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Was halten palästinensische Studenten von Platon? Was sagt die griechische Philosophie Bewohnern brasilianischer Slums oder jungen Muslimen in Indonesien. Carlos Fraenkel ist an Brennpunkte politischer, religiöser und sozialer Konflikte gereist, um dort Grundsatzfragen zu diskutieren: Was heißt Gerechtigkeit? Gibt es eine Rechtfertigung für Gewalt? Steht über dem menschlichen ein göttliches Recht? Die Philosophie kann die Gegensätze zwischen Religionen und Kulturen nicht aufheben. Aber sie zeigt uns, wie wir Positionen begründen und Argumente austauschen können – was in einer Welt der Sprachlosigkeit und Gewalt viel bedeutet. Ein ungewöhnliches Buch und ein großartiger Beweis für den praktischen Nutzen der Philosophie.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Was halten palästinensische Studenten von Platon? Was sagt die griechische Philosophie jungen Leuten in Indonesien, chassidischen Juden in New York, Bewohnern brasilianischer Slums oder den Nachfahren der Irokesen? Carlos Fraenkel ist von Kontinent zu Kontinent gereist, um an den Brennpunkten politischer, religiöser und sozialer Konflikte Grundsatzfragen zu diskutieren: Was heißt Gerechtigkeit? Gibt es eine Rechtfertigung für Gewalt? Steht über dem menschlichen ein göttliches Recht? Die Philosophie kennt keinen Weg, die Gegensätze zwischen Religionen und Kulturen aufzuheben. Aber sie zeigt uns, wie wir in Diskussionen und Debatten Positionen begründen und Argumente austauschen können – was ja schon viel bedeutet in einer Welt der Sprachlosigkeit und Gewalt. Ein ungewöhnliches Buch, das zeigt, wie unverzichtbar Philosophie gerade heute ist.
Hanser E-Book
Carlos Fraenkel
Mit Platon
in Palästina
Vom Nutzen der Philosophie
in einer zerrissenen Welt
Aus dem Englischen von
Matthias Fienbork
Carl Hanser Verlag
Titel der Originalausgabe: Teaching Plato in Palestine.
Philosophy in a Divided World, Princeton University Press,
Princeton und Oxford 2015
Teile des 1. Kapitels erschienen ursprünglich unter dem
Titel »Teaching Plato in Palestine« in: Dissent 54, Nr. 2
(Frühjahr 2007), S. 32–39, Teile des 2. Kapitels unter
dem Titel »Teaching Aristotle in Indonesia« in: Dissent 55,
Nr. 3 (Sommer 2008), S. 5–13, beim Verlag University of
Pennsylvania Press.
ISBN 978-3-446-25209-7
Copyright © 2015 by Princeton University Press
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Lara und Ben
und in memoriam
Joaquim Câmara Ferreira
Einleitung
Erster Teil
1. Mit Platon in Palästina
2. Mit Maimonides in Makassar
3. Spinoza mit Schtreimel. Ein Untergrundseminar
4. Bürger-Philosophen in Brasilien
5. Wortkrieger. Philosophie bei den Mohawk
Zweiter Teil
6. Vielfalt und Debatte
Nachwort Michael Walzer
Danksagung
Anmerkungen
Bibliographie
Register
Während der Arbeit an meiner Dissertation, für die ich Schriften arabischer und hebräischer Philosophen studierte, beschloss ich, im Jahr 2000 einige Monate in Kairo zu verbringen, um mein Arabisch aufzupolieren. Schon bald nach meiner Ankunft organisierte ich einen Sprachaustausch mit ägyptischen Studenten, und allmählich begannen wir, einander auch persönliche Fragen zu unserem Leben zu stellen. Sie wollten mich zum Islam bekehren, um mich davor zu bewahren, ewig in der Hölle zu schmoren. Und ich wollte ihnen mein säkulares Weltbild näherbringen, um sie davor zu bewahren, ihr reales Leben an ein illusionäres Jenseits zu verschenken. »Wenn du dich für den Islam entscheidest«, sagte Muhammad, »bekommst du eine Dreierpack-Religion, denn wir Muslime glauben auch an den Gott der Juden und der Christen.« »Aber ich glaube an überhaupt keinen Gott!«, erwiderte ich, worauf Muhammad entgegnete: »Du bist also sicher, dass wir die Existenz Gottes nicht beweisen können?« Seine Reaktion überraschte mich. In dem Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, stand das fest. Ich versuchte es mit Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises. »Gut«, sagte Muhammad, »aber was ist mit diesem Tisch? Hängt seine Existenz von einer Ursache ab?« »Natürlich«, sagte ich. »Und diese Ursache von einer weiteren Ursache?« Muhammad bezog sich auf den metaphysischen Gottesbeweis, den der muslimische Philosoph Avicenna im elften Jahrhundert formuliert hatte: Da eine ewige Kette von Ursachen unmöglich sei, müssten Wesen, deren Existenz eine Ursache hat, aus etwas hervorgegangen sein, was aus sich selbst heraus als ihre erste Ursache existiert. Und dieses notwendig Existierende sei Gott.1 Ich antwortete mit einem Gegenargument, auf das sie ihrerseits mit einem Gegenargument antworteten. Die Diskussion endete ergebnislos.
Ich trat nicht zum Islam über, und meine ägyptischen Freunde wurden keine Atheisten. Aber Erfahrungen wie diese führten zu zwei Fragen, mit denen ich mich im vorliegenden Buch beschäftige: Kann die Philosophie, außerhalb des akademischen Betriebs praktiziert, nützlich sein? Und können Konflikte, denen unterschiedliche (kulturelle, religiöse usw.) Überzeugungen zugrunde liegen, mit Hilfe der Philosophie in eine »Debattenkultur« übersetzt werden? In beiden Punkten dürfen wir optimistisch sein. Im ersten Teil des Buches zeige ich ganz konkret, wie es aussehen kann, wenn Philosophie außerhalb der Universität betrieben wird. Und im zweiten Teil skizziere ich die Argumente, die für eine Debattenkultur sprechen.
Der praktische Teil beruht auf fünf Philosophie-Workshops, die ich zwischen 2006 und 2011 veranstaltet habe: an einer palästinensischen Universität in Ost-Jerusalem, einer islamischen Universität in Indonesien, mit chassidischen Juden in New York, mit Schülern in Salvador da Bahia, dem Mittelpunkt der afrobrasilianischen Kultur, sowie mit Angehörigen der Mohawk in Nordamerika. Die Orte habe ich bewusst im Hinblick auf bestimmte Konflikte ausgewählt: Israel und Palästina, Islam und der Westen, religiöse Orthodoxie und Moderne, soziale und ethnische Probleme in Brasilien sowie die Auseinandersetzung indigener Völker mit dem Erbe des Kolonialismus. Aus diesen Konflikten ergeben sich grundsätzliche Fragen zu Themen, die von Metaphysik und Religion bis hin zu Moral und Politik reichen. Existiert Gott? Macht sich Frömmigkeit bezahlt? Kann Gewalt gerechtfertigt werden? Was ist soziale Gerechtigkeit, und wie erreichen wir sie? Wer soll uns regieren? Was setzt politische Selbstbestimmung voraus? Mit solchen Fragen hatten meine Studenten auf den unterschiedlichsten Ebenen zu tun – von ihren persönlichen Ansichten über die Wertvorstellungen kleiner Gruppen (wie den chassidischen Gemeinschaften in New York) bis hin zur Entwicklung ganzer Nationen wie etwa Indonesien und Brasilien. Ich behaupte nun, dass man mit Hilfe der Philosophie diese Fragen klarer artikulieren und die Antworten genauer prüfen kann.
Eines hatten meine Gesprächspartner überall auf der Welt gemeinsam: starke religiöse oder kulturelle Bindungen, die mit meiner säkularen Haltung oft in Konflikt gerieten. Mir wurde, wie in den Diskussionen mit den ägyptischen Studenten, bewusst, dass ich manche Positionen, die mein Weltbild prägen, nicht gründlich genug durchdacht hatte – von meinem Atheismus bis zu meiner Ansicht, wie man leben sollte. Über diese Auffassungen, die in dem westlichen akademischen Milieu, aus dem ich komme, normalerweise nicht in Frage gestellt werden, musste ich intensiv nachdenken. Die Workshops zeigten mir unmittelbar, wie weit wir in moralischen, religiösen und philosophischen Fragen voneinander entfernt sind. Im zweiten Teil des Buches lege ich dar, dass diese Differenzen, wenngleich frustrierend für viele Menschen, etwas Positives sein können – wenn es uns gelingt, sie zum Ausgangspunkt einer Debattenkultur zu machen. Diese gemeinsame Suche nach der Wahrheit, denn genau das verstehe ich unter Debattenkultur, bietet uns die Möglichkeit, die Überzeugungen und Wertvorstellungen zu prüfen, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir meist für selbstverständlich halten. Das ist besser, als wenn wir anderen unsere Meinung aufzwingen oder uns in Multikulti-Gleichgültigkeit einrichten – so als wären Unterschiede völlig unerheblich. Auch hier kann die Philosophie, insofern sie das Fundament einer Debattenkultur liefert, eine wichtige Rolle übernehmen.
Unter »Philosophie« verstehe ich dabei nicht ein bestimmtes philosophisches Weltbild (wie etwa Marxismus oder Existentialismus), sondern philosophische Praxis: die Aneignung von Techniken des Debattierens (logischen und semantischen Werkzeugen, die es uns erlauben, unsere Ansichten zu klären, Argumente zu formulieren und mit Gegenargumenten zu antworten, also eine moderne Version des aristotelischen Organon, des »Werkzeugkastens« des Philosophen) sowie die Pflege von Tugenden des Debattierens (die Wahrheit für wichtiger halten, als den Meinungsstreit für sich entscheiden zu wollen, und sich um Verständnis für den Standpunkt des anderen bemühen). Mit anderen Worten, eine Debattenkultur gründet nicht auf dem sophistischen Geschick, den eigenen Standpunkt durchzusetzen, sondern auf dem dialektischen Geschick, gemeinsam mit anderen die Wahrheit zu ergründen. In den Workshops sprachen wir auch über Werke von Philosophen, von Platon bis Nietzsche, die nicht nur Ausgangspunkt für Diskussionen waren, sondern auch für genügend Distanz zu aktuellen Problemen sorgten. So weit wie möglich wurden Texte ausgewählt, die mit dem kulturellen Umfeld der Teilnehmer zu tun hatten (beispielsweise muslimische und jüdische Philosophen des Mittelalters), um an lokale Traditionen von Debatte und Reflexion anzuknüpfen.
Zum Schluss möchte ich noch drei Dinge klarstellen. Erstens: Ich habe nicht die Absicht, die Bedeutung akademischer Philosophie mit ihrer geduldigen und fundierten Suche nach Klarheit anzuzweifeln. Ich selbst bin in diesem Bereich engagiert und finde es wunderbar, mit Studenten zu diskutieren und für ein Fachpublikum zu schreiben. Ich glaube aber, dass sich der Wert der Philosophie nicht auf die akademische Praxis beschränkt und dass es möglich und bereichernd ist, auch außerhalb dieses Bereichs unterwegs zu sein. Zweitens: Dies ist kein säkulares Projekt, bei dem die Philosophie in die Rolle der Religion schlüpfen will. Ich habe schon erwähnt, dass die meisten meiner Gesprächspartner sehr religiös waren. Wie meine Diskussion mit ägyptischen Studenten zeigt und wie ich im zweiten Teil des Buchs detailliert darlege, kann praktische Philosophie kulturelle Gräben überwinden, auch den zwischen Säkularismus und Religion. Und drittens lässt sich hier kein kluger Philosoph auf das Niveau der einfachen Leute herab, um sie an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Im Gegenteil: In den Diskussionen erkannte ich, wie beschränkt selbst mein eigenes Repertoire an Fragen war. Insofern habe ich außerordentlich profitiert von der Gelegenheit, über Probleme nachzudenken, die sich in meinem normalen akademischen Alltag nicht gestellt hätten. Es geht eben nicht darum, dass Philosophen uns sagen, was wir denken und tun sollen, sondern darum, möglichst viele Menschen mit philosophischer Praxis vertraut zu machen. Und hier können akademische Philosophen nach jahrelanger Ausbildung vielleicht etwas beitragen: indem sie das Handwerkszeug vermitteln, mit dem wir Fragen durchdenken können, die mit uns, unserer Gesellschaft und der Welt zu tun haben, in der wir leben – ganz gleich, welche Antworten wir am Ende akzeptieren.
Ich habe die Schauplätze der Workshops nicht nur danach ausgewählt, inwieweit sie für die Auseinandersetzung mit den mich interessierenden Fragen hilfreich waren. Sie haben auch einen Bezug zu meiner Biographie und meinem wissenschaftlichen Spezialgebiet. Ich brachte also eine gewisse sprachliche und kulturelle Kompetenz mit, um die Diskussionen zu moderieren, und es ermöglichte mir, dem Ganzen eine persönliche Note zu geben. Das Buch ist durchweg in einem lockeren Ton gehalten, weil es Laien ansprechen will. Dies gilt vor allem für den ersten Teil, der auch als eine Art intellektueller Reisebericht gelesen werden kann. Der zweite Teil ist zwar etwas systematischer angelegt, setzt aber keine philosophischen Fachkenntnisse voraus. Ich mische mich dort auch in eine Debatte ein, die seit der frühen Neuzeit eine zentrale Rolle in der politischen Philosophie spielt: Wie gehen wir mit Vielfalt und Meinungsstreit um? Mein Buch soll anhand von Beispielen und Argumenten zeigen, dass es sich lohnt, die Philosophie zu einem Teil unseres persönlichen und öffentlichen Lebens zu machen.
Kann die Philosophie den Nahen Osten retten? Ja, durchaus. Das ist zumindest die These von Sari Nusseibeh, wie ich im Februar 2006 nach meiner Ankunft in Israel von einem Freund erfahre. Nusseibeh, ehemaliger PLO-Repräsentant in Jerusalem, ist nicht nur ein prominenter palästinensischer Intellektueller, sondern auch ein Philosoph, von seiner Ausbildung (und wohl auch seinem Temperament) her. »Einzig die Philosophie kann den Nahen Osten retten«, soll er drei Jahre zuvor in seiner Shlomo Pines Memorial Lecture (mit dem passenden Titel »Zur Relevanz der Philosophie in der arabischen Welt von heute«) in West-Jerusalem erklärt haben. Am Ende meines Israel-Aufenthalts bin ich überzeugt, dass er einen interessanten Ansatz verfolgt.
Ich bin nach Jerusalem gekommen, um an der palästinensischen al-Quds-Universität gemeinsam mit Nusseibeh, der seit 1995 ihr Rektor ist, ein Seminar zu halten. Ich stelle mir vor, mit den Studenten über die politische Philosophie Platons zu diskutieren und anschließend zu untersuchen, wie muslimische und jüdische Denker des Mittelalters davon ausgehend den Islam und das Judentum als philosophische Religionen interpretiert haben. Ich hoffe, einige grundlegende Fragen über Philosophie und ihr Verhältnis zu Politik und Religion anzuschneiden und auch eine neue Perspektive auf den modernen Nahen Osten zu entwickeln.
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