hochwürden, werde ich ihn gar nicht erst annehmen.«
»Ach! Und dann kommt Meister Hartwig doch noch?!«
»Nein! Aber meine Tochter wird in sechs Wochen in München eingeschult!«, erklärte Frau Holthusen.
»Ist schon recht, junge Frau. Ist schon recht!«
Richtig eingeschüchtert kam er sich vor, drehte sich um, nahm Regenschirm und den Schlüssel der seitlichen Kirchentür und eilte vor den beiden über Pfützen aus dem Garten und die wenigen Schritte hinüber zum Gotteshaus. Wortlos schloss er auf und atmete auf, als er sah, dass sich beide vor dem Eintreten die Fußsohlen abstreiften.
Sekunden später schritt die junge Frau mit ihrer Tochter an der Hand durch den Mittelgang, wobei sie den Kopf in den Nacken legte und die Decke des Kirchenschiffes ausgiebig musterte. Die Kleine machte ihr das nach. Die hatte ihre Haare auch am Hinterkopf zusammengebunden, sodass die blonden Schöpfe im gleichen Rhythmus hin und her schaukelten. Da war ein netter Anblick, der Gottlieb Leipold versöhnlich stimmte.
»Gut. Sie sind doch nicht so groß, wie ich befürchtete. Und das Gerüst steht schon. Das ist prima.« Babsi lächelte ihn zufrieden an.
»Herr von Reckenau hat den Gerüstebauer vorbeigeschickt. Und was der in die Hand nimmt, wird immer sofort erledigt.«
»Sehr schön.« Sie prüfte die Standfestigkeit der Halterung, warf einen Blick auf die Leitern, die nach oben führten, und meinte dann: »Während ich arbeite, müssen die Fenster an einigen Tagen dicht geschlossen bleiben. Sonst trocknen die Farbschichten zu schnell. Können Sie das garantieren?«
»Die Messjungen werden alles tun, was Sie wünschen, Frau Holthusen.«
Wieder lächelte sie. Er verstand nichts von Frauen, aber allmählich dämmerte ihm, dass hier eine besonders Hübsche vor ihm stand. Er räusperte sich.
»Sie sollten auch Herrn von Reckenau aufsuchen«, fiel ihm ein. »Er hat mit einer großen Spende die Restaurierung ermöglicht.«
»Mir geht es darum, den Auftrag schnell auszuführen, Hochwürden. Ich opfere die letzten Ferien vor der Einschulung meiner Tochter und will trotzdem versuchen, wenigstens noch einige Tage mit ihr an der Ostsee zu verbringen. Darum wird mir kaum Zeit für private Kontakte bleiben.« Da er beeindruckt schwieg, wandte sie sich an die Kleine. »So, mein Schatz, jetzt holen wir mein Material aus dem Auto und stellen es hier unter. Und dann suchen wir uns eine Unterkunft …«
»Im Pfarrhaus sind wir darauf nicht vorbereitet, Frau Holthusen.«
»Damit habe ich auch nicht gerechnet. Wir kamen im Dorf an einem Gasthof vorbei. Dort gibt es doch Zimmer?«
»Sehr schöne und saubere sogar. Im Herrenkrug werden Sie zufrieden sein.« Am liebsten hätte er die beiden gesegnet, weil sie ihm weiteren Ärger mit Ludovica ersparten.
Eine halbe Stunde später standen Babsi und Jule mit ihren Koffern im großen Gastraum des »Herrenkrugs«. Es war ein schöner Gasthof mit alten, hölzernen Tischen, Hirschgeweihen und darunter vielen Fotos an den Wänden. Es dauerte etwas, bis eine stattliche, nicht mehr junge Frau aus einem Nebenraum trat und sich als Wirtin Marga Schmidt vorstellte. Sie hatte ein hartes Gesicht und viel zu schwarz gefärbte Haare. Und an ihren Ohren baumelten auffällige Klunker in Form kleiner Schaukeln, auf denen winzige, bunte Papageien hockten.
So was hatte Jule noch nicht mal in München gesehen. Sie starrte fasziniert zu den Ohrgehängen hoch, während ihre Mami sich nach dem Preis für die Unterkunft interessierte.
»Aber wenn Sie die Heiligenbilder renovieren, dann wird doch Herr von Reckenau Ihre Rechnung übernehmen«, wandte die Wirtin ein.
»Sooo?« Babsi hob die Augenbrauen. Dieser Herr von Reckenau schien allgegenwärtig zu sein.
»Ganz gewiss wird er das!«, betonte Marga Schmidt. »Sehen Sie, Frau Holthusen …, das ist er, unser Axel von Reckenau!« Sie wies stolz lächelnd auf die Fotos an den Wänden. »Ein Mann, dem das Dorf Reckenfeld und wir alle viel zu verdanken haben. Ein Herr vom Scheitel bis zur Sohle. Ja, und ein Liebhaber schöner Frauen.« Jetzt lächelte sie anzüglich, dass die Papageienschaukeln an ihren Ohren noch heftiger wackelten. »So, wie er aussieht und auftritt, nimmt man es ihm nicht übel. Glauben Sie’s mir.« Sie trat ans nächste Foto. »Da steht er mit der Baronin Schöning! Das ist seine langjährige Favoritin! Nennt man das nicht so in besseren Kreisen? Die Baronin ist eine exzellente Seglerin. Alle Regatta-Pokale auf den bayerischen Seen hat sie schon. Das gefällt einem Mann wie Herrn von Reckenau natürlich. Was Besonderes muss die Frau, der er sein Herz auf immer schenkt wohl sein.«
Axel von Reckenau sah gut aus. Das musste Babsi ihm lassen. Er war jünger, als sie vermutet hatte, hochgewachsen und schlank mit kurzem, vollem Haar über der hohen Stirn und einem wachen, sehr selbstbewussten Blick. Außerdem schien er eine Vorliebe für elegante Garderobe zu haben. Mehr Schlüsse ließen diese Fotos nicht zu, aber Babsis Interesse, ihn kennen zu lernen, erregten sie auch nicht.
Einige Männer kamen von draußen und setzten sich an die Tische, wobei sie Babsi und Jule neugierig musterten.
»Das ist die Restauratorin, die den heiligen Sebastian und die heilige Clara in St. Quirin frisch anmalen soll!«, erklärte Marga stolz. »Sie und ihre Tochter kriegen mein bestes Zimmer. Axel bezahlt das schon!«
Die Männer murmelten zustimmend, anerkennend oder ein wenig belustigt. Marga griff nach einem der Koffer, und Babsi und Jule folgten ihr schweigend mit dem restlichen Gepäck und fanden sich kurz darauf zu ihrer Überraschung tatsächlich in einem sehr gemütlichen und sauberen Zimmer wieder.
»Schön! Sehr schön!«, äußerte Babsi hochzufrieden, nachdem sie einen Blick aus den Fenstern hinaus und ins kleine Bad nebenan geworfen hatte. »Hier werden wir es schon aushalten, nicht, Jule?« Die konnte den Blick nicht von den Papageien lassen. »Jule …?«, schreckte Babsi sie lächelnd auf. »Findest du es hier nicht auch sehr schön?«
Da riss die sich vom Anblick der Papageien los. »Aber hier sind ja keine Kinder zum Spielen, Mami!«, beschwerte sie sich.
»Aber sicher!«, rief die Wirtin da sofort. »Da ist doch unser Poldi, mein Enkel.«
»Poldi?« Jule verzog das Gesicht.
»Nun, er heißt Lepold, wie der verstorbene Vater von Axel von Reckenau, Gott hab’ ihn selig. Er ist vier und bestimmt ein guter Spielkamerad für dich!«
»Ich bin aber schon sechs!«
»Das macht nichts. Unser Poldi ist sehr lieb. Der macht alles mit und kann keiner Fliege etwas zuleide tun!«
Marga hob den schweren Koffer noch aufs Gestell, fragte nach weiteren Wünschen und schlug ihren beiden Gästen dann vor, bald nach unten zum Abendessen zu kommen. Dann ging sie.
Jule warf sich auf eins der Betten. Sie presste ihren Teddy Como an sich, schaute sich an, als müsse sie die hellen Möbel und geblümten Gardinen einer Prüfung unterziehen, und meinte aufstöhnend: »Was heißt das denn, dass er keiner Fliege was zuleide tun kann, Mami?«
»Dass er freundlich und geduldig ist, mein Schatz.«
Jule nahm Como hoch und sah ihn an. »Was meinst du, Como? Ist so einer nicht etwas fad?«
»Also, Jule!« Babsi musste lachen. »Poldi ist eben ein Dorfkind. Aber ein großes Mädchen aus München wie du, wird ihn schon auf Trab bringen!« Und dann begann sie die Koffer auszupacken.
*
Eine gute Woche war vergangen, und es hatte sich wirklich schnell herausgestellt, dass der kleine Poldi keiner Fliege etwas antun konnte. Dazu war er einfach zu träge, und mit seinem runden rosigen Gesicht, aus dem braune und recht verträumte Augen schauten, und seinem molligen Köfferchen hatte er wohl auch gar keine Lust, sich für Fliegen zu interessieren.
Seine Großmutter Marga erfüllte ihm natürlich jeden Wunsch, und so kam es, dass er meistens mit einer Tüte Chips auf dem Tresen hockte, den Gästen zulächelte und strahlte, wenn die ihm ein Eis oder Gummibärchen spendierten. Seine kleine Welt schien ganz in Ordnung, und solange Jule die nicht durcheinander brachte, kamen beide schnell miteinander zurecht.
Jule gelang es sogar, ihn zum gemeinsamen Toben an den Spielgeräten neben dem Biergarten des »Herrenkrugs« zu überreden. Wenn er nach zehn Minuten genug hatte und zu seiner Oma in der Wirtshausküche verschwand, war sie auch zufrieden. Sie hatte ja noch nie einen so großen Garten für sich allein gehabt. Ganz klar, dass Teddy Como das auch genoss.
Inzwischen stand Babsi täglich sechs Stunden auf dem hohen Gerüst in der Kirche St. Quirin. Sie schabte Farbschichten ab und legte neue an, pinselte Linien und probierte Farbtöne für den Faltenwurf an den Heiligengewändern aus. Es war keine leichte Aufgabe, aber von Tag zu Tag machte ihr die Arbeit mehr Spaß.
Manchmal kam einer der Messjungen vorbei und frage, ob die Fenster geöffnet oder geschlossen werden sollten. Zweimal übte eine freundliche Frau an der Orgel, alle zwei Tage erkundigte Hochwürden sich, ob sie vorankäme, und erwähnte jedes Mal, wie störend das Gerüst bei der Andacht wirke.
Und dann wieder gab es Stunden, da war es sehr still in der Kirche, und das liebte Babsi besonders. Sie konnte sich dann Gedanken machen, wie ihre kleine Jule wohl den Tag verbrachte und ob Marga auch wirklich ein Auge auf ihren kleinen Wildfang habe, damit der ja nicht auf die Idee komme, das Dorf und die Umgebung auf eigene Faust zu erforschen, falls Poldi als Spielkamerad doch zu fad sei.
Manchmal quälten sie auch Gewissensbisse. Dass aus dem gemeinsamen Urlaub an der Ostsee wahrscheinlich nichts wurde und Jule ihr das vorwerfen konnte, machte ihr zu schaffen. Aber so einen Auftrag wie diesen bekam sie nicht alle Tage. Und dann hoffte sie nur, dass Jule das schon verstand.
Sie hockte sich in ihrem farbbeklecksten Kittel auf die Plattform des Gerüsts, trank einige Schlucke Wasser und lächelte nachdenklich. Dabei hätte sie ihrem Töchterchen, das so gern mit ihr durch die Landschaft fuhr, endlich mal ein richtiges Meer zeigen können!
Nun ja, dafür bewohnten sie jetzt ein gemütliches Zimmer im Gasthof, und wenn das Wetter gut blieb, konnte Jule sich mit Poldi auf der Wippe oder Schaukel austoben und zwischendurch Margas Hausmannskost und Obstkuchen genießen. Aber waren das richtige Ferien, wenn sie jeden Tag verschwand, um hier auf dem Gerüst zu arbeiten?
Während einer dieser kleinen Pausen, die sie sich gönnte, öffnete sich eines Tages wieder die Kirchentür. Babsi schaute hinunter, weil sie mit Pfarrer Leipold oder einem der Messjungen rechnete. Aber es war eine hohe, schlanke Gestalt, die sich dem Gerüst näherte, dann stehen blieb und zu ihr hoch schaute.
Sie sah in das Gesicht eines Mannes und wusste sofort, wer das war. Axel von Reckenau, der elegante Gönner von den Fotos im Wirtshaus, Gutsherr auf Reckenau und Chef eines kleinen, aber erfolgreichen Unternehmens in Starnberg, wie man ihr gleich zugetragen hatte. Denn wenn es um die Wohltäter des Dorfes Reckenfeld ging, fand Marga Schmidt beim Klatschen ja kein Ende.
»Frau Holthusen?«, rief er zu ihr hoch. Babsi nickte. Etwas in seinem Gesicht sprach sie sofort an. Wenn er zu ihr hoch schaute, wirkte er nicht mehr so selbstbewusst wie auf den Fotos. Und jetzt lächelte er auch noch! »Darf ich hochkommen, um mir ein Bild von Ihrer Arbeit machen zu können?«
»Sicher.« Mehr erwiderte sie nicht. Wenn er sich mit einer üppigen Spende an der Restaurierung der Deckengemälde beteiligte, konnte sie ihm das ja kaum verbieten.
Er stieg die Leiter hoch, das Gerüst schwankte leicht, und Babsi schaute ihren fleckigen Kittel, ihre nackten Beine und die festen Schuhe an ihren Füßen plötzlich kritisch an. Und schon sah er sie mit einem so neugierigen, freundlichen Gesicht an, dass ihr ganz seltsam wurde.
Was hatte sie mit diesem Mann denn schon zu tun, als ihm Rede und Antwort über ihre Arbeit zu stehen? Er war doch ein Mensch aus einer ganz anderen Welt. Sein helles Jackett war gut geschnitten, seine Züge edel, und als seine Hand oben fest um die Halterung griff, bemerkte sie, wie gepflegt seine Finger waren. An einem der Finger steckte zudem ein Siegelring, wie sie Mitglieder alter, ehrwürdiger Familien trugen.
»Ziemlich hoch!«, lachte er und streckte ihr die Hand entgegen. Als sie die ergriff, traf sie ein Schlag wie aus einer elektrischen Leitung. Und auch seine Hand fuhr zurück. Sie sahen sich verdutzt an.
»Hoppla!«, meinte er. »Was war das denn? Ein Blitz?«