Modest Mussorgski. Bilder einer Ausstellung - Christoph Flamm - E-Book

Modest Mussorgski. Bilder einer Ausstellung E-Book

Christoph Flamm

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Beschreibung

Die zu Mussorgskis Lebzeiten unpubliziert gebliebenen "Bilder einer Ausstellung" wurden in ihrer originalen Klavierfassung noch lange nach dem Tod des Komponisten stiefmütterlich behandelt. Heute gehören sie zu den weltberühmten Werken der russischen Musik des späten 19. Jahrhunderts. Die einzigartige Beziehung von Musik und Malerei wie auch ihre oftmals ungewöhnliche, weit ins 20. Jahrhundert vorausblickende Tonsprache sind die Hauptgründe dafür, dass die "Bilder einer Ausstellung" bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. Ein nicht abreißender Strom immer neuer Bearbeitungen und Transkriptionen zeugt hiervon. Christoph Flamm stellt die Entstehung und Gestalt des Klavierwerks in das Zentrum dieser Werkeinführung, diskutiert den Einfluss von Mussorgskis Freunden, des verstorbenen Künstlers Hartmann und des Kunstkritikers Stassow. Er stellt die Frage nach den bildlichen Zuordnungen und poetischen Inhalten und thematisiert schließlich die kulturpolitische Bedeutung und inhaltliche Dimension des Zyklus. - Eines der faszinierendsten Werke der Musikgeschichte - Diskussion und Erläuterung der Beziehung von Musik und Malerei - Aufzeigen der kulturpolitischen Bedeutung des Werks - Im Zentrum: die originale Klavierfassung

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|3| Christoph Flamm

Modest Mussorgski Bilder einer Ausstellung

Erinnerung an Viktor Hartmann

BärenreiterKassel · Basel · London · New York · Praha

|4| Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Aufgrund der unterschiedlichen technischen Gestaltungsmöglichkeiten von eBook und gedrucktem Buch können sich für Abbildungen, Notenbeispiele, Tabellen und ähnliche Elemente geringfügige Differenzen bei der Seitenzuordnung ergeben.

Hinweise zur Zitierfähigkeit

Diese epub-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn einer Seite mit |xx| gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, steht die Seitenzahl vor dem im epub zusammengeschriebenen Wort.

eBook-Version 2017

© 2016 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel

Umschlaggestaltung: +CHRISTOWZIK SCHEUCH DESIGN

unter Verwendung eines Bildes von Wassily Kandinsky,

Das große Tor von Kiew, 1928 (akg-images)

Lektorat: Christiana Nobach

Korrektorat und Notensatz: Kara Rick, Eberbach

ISBN 978 - 3-7618 - 7060-0

DBV 132 - 08

www.baerenreiter.com

eBook-Produktion: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

|5| Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einführung

Ein Werk, drei Väter: Hartmann, Stassow, Mussorgski

Viktor Hartmann – ein Porträt

Hartmanns Anfänge und seine Grand Tour

Re-Russifizierung als Mission: Hartmanns »russischer Stil«

Hartmann als Bühnenausstatter

Russlands Künste im Aufbruch: Stassow, Hartmann und Mussorgski

Persönliche Kontakte

Von der Musik zur Kunst: Mussorgski und Stassows »Troika«

Hartmanns Gedenkausstellung

Russland und der Westen: Hartmanns Sujets als Klavierzyklus

Werkidee und Entstehung

Zur Identifikation der Bildvorlagen

Die einzelnen Sujets

Zum Verhältnis von Vorlagen und Programm

Zur Musik

Ein Werk im Abseits

»Promenade« und Zwischenspiele

»Promenade«

Zwischenspiele

Die Bilder

Nr. 1: »Gnomus«

Nr. 2: »Il vecchio Castello«

Nr. 3: »Tuilleries (Dispute d’enfants après jeux)«

Nr. 4: »Bydło«

Nr. 5: »Ballett der unausgeschlüpften Küken«

Nr. 6: »›Samuel‹ Goldenberg und ›Schmuÿle‹«

Nr. 7: »Limoges. Le marché (La grande nouvelle)«

Nr. 8: »Catacombae (Sepulcrum romanum)« / »Cum mortuis in lingua mortua«

Nr. 9: »Die Hütte auf Hühnerfüßen (Baba-Jaga)«

Nr. 10: »Das Heldentor (in der alten Hauptstadt Kiew)«

Das Eigene und das Fremde: Zyklusidee und geschichtlicher Ort

Vorbilder und poetische Anlage

Deutungsebenen

Auf dem Klavier und darüber hinaus: Hinweise zur Rezeption

Erste Aufführungen

Klaviersatz und -stil

Editionsgeschichte und Philologie

Autograph und Erstdruck

Metronomangaben

Urtexte und Faksimiles

Bearbeitungen und Transkriptionen

Klavierausgaben

Bearbeitungen für andere Besetzungen

Original oder Derivat?

Bild – Musik – Bild: Spiralen der Künste

Kandinskys Inszenierung

»Pictures of Pictures from Pictures of Pictures«

Alte Last und neue Lust: Wandlungen des Bildes von den »Bildern einer Ausstellung«

Anhang

Ausgaben

Literatur

Anmerkungen

Zusatzmaterial

Dokumente

Anmerkungen zu den Dokumenten

|7|Vorwort

»Schilder einer Baustelle«: Eine solche Scherzbezeichnung ist gleichsam der Ritterschlag, den Musiker nur allerbekanntesten Werken zuteilwerden lassen. Mussorgskis Bilder einer Ausstellung haben einen solchen Grad der Bekanntheit seit Langem erreicht. Aber diese Popularität bezieht sich zu einem großen, vermutlich sogar zum größten Teil auf die Orchesterfassung von Ravel, wie überhaupt das Original hinter einer nicht mehr überblickbaren Menge an Bearbeitungen zu verschwinden droht. Der originalen Klavierfassung ist das vorliegende Buch vorrangig gewidmet. Obwohl die so eigentümliche Verbindung von Kunst und Musik in diesem Werk in kaum einer größeren musikgeschichtlichen Darstellung übergangen wird und in der Musikpädagogik als besonders anschauliches Objekt dient, sind die tieferen Hintergründe von Kunst und Musik und damit die eigentlichen Sinnebenen der Bilder einer Ausstellung nur selten thematisiert worden. Das liegt teilweise an der fehlenden Rezeption russischsprachiger Quellen und Forschungen, teilweise an einem Desinteresse gegenüber dem Künstler Viktor Hartmann, teilweise an der stiefmütterlichen Behandlung von Mussorgskis Instrumentalmusik insgesamt (im Gegensatz zu seinen Vokal- und Bühnenwerken). Zudem macht die seit der Perestroika auf beiden Seiten des früheren Eisernen Vorhangs entstandene Neubewertung der russischen Musikkultur eine frische Betrachtung gerade dieses emblematisch russischen Werkes wichtig. Trotz seines lediglich einführenden Charakters möchte dieses Buch daher nicht nur das bestehende Wissen bündeln, sondern auch neue Fragen aufwerfen und neue Perspektiven eröffnen.

Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des kulturgeschichtlichen Kontextes, in dem das Werk entstand: und zwar als Zeichen einer von dem Kunstkritiker Wladimir Stassow ersehnten Verbindung aller fortschrittlichen Künstler Russlands mit dem Ziel einer neuen, von westlichen Mustern abrückenden und stattdessen die Urwüchsigkeit der eigenen Kultur zelebrierenden Nationalkunst. Bei der Betrachtung der Musik steht dann neben dem charakteristischen Einzelnen insbesondere das zyklische Ganze im Blick. Das Nachleben des Werkes, seine immense Rezeption wird anhand nur weniger Beispiele beleuchtet – sie würde eine eigene Untersuchung erfordern.

Für eine vertiefende Beschäftigung finden sich die wichtigsten Quellentexte von Mussorgski und Stassow über ihren Freund Viktor Hartmann |8| im Anhang. Einige davon sind so gut wie unbekannt, viele werden erstmals aus dem Russischen übersetzt und neu publiziert.

Die russischen Eigennamen werden nach der gewöhnlichen Duden-Umschrift transkribiert, sofern sie nicht wie etwa bei lebenden Interpreten in anderen Formen eingebürgert sind. Für originale russische Werktitel und Begriffe sowie in den bibliografischen Nachweisen wird die wissenschaftliche Transliteration verwendet. Russische Datumsangaben vor 1918 beziehen sich grundsätzlich auf den im russischen Reich herrschenden julianischen Kalender, der im 19. Jahrhundert dem gregorianischen um 12 Tage hinterherging.

Für ihre Unterstützung bei der Beschaffung von Quellen und Literatur sei Dr. Olesja Bobrik (Moskau) herzlich gedankt, für wertvollen gedanklichen Austausch Prof. Steven Baur (Halifax) sowie für akribische Korrekturlesung Kara Rick und für die ebenso geduldige wie umsichtige Betreuung im Verlag Dr. Christiana Nobach.

Juni 2016, Christoph Flamm

|9|Einführung

Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung sind, wie der Untertitel (oder zweite Teil des Titels) Erinnerung an Viktor Hartmann verrät, eine Gedenkkomposition. Sie entstand im Juni 1874 als eine Reihe von zehn Klavierstücken nach nur teilweise identifizierten und erhaltenen Bildern des 1873 verstorbenen Künstlers Hartmann, der mit einer Gedenkausstellung geehrt worden war. Die Bild-Vertonungen werden durch eine »Promenade« genannte (und in der Werkmitte wiederholte) Einleitung, mit der sich der Komponist selbst als Ausstellungsbesucher porträtiert, sowie durch von ihr abgeleitete Zwischen- und Nachspiele zyklisch gerahmt und verbunden. Im Schlussbild wird das Promenaden-Thema mit den Final-Themen zur Synthese gebracht. Der Klavierzyklus wurde erst 1886, fünf Jahre nach Mussorgskis Tod, gedruckt und erst ein weiteres Jahrzehnt später öffentlich gespielt, wobei der ungewöhnliche Klaviersatz bis weit ins 20. Jahrhundert hinein viele Eingriffe durch Musiker und Editoren provozierte. Die originale Klavierversion wurde ab den 1950er-Jahren ernst genommen. Weltberühmt wurde das Werk vor allem durch seine zahlreichen Bearbeitungen, insbesondere die Orchester-Version von Maurice Ravel (1922), und durch Rezeptionsformen in Rock und Pop.

Um die Bilder einer Ausstellung aber in ihrer ursprünglichen Gestalt zu verstehen, sind zunächst grundlegende Vorüberlegungen anzustellen. Wer war dieser heute fast vergessene Künstler Hartmann, den Mussorgski einmal als »Meister der Architektur«1 bezeichnete, und weshalb hatte er eine derartige Bedeutung für den Komponisten? Warum wählte Mussorgski ausgerechnet das von ihm fast nur beiläufig behandelte Klavier als Medium für dieses Werk, obwohl er – kurz nach der erfolgreichen Premiere des Boris Godunow sowie mitten in der Arbeit an der Oper Chowanschtschina und dem Liederzyklus Ohne Sonne – primär in vokalmusikalischen und musikdramatischen Kategorien dachte und komponierte? Welche Ideen leiteten Mussorgski bei der Wahl von zehn Bildern aus vielen Hundert, die auf der Gedenkausstellung versammelt waren? Für welche konkreten oder symbolischen Inhalte stehen diese Bilder, soweit wir sie überhaupt kennen? Und welche Botschaft transportiert Mussorgskis klingender Bilderbogen als Ganzes?

Antworten auf diese Fragen finden sich nur bedingt in den Noten selbst. Die historischen, biografischen und ästhetischen Kontexte lassen sich unter anderem rekonstruieren mithilfe der Schriften des gemeinsamen |10| Freundes von Hartmann und Mussorgski: Wladimir Stassow. Stassow, ausgebildeter Jurist und ab 1856 ein halbes Jahrhundert lang Leiter der Kunstabteilung der Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg, war der herausragendste russische Kunstkritiker seiner Zeit.2 Er galt als Vordenker eines betont nationalen Stils in den russischen Künsten in Abwendung von akademischer Routine und klassizistischer Glätte nach europäischem Muster. Er bildete zugleich das geistige Haupt der aus dem Kreis um Mili Balakirew in den 1860er-Jahren hervorgegangenen Komponisten des sogenannten »Mächtigen Häufleins« – eine Bezeichnung, die Stassow selbst in der Rezension eines Konzertes mit slawischer Musik 1867 geprägt hatte3 und mit der er die Hoffnung auf eine russische Musik ohne Abhängigkeit von westlichen Vorbildern verband. Stassow war vielen russischen Künstlern und Komponisten in enger Freundschaft verbunden, er scharte diese um sich und war bemüht, ihr Schaffen durch gegenseitigen Austausch zu intensivieren und als Inspirator, Mentor sowie durch seine publizistische Tätigkeit zu fördern, wobei ihm die Idee des National-Russischen in der Kunst als oberster Imperativ vor Augen stand.

Alle wesentlichen publizistischen Würdigungen, die Hartmann erfuhr, stammen von Stassow. Mussorgski verfasste einen Nachruf auf Hartmann für eine Zeitung, er widmete die Bilder einer Ausstellung Stassow. Dies alles zeigt, wie stark das Band zwischen diesen drei Männern war. Solche Texte aus dem Freundeskreis sind in ihrer Verquickung von ästhetischem Urteil und persönlicher Erinnerung geschichtliche Quellen, die uns für das Verständnis der Bilder einer Ausstellung wertvolle Hinweise liefern (sie sind als Dokumente im Anhang zu finden). Stassow bildet sowohl in der konkreten menschlichen Begegnung als auch in der ästhetischen Diskussion das einigende Band zwischen Hartmann und Mussorgski. Es ist in letzter Instanz diese Künstlerfreundschaft in ihren Personen und Idealen, die im Klavierzyklus besungen wird. Die Bilder einer Ausstellung haben also nicht zwei, sondern drei zu decodierende Ebenen: die Bilder, die Musik – und die dahinterstehenden Ideen.

|11|Ein Werk, drei Väter: Hartmann, Stassow, Mussorgski

Viktor Hartmann – ein Porträt

Wer war Viktor Hartmann (1834–1873)? Dieses Wissen ist auch in Zeiten globaler Internet-Enzyklopädien nicht einfach zu erwerben. Hartmann (der in seiner russischen Muttersprache, die kein H kennt, als »Gartman« erscheint) hat zwar inspirierend auf seine Umgebung gewirkt, aber kaum größere Werke hinterlassen. Sein Schaffen war bis vor wenigen Jahren nie systematisch erfasst oder untersucht worden, demnach ist Forschungsliteratur zu ihm, selbst in russischer Sprache, nahezu inexistent1 – falls sie nicht von Mussorgskis Werk ihren Ausgang nimmt.2 Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass Viktor Hartmann ohne Mussorgskis Zyklus heute nur noch einigen spezialisierten Kunsthistorikern überhaupt bekannt wäre.

Diese Obskurität hat auch ästhetische Gründe, denn im 20. Jahrhundert schlug Hartmanns Schaffen im Wesentlichen Geringschätzung entgegen. Das Verdikt des über Jahrzehnte hinweg wichtigsten Künstlerlexikons, des Thieme-Becker, lautete lapidar: »H[artmann] war einer der Hauptvertreter jener Richtung, die in wenig glücklicher Weise die russ[ische] Architektur durch Anwendung einer dem altruss[ischen] Kunstgewerbe entnommenen Ornamentik zu beleben suchten.«3 Doch war Hartmann nicht nur ein angeblich primär auf die Außengestaltung von Gebäuden konzentrierter Architekt, sondern auch Zeichner, Maler, Buchillustrator, Kostüm- und Bühnenbildner sowie Gestalter kunstgewerblicher Gegenstände. Heute würde man ihn vielleicht als Designer bezeichnen. Ohne eine Kenntnis seines Schaffens und seiner Kunstanschauung sind weder die vordergründigen (stilistisch-ästhetischen) noch die hintergründigen (semantischen) Verbindungen zwischen seinen und Mussorgskis Bildern verständlich.

|12|Hartmanns Anfänge und seine Grand Tour

Hartmanns Geburtsdatum wird in zeitgenössischen Texten irrtümlich immer mit dem 23. April 1834 angegeben. Im Taufschein dagegen heißt es: »Victor Eduard Hartmann, in der Ehe geboren den 24ten Mai des Jahres ein tausend acht hundert vier und dreißig, getauft den 20ten Junius. Vater: Alexander Hartmann, Arzt. Mutter: Friederike, geborene Petersen. […] Dies wird hiermit, unter Beyfügung des Kirchensiegels, sub fide pastorali bescheinigt. St. Petersburg, den 21. Junius 1846. Dr. August Jahn, Pastor an der deutschen Evangelisch-Lutherischen Catherinen-Kirche.«4 Hartmann verlor seinen Vater im Alter von kaum drei, die Mutter mit vier Jahren; man gab ihn in die Obhut seiner Tante Luisa Iwanowna Gemiljan, die mit einem Architekten verheiratet war. Mit 12 Jahren erwirkte die Tante seine Aufnahme in ein eigentlich Offizieren und Beamten vorbehaltenes Korpus, wo er mehr mit seinen Karikaturen als durch schulische Leistungen glänzte. 1852 nahm ihn die Petersburger Akademie der Künste auf; als Student schwankte er lange zwischen Malerei und Architektur. Der Entwurf zu einem Grabdenkmal für einen Architekten brachte ihm 1856 eine große Silbermedaille ein: eine gleichsam zu drei Vierteln im Boden versunkene korinthische Säule, »Allegorie des in die Erde entschwundenen Künstlers«,5 auf deren wuchtigem Kapitell die Büste des Verstorbenen ruhte. Den Einfall der versunkenen Säule sollte Hartmann in seinem berühmten Stadttor von Kiew wieder aufgreifen.

Im September 1861 beendete er das Studium mit einer großen Goldmedaille für den Entwurf eines öffentlichen Theaters, wonach ihm ein Stipendium für eine Bildungsreise ins Ausland zustand. Zuvor verlangten die Statuten jedoch zwei Jahre praktischer Arbeit in Russland, die Hartmann vorwiegend im Architekturbüro seines Onkels Gemiljan verbrachte. In dieser Zeit schuf er auch die architektonische Basis des 1862 eingeweihten Denkmals zum 1000-jährigen Bestehen des russischen Reiches in Nowgorod: eines der wenigen noch heute existierenden Werke des Architekten (das allerdings eher für die figürlichen Elemente bekannt ist, die nicht von Hartmann stammen). Dass er ein von seinem Onkel erbautes neoklassizistisches Gebäude im pompejanischen Stil schmücken wollte,6 ist ein erster Hinweis auf Hartmanns Neigung zur Fantastik und zu historistischem Dekor. Ganz ins Reich der Fantasie gehören seine Illustrationen zu einem 1863 erschienenen Kinderbuch Kuznečik muzykant (Die Musiker-Grille), das ähnlich der Biene Maja unter vermenschlichten Insekten spielt.

|13| Am 1. Oktober 1863 trat Hartmann seine Auslandsreise an, die ihn zunächst nach Berlin führen sollte, wo er aber erst im Januar 1864 eintraf. Denn auf halber Strecke in Białystok, im polnischen Westteil des damaligen russischen Reiches, änderte Hartmann en passant seinen Familienstand: Er heiratete unter vermutlich abenteuerlichen Umständen eine 19-jährige Internatsschülerin, und zwar in der Alexander-Newski-Kapelle des berühmten Branicki-Palastes, der seit 1841 per Ukas des Zaren ein Internat für adlige Fräulein beherbergte (später als Institut nach Nikolai I. benannt). Wie die Liste der Geistlichen in der Heiratsurkunde zeigt,7 schloss er diese Ehe nach orthodoxem und nicht nach lutherischem Ritus, was man als eine slawophile Geste deuten mag, die mit seiner späteren nationalrussischen Kunstauffassung korrespondiert.

Die nunmehr zum Honeymoon gewordene Auslandsreise führte Hartmann von Berlin weiter über Dresden, Leipzig, Nürnberg, München, Heidelberg, Köln und Brüssel nach Paris, wo er ab Dezember 1864 gut ein Jahr lebte, unterbrochen von Abstechern unter anderem nach London. In dem an der Bahnlinie Paris – Toulouse gelegenen Ort Issoudun im Loire-Tal beschäftigte er sich einige Wochen mit dem Eisenbahnwesen und seinen bautechnischen Aufgaben. Aquitanien erlebte Hartmann besonders intensiv: Mehrere Monate hielt er sich in Limoges auf, seit Februar 1866 in Périgueux. Hier interessierten ihn einerseits die Reste des keltisch-römischen Vesunna (Vésone), welche durch die Inbetriebnahme der Eisenbahn 1860 teilweise bloßgelegt, teilweise zerstört worden waren; andererseits die damals in Restaurierung befindliche Kathedrale Saint-Front, die als Kreuzkuppelkirche in romanisch-byzantinischem Mischstil Hartmanns eigenen historistischen Eklektizismus präfigurierte, wenn nicht gar wachrief. Ein Augenleiden weckte damals sein Interesse für das Fotografieren; die Kamera blieb fortan, wie Stassow bemerkt, ein steter Wegbegleiter (wie sich noch zeigen wird, ist das kein unwichtiges Detail). Nach Visiten von Bordeaux, Moissac, Auch, Albi, Toulouse, Carcassonne, Narbonne, Marseille, Lyon, Nîmes, Arles, Nizza kehrte Hartmann 1867 nach Paris zurück. In Nizza konnte ihm kaum verborgen bleiben, dass Zar Alexander II. die Errichtung einer Gedächtniskapelle für den 1865 dort gestorbenen Zarewitsch Nikolai Alexandrowitsch Romanow angeordnet hatte: die Chapelle du tsarévitch Nicolas Alexandrovitch, eine kleine Kreuzkuppelkirche im byzantinischen Stil. Ihre Grundsteinlegung fand am 2. März 1867 statt, die beauftragten russischen Architekten waren eben jene Professoren, bei denen Hartmann an der Akademie studiert hatte, David Grimm und Alexander Resanow.

|14| Zurück in Paris erlebte Hartmann die von Frühjahr bis Herbst 1867 gezeigte Weltausstellung auf dem Marsfeld. Russland war hier nach den Londoner Weltausstellungen von 1851 und 1862 bereits zum dritten Mal vertreten, nun erstmals mit Gebäuden in traditionellen Architekturformen (was 1878 eine allgemeine Forderung für die Pavillons der teilnehmenden Nationen wurde).8 Hartmann hatte im Vorfeld versucht, an der Gestaltung des russischen Auftritts mitwirken zu dürfen, aber eine Absage erhalten. Das Weltausstellungspublikum bekam in der russischen Sektion – neben kirgisischen, jakutischen, sibirischen, kaukasischen Kostümen und Zelten, die Russlands Weltreichdimensionen verdeutlichen sollten – mit üppigem Schnitzwerk versehene russische Holzhütten und einen Pferdestall im russischen Stil zu sehen; russische Speisen wurden in einem eigenen Restaurant von Männern und Frauen in traditionellen russischen Trachten angeboten.9 Solche an die Volkskunst angelehnten nationalen Muster aus Baukunst und Brauchtum wiederholen sich später in Hartmanns eigenen Entwürfen, etwa in der Tischuhr in Form der Hexenhütte der Baba-Jaga (s. Abb. 10). Zudem sollte nach der Rückkehr in die russische Heimat gerade Ausstellungsarchitektur ein Hauptbeschäftigungsfeld Hartmanns werden, also mehr auf Dekor und Demonstration als auf Zweckmäßigkeit angelegte, ephemere Messebauten. Und die Weltausstellung bot eine weitere Attraktion, die auf Hartmann eingewirkt haben mag: den Nachbau römischer Katakomben.

Vor der Rückkehr in die russische Heimat stand noch ein obligatorisches Land für Bildungsreisende auf dem Plan: Italien. Hartmann begab sich im Mai 1868 durch die Schweiz über Genua und Livorno nach Rom. Mit diesen italienischen Monaten, in denen er auch Neapel, Sorrent, Asti, Florenz, Mailand und Venedig sah, endete seine Grand Tour. Über Wien gelangte er zunächst ins polnische, damals russisch regierte Sandomierz sowie nach Warschau, Städte, in denen er sich einige Wochen aufhielt, wohl auch seiner Frau zuliebe. Im September 1868 erreichte Hartmann wieder St. Petersburg.

Sein Kopf war voller Eindrücke, sein Koffer voller Skizzen, Aquarelle und Fotografien der besuchten Orte. Hartmanns Reisealbum, traditionelles Mitbringsel aller Stipendiaten der Kunstakademie von ihren Bildungsreisen,10 bestand gleichermaßen aus Impressionen von Menschen (Genredarstellungen), Bauwerken und Landschaften. In Paris war trotz des langen Aufenthalts nur sehr wenig entstanden. Die Hauptmasse der Arbeiten betraf architektonische Skizzen, insbesondere von Details des |15| Renaissance-Lettners aus der Kathedrale Saint-Étienne in Limoges, sowie überhaupt Skizzen von meist südfranzösischen religiösen Gebäuden aller Art, bevorzugt einzelne Elemente wie Kapitelle, Säulen, Portale, Dekor. Daneben entstanden einige französische und seltener italienische Genreszenen mit Menschen bei der Arbeit, beim Spiel oder beim Ausruhen; Landschaften oder typische Veduten sind rar. Bei den Darstellungen von Menschen fällt auf, dass Geistliche, Betende und Gläubige vor den Szenen mit Alten, Frauen und Kindern überwiegen, auch in Sandomierz, wo Hartmann unter anderem Juden porträtierte: darunter zwei Zeichnungen, die er Mussorgski schenkte und die dieser in den Bildern einer Ausstellung in Musik setzte (s. S. 50).

Hartmanns Eindrücke der Grand Tour betrafen vordergründig architektonische Formen verschiedener Epochen, fremde Landschaften sowie menschlichen Alltag in städtischem und ländlichem Ambiente. Auf einer tieferen Ebene aber erfuhr er, wie die mitteleuropäischen Kulturnationen mit den Zeugnissen ihrer Geschichte umgingen, sei es in den Pariser Katakomben, den antiken Ruinen und Tempeln oder den mittelalterlichen Kirchen und Schlössern: Diese architektonisch erfahrbare Geschichte war zugleich ästhetische Gegenwart. Genau das scheint der Punkt zu sein, an dem Hartmann in Russland ansetzen wollte – die russische Geschichte ebenfalls in architektonischer Form (und allgemein in den angewandten Künsten) ästhetisch neu erfahrbar zu machen. Das künstlerische Resultat der Grand Tour war also nicht die Adaption irgendwelcher europäischer Architekturmodelle – traditionell wäre dies das Ziel einer solchen Bildungsreise gewesen –, sondern deren Zurückweisung! Dafür eignete sich Hartmann aber ein grundsätzliches historisches Bewusstsein an, das nicht in archäologische Rekonstruktion, sondern in eklektizistische Mischformen mündete, die nun ihrerseits einen russischen Stil begründen sollten. Bereits der kurz nach Hartmanns Rückkehr entstandene Entwurf zum Stadttor von Kiew (s. Abb. 11) zeigt ihn mustergültig.

Re-Russifizierung als Mission: Hartmanns »russischer Stil«

Hartmanns künstlerische Intention, die unter dem Eindruck der Grand Tour herangereift war, entsprach dem nach den Napoleonischen Kriegen in der russischen Gesellschaft immer stärker werdenden (und in Stassow paradigmatisch verkörperten) Wunsch, die seit Peter dem Großen vollzogene Europäisierung der russischen Kultur rückgängig zu machen. |16| Die als Überfremdung empfundenen gesamteuropäischen Kunst- und Lebensformen sollten nach mehr als eineinhalb Jahrhunderten abgeschüttelt und somit eine neue nationale Eigenständigkeit kulturell zum Ausdruck gebracht werden. Anknüpfen ließ sich zu diesem Zweck an die Kultur der vorpetrinischen (»mittelalterlichen«) Epoche, an die von westlichem Denken unberührte Orthodoxie sowie an die vitalen volkstümlichen Traditionen, die dank der völlig verspäteten Industrialisierung des Landes noch kaum ernsthaft bedroht waren. Mussorgskis Musik hat an dieser Tendenz entscheidenden Anteil, wie seine Oper Boris Godunow, in der alle drei genannten Aspekte sehr deutlich zutage treten, zur Genüge zeigt; und es steht zu vermuten, dass der gemeinsame Austausch mit Hartmann und Stassow hier nicht nur eine Bestätigung bewirkte, sondern zusätzlich katalysierende Wirkung ausübte.

Ein zu Hartmanns Zeit bereits öfters beschrittener Weg der baukünstlerischen Russifizierung führte auf dem Gebiet der Sakralarchitektur zur Integration oder Reanimation byzantinischer Bauformen. Ein anderer Weg, den Hartmann wohl als Erster konsequent beschritt, war das Aufgreifen charakteristischer Formen und Stilistiken der traditionellen ländlichen, vorwiegend profanen Holzarchitektur, die von der typischen Holzhütte (izba) verkörpert wurde, wie sie 1867 in Paris zu sehen war. Die in solch historisierender oder folklorisierender Architektur pathetisch verkörperte Idee der Nationalkultur hat nicht nur dekorativen Wert, sondern eine dezidiert kulturpolitische Dimension. Der Kunsthistoriker Juri Saweljew leuchtete 2006 erstmals die Interaktion von staatlichem Auftrag und künstlerischer Umsetzung im russischen Historismus konsequent aus.11 Er beschreibt dabei verschiedene Phasen vom mittleren 19. Jahrhundert bis zur Oktoberrevolution, die dekorativ-ornamental beginnen, erst intuitiv und dann durch archäologische Forschung zu den tektonischen Strukturen und Formen gelangen, diese zunehmend frei variieren und zuletzt in stilisierter Form zitieren. Hartmann zählt er zum »pseudorussischen« Typus, der mehr an Dekoration als an strukturellen Fragen interessiert ist. Sowohl die byzantinisierenden Kirchenbauten als auch die Denkmälerarchitektur und der sogenannte »russische«, also volkstümlich-bäuerlich historisierende Stil waren aufgrund des Vergabesystems staatlicher Bauaufträge unter Alexander II. und Alexander III. Erzeugnisse einer systematischen Politik der architektonischen Nationalisierung, in die die Akademie der Künste fest eingebunden war. Hartmanns Architekturentwürfe, allgemeiner sein Wunsch nach einer materialiter vollzogenen Russifizierung |17| Russlands, steht somit in einem sehr breiten kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext, dem man vergleichend beispielsweise die neugotischen und neoromanischen Bauten des wilhelminischen Deutschland gegenüberstellen könnte.

Diesen Kontext erkannte hellsichtig ein österreichischer Kommentator der Weltausstellung von 1867 mit Blick auf ausgestellte Kopien von russischen Handschriften des 10. – 18. Jahrhunderts: »Diese Schule hat offenbar die Aufgabe, Zeichner zu bilden, welche in alle Details und nach allen Richtungen mit den Eigenthümlichkeiten des byzantinischen und altrussischen Styles vertraut sind und die dann, wenn sie aus der Schule heraus in das praktische Leben übertreten, im Stande sind, sogenannte nationale, russische Ornamentik und Formen in die verschiedenartigen Zweige der Gewerbe und in die Industrie herüber zu führen. Die Leistungen dieser Schule verdienen eine ganz besondere Anerkennung.«12 Genau das ist es, was Hartmann im Anschluss an seine Grand Tour betreiben sollte: altrussische und folkloristische Ornamente und Formen auf Kunstobjekte aller Art zu übertragen, alles Dingliche zu »russifizieren«. Man kann geradezu von einer Mission sprechen. Und genau hierin traf er sich mit Stassow und Mussorgski.

Eines von Hartmanns ersten Projekten nach seiner Rückkehr war die Teilnahme am Wettbewerb für ein Monument, das zum Gedenken an das im Jahr 1866 in Kiew verübte und gescheiterte Attentat auf Zar Alexander II. errichtet werden sollte. Hartmann entwarf einen großen Torbogen mit Kirche im Inneren samt nebenstehendem Glockenturm, wobei er Motive traditioneller russischer Kleidung in architektonische Formen umwandelte. Dieses Heldentor von Kiew (s. Abb. 11) wurde nie gebaut, da man den Wettbewerb letztlich absagte.

Im Juli 1869 wurde Hartmann, unmittelbar nach der Grand Tour noch fast unbekannt in seiner Heimat, in die Kommission aufgenommen, welche die Allrussische Manufaktur-Ausstellung 1870 vorbereitete. Hier wirkte er entscheidend an der Gestaltung der Ausstellungsgebäude und Inneneinrichtung mit, unter starker Betonung des russischen Stils. Stassow war von diesem Anblick so begeistert – »ein wahres Reich der Schönheit, Kunst und Poesie!«13 –, dass er den Kontakt zum verantwortlichen Künstler suchte. Die erhaltenen Dokumentationen zeigen, dass sich der russische Stil hier vorwiegend auf die Interieurs richtete und auch ausgestellte kunstgewerbliche Objekte wie etwa Öfen und Möbel betraf.14 Hartmann wurde für seine über 600 zu dieser Ausstellung entstandenen |18| Zeichnungen am 4. November 1870 zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Schönen Künste ernannt. Er beteiligte sich nochmals an der Polytechnischen Ausstellung in Moskau 1872, wo ihm die Gestaltung der Militärabteilung oblag; Hartmann übersiedelte dazu von Petersburg nach Moskau. Weitere architektonische Projekte betrafen ein Volkstheater in Petersburg (1870, unausgeführt), ein Volkstheater für die Zeit der Polytechnischen Ausstellung in Moskau 1872 (unter Verzicht auf die meisten Dekorationen ausgeführt), den Zoologischen Garten in Moskau (1872, unausgeführt), ein Druckereigebäude für Anatoli Mamontow in Moskau (1872) sowie ein Landhaus für Fjodor Mamontow in Kirejewo (1871/72) – alle im russischen Stil, der nun zu seinem Markenzeichen geworden war. Einige der architektonischen Entwürfe Hartmanns wurden 1873 auf der Weltausstellung in Wien gezeigt, darunter ein großes Holzmodell des Moskauer Volkstheaters, und brachten ihm dort eine Goldmedaille ein.

Insbesondere die Entwürfe für die Ausstellungsarchitekturen zeigen ein geradezu entfesseltes Verlangen, die traditionellen Ornamente russischer Holzgebäude, wie etwa Schnitzwerk an Fenstern oder sich überkreuzende Zierbalken an Giebeln, monumental zu übersteigern und zu vervielfachen. Das Dekorative dominiert dadurch das Erscheinungsbild bis hin zu wahren Phantasmagorien einer Architektur gewordenen russischen Ornamentik: aus dem Volkstum gewonnene nationale Symbole, die sich in der Fantasie des Künstlers verselbstständigen und in einen Bereich des Märchenhaften vorstoßen, wie dies bereits im Stadttor von Kiew geschehen war. Dieser Zug, die dingliche und praktikable Realität durch künstlerische Imagination zu überhöhen, sie speziell durch Ornament und Dekor in Kunstwerke des Alltags zu transformieren (wie schon in der frühen Idee einer Innendekoration im pompejanischen Stil), äußert sich auch in Hartmanns Entwürfen für üppigst im russischen Stil verzierte Gebrauchsgegenstände: etwa einen Kandelaber, einen Krug in Form eines Hahns oder eben auch jene bronzene Tischuhr, die die auf Hühnerbeinen stehende Hütte der Märchenhexe Baba-Jaga darstellt (s. Abb. 10).15

Damit erhebt Hartmann die Idee des Nationalen selbst zur Kunstform: Das Nationale wird ästhetisch erlebbar – nicht als museale Selbstreflexion, sondern als in den Alltag vordringendes und diesen allumfassend prägendes Ambiente. Er stand damit nicht allein, weder in der Architektur noch im Kunstgewerbe, wie gerade die nationalen und internationalen Ausstellungen seit den 1860er- und 1870er-Jahren zeigen. Seine Auszeichnungen und die Reproduktion einiger Entwürfe in Publikationen zu Lebzeiten wie |19| auch kurz nach seinem Tode belegen,16 dass er mit seinem nationalrussischen Stil einigen Erfolg hatte, auch wenn nur weniges über das Entwurfsstadium hinausgelangte und davon noch weniger erhalten blieb.

Hartmann als Bühnenausstatter

Nicht geringe Wirkung übte Hartmann zudem als Bühnendekorateur des Musiktheaters aus, wo sein Hang zu Fantastik und Eklektizismus sich frei entfalten konnte.17 Seine künstlerischen Vorlieben machten ihn zu einem idealen Ausstatter speziell von Bühnenwerken mit russischen und märchenhaften Sujets. Zu drei Inszenierungen steuerte er Entwürfe bei.

Das erste Projekt waren Kostüme für das am 17. Januar 1871 im Großen Theater von Petersburg uraufgeführte Ballett Trilby von Marius Petipa mit Musik von Julius Gerber. Hier entwarf Hartmann Kostüme für eine Vielzahl von Fabel- und Tierwesen, zu denen auch die von Mussorgski vertonten Küken in ihren Eierschalen zählen (s. Abb. 5).

Außerdem schuf Hartmann Kostüme und Bühnenbilder für eine Neuinszenierung von Michail Glinkas Ruslan und Ljudmila im Petersburger Marientheater am 26. Januar 1871. In der Verbindung von russischen, fantastischen und orientalischen Elementen war diese Oper, auch Glinkas Musik, ein besonders emblematisches Werk für die sich vom Westen abwendenden Slawophilen. Die im IV. Akt gezeigten Gärten des bösen Zauberers Tschernomor – in Hartmanns Zeichnungen »der Charakter eines bösartigen Zwerges«18 und mutmaßlicher Avatar des Gnomus (s. Abb. 1) – sind von üppiger Exotik. Das Schloss des Tschernomor ersann Hartmann als eine unüberschaubare Masse in- und übereinander geschachtelter Gebäudeteile in einer Art indischem Stil. Dieser zur Fantastik neigende Eklektizismus kann als Grundkonstante von Hartmanns Ästhetik gelten. Theaterdekoration und echte Architektur gehen in seinem Schaffen fließend ineinander über; Fantasie und Realität verschwimmen vor den Augen der Betrachter, gleich ob sie im Opernsaal oder in einem Ausstellungspavillon stehen.

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Abb. 1: Viktor Hartmann, Der böse Zauberer Tschernomor. Kostümentwurf für eine Inszenierung von Glinkas Oper »Ruslan und Ljudmila«. Bleistift und Aquarell (1870).

Schließlich lieferte Hartmann auch Entwürfe für den Karnevalsumzug und andere Kostümierte in Alexander Serows Oper Feindesmacht, die im Petersburger Marientheater am 7. April 1871 ihre Uraufführung erlebte. Sie spielt im 17. Jahrhundert, weckt also gezielt die Vorstellung einer vom Westen noch unberührten, von eigenen, volkstümlichen Traditionen geprägten altrussischen Zeit. In der Darstellung typischer Trachten und aus |21| heidnischer Vorzeit stammender Verkleidungen (diverse Tierfiguren, Riesen) sowie des Faschingsambientes insgesamt hat Hartmann Beobachter wie Stassow sehr beeindruckt, der den opulenten Entwurf des Faschingsumzuges auf einem märchenhaft-fantastischen Schlitten 1875 als Gravur publizieren ließ. Ebenso wie Serows musikalische Darstellung des Faschingstreibens hat Hartmanns Bildwelt massiv nachgewirkt auf das – ebenfalls einen bereits verschwundenen russischen Karneval evozierende – Ballett Petruschka (1911), an dem Alexander Benois als Dekorateur und Strawinsky als Komponist mitwirkten. Vielleicht war gerade das Musiktheater der Bereich, in dem Hartmanns Schaffen über seine Lebenszeit hinaus wirkte. In jedem Fall war es die engste Verbindung zu Mussorgskis Sphäre.

Russlands Künste im Aufbruch: Stassow, Hartmann und Mussorgski

Persönliche Kontakte

Der erste Eindruck, den Wladimir Stassow von Hartmann erhielt, war fast ein »tableau vivant« aus den späteren Bildern einer Ausstellung: Auf einem Maskenball in der Akademie der Künste zur Jahreswende 1861/62 scheuchte Hartmann, verkleidet als Hexe Baba-Jaga, die aus Stassows Sicht sedierte und in lähmender Konvention erstarrte Gesellschaft mit wilden Gebärden von ihren Sitzen auf; man sprach damals von Hartmann als dem originellsten Kopf der ganzen Akademie (Dok. 7). Doch erst als sich Stassow auf der Polytechnischen Ausstellung 1870 für die Dekorationen im russischen Stil begeisterte, kam es zur persönlichen Begegnung. Es entspann sich eine enge Freundschaft, in der Stassow den jungen Künstler verbal mit immer größeren Lorbeeren versah. Am Ende stand die Einschätzung, dass er auf seinen Gebieten zu den fortschrittlichsten, originellsten und letztlich größten Künstlern Russlands gezählt habe: »In ihm wuchs ein großer, eigenständiger Architekt heran, dem es bestimmt war, eine wahre Epoche unserer Architektur zu erschaffen.« Über die Bühnenentwürfe sagte Stassow: »Solche fantastischen Dekorationen […] hatte es bei uns natürlich noch nie gegeben. Kein einziger unserer Künstler besaß dafür genug Fantasie und Originalität.« Und selbst das Kunstgewerbe zeige |22| die besten Beispiele für den russischen Stil. Die ungebremste Konsequenz, mit der Hartmann diesen Stil verwirklichte, begeisterte Stassow: »Dieser [russische] Stil interessierte ihn am meisten, und er entfernte sich mit jedem Tag mehr von den europäischen Stilen, um sich in unseren Volksstil zu vertiefen.«19

Stassow hatte zur sogenannten neu- oder pseudorussischen Architektur ein enges Verhältnis: Sein Vater Wassili Petrowitsch Stassow (1769–1848) war selbst ein berühmter Architekt, der seit den 1820er-Jahren mit ersten Versuchen hervortrat, den allgegenwärtigen neoklassizistischen Baustil mit byzantinisierenden Elementen zu versetzen und dadurch ein nationales und historistisches Element einzubringen, so 1826 bei der Potsdamer Alexander-Newski-Gedächtniskirche, die als erstes Zeugnis dieser Tendenz gilt, und danach in der Kreuzkuppelarchitektur der 1928 zerstörten Zehntkirche (Desjatina) in Kiew. Kein Wunder also, dass Wladimir Stassow Hartmanns Hinwendung zu national konnotierten Architekturformen begeistert begrüßte: Dies war die Fortsetzung der Ideen seines eigenen Vaters.

Über Stassow, der Hartmann regelmäßig begegnete, wurde auch Mussorgski wohl im Winter 1870/71 mit dem Künstler näher bekannt und befreundet, man traf sich regelmäßig in der Petersburger Wohnung des Architekten. Am 18. April 1871 beispielsweise schreibt Mussorgski an Stassow: »Ich hatte gedacht, sie bei den Hartmanns zu erwischen«.20 Die gegenseitige Freundschaft muss rasch sehr tief geworden sein, wie sich indirekt einer brieflichen Absage wohl von Januar 1872 entnehmen lässt: »Ich muss mich unbedingt mit Hartmann treffen und kann deshalb heute nicht bei Ludmila Iwanowna [Schestakowa, Glinkas Schwester] sein.«21 Mussorgski teilte Stassows hohe Wertschätzung für Hartmann, hielt dessen unakademische und nationalistische Ästhetik gegenüber anderen stereotypen Kunsterscheinungen seiner Zeit für herausragend.

Die gegenseitige Wertschätzung beschränkte sich nicht nur auf schöne Worte. Hartmann, von seinen Freunden Witjuschka genannt, schenkte dem Komponisten die Zeichnungen zweier polnischer Juden, die er 1868 in Sandomierz angefertigt hatte. Mussorgski widmete ihm im Gegenzug das zweite der Lieder aus dem Zyklus Detskaja (Die Kinderstube). Die Treffen wurden seltener, als Hartmann nach Moskau umzog. Bei einem letzten gemeinsamen Spaziergang waren die Anzeichen von Hartmanns Herzerkrankung unübersehbar, doch versuchte Mussorgski humorvoll darüber hinwegzugehen. Umso bitterere Vorwürfe machte er sich nach dem überraschenden Tod seines Freundes am 23. Juli 1873. Wie groß der Schmerz |23| über den Verlust war, lässt sich einem unter unmittelbarem Eindruck der Nachricht entstandenen Brief an Stassows Frau entnehmen (Dok. 2). Seine Selbstvorwürfe offenbarte Mussorgski kurz darauf, am 2. August 1873, in einem Brief an Stassow selbst:

Mein lieber, mein teuerster Freund! Welch entsetzlicher Schmerz! Warum sollen Hunde und Katzen leben22 und Menschen wie Hartmann müssen sterben. Ich erinnere mich an seinen letzten Besuch in Petrograd […]. Da lehnte sich Witjuschka plötzlich an eine Mauer, gerade gegenüber der Annenkirche, und wurde ganz bleich. Ich kenne solche Zustände aus eigener Erfahrung und fragte ihn (ganz ruhig): »Was ist los?« – »Ich kann nicht atmen«, antwortete Witjuschka. Da ich die Nervosität und das Herzklopfen der Künstler aus Erfahrung kenne, sagte ich (immer noch mit der gleichen Ruhe): »Bleib’ ein Weilchen stehen, mein Lieber, dann gehen wir weiter.« Das war alles was wir sagten, über eine Sache, die unseren lieben Freund für immer unter die Erde gebracht hat. Was für ein Narr ist doch der Mensch im Allgemeinen! Wenn ich mir jetzt diese Unterhaltung ins Gedächtnis rufe, komme ich mir ganz erbärmlich vor, dass ich mich wie ein Feigling benommen habe. Weil ich fürchtete, Hartmann zu erschrecken, habe ich mich wie ein dummer Schuljunge verhalten. Generalissimus, glauben Sie mir: ich habe Hartmann gegenüber wie ein wahrer Narr gehandelt. Hilflos, wie ein Tölpel, der nicht die Kraft hat, zu helfen.23

Da sich Stassow zu diesem Zeitpunkt gerade in Wien aufhielt, verfasste Mussorgski selbst die Zeitungsnotiz zum Ableben Hartmanns mitsamt kurzem Nachruf (Dok. 1).24 Stassow schickte eine Woche später aus Wien einen Nekrolog für die Sankt Petersburger Nachrichten (Dok. 3), umfangreiche Würdigungen folgten in größerem Abstand (Dok. 4, Dok. 6, Dok. 7). In beiden Männern entwickelten sich Pläne, Hartmanns Gedenken zu sichern: Stassow durch eine Ausstellung, Mussorgski durch eine große Komposition.

Von der Musik zur Kunst: Mussorgski und Stassows »Troika«

Für Mussorgski wurde in den 1870er-Jahren der Austausch gerade mit Künstlern statt mit Musikerkollegen sehr bedeutsam. Zu Letzteren fühlte er sich zunehmend distanziert. Die zeittypischen Künstlerbünde änderten ihre Zusammensetzung. Das seit Stassows Rezension von 1867 sogenannte »Mächtige Häuflein«, also jene gegen die in den Konservatorien von Petersburg und Moskau gepflegte, akademische Ästhetik opponierende Komponistengruppe um Balakirew, war Mussorgskis musikalische Heimat: Eine im Wunsch nach Eigenständigkeit der russischen Musik geeinte |24| und von manchen gemeinsamen ästhetischen Idealen getragene Zusammenkunft autodidaktischer Tonsetzer.25 Doch in den 1870er-Jahren gestattete die sich immer stärker abzeichnende Verschiedenheit der einzelnen Mitglieder nicht mehr, von einer Gruppe Gleichgesinnter zu sprechen: Balakirew stürzte in eine tiefe Schaffenskrise und isolierte sich lange Jahre komplett von der Außenwelt in der polnischen Provinz; Rimski-Korsakow, mit dem Mussorgski von Herbst 1871 bis Juni 1872 ein Zimmer geteilt hatte, heiratete und holte die in den autodidaktischen Anfängen versäumte akademische Ausbildung privatim nach, um eine Kompositionsprofessur in Petersburg anzutreten; Cui verfasste nach der Uraufführung des Boris Godunow Anfang 1874 eine Kritik, in der er nach einer kleinteiligen Abwägung von Gelungenem und Misslungenem dem Komponisten Unreife und zu große Eilfertigkeit vorwarf.26 Mussorgski war teilweise persönlich gekränkt, besonders aber empfand er die unterschiedliche Kunstauffassung seiner ehemaligen Mitstreiter als Verrat an der Sache: nämlich der Erschaffung einer eigenständigen russischen Kunst abseits der als Schablone empfundenen akademischen Traditionen und abseits der üblichen Schönheitsideale, die für ihn wie eine heuchlerische Maske den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Im Herbst 1875 war die innere Distanz zu seinen ehemaligen Weggefährten für Mussorgski unüberbrückbar geworden: »Das ›Mächtige Häuflein‹ ist zu einer Schar seelenloser Verräter geworden! Die ›Geißel‹ hat sich als eine Kinderpeitsche erwiesen. Teilnahmslosere gegenüber dem Wesentlichen des Lebens, Überflüssigere für die heutige Kunst als sie – diese Künstler – wird man, glaube ich, im himmlischen Imperium vergebens suchen.«27

Die durch Stassow vermittelte Begegnung mit bildenden Künstlern wie Hartmann bot Mussorgski eine willkommene Alternative zur diffundierenden russischen Komponistenlandschaft, sowohl auf menschlicher Ebene als auch im Hinblick auf ästhetische Verbündete. Stassow erblickte die kulturelle Zukunft Russlands ohnehin über die Grenzen der einzelnen Künste hinweg. Er sah sie verwirklicht im Schaffen einiger weniger Fortschrittlicher, die er um sich scharte und miteinander bekannt zu machen versuchte: eine Art Networking im Dienste der gemeinsamen nationalen Sache. Die drei Köpfe, welche für ihn die russische Kunst am stärksten in die Zukunft zogen, bezeichnete er privat als Troika, als Dreiergespann: der Bildhauer Mark Antokolski, der Maler Ilja Repin – und der Komponist Mussorgski. In der Tat fühlte sich Mussorgski mit dieser Zuordnung nicht unwohl; er pflegte zu Repin – der wenige Tage vor dem Tod des |25| Komponisten das berühmte Porträt malen würde – seit 1870 engen Kontakt und bewunderte dessen Bilder für ihre Lebensnähe und Unmittelbarkeit. Zur Erstausgabe von Mussorgskis Liederzyklus Kinderstube steuerte Repin das Titelblatt bei. Stassow versuchte Repin auch mit Hartmann bekannt zu machen. Am 4. Juli 1872 berichtete Repin, dass er mit Hartmann zwar aus Zeitmangel noch nicht bekannt geworden sei, aber heute dessen Volkstheater anschauen wolle, denn »es wird gelobt.«28

Dem Bildhauer Antokolski gestand Stassow am 21. Mai 1873: »Ich sage Ihnen offen: Sie, Repin oder Mussorjanin zu verlieren wäre jetzt für mich ein solcher Verlust, dass ich mit ihm nichts vergleichen könnte, und ich kenne auf der ganzen Welt keinen Verlust, der sich jetzt für mich damit vergleichen ließe […] Das unsterbliche Schaffen, dessen ich unglücklicherweise abhold bin, das ich aber bei Ihnen dreien finde – das ist alles, was mich nunmehr beschäftigt.«29 Seinem Bruder Nikolai Stassow beschrieb er am 9. August desselben Jahres sein Verhältnis zu diesen drei Künstlern, an die sich seine Hoffnungen und Erwartungen knüpften, mit folgenden Worten: »Das ist nämlich meine ganze Gesellschaft, meine Küken, meine Schule, meine Schüler – das sagen und schreiben sie mir sogar selbst.«30

Repin fühlte sich Stassow eng verbunden, er berichtete diesem stets von seinen Plänen und Vorkommnissen, und auf seiner großen Auslandsreise nach Frankreich und Italien 1873/74 ließ er regelmäßig Grüße an Mussorgski ausrichten. Aus Paris schrieb er am 11. Dezember 1873:

Vielleicht genießen Sie bereits die Oper von Modest Petrowitsch – Sie Glücklicher! Und ich würde jetzt so gern russische Musik hören, und besonders die Musik von M. P. Mussorgski, als den Extrakt der russischen Musik (wage ich zu denken); so oft tauchen seine Themen in meinem Gedächtnis auf und dann auch viele andere, auch Ihre wunderbaren poetischen Abende, die wir gemeinsam in großer Gesellschaft verbrachten; die Morgendämmerung schien uns bereits mit schwachem Licht ins Zimmer und verschmolz harmonisch mit dem Licht der Kerzen, auch sie, schien es, wollte diese wunderbaren Sachen hören, die Morgendämmerung einer neuen Epoche der Musik, und die Klänge flossen immer schöner, immer berückender und immer bedeutender, und wir wollten nicht auseinandergehen. Bei der Rückkehr nach Hause ging schon die Sonne auf, alles ringsum war so seltsam, so außergewöhnlich, und das Leben schien so bezaubernd, so voller Bedeutung, dass die alten Ideale lächerlich wirkten im Vergleich zu den lebenden echten Menschen. Ob sich diese wunderbare Zeit des Lebens im Kreis naher Menschen wiederholen wird, des eigentlichen, nationalen, eigenständigen Lebens!31

|26| Auch Antokolski, der permanent im Westen lebte, lässt in seinem opulenten Briefwechsel mit Stassow32 in genau derselben Zeit, also Anfang der 1870er-Jahre, immer wieder Grüße an Mussorgski ausrichten, erkundigt sich nach dessen Befinden und dem Fortgang seiner Werke, begeistert sich für den Erfolg des Boris Godunow, vermisst die Musik. Später zeigt er sich von Krankheit und Tod des Komponisten erschüttert, nimmt nur aus der Ferne an der Einweihung des Grabdenkmals teil und bedankt sich für Stassows 1881 publiziertes Lebensbild des Komponisten. Stassow hatte sich wiederholt gewünscht, dass Antokolski, ähnlich wie Repin mit seinen Ölporträts, den Künstlerkreis in Stein verewigte, doch weigerte sich der Bildhauer und verteidigte sich: »Sie bedauern, dass ich keine Büsten gemacht habe: weder von Mussorgski, noch von Hartmann. Ich bedaure das auch, aber, mein Gott, muss man das wirklich nur bedauern, wenn man auf das Vergangene zurückblickt? […] Sie wissen gut, dass mich das Schicksal fern von Russland geworfen hat, und natürlich kann man Büsten unmöglich in Abwesenheit machen, und sie jetzt nach dem Tode (von Hartmann) machen möchte ich nicht.«33 Ein direkter Kontakt zwischen Mussorgski und Antokolski hat sich trotz der gegenüber Stassow geäußerten Hochachtung anscheinend nicht ergeben; Antokolski berichtet sogar von einem langen Brief, den er endlich geschrieben und dann doch zerrissen hatte, weil er sich in philosophischen Fragen verloren habe.34

Mussorgski wollte Stassows Troika personell erweitern, die Kunst und Musik um die Literatur: Für ihn gehörte der junge Dichter Arseni Golenischtschew-Kutusow mit ins Boot, mit dem er ab Herbst 1874 eine Wohnung teilen würde wie einige Jahre zuvor mit Rimski-Korsakow. Am 19. Juni 1873 schreibt er Stassow: »Ich träume von einem Viergespann.«35 Doch Stassows Verhältnis zur Literatur und speziell zu diesem Dichter war kühl und distanziert. Es blieb also bei der »Troika«. Mussorgski sah sich innerhalb dieses Dreigespanns nur als ein »Seitenpferd«, wie er am 13. Juni 1873 in einem Brief an Repin, der für ihn das Zentrum darstellte, plastisch schildert, nachdem er dessen Porträt von Stassow gesehen hatte:

So also steht es, prächtiges Mittelpferd! Das Dreiergespann, wenngleich nicht ganz einträchtig, zieht alles, was es zu ziehen gilt. Es zieht sogar, ohne daß man Hand anzulegen braucht: es sieht und beobachtet, aber nicht nur das. Wenn es sich an eine Arbeit macht, hat es schon die nächste im Sinn, die es noch weiter voranbringen wird. So also steht es, Mittelpferd. »Nun, auch wir verneigen uns ehrerbietig vor Dir.« Wie haben Sie doch da unseren Herrn und Meister Wolodimir [Stassow] gemalt! Schon jetzt ist er aus der Leinwand mitten ins Zimmer |27| getreten; was wird erst, wenn das Bild einmal gefirnißt ist? Leben, Kraft – zieh, Mittelpferd, ohne Müdigkeit zu kennen! Ich aber, in meiner Eigenschaft als Seitenpferd, ziehe hier und da mit, damit es keine Lücke gibt – ich fürchte die Peitsche. Sagen Sie mal, Sie Mittelpferd Ilja Jefimowitsch, ist Europa tatsächlich besser als die Tartarei, die in den Büchern Rus, Russija und Rußland genannt wird? Mir persönlich wird es von den russischen Zuständen recht übel, aber nur deshalb, weil ich als Seitenpferd die Peitsche fürchte. Und ließe es sich leicht leben – wenn? Nun denn, in den Staub mit ihnen! […] Ich bin sehr froh, daß Sie nach Europa hinausgereist sind, aber ich werde mich noch mehr freuen, wenn Sie, nachdem Sie sich umgesehen und alles angeschaut haben, sich an einem einsamen Ort niederlassen, um sich der Arbeit zu widmen. Zieh, Mittelpferd – die Fuhre ist schwer, und an Schindmähren ist wahrlich kein Mangel.36

Was Mussorgski hier entwirft, ist eine Metapher für die wenigen russischen Künstler in Stassows Sinne, die – in Abwendung von Europa – unter großen Anstrengungen die russische Kultur fortentwickeln, wobei es neben manchen starken auch viele schwache und unbrauchbare Mitstreiter gibt. Von Repins berühmtem Gemälde Die Wolgatreidler (s. Abb. 2), das noch im Jahr seiner Entstehung auf der Wiener Weltausstellung 1873 gezeigt wurde und dort Furore machte, besaß Mussorgski eine Reproduktion, die er beim Schreiben seines Briefes betrachtete, und anhand der dort dargestellten Arbeiter entwickelt er seine Metapher weiter:

Welch unerschöpfliches Erz ist doch […] für den, der alles Echte erfassen will, das Leben des russischen Volkes! Man braucht nur ein bißchen zu stochern, schon kann man vor Freude hüpfen – wenn man ein wahrer Künstler ist. |28|