Miteinander - Farhan Samanani - E-Book

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Farhan Samanani

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Beschreibung

Wie können wir mit denen leben, die anders sind als wir? Der Anthropologe Farhan Samanani nimmt sich eines der polarisierendsten Themen unserer Gegenwart an: Diversität.

Zunehmend handeln und denken wir, als ob die Gräben zwischen uns unüberbrückbar wären: Anstatt Austausch zu suchen, schaffen wir Blasen, errichten Mauern und gentrifizieren ganze Städte, um uns mit Gleichgesinnten zu umgeben. Doch es geht auch anders. Auf der Suche nach Experimenten des Miteinanders führt uns der Anthropologe Farhan Samanani von Kilburn, einem ‚superdiversen‘ Stadtteil Londons, nach Somalia, Südindien und Madagaskar, bis ins hiesige Hoyerswerda. Er stellt uns Menschen vor, die dem Impuls widerstehen, sich angesichts der Andersartigkeit ihres Gegenübers ins Private zurückzuziehen. Von inklusiven städteplanerischen Strategien und politischen Maßnahmen bis hin zur Eröffnung eines Gemeindecafés erschließt er uns zahlreiche Möglichkeiten für eine bessere, solidarischere Welt.

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Das ist das Cover des Buches »MITEINANDER« von Farhan Samanani

Über das Buch

Wie können wir mit denen leben, die anders sind als wir? Der Anthropologe Farhan Samanani nimmt sich eines der polarisierendsten Themen unserer Gegenwart an: Diversität.Zunehmend handeln und denken wir, als ob die Gräben zwischen uns unüberbrückbar wären: Anstatt Austausch zu suchen, schaffen wir Blasen, errichten Mauern und gentrifizieren ganze Städte, um uns mit Gleichgesinnten zu umgeben. Doch es geht auch anders. Auf der Suche nach Experimenten des Miteinanders führt uns der Anthropologe Farhan Samanani von Kilburn, einem ›superdiversen‹ Stadtteil Londons, nach Somalia, Südindien und Madagaskar, bis ins hiesige Hoyerswerda. Er stellt uns Menschen vor, die dem Impuls widerstehen, sich angesichts der Andersartigkeit ihres Gegenübers ins Private zurückzuziehen. Von inklusiven städteplanerischen Strategien und politischen Maßnahmen bis hin zur Eröffnung eines Gemeindecafés erschließt er uns zahlreiche Möglichkeiten für eine bessere, solidarischere Welt.

Farhan Samanani

MITEINANDER

Über das Zusammenleben in einer gespaltenen Welt

Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer

Hanser Berlin

Teil I

Stamm

Kapitel 1

Reisen

Wie können wir mit denen leben, die anders sind als wir? Diese Frage ist alt — und knifflig. Möglicherweise spiegelt sie das dringlichste Problem des einundzwanzigsten Jahrhunderts wider.1 Seit einigen Jahren jagt eine Krise die nächste — sie alle sind durch Andersartigkeit bedingt. 2017 wird die junge Bürgerrechtsaktivistin Heather Heyer im US-amerikanischen Charlottesville von einem weißen Rassisten ermordet, während Sprechchöre »You will not replace us« (Ihr werdet uns nicht ersetzen) skandieren. Im Libanon und in der Türkei droht über 3,4 Millionen syrischen Geflüchteten, die seit 2011 in die beiden Länder strömten, die erneute Vertreibung, weil ihre Anwesenheit wachsenden Unmut erregt. 2019 bricht sich in Johannesburg die schwelende Feindseligkeit gegenüber Migrantinnen und Migranten in Ausschreitungen Bahn, die sich gegen von Einwanderern geführte Geschäfte und eine örtliche Moschee richten. 2015 erschießt Dylan Roof mehrere Besucher einer Kirche in South Carolina, die überwiegend von Schwarzen frequentiert wird. 2018 tut Robert Bowers es ihm in der Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh gleich. 2019 tötet Brenton Tarrant einundfünfzig Menschen in einer Moschee im neuseeländischen Christchurch. Alle drei Attentäter, so stellt sich heraus, sind Mitglieder radikal-nationalistischer Bewegungen. 2018 werden in Polen in dem Versuch, das Land als bloßes Opfer darzustellen, Gesetze verabschiedet, mit denen man rigoros gegen jegliche Bezugnahme auf eine polnische Beteiligung am Holocaust vorgehen kann. In den vergangenen zehn Jahren sind zigtausend Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken, während in den USA und in Frankreich fremdenfeindliche Gruppierungen Geld für Patrouillenschiffe sammeln, weil sie davon überzeugt sind, dass diejenigen, die sich auf ihrer Flucht über das Meer in Lebensgefahr begeben, die zivilisierte Welt bedrohen. Ganz offen verleihen sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass noch möglichst viele dieser Menschen im Wasser sterben.

Wir erzählen eine Geschichte: die Geschichte, dass Andersartigkeit stets eine Bedrohung in sich birgt. Ob sich diese Andersartigkeit nun auf die Hautfarbe, die Nationalität, die Religion, das politische Lager oder den kulturellen Hintergrund bezieht — die Geschichte, die wir erzählen, will uns weismachen, dass das Zusammenleben zwangsläufig bedrohlich ist, dass die Art, wie andere leben, möglicherweise unsere eigene untergräbt. Wir stellen uns Andersartigkeit als Gegensatz von Gewinnen und Verlieren vor: Gewinnen die anderen, verlieren wir. Wir erzählen diese Geschichte zwar nicht pausenlos, aber sie ist uralt und uns wohlvertraut, und sie hat sich im Laufe der Zeit in vielerlei Gestalten gezeigt. Sie haust in den Fundamenten der westlichen Demokratie, formt unsere Vorstellung von Staatsangehörigkeit, und die meisten Bürgerinnen und Bürger erzählen sie auf die eine oder andere Weise immer und immer wieder. Die einen vielleicht im Zusammenhang mit »Rasse« oder Migration, in der Annahme, Neuankömmlinge oder der wirtschaftliche Erfolg einer Minderheit gefährden die eigenen Interessen. Andere äußern sie vielleicht im Zusammenhang mit politischen Gegnern oder Andersgläubigen und nehmen an, die einzige Art, Menschen mit einer uns fremden Weltanschauung zu begegnen, sei Ablehnung und Widerstand.

Diese Erzählung ist ungeheuer mächtig — zum Teil weil sie so gut einstudiert ist. Wir wiederholen sie ständig, nicht nur in Worten, sondern auch in der Gestaltung unserer Städte, in den Regeln unserer Politik, in der Art und Weise, wie wir Informationen aufnehmen. Und obwohl ich von einer Geschichte, einer Erzählung spreche, bedeutet das nicht, dass sie irreal, dass sie fiktiv wäre. Im Gegenteil: Mit jedem neuen Erzählen wird sie wirklicher.

Die demokratische Welt ist derzeit in einem entscheidenden Umbruch begriffen. Einer groß angelegten Studie des Cambridge Centre for the Future of Democracy aus dem Jahr 2020 zufolge sind die meisten Einwohner demokratischer Staaten weltweit unzufrieden mit der Demokratie. In einer Vielzahl von Ländern, darunter Großbritannien, Südafrika, Australien, Brasilien und die Vereinigten Staaten, hat der Glaube an die Demokratie einen noch nie dagewesenen Tiefstand erreicht.2 Die Demokratien haben Schwierigkeiten im Umgang mit politischer Abweichung. In den einen nimmt die Polarisierung zu: Dort scheinen Konflikte immer unlösbarer, und die Wähler tendieren zu Extremen. In den anderen herrscht eine zunehmende Fragmentierung: Dort vervielfachen und vermischen sich Werte, Agenden und Gruppierungen.3 Unter der Oberfläche der offiziellen Politik splittern Vorstellungen von Wahrheit sowie die Möglichkeiten von Konsens und Kooperation. Die einzelnen Gruppen entwickeln zunehmend eigene Gewohnheiten des Medienkonsums, der Interaktion und der Verbindung untereinander und unterscheiden sich immer tiefgreifender voneinander.4 Selbst angesichts scheinbar globaler Ereignisse wie der Covid-19-Pandemie herrscht großflächig Uneinigkeit darüber, was wahr ist und was wir brauchen — über die Auslegung von Wissenschaft und Glaube, Fürsorge und Ausbeutung. Gepaart mit dem bröckelnden Vertrauen an die Demokratie und an das öffentliche Leben entwickeln die Unterschiede eine zunehmend explosive Eigendynamik. Antirassistische Bewegungen treffen auf erstarkende nationalistische Gruppierungen. Und beide wiederum geraten mit Politikerinnen und Politikern aneinander, die stur daran festhalten, dass es grundsätzlich nie ein Problem gegeben hat.5

Die Herausforderungen, vor die uns diese Umbrüche stellen, liegen auf der Hand. Weniger offensichtlich ist, wie es zu ihnen gekommen ist. Sind sie das unausweichliche Ergebnis einer immer vernetzteren und diverseren Welt? Oder sind sie letztlich das Ergebnis von Geschichten, die wir uns über uns selbst und die Welt erzählen?

Ich glaube, dass Letzteres der Fall ist. Entscheidend ist, wie wir uns Differenz vorstellen. Und in demokratischen Staaten herrscht seit Langem die Überzeugung vor — manchmal eher unterschwellig, manchmal ganz offenkundig —, dass Verschiedenheit und Andersartigkeit eine Bedrohung darstellen. So muss es aber nicht sein. Dieses Buch geht der Frage nach, wie die Geschichte, dass Andersartigkeit unweigerlich mit Konflikten einhergeht, entstanden ist. Wie sie von demokratischen Institutionen und durch die Alltagsgewohnheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger immer wieder durchgespielt wird. Vor allem aber beschäftigt sich dieses Buch damit, wie es manchen Menschen gelingt, andere Geschichten über Verschiedenheit zu erzählen und so die demokratische Tradition von innen heraus radikal umzugestalten. In diesem Buch geht es um die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft — um eine alte, bekannte Geschichte, die wir laufend wiederholen, aber auch darum, wie wir diese Geschichte neu schreiben könnten.

*

Das erste Mal kam ich nach Kilburn, um dort eine »Pop-Up University« zu besuchen. Eine Gruppe von Künstlerinnen, Architektinnen und Akademikern war zusammengekommen, um in einer Reihe von Veranstaltungen die Geschichte, Struktur und Politik dieser geschäftigen Ecke im Nordwesten Londons zu erkunden. Die beteiligten Künstlerinnen und Künstler, so vermute ich, konnten der Versuchung, die Szene ein wenig auszugestalten, nicht widerstehen: In der Mitte des großen Gemeinschaftstischs, an dem sich das Publikum versammelt hatte, befand sich ein kleines Stillleben aus Büchern, Nippes und Schwarz-Weiß-Fotografien des Viertels — alles hübsch auf schwarzem Stoff arrangiert. In der Mitte des Stilllebens wiederum befand sich, ausgestellt wie die Bibel selbst, ein Klassiker der Architekturliteratur: Eine Muster-Sprache. Die Botschaft dieses Buchs und die der Vortragenden war eine ganz ähnliche: Orte definieren sich durch vertraute Muster — eine gewisse Anmutung der Läden und Häuser, bestimmte Gewerbe und Berufe, bestimmte Örtlichkeiten wie Parks, Kirchen oder Gemeindezentren, die die Menschen auf eine bestimmte Art und Weise zusammenführen. Eine Gemeinschaft zu bilden bedeutete, diese Muster zu erkennen, zu lernen, auf das Vertraute und Wesentliche zurückzugreifen, und die Elemente dann neu anzuordnen.

Nach dem Workshop spazierte ich etwas verblüfft die Kilburn High Road hinunter. Wenn es hier ein Muster gab, dann hatte ich Mühe, es zu erkennen. Die Schriftstellerin Zadie Smith ist ganz in der Nähe von Kilburn aufgewachsen, das Viertel diente ihr für mehrere ihrer Geschichten als Schauplatz und Inspiration. So beschreibt sie einen Spaziergang die High Road hinunter:

Polnische Zeitung, türkische Zeitung, arabische, irische, französische, russische, spanische, Nachrichten aus aller Welt. Das (geklaute) Handy entsperren, abgepackte Batterien kaufen, abgepackte Feuerzeuge, abgepacktes Parfum, Sonnenbrillen, drei für fünf Pfund, ein lebensgroßer Porzellantiger, goldene Wasserhähne. Spielcasino! […] Ghettoblaster, einfach so. Einsamer Italiener in Slippern, verirrt, auf der Suche nach Mayfair. Tausendundeine Möglichkeit der Vermummung: das schwarze Ganzkörperzelt, das Gesichtsgitter, der bedeckte Hinterkopf, Louis-Vuitton-Logo, Gucci-Logo, gelbe Spitze, an der Sonnenbrille befestigt, kaum vorhanden, gestreift, bonbonrosa; kombiniert mit Jogginganzügen, hautengen Jeans, Sommerkleidern, Blusen, Hemdchen, Hippieröcken, Schlaghosen. Kein Zusammenhang mit den Diskussionen in den Zeitungen, im Parlament. […] Die Araber, die Israelis, die Russen, die Amerikaner: Hier sind sie vereint im möblierten Penthouse, in der Privatklinik. Wenn wir genug Geld hinblättern, wenn wir die Augen zukneifen, dann braucht es Kilburn gar nicht zu geben. Gratismahlzeiten. Englisch als Fremdsprache. Da ist die Schule, in der sie den Direktor erstochen haben. Da ist das Islamic Centre of England, gleich gegenüber vom Queen’s Arms Pub. Da versucht mal zu vermitteln, ihr Schiedsrichter vom Dienst!6

Die Kilburn High Road verläuft wie ein Rückgrat durchs Viertel, von Südosten nach Nordwesten; zu beiden Seiten zweigen Straßen ab und führen zu viktorianischen Reihensiedlungen, irrgartenähnlichen Sozialbauten oder imposanten Villen. Wie Smiths atemlose Beschreibung vermuten lässt, wimmelt es in Kilburn geradezu von Gegensätzen, die eine lange, vielschichtige Historie der Einwanderung und politischen Umbrüche widerspiegelt. Im späten neunzehnten Jahrhundert bot das Viertel irischen Familien, die der Hungersnot entkommen wollten, und Juden, die der Verfolgung entkommen wollten, eine Zuflucht — Menschen, die andernorts unwillkommen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Einwanderer aus den damaligen und vormaligen britischen Kolonien dazu, da es Großbritannien erheblich an Arbeitskräften mangelte und vieles neu aufgebaut werden musste. Angesichts der Vorurteile und Feindseligkeit, die den Neuankömmlingen entgegengebracht wurde, wandten diese sich häufig an informelle, von früheren Einwanderern etablierte Netzwerke bereitwilliger Vermieter und Arbeitgeber, um in der Stadt Fuß zu fassen.7 Dadurch lernten verschiedene Generationen von Einwanderern einander kennen, knüpften neue Verbindungen, erwarben ein neues Selbstverständnis, nahmen neue Lebensweisen an. Heute hat sich Kilburns Vielfältigkeit noch einmal gesteigert und zu dem entwickelt, was der Wissenschaftler Steven Vertovec »Superdiversität« nennt.8 Ältere jüdische, irische und karibische Einwanderer wohnen Seite an Seite mit jüngeren Zugezogenen aus Afrika, der EU und Südamerika, die andere Religionen, Sprachen, Anschauungen und Hoffnungen mitbringen.9 Kilburn ist nicht einfach nur ein Ort, wo die weiße britische Bevölkerung in der Minderheit ist. Es ist ein Ort, an dem keine einzelne Gruppe eine Vormachtstellung hat und wo selbst die Begrifflichkeiten, mit denen wir Diversität beschreiben, auszufransen scheinen.

Je mehr Migrationsgeschichten hier zusammenkommen, desto poröser werden vertraute Kategorien.Vielen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Großbritannien kamen, hatte man in den Kolonialschulen und vonseiten der Behörden beigebracht, das Vereinigte Königreich als »Mutterland« zu sehen. Sie stellten sich das Migrieren teilweise als eine Art Heimkehr vor — eine Vorstellung, die durch die Tatsache gestützt wurde, dass sie als vollberechtigte britische Bürgerinnen und Bürger ins Land kamen. Als die Empire Windrush am 21. Juni 1948 mit den ersten Nachkriegseinwanderern aus Jamaika im Hafen einlief, titelte der Londoner Evening Standard: »WILLKOMMEN ZU HAUSE!«10 An dieses Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit erinnern sich die älteren indischen und jamaikanischen Einwanderer in Kilburn noch heute mit nostalgischer Wehmut.

1962 aber hob Großbritannien die automatische britische Staatsbürgerschaft der meisten kolonialen und postkolonialen Einwanderer wieder auf und verbrachte die darauffolgenden Jahrzehnte damit, dem Prozess der Einwanderung immer größere Restriktionen aufzuerlegen. Ein Großteil derer, die nach 1962 nach Großbritannien kamen, fiel in die Kategorie des »Familiennachzugs«; sie fühlten sich häufig nicht Kilburn als Ganzem verbunden, sondern lediglich ihrem individuellen Platz innerhalb eines relativ eng gefassten Netzwerks der Familie und der Gemeinde.

1981 ermöglichte es die britische Regierung, Einwohnern mit Migrationshintergrund die britische Staatsbürgerschaft zu entziehen — auch wenn diese in Großbritannien geboren und aufgewachsen waren —, wenn ihre Anwesenheit als »dem Wohl der Allgemeinheit nicht zuträglich« eingestuft wurde.11 Heute haben junge Leute in Kilburn, die Kinder oder Enkel von Einwanderern, Schwierigkeiten damit, genau zu benennen, was es für sie bedeutet, britisch zu sein. Sie fühlen sich in Kilburn, London, Großbritannien zu Hause, sind sich gleichzeitig aber auch der Tatsache bewusst, dass ihnen im Gegensatz zu ihren weißen britischen Nachbarn diese Wurzeln jederzeit geraubt werden können. Die vielschichtigen Hintergründe der Migration und Staatsbürgerschaft formen ganz eigene Zugehörigkeits- und Identitätsgefühle sowie unterschiedliche Lebensweisen. Sie machen es schwierig, über Diversität allein anhand von nationalen Ursprüngen zu reden, als bildeten alle aus der Karibik, aus Brasilien, aus China oder irgendeinem anderen Land Eingewanderten einheitliche, gleichgesinnte Gruppen.

Die hohe Diversität, die sich durch Kilburn zieht, ist aber nicht einfach ein Ergebnis der Migration. Kilburn ist von wohlhabenden Vierteln umgeben und deshalb ein Flickenteppich verschiedener Klassen, Professionen und Verhältnisse — von Geflüchteten bis zu Arbeitskräften im Einzelhandel, von finanzstarken Anlagebankiers bis zu prekär lebenden Künstlern. Immer neue Formen der Diversität tauchen auf, überschneiden einander und fallen in sich zusammen. Schulkinder erzählen sich Witze in einem Mix aus Hip-Hop-Englisch, Somali, jamaikanischem Patois, Arabisch und Cockney. Inmitten einer Großwohnsiedlung, die zu den ärmsten Großbritanniens zählt, finden sich in einer kleinen Sackgasse ehemalige Stallungen, die in moderne Eigenheime umgewandelt für über eine Million Pfund den Besitzer wechseln. In Straßen mit viktorianischen Reihenhäusern aus rotem Backstein leben einerseits reiche Privatbesitzer und andererseits Geflüchtete in umgebauten Wohnungen. In den Büros einer Wohltätigkeitsorganisation für lateinamerikanische Einwanderer treffen Tanzgruppen und Anti-Sparpolitik-Aktivisten aufeinander; in einem Gemeindezentrum mischen sich Heimunterrichtsfamilien mit Künstlern und trendigen jungen Muslimen. Eine anglikanische Kirche beherbergt in ihrem prächtigen Mittelschiff eine Post, ein Café und eine Kita.

Unser vernetzter Planet ist kein Kind der Gegenwart, sondern eines der Kolonialära. Nach einer Begutachtung der Kilburn High Road schrieb die berühmte Geografin Doreen Massey einst: »Es ist unmöglich — oder sollte es sein —, an die Kilburn High Road zu denken, ohne dabei gleichzeitig an die halbe Welt und einen beträchtlichen Teil britischer Imperialgeschichte zu denken.«12 Es ist zwar nicht immer so offensichtlich wie in Kilburn, doch finden sich überall dort, wo Einwanderergemeinschaften in Europa Wurzeln geschlagen haben, auch Spuren der Kolonialgeschichte. Durch das gesamte neunzehnte und bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein erlebte Europa einen wahren Migrationsboom, als Europäer ihre Heimat verließen, um ihr Glück in kolonialisierten Ländern in ganz Süd- und Nordamerika, Afrika sowie Asien zu suchen. Viele andere wurden als Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen deportiert. Zu Spitzenzeiten im frühen zwanzigsten Jahrhundert verließen jährlich annähernd 1,4 Millionen Menschen Europa.13 Gemessen an der europäischen Gesamtbevölkerung lässt diese Abwanderung die Migration heutzutage winzig erscheinen; sie hat die Welt in tiefgreifender Weise geprägt.14

Damit verbunden war der Sklavenhandel. Zwischen 1450 und 1900 wurden 11,3 Millionen afrikanische Sklaven mit dem Schiff über den Atlantik nach Nord- sowie Südamerika und auf die Westindischen Inseln gebracht. Zwischen 800 und 1900 wurden weitere 7,2 Millionen Sklaven durch die Sahara transportiert, 2,4 Millionen über das Rote Meer verschifft und 2,9 Millionen aus Ost- nach Nordafrika, in den Nahen Osten oder nach Asien gebracht. Einen düsteren Höhepunkt erreichte der Sklavenhandel in den 1790er-Jahren, nachdem europäische Siedler ältere, von den Arabern beherrschte Sklavenhandelsrouten übernommen hatten. Mit zunehmender kolonialer Expansion und Gier stieg auch die globale Nachfrage nach Sklaven.15 Andere Formen des Handels sowie der Zwangsarbeit spielten ebenfalls eine Rolle bei der Ent- und Neubesiedelung der Welt — so kamen somalische Seeleute ins viktorianische Cardiff, Schwarze Unterhaltungskünstler an den Hof Elisabeths I. und Inder sowie Chinesen als Arbeiter in die Karibik. Abgesehen von diesen weltumspannenden Bewegungen löste der Kolonialismus auch Migrationen anderer Art aus: Koloniale Eroberungszüge verwüsteten Städte und Dörfer, zogen auf europäischen Rivalitäten basierende Grenzen durch weit entfernte Kontinente und schufen neue Zentren der wirtschaftlichen Aktivität und Macht — was Migrationen in großem Ausmaß und eine Durchmischung in den Kolonialgebieten zur Folge hatte.

Diese Umwälzungen schufen neue Verbindungskanäle zwischen den Menschen und Kulturen in der gesamten kolonialisierten Welt und denen in Europa. Durch die Kreisläufe des Transports, der Kommunikation, der Finanzen, des Handels, der Bürokratie und Regierungsangelegenheiten sowie durch missionarische Bewegungen und den weltweiten Austausch von Waren entstand eine hochvernetzte Welt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus diesen Verbindungen das Fundament eines neuen Zeitalters der Migration. Während viele aus der Heimat vertriebene oder ums Überleben kämpfende Europäer nach Amerika auswanderten, versuchten die Einwohner kolonialer oder postkolonialer Länder in Europa ein besseres Leben zu finden. Ähnlich wie in Kilburn führte die Notwendigkeit eines Neuaufbaus ganzer Nationen, darunter Großbritannien und Frankreich, zu regelrechten Anwerbungskampagnen aus damaligen und vormaligen Kolonien. Menschen aus Vietnam und Nordafrika zogen nach Frankreich, Indonesier in die Niederlande und Inder, Pakistani sowie Einwohner des afrokaribischen Raums nach Großbritannien. In Ländern wie Westdeutschland und den Niederlanden hatten der wirtschaftliche Aufschwung und gleichzeitige Mangel an Arbeitskräften in den 1960er-Jahren internationale Rekrutierungsprogramme zur Folge, die Gastarbeiter etwa aus der Türkei oder Marokko ins Land brachten.

Von diesen Ausgangspunkten aus ist die Migration nach Europa ebenso wie die nach Nordamerika zunehmend diverser geworden. Seit 1960 ist der Anteil internationaler Migranten weltweit annähernd gleich geblieben, er liegt bei rund drei Prozent.16 Heute stammen diese Menschen allerdings aus einer zunehmend diversen Bandbreite an Ländern und Regionen und haben ganz unterschiedliche Vorgeschichten.17 In manchen Fällen sind einstige Kolonialländer und -metropolen, in denen zukünftige Migranten auf der fortwährenden Suche nach einem besseren Leben einige Monate oder Jahre lang Station machen, zu Drehkreuzen und Schmelztiegeln neuer Identitäten geworden. In anderen Fällen hat die Migration zu einem langsamen Wohlstandsanstieg in den Herkunftsländern beigetragen, da die Ausgewanderten ihren zu Hause gebliebenen Verwandten Geld schicken oder in ihr Heimatland zurückkehren und dort Häuser bauen oder Geschäfte gründen. Umgekehrt kann sich durch die wirtschaftliche Entwicklung ein immer breiteres Spektrum an Menschen die kostspielige Reise ins Ausland leisten. Zu guter Letzt haben, ebenso wie damals in den 1960er-Jahren, als europäische Staaten Verbindungen zu neuen Nationen knüpften, um besser an billige Arbeitskräfte heranzukommen, auch jüngere ökonomische Veränderungen wie der Zerfall der Sowjetunion, die rasante Industrialisierung Chinas und die Erweiterung der EU neue Zuwanderungsrouten eröffnet. Alles in allem haben diese Umwälzungen die Migration nicht beschleunigt, sie aber vielfältiger gemacht und insbesondere die Herkunft der Zuwanderer diversifiziert. So sehen sich die Menschen, die an Orten mit vielen niedergelassenen Zuwanderern leben, heute häufig mit einem immer vielschichtigeren Kaleidoskop an Unterschieden konfrontiert.

Derzeit ist die Welt beständigen Veränderungen unterworfen, und Orte wie Kilburn lassen erahnen, wie sie in Zukunft wohl aussehen wird. Um das Jahr 2045 herum wird es wahrscheinlich mehr nicht-weiße Amerikaner als weiße Amerikaner geben.18 Selbst wenn Großbritannien strikte Zuwanderungsbeschränkungen durchsetzt, wird sich die nicht-weiße Bevölkerung des Landes zwischen 2016 und 2061 vermutlich verdoppelt haben und von 17,5 auf 35,6 Prozent gestiegen sein.19 Möglicherweise werden sich diese Prognosen zwar nicht national bewahrheiten, auf große, global vernetzte Städte aber könnten sie durchaus zutreffen.20 Unabhängig davon, wo wir leben, kommen wir durch das Internet sowie durch globalen Handel und globale Medien heute schon fast alle regelmäßig mit Andersartigkeit in Kontakt — mit anderen Kulturen, anderen Standpunkten, anderen religiösen Überzeugungen und anderen Arten zu leben. In der Folge scheinen sich die Einwohnerinnen und Einwohner, wer auch immer sie sind, immer weiter auseinanderzuleben oder zumindest immer stärker zu individualisieren. In ihrem 1984 veröffentlichten Buch Eight London Households ging die Anthropologin Sandra Wallman der Frage nach, wie Londoner Familien in den Achtzigern lebten. Sie fand heraus, dass die Haushalte, die sie untersuchte, durch ein starkes, in ihrer unmittelbaren Umgebung wurzelndes Gefühl der Identität und Zugehörigkeit zusammengehalten wurden. 2013 publizierte der deutsche Soziologe Jörg Dürrschmidt eine Aktualisierung von Wallmans Studie, in der kaum noch von gemeinsamen örtlichen Wurzeln die Rede war. Stattdessen kultivierten Dürrschmidts Londoner ein ausgeprägtes Gefühl persönlicher Identität. Sie griffen auf die diversen Angebote der Stadt zurück und gestalteten sich so einen höchst eigenen Lebensstil.21

An Orten wie Kilburn beeinflussen sich Unterschiede hinsichtlich Nationalität, Sprache, Einkommen, Lebensstil, Beruf, Generation, Geschlecht, Geschichte, Bildung, Klasse, Sexualität, sozialer Kreise, Ethnie und Religion alle gegenseitig. Und obwohl es diese überwältigende Diversität schwierig macht, ein gemeinsames Muster zu erkennen, bedeutet das nicht, dass Kilburn durch die Diversität auseinandergerissen würde. Nein, hier changiert die Andersartigkeit im Alltag der Menschen zwischen normal und seltsam, zwischen bereichernd und mühsam.

Einige Monate nach meinem ersten Besuch, ich lebte nun selbst in Kilburn, fand ich mich eines grauen Dezembernachmittags in einem Gartencenter wieder, wo ich mir meinen Weg zwischen Plastikweihnachtsbäumen hindurchbahnte. Ich war mit Paddy und Daisy dort, zwei alten Freunden, die beide mit Mitte zwanzig nach Kilburn gezogen waren — Paddy aus Irland und Daisy aus einem kleinen englischen Dorf. Daisy war inzwischen über neunzig, Paddy rüstige neunundsiebzig. Das Paar kannte sich seit Jahrzehnten, über einen Mieterbund, den Daisy für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres Hochhauses mitgegründet hatte. Der nachmittägliche Ausflug war vom »Freundschaftsklub« einer örtlichen Kirche organisiert worden, den Daisy regelmäßig besuchte. Die Fahrt zum Gartencenter war eine Art jährliches Ritual, bei dem sich die Leute den Christbaumschmuck ansahen, ein paar Worte mit dem Weihnachtsmann wechselten und sich anschließend bei einer Tasse Tee oder Glühwein in einem Café niederließen. Paddy war nicht regelmäßig dabei, dieses Mal aber mitgekommen, um sich mit seiner alten Freundin zu treffen. Während Paddy und ich uns mit dem Schieben von Daisys Rollstuhl abwechselten und umsichtig um die vollgestopften Verkaufstische herumnavigierten, schwelgte Daisy in Erinnerungen, die Paddy hin und wieder mit einem Nicken kommentierte.

Als Daisy gemeinsam mit anderen den Mieterbund ins Leben rief, ging es ihr anfänglich nur darum, einige kleinere Renovierungen am Gebäude durchzusetzen. Schon bald aber kam ein wahrer Strom an Mieterinnen und Mietern zu ihr, die sie um Hilfe bei ihren Rechnungen, Reparaturen oder Familienstreitigkeiten baten. Die Leute kamen, um sich zu erkundigen, ob sie ihre Sozialwohnung tapezieren durften, und blieben, um Daisy nach ihrer Meinung bezüglich des Tapetenmusters zu fragen. Andere sprachen kaum Englisch und brauchten Hilfe mit ihrem Miet- oder Arbeitsvertrag — saßen aber bald weinend in Daisys Wohnzimmer und erzählten ihr davon, wie schwierig es war, sich an einem fremden Ort ein neues Leben aufzubauen. Und je mehr sich Paddy mit den Angelegenheiten des Mieterbunds beschäftigte, desto mehr wurde auch er Teil dieser Wohnzimmertherapie. Der Mieterbund war für diejenigen, die kaum andere Unterstützung hatten, zu einer Art Ersatzfamilie geworden.

Mit gelegentlichen Ergänzungen vonseiten Paddys erzählte Daisy mir von den Beziehungen, die sie zu ihren Nachbarn aufgebaut hatte, und von den Geschichten, die sie von ihnen hörte: von dem polnischen Handwerker, der den Mietern bei schnellen Reparaturen oder kleinen Veränderungen in ihrer Wohnung half, ohne dass die Hausverwaltung es mitbekam; von der Dame aus Pakistan, die ihre in London so heimisch gewordene Tochter nicht mehr verstand. Als Daisy nach London gezogen war, hatte sie sich selbst einsam und verängstigt gefühlt. Sie erkannte sich in den Geschichten ihrer Nachbarn wieder — verwirrt, verunsichert und doch entschlossen, zurechtzukommen. Dieses Gefühl kannte Paddy auch. Er war zu einer Zeit aus Irland nach London gekommen, als den Iren dort noch eine deutlich spürbare Feindseligkeit entgegengebracht wurde, als man sie noch mit Klischees wie faul, kriminell und unsauber abstempelte. Beiden hatte der Kontakt zu den Nachbarn erheblich dabei geholfen, sich in London allmählich zu Hause zu fühlen.

Schließlich jedoch hatten sich Daisy und Paddy aus dem Mieterbund zurückgezogen. Irgendwann war es ihnen einfach zu viel geworden. Schlimmer noch: Irgendetwas fehlte. Strengere Regeln hinsichtlich der Frage, wer Anrecht auf eine Sozialwohnung hatte und wer nicht, führten zu häufigeren Aus- und Umzügen. Die Nachbarn wechselten immer öfter. Die Neuankömmlinge stammten aus zunehmend vielfältigeren Herkunftsländern, was es schwieriger machte, Kontakt aufzunehmen und Gemeinsamkeiten zu finden. Den Bedarf an Hilfe, Mitgefühl und Zuwendung gab es noch immer — er war eher gestiegen als gesunken. Doch das Gefühl der Gemeinschaft, das dies einst hervorgebracht hatte, schien zu schwinden. Nun war die Arbeit im Mieterbund nicht mehr Ausdruck der nachbarschaftlichen Fürsorge, sondern eine kostenlose und anstrengende Dienstleistung.

Bis dahin hatte hauptsächlich Daisy gesprochen, nun begann Paddy, von seiner Arbeit als Gärtner zu erzählen. Er war für die Verwaltungsbehörde Greater London Authority tätig gewesen und hatte sich als Teil dieser Tätigkeit hin und wieder um die Bäume und Rabatten gekümmert, die einst die geschäftige Londoner Regent Street gesäumt hatten. Heute, so klagte er, waren die meisten der Pflanzen verschwunden. Und Paddy wusste auch, warum: Gegen Ende seiner Zeit als Gärtner waren sie von immer mehr Leuten beschädigt worden, Paddy war mit der Pflege der Pflanzen kaum mehr nachgekommen. Wenig hilfreich war auch gewesen, dass viele der größeren Geschäfte in der Regent Street von reichen ausländischen Investoren oder riesigen multinationalen Konzernen übernommen worden waren, die sich nicht mehr an der Gestaltung des öffentlichen Raums um sie herum beteiligen wollten. Paddy fasste die Entwicklung so zusammen: Der öffentliche Raum in London war ebenso wie sein und Daisys Mieterbund durch »all diese Immigranten« im Niedergang begriffen. »Kein Respekt vor nichts und niemandem!«, grummelte Paddy vor sich hin. Ginge es so weiter, davon war er überzeugt, würde es nicht mehr lange dauern, und London hätte überhaupt keine öffentlichen Plätze mehr. Hier runzelte Daisy die Stirn und deutete auf mich — den dunkelhäutigen, in Kanada geborenen Anthropologen, dessen Familiengeschichte sich im Schatten des Britischen Weltreichs über drei Kontinente hinweg erstreckte. »Er ist doch auch ein Immigrant!«, protestierte sie.

»Ach, du weißt schon, was ich meine«, erwiderte Paddy halb verärgert, halb amüsiert. »Doch nicht Leute wie ihn!«

*

Selbst für diejenigen, die sich für Offenheit einsetzen, kann ein von Diversität geprägtes Leben echte und gewichtige Herausforderungen bereithalten. Die Bemühungen von Geflüchteten und Zuwanderern, sich ein neues Zuhause aufzubauen, könnten mit den Rechten oder Ansprüchen einheimischer Gruppen oder niedergelassener Minderheiten in Konflikt geraten. Unter den einzelnen Gemeinschaften mag Unstimmigkeit über den Rang religiöser Werte im Schulsystem herrschen, Familien mögen, was Liebe und familiäre Pflichten angeht, verschiedener Meinung sein, Nachbarn mögen über verschiedene Vorstellungen von Geschlechterrollen und Sexualität streiten oder über unterschiedliche Sprachen stolpern. All das bringt oft die knifflige Aufgabe mit sich, zwischen widerstreitenden Sichtweisen, Werten, Hoffnungen und Ängsten abwägen zu müssen, was sich manchmal nicht einfach durch das Beharren auf Akzeptanz, Offenheit oder Gleichberechtigung lösen lässt.

Solche Herausforderungen sind mit übergreifenden Mustern verknüpft, die nahezulegen scheinen, dass Diversität eine Bedrohung für unsere Gesundheit, unser Gemeinwesen und sogar die Funktionsweisen der Demokratie darstellen könnte: Mancherorts scheint die Zunahme an ethnischer Diversität mit einem höheren Aufkommen an Stress und einem sinkenden Wohlbefinden verbunden zu sein, weil die Anwohner mit grundsätzlichen Veränderungen in ihrem alltäglichen Leben zu kämpfen haben.22 Umfassender betrachtet gibt es bereits mehrere Belege dafür, dass die zunehmende ethnische Diversität zu einem abnehmenden sozialen Vertrauen und einem verminderten Einbringen in die Gemeinschaft23 sowie zur mangelnden Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger beiträgt, gemeinschaftlich zu handeln und in öffentliche Güter zu investieren.24

Weniger Wohlbefinden sowie ein sinkendes Vertrauen in die Öffentlichkeit, eine geringere Beteiligung am Gemeindeleben und eine nachlassende Solidarität sind in ähnlicher Weise auch mit vielen anderen Formen von Diversität in Verbindung gebracht worden — von der Einkommensungleichheit bis zur Zersplitterung des Medienkonsums in zahllose Einzeldiskurse.25 Die Demokratie braucht Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die darauf vertrauen, dass ihre Sichtweise und ihre Interessen vertreten werden. Minderheitengruppen in demokratischen Staaten aber haben eher ein geringeres Vertrauen in ihre Mitbürger26, während sich mit zunehmender Diversität und auseinanderdriftenden Überzeugungen und Anschauungen sogar relativ große Mehrheitsgruppen immer häufiger als bedrängte Minderheiten sehen.27

Glauben wir der Geschichte, die erzählt, Andersartigkeit führe immer zu Konflikt, dann müssen wir uns in einer zunehmend diverseren Welt auf eine Zukunft voller Bedrohungen einstellen. Immer mehr bestimmen Ängste dieser Art die demokratische Politik im gesamten politischen Spektrum. Über den Großteil der vergangenen beiden Jahrzehnte hinweg hat die britische Öffentlichkeit die Immigration als drängendstes politisches Problem ausgewiesen28, diesbezügliche Befürchtungen scheinen beim Brexit-Referendum 2016 eine entscheidende Rolle gespielt zu haben.29 Und auch in anderen Demokratien, etwa in den Vereinigten Staaten, in Italien, in Deutschland und in Südafrika, gehört Migration zu den entscheidenden Themen.30 Konservative lassen sich nostalgisch über den Verlust der nationalen Kultur und kollektiven Moral aus, selbst ernannte Gemäßigte sind angesichts der wachsenden »Gruppeninteressenpolitik« beunruhigt, und die eher links Orientierten beklagen das Nachlassen klassenbasierter Solidarität oder den kontinuierlichen Ausschluss von Minderheiten, die von dominanteren Gruppen beständig falsch dargestellt und verunglimpft werden. »Fake News«, »alternative Fakten« und politische Abspaltung machen Menschen aus vielen verschiedenen politischen Lagern Angst — nur dass sich niemand darauf einigen kann, wer denn von Anfang an die »wahren Fakten« hatte oder wie die Menschen wieder zusammenkommen sollten. All diese Ängste handeln auf ihre Weise mit einem Verständnis von Andersartigkeit, bei dem der Konflikt als beinahe unausweichliches Ergebnis des Zusammenlebens erachtet wird. Wenn wir das wirklich glauben, bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als Mauern hochzuziehen und uns einzubunkern.

Allerdings gibt es eine Vielzahl von Anzeichen, dass dies vielleicht nicht die ganze Wahrheit ist. Es liegen beispielsweise Dutzende Studien zur Auswirkung von Diversität auf das Vertrauen vor. Die Ergebnisse variieren zwar von Studie zu Studie, doch entsteht insgesamt tatsächlich der Eindruck, dass sich Diversität negativ auf das Vertrauen auswirkt. Gleichzeitig hat sie aber nur einen sehr kleinen Anteil an diesem Vertrauensverlust —Diversität kann demnach nicht als Haupterklärung für das Gefühl des nachlassenden Gemeinschaftssinns oder das verminderte Vertrauen in die Demokratie angeführt werden.31 Im Gegenteil: Von Ort zu Ort finden sich sogar zahlreiche Ausnahmen von der Regel, dort ist die zunehmende Diversität mit einem zunehmenden Vertrauen und einem Aufschwung an bürgerschaftlichem Engagement verknüpft. Diese Ausnahmen suggerieren, dass Diversität und Konflikt nicht zwangsläufig miteinander verbunden sein müssen. Nimmt man besonders diverse Gemeinden näher unter die Lupe, werden auf einmal Möglichkeiten sichtbar, wie Diversität das Leben bereichern kann, indem sie zu neuen Formen der Verständigung und Verbindung führt. Es kann also durchaus sein, dass unter all den Annahmen noch eine andere Geschichte schlummert — eine, die uns auf den ersten Blick vielleicht weniger vertraut ist, die uns jedoch immer vertrauter werden kann, wenn wir nur innehalten und zuhören.

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Hier kommt mein Wissensgebiet, die Anthropologie, ins Spiel. Das Wort stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus anthrōpos, Menschheit, und logia, Studium, zusammen. In ihrem weitesten Sinn ist die Anthropologie genau das: die Beschäftigung damit, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Keine leicht zu beantwortende Frage, so viel steht fest. Wirft man einen Blick auf die ungeheure Vielfalt menschlicher Gemeinschaften, wird augenblicklich klar, dass all diese unterschiedlichen Menschen ihr Menschsein auf enorm unterschiedliche Weise definieren und erleben. Deshalb steht im Zentrum der Anthropologie die Verpflichtung, diese Unterschiede ernst zu nehmen. Die Anthropologie beginnt mit dem Innehalten — zunächst lassen wir beiseite, was wir zu wissen glauben, um Platz zu schaffen für das Zuhören, das aufmerksame Anhören dessen, was andere uns erzählen.

Die Anthropologie ist ein weites Feld, und im Laufe der Zeit haben sich bestimmte Spezialgebiete herausgeschält. Die evolutionäre Anthropologie betrachtet die Menschheit über unsere lange gemeinsame Entwicklungsgeschichte hinweg und greift dabei vielfach auf Psychologie und Physiologie zurück, um herauszufinden, was uns von anderen Lebewesen unterscheidet. Die linguistische Anthropologie untersucht, wie die Menschen kommunizieren und wie die Sprache das Leben formt. Sie ist eng mit der soziokulturellen Anthropologie verwandt, die sich die menschliche Gesellschaft zum Gegenstand gemacht hat und fragt, welche Bedeutungen, Praktiken und Gefühle unseren Alltag sowie unsere reiche kulturelle Vielfalt ausmachen.

In diesem Buch sind alle drei Herangehensweisen vertreten, am meisten jedoch schöpfe ich aus meiner Ausbildung als soziokultureller Anthropologe. Das heißt, dass ich die Frage, wie wir mit Andersartigkeit leben, vor allem als eine kulturelle Angelegenheit verstehe, in die insbesondere die spezifischen Vorstellungen, Bräuche und Emotionen des Konglomerats Gesellschaft einfließen. Während sich viele anthropologische Studien mit weit entfernten Gesellschaften beschäftigen, basiert meine Arbeit auf meinem Leben und Forschen in Großbritannien. Ich habe zwischen 2014 und 2015 insgesamt sechzehn Monate in Kilburn gewohnt und dabei herauszufinden versucht, wie die Einwohner dort mit Unterschieden umgehen. Wie sind sie zusammengekommen? Wie haben sie kooperiert? Wenn es zu Konflikten kam, von welchen Unterschieden wurden diese dann ausgelöst? Und wie haben es Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten geschafft, sich an einem Ort heimisch zu fühlen, der von beständigem Wandel und enormer Diversität geprägt ist?

Um all diese Fragen zu beantworten, habe ich Zeit mit Dutzenden von Gemeindeorganisationen verbracht und zahlreiche Einwohner von Kilburn in ihrem Alltag begleitet. Ich habe Interviews geführt, war bei Gemeindetreffen dabei, habe Festivals besucht und mich am Organisieren von Veranstaltungen und Projekten beteiligt. Ich habe mich Aktivistinnen angeschlossen, die gegen Zwangsräumungen, geringe Wahlbeteiligung und den Klimawandel kämpften. Ich blieb mit DJs des örtlichen Freien Radios bis in die Puppen auf, spielte Fußball und Xbox und versuchte mich am Krafttraining in Jugendklubs. Ich nahm an Gottesdiensten teil, wurde zu Geburtstagspartys eingeladen und half in der Suppenküche aus. Ich hing mit jungen Leuten auf der Straße ab und unterhielt mich vor den Schultoren mit ihren Eltern.

Die Erkenntnisse, die ich bezüglich dessen, was uns aktuell trennt, gewonnen habe, stammen in erster Linie aus meinem Einblick in das Leben von Kilburns diversen Bevölkerung. Dennoch bin ich an Kilburn nicht als einzigartigem Ort, sondern als Teil einer umfassenderen Geschichte von menschlicher Diversität und Demokratie interessiert. Und so webt dieses Buch Geschichten aus Kilburn und Geschichten aus aller Welt und allen Zeiten ineinander, um verschiedene Arten des Zusammenlebens mit all den Lektionen, die es vielleicht für uns bereithält, nachzuzeichnen. Auf diesen Reisen versuche ich, die Welt aus der Sicht des Anthropologen zu erkunden und greife dabei stets auf zwei Grundannahmen zurück: dass wir erstens in unserem Verständnis der Welt immer auf irgendetwas aufbauen und dass zweitens viel von dem, was wir in unserem eigenen Leben für selbstverständlich halten, als Produkt unserer Kultur identifiziert werden kann.

Um deutlich zu machen, wie man als Anthropologe denkt, können wir mit einer einfachen Frage beginnen: Welche Farbe hat ein Schnabeltier? Jeder, der schon einmal ein Schnabeltier gesehen hat, sollte die Antwort wissen: Es ist natürlich braun. Jedenfalls für das bloße menschliche Auge. Im Jahr 2020 fanden Wissenschaftler heraus, dass das Schnabeltier bei UV- oder Schwarzlicht in fluoreszierenden Schattierungen von Blau, Grün und Violett leuchtet. Diese Entdeckung stellt das Schnabeltier in eine Reihe mit zahlreichen anderen Arten, darunter Beutelratten, Frösche und Papageitaucher, deren Farbe unter UV-Licht ebenfalls völlig anders erscheint: Hier erstrahlen Gleithörnchen in neonpinkfarbenen Mustern, und Salamander verwandeln sich in Gurken- oder Limettengrün. Und während wir UV-Licht zwar nicht sehen können, können viele Tiere — vielleicht sogar die meisten — das sehr wohl. Wo wir nur ein langweiliges Braun sehen, sehen andere Lebewesen möglicherweise komplexe Muster, grelle Farben oder ein helles Leuchten.32

Der Anthropologe Gregory Bateson stellt die These auf, dass wir uns in der Welt zurechtfinden, indem wir uns auf bestimmte Unterschiede in ihr konzentrieren.33 Am Beispiel des Schnabeltiers hieße das, dass wir so nah an sein Fell heranzoomen könnten, bis jede Strähne anders aussähe — eine von der Sonne ausgebleicht, eine andere dunkler, eine dicker, eine weitere zerfranst. Gleichermaßen können wir aber auch wegzoomen, sodass uns das Gesehene als etwas Einzelnes, Einheitliches erscheint: als Fell. Wir können das Schnabeltier als Individuum betrachten oder als Teil einer größeren Einheit, einer Gruppe, einer Spezies, eines Ökosystems etwa. Wir können zwischen vielen dieser Blickwinkel wechseln, wenngleich wir für das Heranzoomen an einzelne Fellsträhnen oder das Wegzoomen zu ganzen Ökosystemen zusätzliches Werkzeug oder spezielle Fähigkeiten benötigen würden — ein Mikroskop beispielsweise oder die Fähigkeit, Verhaltensmuster oder Artbestände zu berechnen. Entscheidend dabei ist jedoch, dass wir nur einen Blickwinkel auf einmal einnehmen können: Wir sehen entweder ein einheitliches Braun oder schalten das UV-Licht ein und sehen das Leuchten grüner und violetter Schattierungen. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf das unterschiedliche Verhalten einzelner Lebewesen richten, uns ansehen, was sie zu einer Spezies vereint, oder sie als Teil größerer ökologischer Strukturen betrachten. Und jeder mögliche Blickwinkel erfordert es, bestimmte Aspekte hervorzuheben und andere beiseitezuschieben. Um die Welt zu begreifen, nehmen wir also immer einen ganz bestimmten, unvollständigen Standpunkt ein.

Einige Unterschiede sind unserer Biologie geschuldet. Wir sehen ein Braun und kein Neonblau, weil unsere Augen nun einmal so funktionieren, wie sie funktionieren. Anthropologen haben jedoch nachgewiesen, dass selbst unsere biologischen Fähigkeiten sich nicht unabhängig von unserer Kultur formen. Nicht in allen Sprachen wird beispielsweise zwischen Grün und Blau unterschieden, während in anderen ein sehr viel differenzierteres Vokabular zur Beschreibung von Grün- und Blauabstufungen vorhanden ist. Sprecher, deren Sprache nicht zwischen Blau und Grün unterscheidet, haben naturgemäß Schwierigkeiten damit, zwischen den beiden Farben zu differenzieren; diejenigen hingegen, die sich präziserer Kategorien bedienen, können subtile farbliche Unterschiede auch leichter benennen.34 Wie bei anderen Tieren passen sich auch unsere Körper — die Funktionsweise unserer Augen etwa oder die Konstruktion unserer Stimmbänder — in spezifischer Weise an unsere Umgebung an. In weitaus größerem Ausmaß als bei anderen Tieren tut das bei uns aber eben auch die Kultur: Sie lenkt unsere Fähigkeit, die Welt wahrzunehmen und auf ganz bestimmte Art und Weise zu begreifen.

In der Anthropologie bedeutet Kultur all das, was unsere Wahrnehmung und unser Erleben der Welt formt. Kultur geht somit weit über die Sprache hinaus und umfasst auch körperliche Angewohnheiten sowie unsere physische Umgebung. Routinetätigkeiten wie beispielsweise das Schnitzen von Holz oder das Aufstellen von Tabellen und soziale Gewohnheiten wie das gezielte Ignorieren Fremder im Bus oder das Fragen nach dem Befinden der Familie eines Besuchers sind alle Teil der Kultur. Ebenso wie die Dinge um uns herum: die Holzschnitzwerkzeuge, die Busse, die Häuser, in denen wir leben. Wissenschaftlerinnen, Politiker, israelische Fabrikarbeiter, japanische Börsenhändler, promovierte Philosophinnen — sie alle besitzen eine jeweils eigene Kultur.

Die Kultur ist das systematische Unterscheiden — etwa zwischen Grün und Blau —, das uns mit der Welt in Einklang bringt. Für den Menschen steht die Kultur nicht zwischen ihm und der Natur, sie ist seine Natur. Das Gehirn eines Neugeborenen wiegt nur rund ein Viertel dessen, was es im erwachsenen Zustand wiegen wird — viel weniger als das der anderen, eng mit uns verwandten Primaten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass 75 Prozent der Entwicklung unseres Gehirns nach der Geburt stattfinden.35 Unsere Fähigkeit, zu sehen, zu riechen, uns zu bewegen, zu sprechen, zu schmecken, zu denken und zu fühlen, unser Gleichgewichtssinn, unsere Empfindungs- sowie Empathiefähigkeit und vieles mehr können sich nur durch die Interaktion mit der Welt außerhalb von uns entfalten. Je nach spezifischer kultureller Umgebung entwickeln sich diese Fähigkeiten auf ganz bestimmte Weise. Es gibt schlicht kein Erleben der Welt, keine Art zu denken, das oder die nicht durch die Kultur vermittelt wäre.36

Auf individueller Ebene kann unsere Art zu sehen und zu verstehen durch das Ineinandergreifen, das Überlagern oder den Wechsel zwischen verschiedenen Kulturen geprägt sein. Wir haben die Kultur der Familie, der Schule, der Medien, unseres Arbeitsplatzes und der Gemeinde. Dieser Variantenreichtum bedeutet auch, dass eine gemeinsame Kultur niemals völlig einheitlich ist und sich laufend verändert.

Wenn wir Kultur ernst nehmen, verschafft uns dies einen anderen Bezug zur Welt. Die in Langkawi, Malaysia, tätige Anthropologin Janet Carsten schreibt über die dort vorherrschende Auffassung, Geschwister seien Menschen, die mit derselben Substanz gefüttert wurden. Dazu zählen Kinder, die von ein und derselben Frau auf die Welt gebracht wurden, aber auch die, die von derselben Frau gestillt wurden, und die, die im selben Haus aufgewachsen sind und mit Reis vom selben Herd gefüttert wurden. Blut, Milch und Reis — alles Substanzen, die Menschen zu Geschwistern machen können. Hier ist Verwandtschaft ein Prozess, der Füttern, Fürsorge und Verbundenheit beinhaltet.37 Das ist nicht mehr oder weniger logisch als die westliche Auffassung, die Geschwisterschaft definiere sich rein über Geburt und Gene. Besteht man auf dieser Definition, muss man sich zum Beispiel die Frage gefallen lassen, warum gemeinsame Gene dann keine Garantie dafür sind, dass Geschwister füreinander sorgen oder sich ähnlich verhalten. In beiden Fällen handelt es sich schlicht um verschiedene Ansichten darüber, was Geschwisterschaft ist oder sein sollte. Es werden nur andere Unterschiede gemacht.

Die Erkenntnis, dass Kultur allgegenwärtig ist und so unser gesamtes Wissen und all unsere Erfahrungen prägt, hat zur Folge, dass wir uns und andere jeweils anders verstehen. Wenn jegliches Begreifen durch die Kultur vermittelt ist, besteht der erste Schritt beim Kennenlernen des Anderen im Erforschen der anderen kulturellen Perspektive. In der Anthropologie wird der Versuch, die Welt aus der Sicht anderer zu sehen, mitunter als »ernst nehmen« bezeichnet. Dazu gehört, sich damit auseinanderzusetzen, dass die Auffassungen und Erfahrungen anderer für diese ebenso normal, bedeutsam, real und rational sind wie unsere eigenen für uns. Wenn Beduinen also die bösen Taten des Dschinns für ein geschehenes Unglück verantwortlich machen, ethnische Gruppen in der Amazonasregion davon berichten, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie sich jemand in einen Jaguar verwandelt hat, oder Verschwörungstheoretiker verkünden, die Welt werde von undurchsichtigen Geheimbünden beherrscht, reagieren Anthropologinnen und Anthropologen nicht darauf, indem sie diese Ansichten als albern oder irrational oder schlicht falsch abtun. Stattdessen versuchen sie, ihre eigene Sicht der Dinge zeitweilig auszusetzen, und fragen, was diese Überzeugungen für diejenigen, die sie haben, wahr macht. Sie fragen nicht: Inwiefern haben diese Menschen unrecht?, sondern: Inwiefern haben diese Menschen recht?

In diesem Sinne ist die Anthropologie ein wenig wie eine Pilgerfahrt oder Gralssuche — eine Reise an einen weit entfernten und fremden Ort, von der man verwandelt zurückkommt. Zwar erfordert das Verstehen anderer erst einmal, dass wir von unseren eigenen Anschauungen und Werten zurücktreten, es ermöglicht es uns andererseits aber auch, mit einer reicheren Betrachtungsweise zu diesen zurückzukehren. Teilweise halten diese Reisen an andere Orte wertvolle Lektionen für uns bereit. Darüber hinaus ermöglichen sie es uns aber vor allem zu erkennen, dass auch wir nur einen ganz spezifischen Platz in der Welt einnehmen und dass unser Verständnis von gut und schlecht, wahr und unwahr, richtig und falsch uns zwar unbestreitbar vorkommen mag, aber keineswegs universal, sondern ein Produkt unseres kulturellen Umfelds ist.

Das bedeutet auch, dass, was immer wir an anderen verstehen, uns dabei helfen kann, uns selbst zu verstehen. Nehmen wir zum Beispiel das Geschlecht. Im westlichen Kulturkreis verstehen die meisten Menschen Geschlecht als Kategorie, zwischen den Variationen in der menschlichen Biologie zu unterscheiden. Menschliche Körper unterscheiden sich hinsichtlich Größe und Kraft, Chromosomen, Fortpflanzungsorganen, sekundärer Geschlechtsmerkmale wie Brüste und Gesichtsbehaarung, sowie hinsichtlich bestimmter Fähigkeiten wie der des Schwangerwerdenkönnens. Die westliche Kultur teilt diese Variationen in zwei Hauptkategorien ein: weiblich und männlich.

Die entsprechenden Merkmale aber treten biologisch nicht immer so gemeinsam auf, wie die scharf umrissene Definition uns glauben machen will — es gibt beispielsweise Menschen, die sowohl Brüste als auch einen Bart haben, oder Menschen mit weiblichen Fortpflanzungsorganen, die nicht schwanger werden können. Und solche Abweichungen von der Norm sind gar nicht mal so selten. Tatsächlich kommen 1,7 Prozent aller Babys — fast zwei von hundert — mit körperlichen Varianten auf die Welt, die sich nicht so ohne Weiteres in die Kategorie »weiblich« oder »männlich« stecken lassen.38 Der Prozentsatz wird noch größer, wenn man auch die Menschen mit einbezieht, die das Gefühl haben, in den falschen Körper geboren worden zu sein, oder denen es an bestimmten reproduktiven Fähigkeiten mangelt — beides Dinge, die man bei der Geburt noch nicht vorhersehen kann. Auf nur zwei Geschlechtskategorien zu bestehen bedeutet, solcherlei Unterschiede zu leugnen und sie sogar als abartig und »falsch« auszugrenzen. Andere, ebenfalls übliche physische Varianten wiederum erkennen wir durchaus an und betrachten sie nicht als negativ, Zwillinge beispielsweise, die je nach Land zwischen 0,6 und 4,5 Prozent aller Neugeborenen ausmachen, wobei eineiige Zwillinge mit 0,4 Prozent seltener vorkommen.39

Dass diese Art, über Geschlechter zu sprechen, ausgesprochen kulturell ist, wird deutlich, wenn wir über den Tellerrand blicken. In ganz Südostasien ist eine Reihe von atypischen Geschlechtsidentitäten häufig mit beträchtlicher politischer oder spiritueller Macht in Verbindung gebracht worden. Bei der indonesischen Volksgruppe der Bugis beispielsweise gibt es traditionell fünf Geschlechtskategorien, darunter auch eine der sogenannten bissu, die alle Geschlechtsaspekte gleichzeitig verkörpern und sich einer einfachen Kategorisierung entziehen. Statt jedoch als Ausgestoßene betrachtet zu werden, waren die bissu angesehene Ritualspezialisten, die als Brücke zu den Göttern sowie als Wächter der königlichen Insignien und des königlichen Standes galten. In ähnlicher Weise werden die hijras, eine Gruppe von Hermaphroditen und Eunuchen in Indien, stark mit der Muttergottheit Bahucharā Mātā sowie einem Aspekt des Gottes Shiva assoziiert.40 In Nordamerika verfügten verschiedene First-Nations-Gruppen über einige allgemein anerkannte Geschlechtskategorien, die weder als typisch männlich noch als typisch weiblich erachtet wurden; sie werden heute unter dem modernen Begriff »Two-Spirit« zusammengefasst.41 Unterdessen gelten in vielen anderen Kulturen als der unseren Zwillinge tatsächlich als Störfaktoren — als Manifestation gefährlicher spiritueller Kräfte oder als Gefahr für die Familienstabilität und das Sozialgefüge.42

Über den Tellerrand zu blicken ist nicht leicht. Ohne einen Außenstandpunkt können wir nicht erkennen, dass wir bestimmte Unterscheidungen nicht sehen. Wer zwischen blau und grün nicht unterscheidet, weil seine Sprache das nicht vorsieht, wird wahrscheinlich nicht bemerken, dass ihm etwas fehlt — es sei denn, er begegnet jemandem, der die Dinge anders sieht. Doch je mehr wir uns bemühen, eine bestimmte Außenperspektive unabhängig von der unseren zu verstehen, desto mehr Erkenntnisse gewinnen wir bezüglich unserer eigenen Welt. Erst der Blick auf andere Kulturen macht es uns möglich, unsere eigene nicht mehr als naturgegeben oder allgemeingültig zu betrachten.

Wenn wir uns selbst als kulturelle Wesen erkennen, verändert sich damit unsere Selbstwahrnehmung. Dann kommt es nicht nur zwischen größeren kulturellen Gruppen zu Momenten, in denen Menschen über Unterschiede stolpern, sondern auch innerhalb dieser Gruppen. Diese Augenblicke der Reibung lassen auf Lücken in der Sichtweise schließen, die vielfach alltäglich und harmlos sind — Sie erinnern sich an Ella Fitzgerald und Louis Armstrong? »You Say Tomato, I say Tomato …« —, manchmal aber auch darauf verweisen, dass unser kultureller Rahmen vielleicht Geschichten oder Anschauungen enthält, die uns in verschiedene Richtungen ziehen. Sowohl der Vergleich mit anderen Kulturen als auch die Fähigkeit, uns die Reibungen und Spannungen in unseren eigenen kulturellen Welten bewusst zu machen, öffnet uns die Augen für neue Lebensweisen.

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Wie wertvoll die anthropologische Perspektive sein kann, wird deutlich, wenn wir auf Daisy und Paddy zurückkommen. Die einen tun Paddys Tirade gegen »all diese Immigranten« vielleicht als bequemes Vorurteil ab. Sie betrachten seinen Protest »Doch nicht Leute wie ihn!« möglicherweise als defensiven Schachzug, als Versuch, den Vorwurf des Vorurteils abzuwenden, während Paddy gleichzeitig auf seinem Standpunkt, dass doch immerhin die meisten Immigranten Ärger verursachen, beharren kann. Für die anderen hingegen trifft Paddys Äußerung vielleicht genau ins Schwarze: Schließlich sind öffentliche Ressourcen nur dann nachhaltig, wenn jeder sie wertschätzt und ihre Bedeutung würdigt. Und Diversität beinhaltet nun mal per definitionem unterschiedliche Werte und Anschauungen.

Wer jedoch genauer hinhört, wird feststellen, dass Daisys und Paddys Leben eine komplexere Geschichte erzählen. Der Mieterbund, in dem sie sich engagiert hatten, gedieh, weil er zu einem Ort geworden war, an dem Bande zwischen Nachbarn mit unterschiedlichem Hintergrund und aus unterschiedlichen Teilen der Welt geknüpft werden konnten. Doch genau das war auch ein Grund für sein Scheitern: Die Bedürfnisse der Menschen wurden mit der Zeit zu vielfältig und zu vielschichtig. Sowohl Paddy als auch Daisy scheinen der Meinung zu sein, dass manche Einwanderer Ärger oder Zersplitterung verursachen, während andere zu Freunden, Mitarbeitern oder sogar zu einer Ersatzfamilie werden können —klare Kriterien dafür, wer in welche Kategorie fällt, hat keiner von beiden.

In den Populärmedien, in Onlinedebatten und in Äußerungen der lautesten Aktivistinnen und Aktivisten aus dem ganzen politischen Spektrum gewinnt man den Eindruck, die Unterschiede zwischen uns seien enorm. Beim Thema Rassismus oder Diversität werden wir entweder mit dem Bild des unverfrorenen Rassisten oder dem des woken Aktivisten konfrontiert, der spricht, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gegessen. Die meisten Menschen aber haben viel komplexere, manchmal sogar widersprüchliche Meinungen. Wie bei Paddy und Daisy nehmen bei ihnen die Bedeutung und die Absteckung von »Andersartigkeit« wechselnde Gestalt an. Für sie sind »Immigranten« niemals nur Immigranten und »Fremde« niemals nur Fremde. Der Wert, den sie in anderen finden, scheint je nach Situation und Umstand zu variieren. Fast alle unsere Haltungen sind durch diese Art von Komplexität gekennzeichnet. In Großbritannien etwa wurde in einer 2013 durchgeführten Umfrage festgestellt, dass 70 Prozent aller britischen Bürgerinnen und Bürger ein multikulturelles Großbritannien befürworteten. Dennoch fanden 54 Prozent derselben Gruppe zudem, dass die Einwanderung schlecht für das Land gewesen sei, während 47 Prozent sogar angaben, »die große Vielfalt an Herkunftsländern und Kulturen« habe die britische Kultur »unterminiert«. Stellen wir uns vor, dass all diese Antworten einem einheitlichen Verständnis von Diversität entstammen, ist die Widersprüchlichkeit der Angaben mehr als verblüffend. Machen wir uns jedoch klar, dass Diversität auf verschiedene Arten und innerhalb verschiedener Rahmenbedingungen erlebt werden kann, ergeben die Haltungsverlagerungen und -umschwünge plötzlich Sinn. Es mag verführerisch sein, diese Widersprüchlichkeit als scheinheilig oder im besten Fall konfus zu bezeichnen. Nimmt man sie aber ernst, zeugt sie von Spannungen in unserer Gesellschaft, die uns in verschiedene Richtungen zerren.

Wer Daisy und Paddy genau zuhört, wird erkennen, welche Spannungen da am Werk sind. Sie haben mit zwei ineinander verflochtenen politischen Krisen zu tun, die Daisy und Paddy nur allzu gut kennen. Zum einen haben sie am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn den Gemeinden, Nachbarschaften, Dörfern und Städten immer mehr kommunale Mittel entzogen werden — ein Trend, der heute in vielen Ländern beobachtet werden kann. In Großbritannien mussten verschiedene Kommunen zwischen 2010 und 2017 einen 26-prozentigen Rückgang an Fördermitteln hinnehmen, was dazu geführt hat, dass Jugendzentren, Bibliotheken und öffentliche Parks geschlossen und der Englischunterricht für Zuwanderer eingestellt werden mussten.43 In den USA finden sich in Vierteln, in denen die Häuser durchschnittlich nach 1979 gebaut wurden, nur halb so viele Organisationen der sozialen Interessenvertretung wie in älteren Vierteln. Die Verbreitung solcher Organisationen ist aber wiederum ein aussagekräftiger Indikator dafür, wie engagiert sich die jeweiligen Anwohner am Gemeindeleben beteiligen: In neueren Vierteln ist das Engagement weniger stark.44 Und auch andere Orte, an denen sich die amerikanische Bevölkerung gemeinhin vermischt, etwa in Parks oder Einkaufspassagen, gibt es immer weniger. In zunehmendem Maße lassen Stadtplanung und politische Strategien weltweit den Raum schrumpfen, an dem man einander begegnen und sich kennenlernen kann. Wie Paddy und Daisy bestätigen können, sind es aber gerade diese öffentlichen Räume, die es verschiedenen Gruppen ermöglichen, Gemeinsamkeit aufzubauen. Ihr Mieterbund florierte, weil die Menschen einen Ort hatten, an dem sie sich treffen konnten, wo sie Zeit miteinander verbringen, neue Bande knüpfen und Probleme gemeinsam angehen konnten — bis zu dem Zeitpunkt, an dem alles zu viel wurde und das System zusammenbrach.

Doch Gemeinderessourcen sind mehr als nur Orte, an denen man sich treffen und Kontakte knüpfen kann, ebenso wie das Gemeindeleben von mehr als nur formellen Einrichtungen aufrechterhalten wird. Ob wir uns am Gemeindeleben beteiligen oder nicht, hängt in beträchtlichem Maße davon ab, wie viel Zeit und Mittel uns zur Verfügung stehen — was Armut und Ungleichheit zu entscheidenden Faktoren hinsichtlich der Stärke unserer Demokratie macht. Das gilt vor allem für das Überbrücken von Differenzen und den Aufbau einer gemeinsamen Grundlage. Beides kann ausgesprochen bereichernd sein, geht aber oft nur langsam und ungeordnet vonstatten und erfordert Zeit sowie Kapazitäten, die nicht alle Gemeindemitglieder erübrigen können. Die Spannungen spiegeln einen umfassenderen Kampf um Werte wider: Solange Forderungen nach finanzieller Wertsteigerung unser Leben und unsere Träume beherrschen, werden wir andere Formen von Wert — so wie Fürsorge, Zugehörigkeit, Freundschaft oder Verständnis — stets weniger kultivieren können.

Zum anderen erleben Paddy und Daisy eine Krise des Geschichtenerzählens. In vielerlei Hinsicht sind Zuwanderer, Fremde oder politische Gegner fiktive Figuren. Sie erwachen nicht durch unsere direkte Begegnung mit ihnen zum Leben, sondern durch die Geschichten, die wir über sie erzählen. Und in einer Demokratie sind die Geschichten, die wir erzählen, durchaus von Bedeutung, weil einige der größten Entscheidungen, die wir treffen sollen, nicht nur uns selbst oder die Menschen um uns herum beeinflussen, sondern auch die Gesellschaft der Fremden, in der wir leben. Unsere Fähigkeit, solche politischen Entscheidungen zu treffen, ist eng mit den Geschichten, die wir erzählen, verknüpft.

Hierzu ein Beispiel aus dem zeitgenössischen Großbritannien. Einer alarmierenden Studie der Universität Oxford zufolge sind die in der Berichterstattung über Zuwanderung am häufigsten verwendeten Wörter »massenweise« und »illegal«.45 Ungeachtet der Tatsache, dass die illegale Einwanderung nur einen kleinen Teil der Einwanderung insgesamt ausmacht und Zuwanderer nur einen Anteil von etwa 14 Prozent an der britischen Gesamtbevölkerung haben, ist die Geschichte, die die Briten am häufigsten von der Zuwanderung erzählen, die eines gesetzeswidrigen Zustroms, in dem das Land unterzugehen droht. Der Ton solcher Geschichten spielt erwiesenermaßen eine wichtige Rolle im Formen der öffentlichen Meinung.46

Diese Geschichten haben große Macht und entwickeln nicht selten ein Eigenleben. Dabei können sie sich von unseren direkten Erfahrungen lösen, manchmal sogar ohne dass wir es merken. Ebenso wie Paddy sind auch wir bereit, uns von Stereotypen oder gängigen Bildern zu verabschieden, wenn es um Menschen geht, die wir persönlich kennen. Auch wenn wir behaupten, wenig Sympathie für Atheisten oder Rechte zu haben, machen wir doch Ausnahmen, wenn diese Atheisten oder Rechten zur Familie oder zum Freundeskreis gehören. Dennoch haben diese persönlichen Verbindungen kaum Einfluss auf unseren Glauben an die breiter gefassten Geschichten, die wir über Menschen, die anders sind, erzählen. Und deshalb kann Paddy zwar mit Leuten aus aller Welt befreundet sein, aber doch an der abstrakten Idee der Zuwanderung als Bedrohung festhalten, die ihm dabei hilft, den allmählichen Verfall der geliebten und einst von ihm höchstpersönlich gepflegten öffentlichen Räume zu verstehen.

Gemäß der großen, bekannten Geschichte über das Anderssein sind die sozialen Spannungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, darunter der Verlust der Gemeinderessourcen sowie das Ringen um bedeutungsvolle Narrative über unser Leben, zumindest teilweise der wachsenden Diversität und den zunehmenden Unterschieden geschuldet. Dieses Buch allerdings behauptet das Gegenteil: Dass es in Wirklichkeit andere politische Kräfte gibt, die unsere Fähigkeit, mit Unterschieden zu leben, unterminieren, und zwar bis zu dem Punkt, an dem es so aussieht, als ob die Verschiedenheit selbst das Problem wäre. In Reaktion auf die immer häufiger zu vernehmende Meinung, die Spannungen und Konflikte der heutigen Zeit zeigten, dass das »multikulturelle Experiment« gescheitert sei, schrieb Zadie Smith: »Als Kind war mir nicht klar, dass das Leben, das ich lebte, von anderen als irgendwie provisorisch oder experimentell erachtet wurde: Für mich war es einfach mein Leben.« Im Mittelpunkt dieses Buchs stehen Geschichten wie die von Paddy und Daisy — Geschichten des »Lebens«, die häufig neben unbekannten anderen geführt werden und von Harmonie und Reibung, von Höhen und Tiefen bestimmt sind wie jedes andere Leben auch. Zusammen stellen all diese Geschichten infrage, ob wirklich die Diversität an sich das Problem ist; und machen deutlich, wo die Wurzeln unserer derzeitigen Schwierigkeiten tatsächlich liegen und was alternative Möglichkeiten des Zusammenlebens sein könnten.

Die oben genannte These zieht sich durch das gesamte Buch. Sie folgt einer anthropologischen Reise und will zunächst unvertraute Standpunkte erkunden, bevor sie sich nach innen wendet, um bestehende Spannungen und schließlich Möglichkeiten, innerhalb der westlichen Demokratie anders zu leben, anzusehen. Die Reise beginnt, indem die Auffassung, die Spaltung in Gruppen und die Konflikte zwischen ihnen seien eben Teil der menschlichen Natur, infrage gestellt wird. Dazu wechseln wir in Kapitel 2 die Perspektive und betrachten stattdessen, wie wir uns entwickelt haben, um überhaupt miteinander in Kontakt zu treten. Wir werden feststellen, dass insbesondere die beiden Schlüsselfähigkeiten Empathie und Abstraktionsvermögen, je nachdem, wie sie eingesetzt werden, sowohl der Verbundenheit als auch der Spaltung dienen können. Kapitel 3 beschäftigt sich mit den Vorstellungen, die verschiedene Gruppen rund um den Globus von menschlicher Verschiedenheit haben. Im Gegensatz zu der Annahme, Unterschiede zwischen Gruppen seien festgelegt und entgegengesetzt, möchte ich die überraschende Fluidität von Gruppenidentitäten demonstrieren, aber auch aufzeigen, wie selbst solche fließenden Identitäten als starr und als mächtige Handlungsmotivatoren gesehen werden können.

Ausgehend von der Vorstellung, dass Gruppenkonflikte eben nicht unvermeidbar sind, tauchen wir in den folgenden drei Kapiteln in die Geschichte der Demokratie bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert ein und beschäftigen uns damit, wie demokratische Gesellschaften Andersartigkeit sehen und wie sie mit ihr umgehen. In Kapitel 4 gehen wir der Frage nach, wie zwei Schlüsseltraditionen der Demokratie — der Liberalismus und der klassische Republikanismus — uns mit zwei sehr unterschiedlichen Sichtweisen der Andersartigkeit ausgestattet haben. Während der Liberalismus Unterschiede vor dem Hintergrund einer unveränderlichen Identität und universeller Wesenszüge sieht, verhandelt der Republikanismus die Frage, welche Unterschiede wirklich einen Unterschied machen, immer wieder neu. Die festgelegten Vorstellungen von Differenz im Liberalismus ermöglichen das nachdrückliche Einfordern von Rechten und Gleichstellungen, das bei den Gleichberechtigungsbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt hat. Die republikanische Sicht der Differenz als verhandelbar hingegen ermöglicht Menschen gegenseitige Verpflichtungen, die über konträre Identitäten hinausgehen. In Kapitel 5 und 6 beschäftige ich mich mit den Möglichkeiten und Grenzen der beiden Sichtweisen im Verhältnis zueinander.

In den letzten drei Kapiteln geht es darum, wie manche Bürgerinnen und Bürger die Demokratie von innen heraus umwandeln, indem sie die beiden genannten Traditionen auf neue Art und Weise miteinander verflechten. Kapitel 7 beschäftigt sich mit der derzeitigen »postfaktischen« Ära und zeigt die wichtige Rolle auf, die die »Verzauberung« dabei spielen kann, das Vertrauen in öffentliches Wissen wiederherzustellen. Kapitel 8 versucht, den Liberalismus nicht als Streben nach universellen Ansprüchen und Gesetzen zu denken, sondern als narrative Praxis, die mehr Raum für unterschiedliche Lebensweisen bereithalten kann. Kapitel 9 schließlich geht der Frage nach, wie man das öffentliche Leben zu einem »Gemeingut« umgestalten kann, in dem Gleichheit und Unterschiedlichkeit koexistieren können.

Die Anthropologie macht deutlich, dass wir die Welt immer nur aus einer bestimmten Perspektive heraus verstehen können und dass sich diese Perspektive nur ändern lässt, indem wir sie zu anderen Perspektiven in Bezug setzen. An diese Lektion knüpft das vorliegende Buch auf zwei wesentliche Weisen an. Zum einen stellt es den Versuch dar, die Demokratie von innen heraus zu überdenken. Häufig nehmen Kommentare zum derzeitigen Zustand der Demokratie — sei es vonseiten der Journalisten, öffentlicher Personen oder der Wissenschaftlerinnen — einen kritischen, distanzierten Ton an. Das erweckt den Eindruck der Autorität, als stünden die Kommentatoren über dem Geschehen. Das bedeutet aber auch, dass die angebotenen Lösungen über den Dingen stehen, mit anderen Worten: nicht alltagstauglich sind. Was genau getan werden kann, verrät die Kritik von oben herab nicht. Deshalb versuche ich hier, die Probleme und Lösungen von einem bodenständigeren Standpunkt aus zu betrachten. Ich setze auf Alltagsvorstellungen wie das Geschichtenerzählen, auf Liebe oder Gemeinschaft beziehungsweise auf Konzepte, die tief in die demokratische Tradition eingebettet sind, etwa den Liberalismus oder den klassischen Republikanismus. So hoffe ich einen Blickwinkel anzubieten, der nicht mit der Welt, wie sie aktuell ist, bricht, sondern sich mit ihren Problemen und Möglichkeiten auseinandersetzt, um ganz konkret einen neuen Weg für diese Reise vorzuzeichnen.

Zum anderen spiele ich in diesem Buch mit dem Konzept von Innen und Außen. Die Demokratie verspricht allen Bürgerinnen und Bürgern, wer auch immer sie sein mögen, die gleiche Repräsentierung und die gleichen Rechte. Ich versuche, dieses Versprechen sowohl genauer zu befragen als auch auszudehnen, indem ich häufig das kollektive »Wir« benutze. Das soll jedoch nicht suggerieren, dass alles in diesem Buch auf die Menschheit als Ganzes zuträfe. Ich sehe es eher als Einladung, in größeren Zusammenhängen zu denken und sich zu fragen, ob das Geschriebene Widerhall findet oder aber Widerspruch hervorruft, ob es ins Versprechen der Demokratie passt oder nicht. Die Reise in diesem Buch beginnt mit dem Entschluss, aus dem Alltag anderer zu lernen, um letztlich eine neue Geschichte davon zu erzählen, was es bedeutet, mit und in Andersartigkeit zu leben.

Kapitel 2

Nah und fern

In den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs gab es wohl kaum jemanden, der nicht zu verstehen versuchte, wie es zu solchen Grausamkeiten hatte kommen können und in welchem Ausmaß man sich mitschuldig gemacht hatte. Historikerinnen, Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen — sie alle bemühten sich, zu begreifen, wie es geschehen konnte, dass sich ganz gewöhnliche Deutsche von der Völkermordlust des Naziregimes hatten mitreißen lassen. Gleichzeitig mussten sich auch die Alliierten der Rolle stellen, die sie bei den jüngsten Ereignissen gespielt hatten, sei es nun bei den anfänglichen Zugeständnissen gegenüber der Naziregierung, beim Verharmlosen früher Berichte über den heraufdämmernden Holocaust oder beim Schließen der Grenzen vor Flüchtenden, denen in Deutschland der sichere Tod drohte. Viele Nachkriegsdenkerinnen und -denker schlossen aus den Dimensionen der geschehenen Gräuel auf etwas Wildes, Brutales, ja Barbarisches im Herzen der menschlichen Natur. Ganz allmählich kristallisierte sich das Bild einer bestialischen und blutrünstigen Menschheit heraus, die im Namen ihrer Sippen und Nationen zu beinahe allem fähig ist.

In einer unveröffentlichten autobiografischen Notiz gestand der Schriftsteller William Golding voller Selbstekel, er habe »die Nazis immer verstanden, denn ich bin von Natur aus von diesem Schlag«.1