Module für die Tinnitus-Behandlung - Roberto D´Amelio - E-Book

Module für die Tinnitus-Behandlung E-Book

Roberto D´Amelio

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Beschreibung

Etwa 3 Millionen Erwachsene in Deutschland leiden unter einem chronischen Tinnitus, der häufig auch mit weiteren Problemen wie Schlafstörungen, Stress und Ängsten einhergeht. Der Band stellt verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch sowie hypnotherapeutisch orientierte Module für die Behandlung des Tinnitus vor. Nach der Vermittlung von Basiswissen zum Tinnitus, wird das Vorgehen beim Erstkontakt mit Tinnitus-Patientinnen und -Patienten beschrieben. Counseling und Psychoedukation sind Basisinterventionen, die immer am Beginn der Beratung und Therapie stehen sollten. Praxisorientiert und ergänzt mit umfangreichen Arbeitsmaterialien werden anschließend bewährte Strategien und Methoden der Verhaltenstherapie, Psychodynamischen Therapie und Hypnotherapie zur Behandlung des Tinnitus beschrieben. Um eine Anpassung der Interventionen an unterschiedliche Bedürfnisse und Rahmenbedingungen zu ermöglichen, sind die Behandlungsmodule so konzipiert, dass sie in verschiedenen Settings (z.B. Einzelsetting, offenes oder geschlossenes Gruppensetting, Workshop) und auch zur Bearbeitung von einzelnen Themen (z.B. Stressmanagement, Aufmerksamkeitslenkung) eingesetzt werden können. Der modulare Aufbau bietet Fachleuten aus der Psychologie, Psychotherapie und Medizin nicht nur eine hohe Flexibilität in der Planung und Gestaltung ihrer therapeutischen Interventionen, sondern ermöglicht auch einen Blick über den "Tellerrand" der therapeutischen Schulen hinweg. Die zahlreichen im Buch enthaltenen Arbeitsmaterialien können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.

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Roberto D’Amelio

Helmut Schaaf

Detlef Kranz

Module für die Tinnitus-Behandlung

Counseling, Psychoedukation und Psychotherapie

Dipl.-Psych. Roberto D’Amelio,geb. 1963. 1982 – 1989 Studium der Psychologie in Heidelberg. 1999 Approbation zum Psychologischen Psychotherapeuten (Verhaltenstherapie). Seit 1996 Mitarbeiter am Universitätsklinikum des Saarlandes. Klinischer Hypnotherapeut (M. E. G e. V.). Als verhaltenstherapeutisch fundierter Supervisor tätig.

Dr. med. Helmut Schaaf,geb. 1957. 1976– 1984 Studium der Medizin in Köln. 1985 – 1994 Facharzt für Anästhesie in Köln. 1994 – 2008 Leitender Oberarzt in der Tinnitus-Klinik Arolsen (später Arolser „Schoen-Kliniken“). 1999 Erwerb der Zusatzbezeichnung Psychotherapie und seit 2006 Balintgruppenleiter. Seit 2008 Leitender Oberarzt der Tinnitus-Klinik Dr. Hesse im Krankenhaus Bad Arolsen.

Dipl.-Psych. Detlef Kranz,geb. 1952. 1972 – 1977 Studium der Psychologie in Berlin. Anschließend Tätigkeit in stationären und ambulanten psychotherapeutischen Einrichtungen. 1999 Approbation zum Psychologischen Psychotherapeuten (Verhaltenstherapie). 1986 Fachpsychologe der Medizin. Seit 1993 niedergelassen in eigener Praxis in Essen. 1997 Klinische Hypnose (M.E.G.). Seit 2009 Mitarbeit in der Tinnitus-Klinik Dr. Hesse in Bad Arolsen.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Umschlagabbildung: © iStock.com by Getty Images / Alkalyne

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2022

© 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2774-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2774-5)

ISBN 978-3-8017-2774-1

https://doi.org/10.1026/02774-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|5|Geleitwort

In der Leitlinie von 2015 wird Tinnitus als ein häufiges Symptom des auditorischen Systems beschrieben, „das insbesondere in Verbindung mit Komorbiditäten zu schwerwiegender Krankheitsbelastung führen kann.“ Im Praxisalltag präsentieren sich daher die unterschiedlichsten klinischen Bilder unter dem Etikett des „Tinnitus-Patienten“. Bei einem mögen die Ohrgeräusche zwar vorhanden und auch bestimmbar, aber „nicht der Rede wert“ sein, sogar nur zufällig bei genauer Exploration zu Tage kommen, da die Ohrgeräusche so gut kompensiert und ausgeblendet werden, dass der Betroffene sich in keinerlei Weise durch sie beeinträchtigt fühlt, und nicht von sich aus als Symptom äußert. Das andere Extrem stellt der vom Tinnitus Tag und Nacht gequälte Patient dar, der sich kaum mehr ein lebenswertes Leben mit dem Tinnitus vorstellen kann und aufgrund seines Leidens am Tinnitus massiv in seiner Arbeitsfähigkeit und Alltagstauglichkeit eingeschränkt ist.

Da die Ätiologie dieses Hörsymptomes sehr vielfältig sein kann – von einem einfachen Cerumen bis zu schweren psychischen Beeinträchtigungen sowie von den häufigen Hörstörungen bis hin zu seltenen Neoplasmen – muss die Offenheit der Therapeuten oft weit und die Therapieplanung individuell sein. Bei einem Leiden am Tinnitus kommt es wesentlich darauf an, dass ein Therapeut die seelische Anfrage, die hinter den Beschwerden stehen kann, aufnehmen kann. Der Schlüssel zum Verständnis des Leidens am Tinnitus im Umgang der Ausgestaltung des „stets individuellen Dramas“ des Patienten bei seinem derzeitigen Problem kann dann meist über die Lebensgeschichte verstanden werden.

Als Klinikchef einer neurootologisch und psychosomatisch arbeitenden Klinik weiß ich um die Bedeutung der Psychotherapie. Gleichzeitig wünsche ich den Patienten, dass zudem die – teilweise kausal hilfreichen – Möglichkeiten der Hörverbesserungen erkannt und genutzt werden können. Gerade die Psychotherapie braucht das Verständnis und das Verstehen, auch beim Patienten.

So hat sich in unserer Klinik der Ansatz bewährt, Tinnitus-Patienten auf einer sicheren neurootologischen Grundlage zu behandeln. Dabei sollen auch die Psychotherapeuten die Hörsituation (den Hörtest) des Patienten verstehen und erklären können – und ggf. Verbesserungsmöglichkeiten anregen oder einleiten. Wir halten dies ebenso notwendig wie die Verbindung mit einer psychosomatischen |6|Sichtweise, die das körperliche Symptom genauso ernst nimmt wie die Psyche der Betroffenen. Als hochgradig effektiv hat sich bei uns das konkrete Bearbeiten für die Patienten wichtiger Situationen in der Hörtherapie erwiesen. Dabei kann erfahren werden, wie die auslösenden Situationen anders als mit der Verstärkung des Symptoms bewältigt werden können. Auf dieser Grundlage haben wir in Bad Arolsen auch eine Hörtherapie für Tinnitus- und Hyperakusis-Patienten entwickelt, die in einem Buch ihren Niederschlag gefunden hat.

Wenn man davon ausgeht, dass jeder Tinnitus-Patient „anders“ sein darf und wenn man berücksichtigt, dass sich die Möglichkeiten der Behandlung in jedem Setting anders darstellen, dann ist es sinnvoll, dass eine „Handreichung“ wie dieser Band sowohl die notwendigen Grundlagen anbietet wie möglichst vielfältige, aber variierbare Module, die darauf aufbauen.

Ebenso sinnvoll ist, dass dieser Band von erfahren Tinnitus-Therapeuten mit durchaus erkennbar verschiedenen Therapierichtungen angeboten wird – und dabei ein schulenübergreifendes Verstehen und Arbeiten ermöglicht und anregt.

In diesem Sinne wünsche ich diesem Buch viel Erfolg und eine breite Verwendung.

Arolsen, Herbst 2021

Prof. Dr. med Gerhard Hesse

Chefarzt der Tinnitus Klinik Dr. Hesse

Vorsitzender der Leitlinienkommission Tinnitus

|7|Geleitwort

Als Vertreter der Tinnitus-Betroffenen, freue ich mich sehr über das vorliegende Buch und möchte mich bei den Autoren für ihr Engagement bedanken. Ich hoffe, dass es bei Psychotherapeuten eine große Verbreitung findet.

Die Deutsche Tinnitus-Liga e. V. (DTL) vertritt als gemeinnützige Selbsthilfeorganisation die Interessen der Patienten mit Tinnitus, Hörsturz, Hyperakusis und Morbus Menière sowie ihrer Angehörigen. Rund 11.000 Mitglieder machen die DTL zum größten Tinnitus-Zusammenschluss in Europa. Wir hören am Beratungstelefon immer wieder die Not der Tinnitus-Patienten und können nur hoffen und wünschen, dass sie einen Behandler finden, der sich mit Tinnitus gut auskennt und um die vielen Therapiemöglichkeiten weiß.

Die drei Autoren haben einen unglaublichen Erfahrungsschatz in der Behandlung von Tinnitus-Patienten und öffnen mit dem vorliegenden Buch ihre „persönliche Schatztruhe“ an erprobten Interventionen in der Tinnitus-Therapie. Sie vermitteln sehr praxisorientiert ein breites Fachwissen, von dem jeder Psychotherapeut, der Tinnitus-Patienten optimal versorgen möchte, in hohem Maße profitieren kann. Besonders gut gefällt mir der „schulenübergreifende Ansatz“. Uns Tinnitus-Betroffenen kann es letztlich egal sein, ob unser Behandler „Verhaltenstherapeut“ ist oder „Hypnotherapeut“ bzw. ob er „psychodynamisch“ arbeitet, die Hauptsache ist doch, er hilft uns. Hier gilt der alte Grundsatz „wer heilt hat Recht“.

Als Vertreter der Betroffenen kann ich aus langer Erfahrung sagen, kein Tinnitus-Patient ist wie der andere. Genauso wie jeder „seinen individuellen Tinnitus“ hat, so benötigt auch jeder Patient seine individuelle Tinnitus-Therapie. Und genau hier ist die besondere Stärke dieses Buches. Es bietet dem Behandler ein großes Repertoire von „Therapietools“ mit ganz unterschiedlichen Therapieansätzen. Dieser Fundus reicht von Materialien zur Aufklärung und Psychoedukation bis hin zu Hinweisen zu einer möglicherweise vertiefend notwendigen Psychotherapie.

Gerade weil es immer noch nicht die, natürlich von vielen Betroffenen herbeigesehnte, „Pille gegen den Tinnitus“ gibt, ist es umso wichtiger, dass sich genügend Psychotherapeuten finden, die sich mit fundiertem Fachwissen um uns kümmern. |8|Dabei kann das vorliegende Buch eine große Hilfe sein, weshalb ich mir wünsche, dass es von vielen Therapeuten genutzt wird.

Boppard, im Herbst 2021

Dr. med. Frank Matthias Rudolph

Facharzt für Psychosomatische Medizin

Rehabilitationswesen/Diabetologie

Vorsitzender des Vorstands der

Deutschen Tinnitus-Liga e. V.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Basiswissen Tinnitus

1.1 Tinnitus – Was ist das?

1.2 Einteilung des Tinnitus

1.2.1 Objektiver vs. subjektiver Tinnitus (Objektivierbarkeit)

1.2.2 Akuter vs. chronischer Tinnitus (Verlaufsdauer)

1.2.3 Kompensierter vs. dekompensierter Tinnitus (Psychische Belastung)

1.3 Epidemiologie

1.4 Die Pathophysiologie des subjektiven Tinnitus

1.5 Wie kann es zum Leiden am Tinnitus kommen?

1.5.1 Mangelnde Toleranzentwicklung und ausbleibende Habituation

1.5.2 Kontrollüberzeugungen und Bewältigungsstrategien

1.5.3 Persönlichkeitsmerkmale

1.5.4 Vulnerabilitätsmodell

1.6 Grundlegende Diagnostik bei chronischem Tinnitus

1.6.1 Grundlegende HNO-Diagnostik

1.6.2 Grundlegende psychologische Diagnostik

1.7 Therapieansätze: Stufenweises Vorgehen beim Leiden am chronischen Tinnitus

1.7.1 Counseling

1.7.2 Psychotherapie bei Leiden am Tinnitus

1.7.3 Apparative Versorgung

2 Erstkontakt mit einem Tinnitus-Patienten – Erklärung, Counseling und Psychoedukation als Basisintervention

2.1 Tinnitus ist ein Symptom der Hörwahrnehmung

2.2 Wie kann es zum Tinnitus kommen?

2.3 Wie soll therapeutisch weiter vorgegangen werden?

2.4 Arbeitsmaterialien

3 Verhaltenstherapeutische Psychotherapie bei Tinnitus

3.1 Grundlagen, Diagnostik, Ziele und Therapieplanung

3.1.1 Wie kann es aus verhaltenstherapeutischer Sicht zu einem Leiden am Tinnitus kommen?

3.1.2 Ziele verhaltenstherapeutisch fundierter Psychotherapie beim Leiden am Tinnitus

3.1.3 Verhaltenstherapeutische tinnitusbezogene Diagnostik

3.2 Verhaltenstherapeutische Behandlungsmodule

3.2.1 Modul Entspannung

3.2.1.1 Einleitung

3.2.1.2 Durchführung

3.2.2 Modul Kognitionen und Selbstverbalisationen

3.2.2.1 Einleitung

3.2.2.2 Durchführung

3.2.3 Modul Innere Ressourcen

3.2.3.1 Einleitung

3.2.3.2 Durchführung

3.2.4 Modul Stressmanagement

3.2.4.1 Einleitung

3.2.4.2 Durchführung

3.2.5 Modul Wohlfühlen

3.2.5.1 Einleitung

3.2.5.2 Durchführung

3.3 Arbeitsmaterialien

4 Psychodynamische Psychotherapie bei Tinnitus

4.1 Grundlagen, Diagnostik, Ziele und Therapieplanung

4.1.1 Wie kann es aus psychodynamischer Sicht zu einem Leiden am Tinnitus kommen?

4.1.2 Ziele tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie beim Leiden unter Tinnitus

4.1.3 Tiefenpsychologische tinnitusbezogene Diagnostik

4.1.4 Psychodynamische Therapieplanung

4.2 Psychodynamische Behandlungsmodule

4.2.1 Modul Beziehungsgestaltung – Der Tinnitus in der therapeutischen Beziehung

4.2.1.1 Einleitung

4.2.1.2 Vorgehen

4.2.2 Modul Biografische Fragen – Wo komme ich her? Wo stehe ich? Wohin gehe ich?

4.2.2.1 Einleitung

4.2.2.2 Vorgehen

4.3 Arbeitsmaterialien

5 Hypnotherapie bei Tinnitus

5.1 Grundlagen, Diagnostik, Ziele und Therapieplanung

5.1.1 Wie kann es aus hypnotherapeutischer Sicht zu einem Leiden am Tinnitus kommen?

5.1.2 Ziele hypnotherapeutisch fundierter Psychotherapie beim Leiden am Tinnitus

5.1.3 Vorgehensweisen bei der hypnotherapeutischen Behandlung von Leiden am Tinnitus

5.1.4 Hypnotherapeutische tinnitusbezogene Diagnostik

5.1.5 Wichtige hypnotherapeutische Begrifflichkeiten

5.2 Hypnotherapeutische Behandlungsmodule

5.2.1 Modul symptomorientierte Hypnotherapie

5.2.1.1 Lieblingsplatz/Wohlfühlort

5.2.1.2 Tinnitus als Bild

5.2.1.3 Tinnitus als Skala

5.2.2 Modul problem- und konfliktorientierte Hypnotherapie

5.2.2.1 Stellvertretertechnik als Metapherarbeit

5.2.2.2 Stellvertretertechnik-Tinnitus als Landschaft oder Lebewesen

5.2.2.3 Stellvertretertechnik – Tinnitus als ungebetener Hausgast

5.2.2.4 Reframing – Die positive Absicht des Tinnitus

5.2.3 Modul Narrative Hypnotherapie

5.3 Arbeitsmaterialien

6 Schlafstörungen bei Tinnitus

6.1 Wissen über Schlaf und Schlafstörungen vermitteln

6.2 Arbeitsmaterialien

7 Therapieende – Der Brief an sich selbst

Weiterführende Literatur

Literatur

Anhang

|13|Vorwort

Seit über 25 Jahren sind die Autoren in Sachen Tinnitus und dem Leiden an Tinnitus unterwegs. Dabei sind wir uns immer wieder begegnet und haben, ausgehend von unseren eigenen, unterschiedlichen Ansätzen und Arbeitsfeldern, gerne über den eigenen Tellerrand geschaut und (nicht nur) untereinander den kollegialen Austausch gesucht, gemäß der Leitfrage: Wie ist dein Vorgehen, wie sind deine Haltungen, Strategien und Methoden in der Beratung und Behandlung von Betroffenen mit Leiden an Tinnitus?

Diese Gespräche gestalteten sich immer spannend wie lehrreich, auch gerade deshalb, weil wir „von Haus aus“ unterschiedliche therapeutische Weiterbildungen und Ausrichtungen aufweisen. Somit wurde auch kollegial diskutiert und ausgetauscht, wie man mit Haltungen, Strategien sowie Methoden der Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie und Hypnotherapie eine adäquate wie erfolgreiche Betreuung von Betroffenen mit (Leiden am) Tinnitus durchführen kann.

Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Erkenntnisse aus der kognitiven Verhaltenstherapie Grundlage eines erfolgreichen Copings sind, sodass auch der psychodynamisch arbeitende Psychotherapeut nicht auf die dabei mögliche Symptomlinderung verzichten sollte.

Ebenso wie die psychodynamisch orientierten Therapeuten1 werden auch Verhaltenstherapeuten, die manchmal eine sehr besondere (somatisierende) Beziehungsdynamik mit den Patienten und den involvierten Kollegen erleben, diese reflektieren und in ihrer Arbeit berücksichtigen müssen. Dabei ermöglicht ein psychodynamisches Verständnis der oft vorliegenden Beziehungsstörung beim Tinnitus-Leidenden dem Verhaltenstherapeuten, Tinnitus-Signale als Spuren im biografischen Erlebniskontext und als sprachlosen, oft nur vom Tinnitus ausgefüllten Ausdruck der erlebten Not anzunehmen.

Verbindet sich dies mit den kreativen lösungs- und ressourcenorientierten Möglichkeiten der Hypnotherapie, dann müssen Tinnitus-Patienten nicht nur als (quä|14|lende, nicht hörende) Herausforderung angesehen werden. Dann darf der Tinnitus – positiv gesehen – als Wahrnehmung eines nach Auflösung verlangenden Zustandes und als „Angebot“ zur Bearbeitung einer psychogenen Not oder Krise aufgegriffen werden.

Dieses Buch ist nun geschrieben, sodass interessierte Leser sich im Rahmen von drei entsprechenden Schwerpunkt-Kapiteln einen Überblick verschaffen können, wie man mit Strategien und Methoden der Verhaltenstherapie, der Tiefenpsychologie und Hypnotherapie Betroffene unterstützen kann, ein Leben mit Tinnitus zu führen (vgl. Kapitel 3 bis Kapitel 5). Selbstverständlich geprägt durch die persönliche Sichtweise der Beteiligten, mit ihrer eigenen „Interpretation“ von Verhaltenstherapie, Psychodynamik und Hypnotherapie.

Zum Aufbau des Bandes

Dieser Band wendet sich an Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzte sowie weitere therapeutische Fachleute, die Betroffene, die unter Tinnitus leiden, behandeln. Er beinhaltet umfangreiche Materialien für die Diagnostik, therapeutische Begleitung sowie Unterstützung von Betroffenen mit Tinnitus, mit den „bewährten“ Strategien und Methoden der Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie und Hypnotherapie, entsprechend der grundsätzlichen therapeutischen Weiterbildung und Ausrichtung der beteiligten Autoren. Dementsprechend ist dieser Band in drei Schwerpunkt-Kapitel aufgeteilt, geordnet und unterteilt nach den oben genannten psychotherapeutischen Schulen (vgl. Kapitel 3 bis Kapitel 5).

Um den spezifischen Anforderungen ganz unterschiedlicher Bedürfnisse und Rahmenbedingungen gerecht zu werden, wurden die in jedem Kapitel aufgeführten Diagnostik- und Behandlungsmodule so konzipiert, dass sie in verschiedenen Settings (z. B. offene Gruppe, geschlossene Gruppe, fortlaufende Gruppe, singulärer Workshop, Seminarreihe, Einzelsetting, Gruppensetting) eingesetzt werden können.

Des Weiteren eignen sich die hier dargestellten Tinnitus-Behandlungsmodule auch zur monofokalen Bearbeitung von einzelnen Themen (Stressmanagement, Aufmerksamkeitslenkung, Trauerbewältigung usw.), sodass diese auch gezielt in der Prävention einsetzbar sind (z. B. bei tinnitusbezogener psychischer Belastung Grad II).

Die hier dargestellten Tinnitus-Behandlungsmodule ermöglichen den professionellen Anwendern somit nicht nur eine hohe Flexibilität in der Planung und Gestaltung ihrer therapeutischen Intervention, sondern ermöglichen auch einen Blick über den „Tellerrand“ der therapeutischen Schulen hinweg, sodass die Möglichkeit besteht, das eigene therapeutische Repertoire zu erweitern.

Homburg, Bad Arolsen und Mülheim, Herbst 2021

Roberto D’Amelio, Helmut Schaaf und Detlef Kranz

1

Zugunsten einer besseren Lesbarkeit verwenden wir im Text in der Regel das generische Maskulinum. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen alle Geschlechter (m/w/d). Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung. Wenn möglich, wurde eine geschlechtsneutrale Formulierung gewählt.

|15|1 Basiswissen Tinnitus

Roberto D’Amelio, Helmut Schaaf und Detlef Kranz

1.1 Tinnitus – Was ist das?

Der Begriff „Tinnitus“ leitet sich vom lateinischen Wort tinnire (= klingeln) ab. Tinnitus als Symptom bezeichnet (nahezu) alle Formen nicht durch äußere Schallquellen bedingter Hörwahrnehmungen i. S. von „Ohrgeräuschen“, die nicht als Halluzinationen gewertet werden (Hallam et al.,1984; Goebel & Büttner, 2004; Mazurek et al., 2015, 2017). In der europäischen Leitlinie heißt es: „Tinnitus involves the percept of a sound or sounds in the ear or head without an external source“ (Cima et al., 2019). Der Tinnitus kann einseitig, beidseitig oder im Kopf wahrgenommen werden. Er kann nahezu alle Ton- und Geräuschvariationen annehmen, z. B. Pfeifen, Rauschen, Summen, Zischen, Klingeln, Piepsen, Sausen, Brummen, Zirpen, Pulsieren, Hämmern (Lenarz, 1998; Weise, 2011; Mazurek et al., 2017).

Auch bei gesunden Menschen ist im Prinzip ein permanentes Ohrgeräusch (= Tinnitus) vorhanden: Setzen sich Menschen in einer schalldichten Kammer absoluter Stille aus, so entsteht innerhalb kurzer Zeit ein akustischer Eindruck, i. S. eines „Rauschens“. Das liegt daran, dass das Innenohr wegen seiner ständig aktiven Sinneszellen seit der Geburt ein „bewegter“ Ort ist, der in Verbindung zum akustischen Kortex steht. In etwa vergleichbar ist dies mit einer Tonanlage, die beim Strom einschalten ein meist leises, aber durchaus hörbares Grundrauschen hat. Dieses „Grundrauschen“ wird meist nur nicht als solches wahrgenommen und – was wichtiger ist – nicht dauerhaft beachtet, da es schon seit der Geburt vorhanden ist und deshalb im Alltag i. d. R. gut „überhört“ bzw. dauerhaft ausgeblendet werden kann.

Anders verhält es sich mit einem erst im späteren Leben erworbenen bzw. auftretenden Ohrgeräusch, das „… insbesondere in Verbindung mit Komorbiditäten zu schwerwiegender Krankheitsbelastung führen kann“ (AWMF-Leitlinie, 2015).

Abgrenzung zu Pseudohalluzinationen und akustischen Halluzinationen

Der Tinnitus kann von seltenen organischen „Pseudohalluzinationen“ und akustischen Halluzinationen bei einer Psychose abgegrenzt werden. Bei organischen |16|Pseudohalluzinationen „hören“ die Patienten plastische Klanggebilde (Kirchenglocken, Melodien, Stimmengewirr etc.), die echoartig nach längerer Einwirkung der jeweiligen Klangbilder noch für Stunden nachhallen können oder auch bei starken Emotionen reaktiv auftreten. Beim Tinnitus zeigt sich nun im Unterschied zu den „Pseudohalluzinationen” und den akustischen Halluzinationen eine klare neurootologische Konstellation, bei der der Tinnitus in seiner Frequenz und Lautheit, bestimmt als Verdeckbarkeit über der Hörschwelle, reproduzierbare und von außen nachvollziehbare Werte zeigt (Schaaf et al., 2003). Akustische Halluzinationen in Form vom Hören der eigenen Gedanken, dialogischen oder gar imperativen Stimmen sowie akustische Sinnestäuschungen, wie z. B. Knallen, Klirren, Sausen, Zischen, Trommeln, Heulen, sind davon unterscheidbar (Schaaf et al., 2003; Dölberg et al., 2008).

1.2 Einteilung des Tinnitus

Wie im folgenden Kasten ersichtlich, wird der Tinnitus wissenschaftlich nach den folgenden Kriterien eingeteilt: (1) Nachweisbarkeit, (2) zeitliche Dauer, (3) psychische Belastung.

Einteilung des Tinnitus

Nach der Objektivierbarkeit des Befundes:

objektiv

subjektiv

Nach der Verlaufsdauer:

akut

chronisch

Nach der psychischen Belastung:

kompensiert

dekompensiert

Diese Begriffe sollen nun in den nächsten Abschnitten näher erläutert werden.

1.2.1 Objektiver vs. subjektiver Tinnitus (Objektivierbarkeit)

Man unterscheidet einen subjektiven, nur vom Patienten selbst wahrnehmbaren von einem objektivierbaren Tinnitus:

Objektiver Tinnitus. Beim objektiven Tinnitus kann das Ohrgeräusch auf eine körpereigene Schallquelle in der Nähe des Ohres zurückgeführt und dessen Schall|17|aussendungen physikalisch gemessen (und damit objektiviert) werden. Diese Form der Ohrgeräusche ist mit ca. 0.01 % sehr selten (Feldmann, 1992; Hesse, 2015). Ursächlich geht dieses Beschwerdebild auf andere primär zugrunde liegende Erkrankungen oder genetisch bedingte Anomalien zurück, z. B. ein arterielles intrakranielles Aneurysma oder auch eine generalisierte Cerebralsklerose, sodass eine Beseitigung eines störenden Ohrgeräusches in Abhängigkeit von den Behandlungsmöglichkeiten der Grunderkrankung erfolgen kann (Hesse, 2015).

Subjektiver Tinnitus. Beim subjektiven Tinnitus liegt weder eine externe noch eine körpereigene Schallquelle vor. Vielmehr wird angenommen, dass der Tinnitus durch eine fehlerhafte Informationsbildung und -verarbeitung im Innenohr und/oder auditorischen System entsteht, ohne Einwirkung eines akustischen Reizes (Lenarz, 1998; Zenner, 1998). Klinisch beschreiben lässt sich dieses Erkrankungsbild als eine akustische Wahrnehmung, die ausschließlich vom Betroffenen selbst perzipiert wird und keiner objektiv messbaren Schallquelle zuzuordnen ist. Die Existenz dieser Ohrgeräusche sowie deren Qualität und Quantität können daher nur durch Exploration des Betroffenen bestimmt werden. Die Mehrzahl der Tinnitus-Betroffenen berichtet über subjektive Ohrgeräusche. Dabei lässt sich die subjektive Tinnitus-Lautheit maximal 5 bis 15 Dezibel (dB) über der Hörschwelle darstellen, was von der Hörwahrnehmung ungefähr einem leisem Blätterrauschen entspricht (Zenner, 1998; Hesse, 2015; Mazurek et al., 2017).

1.2.2 Akuter vs. chronischer Tinnitus (Verlaufsdauer)

Man unterscheidet nach dem Zeitverlauf einen akuten von einem chronischen Tinnitus (AWMF-Leitlinie, 2015):

Akuter Tinnitus. Beim akuten Tinnitus bestehen die Ohrgeräusche seit einem Zeitraum unter drei Monaten.

Chronischer Tinnitus. Ein Tinnitus gilt als chronisch mit einer Dauer von mindestens drei Monaten.

Diese Unterscheidung nach der zeitlichen Dauer ist für die Wahl der Behandlungsmaßnahmen von Bedeutung. Da man bei einem plötzlich auftretenden und erst seit kurzer Zeit bestehenden Ohrgeräusch von einer akuten Funktionsstörung im Innenohr ausgeht, zielt die medizinische Behandlung darauf, die Ursache für diese Funktionsstörung zu beseitigen. Wenn dies gelingt, so kann dadurch prinzipiell auch das Ohrgeräusch wieder beseitigt werden.

Hinweis

Generell empfiehlt es sich bei akut einsetzenden Ohrgeräuschen, die nicht wieder von allein verschwinden, zur weiteren Ursachen-Abklärung unverzüglich einen HNO-Facharzt aufzusuchen. Dies gilt unbedingt dann, wenn das Ohrgeräusch zusammen mit einem „Hörsturz“ (= plötzlich einsetzende Hörminderung) auftritt.

|18|1.2.3 Kompensierter vs. dekompensierter Tinnitus (Psychische Belastung)

Nach der psychischen Belastung unterscheidet man einen kompensierten von einem dekompensierten Tinnitus (Biesinger et al., 1998):

Kompensierter Tinnitus. Für viele Betroffene hat der chronische Tinnitus keine gravierenden Auswirkungen auf Lebensqualität und Lebensführung, was als kompensierter Tinnitus bezeichnet wird (Biesinger et al., 1998).

Dekompensierter Tinnitus. Man spricht dann von einem „dekompensierten Tinnitus“, wenn der Leidensdruck bei einem chronisch bestehenden Tinnitus ausgeprägt ist und zusätzlich eine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität besteht. Für diese Patienten ist eine Gewöhnung an „ihren“ Tinnitus auch nach mehreren Jahren nicht möglich. Sowohl Denken als auch subjektives Empfinden können von der als unerträglich erlebten Lautheit sowie einer als dissonant empfundenen Tonqualität geprägt sein.

Mit den Begriffen kompensiert und dekompensiert wird also nicht das Symptom Ohrgeräusch, sondern die psychische Verfassung des Betroffenen beschrieben. Im Grunde sind die Begriffe „kompensierter und dekompensierter Tinnitus“ irreführend, weil damit nicht das Ohrgeräusch selbst gemeint ist. Damit wird vielmehr ausgedrückt, inwiefern der Betroffene selbst psychisch kompensiert ist, d. h. die Person „kommt (überwiegend) gut mit dem Ohrgeräusch zurecht“, oder auch psychisch dekompensiert ist, d. h. die Person „leidet (mehr oder weniger) stark unter ihrem Ohrgeräusch“.

Merke

Aus diesem Grund sollte man bei Tinnitus viel treffender von psychisch kompensiert oder psychisch dekompensiert sprechen.

Da die Begriffe: „kompensierter“ und „dekompensierter Tinnitus“ sehr weitgefasst sind, wurden zur genaueren Beschreibung des Ausmaßes der psychischen Belastung die in Tabelle 1 dargestellten Unterkategorien gebildet.

Die Zuordnung zu einem kompensierten oder dekompensierten Schweregrad ergibt sich aus der subjektiven psychosozialen tinnitusbezogenen Belastung, die mittels klinischen Eindrucks festgestellt und mit standardisierten störungsspezifischen Testverfahren, etwa dem „Strukturierten Tinnitus-Interview“ (STI, Goebel & Hiller, 2001) oder dem „Tinnitusfragebogen“ (TF, Goebel & Hiller, 1998; Kurzform „Mini-TF12“, Hiller & Goebel, 2004) weiter objektiviert werden kann (vgl. dazu Kapitel 1.6.2).

Beim Vorliegen einer psychischen Dekompensation i. S. eines Schweregrad 3 oder 4 (Biesinger et al., 1998) sollte man grundsätzlich von dem Vorhandensein einer |19|psychischen Komorbidität i. S. einer ICD-10/Kapitel V-Diagnose ausgehen und deshalb eine entsprechende psychodiagnostische Abklärung veranlassen bzw. durchführen (Goebel & Fichter, 2005; Weise, 2011).

Tabelle 1: Gradeinteilung der Tinnitus-Belastung nach klinischer Symptomatik (nach Biesinger et al., 1998)

Psychische Belastung durch Tinnitus

Klinische Symptomatik

Psychisch kompensiert

Schweregrad 1

Kein Leidensdruck.

Schweregrad 2

Der Tinnitus kann durch Umgebungsgeräusche verdeckt werden. Er ist bei geringen Umgebungsgeräuschen zu hören und wirkt bei Stress und emotionaler Belastung störend.

Psychisch dekompensiert

Schweregrad 3

Der Tinnitus scheint alle Geräusche zu übertönen. Man fühlt sich durch den Tinnitus im beruflichen und privaten Bereich erheblich beeinträchtigt. Ausgeprägte körperliche und psychische Störungen wie Anspannung, Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen und Konzentrationsstörungen treten auf.

Schweregrad 4

Die Beeinträchtigung ist so stark, dass es zeitweise zu großen Schwierigkeiten im privaten und beruflichen Bereich kommt. Dies kann so weit gehen, dass die Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist.

Tatsächlich sind psychische Störungen i. S. des Kapitels V der ICD-10-GM (Version 2010) bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus im Vergleich zu Kontrollpersonen aus der Normalpopulation sowie Patienten mit anderen otolaryngologischen Erkrankungen signifikant erhöht (Hiller & Goebel, 1992; Schaaf et al., 2003). In retrospektiven Befragungen zeigt sich, dass bei dem überwiegenden Anteil der untersuchten Patienten die Manifestation der psychiatrischen Störung vor Beginn oder zeitgleich mit dem Auftreten der Tinnitus-Symptomatik liegt. In der Regel handelt es sich bei diesen klinisch relevanten komorbiden Erkrankungen um affektive Störungen, in geringerem Maß um Angsterkrankungen, Störungen durch psychotrope Substanzen, Persönlichkeits- und somatoformen Schmerzstörungen. Zudem zeigen sich hohe positive Korrelationen zwischen somatoformen Störungen, hypochondrischen Beschwerden und idiopathischem Tinnitus (Konzag et al., 2005; Hiller et al., 1997). Die Lebenszeitprävalenz für die Diagnose einer klinisch relevanten Depression ist bei Patienten mit erheblicher Beeinträchtigung durch |20|den Tinnitus signifikant erhöht. Auch zeigt sich der Anteil von Patienten mit kürzlich zurückliegender Episode einer klinisch manifesten depressiven Episode signifikant über dem einer Kontrollgruppe (Konzag et al., 2005; Holgers et al., 1999). Da das Ausmaß des Leidens am Tinnitus eng mit der psychischen Komorbidität gekoppelt ist, steigt mit der Schwere insbesondere der Depressionserkrankung die Gefahr des Suizids – auch bei Patienten mit Tinnitus. Kommt eine relevante Schwerhörigkeit hinzu, scheint dies die Suizidgefahr noch einmal zu erhöhen (Goebel, 2010): Der Patient verspürt keine Hoffnung und er kann keinen Zuspruch hören, womit über die Sprache einer der wichtigsten Zugänge in der Psychotherapie erschwert oder verwehrt ist (Goebel, 2010).

Hinweis

Bei jedem diagnostischen wie auch therapeutischen Kontakt mit Tinnitus-Betroffenen sollte die aktuelle Suizidgefährdung eingeschätzt und entsprechend dokumentiert werden.

Die Art des Zusammenhangs zwischen einem hohen Leidensdruck bei chronischem Tinnitus und einer psychischen Komorbidität sollte nach den vorliegenden Ergebnissen und in Bezug auf die therapeutischen Implikationen am sinnvollsten in bidirektionaler Weise gesehen werden. Einerseits können sich bereits bestehende psychische Störungen ungünstig auf die Verarbeitung des Tinnitus auswirken und die empfundene Belästigung verstärken, andererseits können psychische Beeinträchtigungen als Folgen eines dekompensierten Tinnitus auftreten und wiederum den emotionalen Zustand des Betroffenen negativ beeinflussen.

1.3 Epidemiologie

Befragungen haben ergeben, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa 35 bis 45 % aller Erwachsenen einmal in ihrem Leben einen Tinnitus erlebt haben. Die Punktprävalenz wird mit etwa 4 % angegeben, wobei die meisten der Befragten von einem anhaltenden Tinnitus von über einem Monat Dauer berichten (Pilgramm et al., 1999). In der Altersverteilung zeigt sich eine deutliche Zunahme vom dritten bis zum fünften Lebensjahrzehnt (Meikle & Taylor-Walsh, 1983; Coles, 1984; Coles, 1995; Delb et al, 1999a, 1999b; Pilgramm et al., 1999). Die Zahl der Betroffenen mit Tinnitus, welche keinerlei Behandlung ersuchen, ist nicht bekannt, sodass keine Daten zur Inzidenz, der Rate der Spontanremission und der Chronifizierung gemacht werden können. Demnach ist neben der Genese der Störung weitgehend unklar, bei welchen Patienten ein akuter Tinnitus einen chronischen Verlauf nimmt und welche Faktoren eine Chronifizierung möglicherweise begünstigen oder mitbedingen. Nach einer Studie im Auftrag der Deutschen Tin|21|nitus-Liga liegt die Punktprävalenz in Deutschland bei 3.9 %. Demnach würden jährlich ca. 10 Millionen Neuerkrankungen an Tinnitus in Deutschland auftreten, bei ca. 250.000 Betroffenen chronifiziert das Ohrgeräusch. Insgesamt sind ca. 3 Millionen Erwachsene in der deutschen Bevölkerung von einem chronischen Tinnitus betroffen. Etwa 10 bis 20 % der Patienten mit einem chronischen Tinnitus leiden erheblich unter den Ohrgeräuschen i. S. eines „dekompensierten Tinnitus“ (Pilgramm et al., 1999; Goebel, 2010) mit komorbiden psychischen Störungen i. S. des Kapitel V der ICD-10-GM (Version 2010).

1.4 Die Pathophysiologie des subjektiven Tinnitus

Betrachtet man das Phänomen Tinnitus (patho-)physiologisch, kann Tinnitus als ein Symptom einer gestörten Hörwahrnehmung aufgefasst werden (Hesse, 2008; Gerhards et al., 2001; Schaaf et al., 2010; Weise, 2011; Kreuzer et al., 2013; Hesse, 2016; Mazurek et al., 2017). Dabei wird angenommen, dass Tinnitus durch eine Dysbalance zwischen exzitatorischen und inhibitorischen Aktivitäten sowohl auf der Ebene von peripheren als auch zentralen Schaltstellen verursacht bzw. verstärkt wird (Kreuzer et al., 2013; Hesse, 2016; Mazurek et al., 2017).

In die Entstehung von Tinnitus sind periphere und zentrale Strukturen involviert (vgl. dazu Kreuzer, Vielsmeier & Langguth, 2013):

Periphere Strukturen (Innere und äußere Haarzellen, Spiralganglien).

Zentrale Strukturen (Nuclei cochlearis ventralis und dorsalis, Colliculus inferior, oberer Olivenkomplex, Corpus geniculatum mediale, sekundärer und primärer Kortex).

Die Ursachen für die Entstehung von Tinnitus i. S. einer Fehlfunktion der Hörbahn können sehr vielseitig sein. Bei gleichzeitigem Hörverlust zeigt sich die Tinnitus-Frequenz entsprechend häufig im Bereich des größten Hörverlustes (Norena et al., 2002; Schecklmann et al., 2012), typischerweise im Hochtonbereich (Hesse, 2008, 2015).

Mazurek et al. (2017) benennen als Verursacher der Hörveränderung u. a.:

Lärm,

Entzündungen,

ototoxische Substanzen,

Stress.

Alle Formen der Höreinschränkungen können im Hörsystem als Defektmeldung eine Komplementärwahrnehmung in Form eines Tinnitus bzw. Ohrgeräusches verursachen. Am häufigsten findet sich eine Hochtoneinbuße, meist infolge von Lärmbelastung (vgl. Abbildung 1). Dabei ist der Tinnitus meist mit 5 bis 15 dB über dem Hörverlust bestimmbar:

|22|

Abbildung 1: Beidseitige Hochtonsenke mit einem beidseitigen Hochton-Tinnitus, der schwellennah (15 dB über der Hörschwelle) verdeckbar ist.

Merke: Höreinschränkungen

Relevante und versorgungsbedürftige Höreinschränkungen konnten bei weit über der Hälfte der Tinnitus-Patienten gefunden werden (Hesse, 2015). Kausale Abhilfe kann dann eine Hörverbesserung, vornehmlich durch eine angemessene Hörgeräteversorgung und – idealerweise – ein gezieltes Hörtraining erreicht werden. Auch und gerade für die Psychotherapie ist es hilfreich, zu verstehen und verstanden zu werden.

1.5 Wie kann es zum Leiden am Tinnitus kommen?

Die Wahrnehmung des Tinnitus allein erklärt noch nicht die individuelle emotionale und psychische Reaktion und ggf. das Leiden des betroffenen Menschen. Nachdem sich Patienten mit kompensiertem und dekompensiertem Tinnitus mit audiologischen und psychoakustischen Methoden alleine nicht valide voneinander differenzieren lassen, wurden in der Betrachtung des chronischen Tinnitus schon recht früh psychologische Einflussfaktoren auf den Prozess der (psychischen) Dekompensation diskutiert. Diese psychologischen Einflussfaktoren sollen nun in den folgenden Abschnitten näher beschrieben werden.

|23|1.5.1 Mangelnde Toleranzentwicklung und ausbleibende Habituation

Nach dem heutigen Kenntnisstand wird der chronische Tinnitus von der Mehrzahl der Betroffenen überwiegend gut toleriert (= emotionale Habituation) und nur gering oder gar nicht mehr wahrgenommen (= sensorische Habituation). Auf der Grundlage dieser Beobachtung formulierten Hallam et al. (1984) das Konzept der Habituierung der Aufmerksamkeit. Das Konzept sieht die Reaktion auf den Tinnitus als eine Funktion des Ausmaßes der Aufmerksamkeit, die diesem zugewendet wird. Dem Modell von Hallam (Hallam et al., 1984, 1988) liegt das Konzept des Reiz-Reaktions-Vergleichs zugrunde, das 1963 von Sokolow als Habituierung oder Habituation der Orientierungsreaktion bezeichnet wurde. Die Orientierungsreaktion wird bei diskrepantem Ergebnis („mismatch“) eines Vergleichsprozesses zwischen ankommenden sensorischen Stimuli und gespeicherten neuronalen Modellen ausgelöst. Sie besteht in einer Desynchronisation des gesamten Kortex, einer Reihe von Veränderungen psychophysiologischer Parameter (wie erhöhte Hautleitfähigkeit, Atmung, Herzfrequenz etc.), einer erhöhten Sensibilität der Sinnesorgane und Hinwendung des Organismus zur Reizquelle. Der Vorgang der Habituierung ist eng gekoppelt an die Charakteristika des Reizes. Änderungen hinsichtlich einer beschreibbaren Dimension des Reizes führen zum erneuten Auftreten der Orientierungsreaktion bzw. zur Dishabituation (Schonecke & Herrmann, 1996).

Merke: Habituation

Habituation ist ein basaler Lernprozess, der bei wiederholtem Auftreten identischer, sensorischer Stimuli einsetzt und dazu führt, dass eine anfängliche Orientierungsreaktion mit Aufmerksamkeitszuwendung, begleitet vom physiologischem Arousal, vermindert wird und ausbleibt, wenn der Stimulus keine Handlungsnotwendigkeit signalisiert.

Hallam et al. (1984, 1988) gehen davon aus, dass die Habituierung an den „internen Reiz“ Tinnitus in gleicher Weise vonstattengeht, wie die Habituierung an einen externen, wiederholt dargebotenen Stimulus. Da der Tinnitus-Reiz objektiv betrachtet keine Handlungsrelevanz besitzt, ist er als irrelevanter Reiz zu betrachten, sodass eine Habituation stattfinden kann. Vollständige Habituierung an den Tinnitus bedeutet, dass die physiologische Reaktion und Hinwendung an das Geräusch nicht mehr erfolgt, selbst wenn eine sensorische (akustische) Wahrnehmung stattfindet. Hallam et al. (1984, 1988) nehmen an, dass bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus die Orientierungsreaktion bestehen bleibt, da eine Habituierung aufgrund der Relevanz, die dem Reiz zugesprochen wird, nicht stattfinden kann. Stimulusspezifische Parameter des Tinnitus können für das Ausbleiben der Habituation oder den Effekt einer wiederholten Dishabituation nur zu einem geringen Teil verantwortlich gesehen werden, da sich Patienten mit |24|kompensiertem und dekompensiertem Tinnitus hinsichtlich der Kontinuität, Frequenz, Lautheit etc. der Ohrgeräusche nicht signifikant voneinander unterscheiden (Tyler & Baker, 1983). Für Hallam (Hallam et al., 1984, 1988) ist der Prozess der Chronifizierung ein multifaktorielles Geschehen: Die Aufmerksamkeitsfokussierung auf den Tinnitus ist der kritische Mechanismus, der als eine Funktion aus interagierenden sensorischen, perzeptuellen und individuellen, d. h. dispositionellen Faktoren sowie tinnitusbezogenen Beschwerden zu sehen ist (vgl. Abbildung 2). Auf der sensorischen Ebene spielen einige Charakteristika des Tinnitus und die individuelle Hörschwelle eine Rolle. Auf der perzeptuellen Ebene findet eine Interaktion zwischen kortikalem Erregungsniveau, konkurrierenden Aufmerksamkeitsprozessen sowie der Bedeutung der Ohrgeräusche statt. Hallam et al. (1984, 1988) gehen davon aus, dass sich ein erhöhtes kortikales Arousal hemmend auf die Habituierung auswirkt und damit zur Aufmerksamkeitsfokussierung beiträgt.

Abbildung 2: Mehrdimensionales Tinnitus-Modell (in Anlehnung an Hallam et al., 1988)

Dieser Ansatz wird auch in dem von Jastreboff formulierten neurophysiologischen Modell (Jastreboff & Hazell, 1993) verfolgt. Dieses Modell definiert den Tinnitus als das Endprodukt eines drei Stufen umfassenden pathologischen Prozesses. Aufgrund von Funktionsstörungen der Cochlea kann es zu einer Steigerung der Aktivität in der Hörbahn kommen. Das akustische Signal durchläuft, |25|bevor es wahrgenommen wird, mehrere Zwischenstationen, die verschiedene Funktionen erfüllen. Der Detektionsprozess findet i. S. einer Mustererkennung in subkortikalen Zentren statt und die Perzeption und Evaluation der mit dem Tinnitus korrelierten, neuronalen Aktivität im auditiven Kortex. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass in den genannten Strukturen Prozesse wie die Erkennung, Abschwächung und Verstärkung von Signalen geschehen. Diese Abschwächung oder Verstärkung ist davon abhängig, ob das betreffende akustische Signal für das Individuum zum gegebenen Zeitpunkt relevant ist. So ist z. B. das Ticken einer Uhr oder das gleichbleibende Brummen eines Kühlschrankes in der Regel nicht von Bedeutung und wird aus diesem Grund bereits nach kurzer Zeit „herausgefiltert“. Andererseits werden Signale, die potenziell relevant sein könnten, wie z. B. das Martinshorn im Straßenverkehr, in der Regel bevorzugt registriert. Die Differenzierung zwischen relevanten und irrelevanten Signalen ist dabei das Resultat von Lernprozessen (Erfahrungen), steht jedoch auch in Abhängigkeit zu situativen Bedingungen (z. B. Stimmungslage, persönliche Betroffenheit). Ein bislang irrelevantes Signal kann jederzeit die Bedeutung eines wichtigen Signals erhalten und ist dann entsprechend (positiv oder negativ) emotional besetzt. Es erfolgt also initial eine Bewertung eines Geräusches. Wird ein Geräusch dabei als unwichtig eingestuft, so wird es im weiteren Verlauf ignoriert. Nur subjektiv bedeutsame Geräusche werden weiter wahrgenommen bzw. in den Fokus der Aufmerksamkeit gebracht. Insbesondere Reize, die emotional besetzt sind, lösen dabei eine deutliche vegetative Reaktion aus. Übertragen auf den Tinnitus und das neurophysiologische Modell bedeutet dies, dass eine im Bereich der Hörbahn vorhandene Aktivität, die sich als Ohrgeräusch äußert, aufgrund einer erhöhten Aufmerksamkeit wahrgenommen wird und einer Bewertung unterliegt. Wird dieser (erstmals empfundene oder bestehende) Tinnitus mit einem negativ gefärbten (z. B. angstbesetzten) Empfinden assoziiert, so erhält er eine bedrohliche Qualität. Die Konsequenz ist ein dysfunktionaler und sich selbst aufschaukelnder Prozess, bestehend aus Aufmerksamkeitsumlenkung bzw. Fokussierung auf dieses als bedrohlich bewertete Signal, verstärkte Wahrnehmung des Tinnitus und eine wiederum negativ emotionale Reaktion unter Beteiligung des autonomen Nervensystems.

In Abbildung 3 wird das Zusammenspiel von auditorischen, limbischen, autonomen und kortikalen Systemen, wie es im neurophysiologischen Modell postuliert wird, dargestellt.

Trotz der Relevanz dieses Modells ist kritisch anzumerken, dass Jastreboff den Prozess der klassischen Konditionierung als hinreichenden Wirkmechanismus für die Entstehung einer hohen Belastung durch Tinnitus sieht und damit den Einfluss prämorbid vorhandener Persönlichkeitsdimensionen und Verhaltensdispositionen auf die Verarbeitung der Störung ignoriert. Demnach wäre bereits die (zufällige) Koinzidenz von Wahrnehmung des Tinnitus und negativ besetzter Gedanken und Emotionen, die mit diesem nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen |26|müssen, eine hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer hohen Belastung (Jastreboff, 1999; Jastreboff et al., 1996). Wegen der negativ gefärbten Emotionen und der damit verbundenen Aktivierung des autonomen Nervensystems käme es zu einer Reflexverstärkung und die Aufmerksamkeit bleibt auf den Tinnitus fixiert, was die subjektive Bewusstheit des Ohrgeräusches und die daraus resultierenden emotionalen Reaktionen weiter verstärkt. Nach Jastreboff (1999; Jastreboff et al., 1996) geschehen diese Prozesse bereits auf einer subbewussten Verarbeitungsebene und entziehen sich somit der (bewussten) Kontrolle des Patienten.

Abbildung 3: Das neurophysiologische Modell des Tinnitus (nach Jastreboff & Hazell, 1993)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass durch das neurophysiologische Tinnitus-Modell einige der Widersprüche aufgeklärt werden konnten, die mit der Vorstellung verknüpft waren, dass der chronische Tinnitus ausschließlich eine Erkrankung des Innenohrs sei. Das bedeutet, dass emotions- und aufmerksamkeitssteuernde zentralnervöse Strukturen, die mit dem Hörsystem in vielfältiger Weise verbunden sind, auch bei der Entstehung und bei der Generierung der Belastung durch Tinnitus eine bedeutende Rolle spielen. Insbesondere die negativen Bewertungen und emotionalen Begleitreaktionen, die den chronischen dekompensierten Tinnitus charakterisieren, sind nicht den auditorischen Strukturen zuzuordnen. Anzumerken ist, dass das neurophysiologische Modell und die in der Tinnitus Retraining Therapy (TRT) vermittelten Aspekte schon früh auch von |27|anderen Autoren postuliert wurden (Goebel, 1997). Wesentliche Vorarbeit leistete hier vor allem Hallam (Hallam et al., 1984, 1988), der in seinem „Habituationsmodell“ Tinnitus als mehrdimensionales Geschehen begreift, welches eng mit dem kognitiven und emotionalen Erleben verknüpft ist.

1.5.2 Kontrollüberzeugungen und Bewältigungsstrategien

Belastete Patienten im chronischen Stadium lassen sich durch spezifische Kontrollüberzeugungen und bestimmte dysfunktionale und maladaptive Muster der Krankheitsverarbeitung charakterisieren, die mit den Begriffen „Flucht“, „Vermeidung“ und „katastrophisierende Kognitionen“ umschrieben werden können (Schaaf et al., 2002). Die Art der Kontrollüberzeugung scheint einen moderierenden Einfluss auf die Adaptation an den Tinnitus zu haben, insofern sie Art und Umfang der angewendeten Bewältigungsstrategien mitbestimmt (Delb et al., 1999a, 1999b). Demnach sehen Individuen mit externaler Kontrollüberzeugung keine selbstimmanenten Möglichkeiten, ihre Störung zu beeinflussen, fühlen sich dem Ohrgeräusch hilflos ausgeliefert und wenden aus der Konsequenz dieser Einstellung keine funktionalen Bewältigungsstrategien an. Da sich Individuen mit unterschiedlich starker Tinnitus-Belastung hinsichtlich ihrer krankheitsbezogenen Kontrollüberzeugungen nicht signifikant (illness locus of control; vgl. von Osterhausen, 2001) voneinander unterscheiden, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich hier nicht um das Ergebnis individueller Krankheitserfahrungen handelt. Die Überprüfung der Hypothese mittels prospektivem Studiendesign, dass diese allgemeinen Kontrollüberzeugungen als prämorbid bestehende Variable Einfluss auf das Maß der erlebten Beeinträchtigung nehmen und damit zu einem dekompensierten Tinnitus führen, steht noch aus.

In einer Arbeit von Delb et al. (1999a, 1999b) wurden unter Berücksichtigung der beschriebenen Wirkfaktoren mittels Faktorenanalyse die möglichen Ursachen der Entstehung einer hohen Tinnitus-Belastung erfasst. Die Ergebnisse lassen sich in einem hypothetischen Modell der Entstehung von hoher und niedriger Tinnitus-Belastung abbilden (vgl. Abbildung 4).

Es lassen sich drei Faktoren identifizieren. Der Faktor 1 enthält eine Reihe von Variablen, die sich negativ auf die Krankheitsverarbeitung und -bewältigung auswirken. Der Faktor 2 enthält hingegen funktionale Verarbeitungsstrategien, die protektiv wirken und zur Reduktion der Tinnitus-Belastung führen. Faktor 3 enthält alle Unterscores des Tinnitusfragebogens (Goebel & Hiller, 1998) und kann als Maß der Tinnitus-Belastung definiert werden. Der fehlende direkte Zusammenhang zwischen diesen beiden Faktoren und der Tinnitus-Belastung weist auf vorbestehende, nicht durch den Tinnitus selbst verursachte Verarbeitungsmechanismen hin. Das Modell verdeutlicht, dass Tinnitus-Belastung und Variablen der Stress- und Krankheitsverarbeitung indirekt über den Faktor Depressivität mitei|28|nander in Beziehung stehen. Depressivität korreliert wiederum hoch mit der erlebten Beeinträchtigung durch den Tinnitus.

Abbildung 4: Multifaktorielles Modell der Entstehung von hoher und niedriger Tinnitus-Belastung (nach Delb et al., 1999b)

1.5.3 Persönlichkeitsmerkmale

Eine Reihe von Studien hat sich mit der Rolle von Persönlichkeitsmerkmalen als prädisponierende oder aufrechterhaltende Variable im Dekompensationsprozess des Tinnitus beschäftigt. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass sich Tinnitus-Patienten mit unterschiedlicher Symptomausprägung in Bezug auf die Beeinträchtigung und die Folgen der Ohrgeräusche hinsichtlich bestimmter Persönlichkeitsdimensionen unterscheiden lassen. Darüber hinaus implizierte die Suche nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen zum Teil auch die Frage nach einer definierten Persönlichkeitsstruktur („Tinnitus-Persönlichkeit“), die als Prädisposition zur Entwicklung eines dekompensierten Tinnitus verstanden werden könnte (Schneider et al., 1994).

Die Datenlage weist insgesamt darauf hin, dass Patienten mit dekompensiertem Tinnitus vermehrt unter somatischen Beschwerden und Beeinträchtigungen relevanter psychischer Funktionen leiden und insbesondere in den Dimensionen |29|Depressivität und Angst auffällige Werte aufzeigen. Dabei korreliert der Grad der Depressivität signifikant mit dem Ausmaß der Tinnitus-Belastung (Delb et al., 1999a, 1999b; Scott & Lindberg, 2000). Andere Autoren berichten über erhöhte Neurotizismusscores sowie erhöhte Werte auf der Skala Extraversion (Wood et al., 1983; Schneider et al., 1994), die sie mit einem erhöhten Maß an „Klagsamkeit“ in Verbindung bringen. Verschiedene Studien zeigen auch einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, dem Ausmaß der empfundenen Selbsteffizienz und dem Umgang mit Belastungen (Attias et al., 1995; Budd & Pugh, 1995, 1996). Unbelastete Patienten mit chronischem Tinnitus unterscheiden sich in den oben genannten Dimensionen nicht oder nur geringfügig von Kontrollgruppen (vgl. Kirsch et al., 1989). Die konzeptionelle Ähnlichkeit des Krankheitsverhaltens bei dekompensiertem Tinnitus mit Somatisierung und somatoformen Störungen lassen vermuten, dass derartige Tendenzen von Bedeutung im Dekompensationsprozess bzw. im Prozess der Chronifizierung des Tinnitus sein können (vgl. Rief & Hiller, 1992; Hiller et al., 1997; Myrtek, 1998). Demnach führen nosophobische Tendenzen und verstärkte Interozeption über Aufmerksamkeitsfokussierung zu einem Ausbleiben der Habituation und zu einer verstärkten Wahrnehmung und Belästigung durch den Tinnitus (Hallam et al., 1984, 1988).

Die Ergebnisse weisen insgesamt darauf hin, dass Patienten mit chronischem dekompensiertem Tinnitus eine klinisch auffällige Gruppe darstellen. Insbesondere die Persönlichkeitsdimensionen Ängstlichkeit, Depressivität und Somatisierungstendenz scheinen mit dem Ausmaß der empfundenen Belästigung zu korrelieren und an dem Prozess der Dekompensation beteiligt zu sein. Kompensierte Patienten unterscheiden sich in ihrem psychologischen Profil hingegen nicht von Kontrollpersonen.

1.5.4 Vulnerabilitätsmodell

Zu den Erklärungsmodellen der unterschiedlichen Belastungsgrade durch das Auftreten eines chronischen Tinnitus zählt das von Hiller und Goebel (1992) formulierte Vulnerabilitätsmodell (vgl. Abbildung 5). In diesem wird der auftretende Reiz Tinnitus als ein potenzieller Stressor betrachtet. Das individuelle Vulnerabilitätsniveau bestimmt nun, ob bei der Konfrontation mit diesem potenziellen Stressor eine kritische Belastungsschwelle erreicht wird und zur Dekompensation mit Manifestation einer psychischen Störung führt. Unter diesem Gesichtspunkt kann bei entsprechender Vulnerabilität auch ein nach objektivierbaren Kriterien „geringfügigerer“ Tinnitus zu einer Dekompensation führen.

In der Überarbeitung des Konzepts (Lindberg & Scott, 1999) wurden soziale Faktoren stärker berücksichtigt, sodass sich das Vulnerabilitätsniveau als eine Funktion aus relativ stabilen, auf das Individuum bezogenen Charakteristika und externen, in der sozialen Umwelt definierten Faktoren darstellen lässt. Es beinhaltet |30|interindividuelle Unterschiede im Umgang mit neuen Situationen, Bewältigungsstile und Kontrollüberzeugungen, welche dieses Vulnerabilitätsniveau ebenso beeinflussen können wie bereits vor bzw. zu Beginn des Tinnitus bestehende psychische Beeinträchtigungen, ungünstige Lebensumstände und andere Stressoren.

Abbildung 5: Vulnerabilitätsmodell (in Anlehnung an Hiller & Goebel, 1992)

Versteht man den Tinnitus selbst als „Stressor“, kann man in der Stressbegrifflichkeit weiterdenken, dass zusätzliches „Stresserleben“ – aus anderen Quellen – die tinnitusspezifische Habituation behindert (Kröner-Herwig et al., 2010; Jäger et al., 1998; Svitak et al., 2001). So konkurrieren in diesem Modell „jede denkbare Form von Belastung im privaten oder beruflichen Bereich, z. B. auch psychische Störungen“ und der Tinnitus um die gleichen Bewältigungsressourcen. Der Tinnitus und die zusätzliche Belastung bilden dann die Bedingung für die misslungene Krankheitsbewältigung und Dekompensation (Kröner-Herwig et al., 2010).

Weitere Modellvorstellungen zur Entstehung einer hohen psychischen Belastung i. S. eines dekompensierten Tinnitus (nach Biesinger et al., 1998) finden sich in Kapitel 3.1.2 (aus verhaltenstherapeutische Sicht), in Kapitel 4.1.1 (aus psychodynamischer Sicht) und in Kapitel 5.1.2 (aus hypnotherapeutischer Sicht).

1.6 Grundlegende Diagnostik bei chronischem Tinnitus

Die Diagnostik des chronischen Tinnitus dient zur Klärung der zugrunde liegenden Pathogenese und der Auswirkungen des Tinnitus auf das Befinden und das soziale Umfeld des Patienten. Durch die Erhebung dieser Daten soll der Schwere- |31|und der Belästigungsgrad sowie die Sekundärsymptomatik abgebildet werden. Darauf aufbauend soll das weitere therapeutische Vorgehen geplant werden, z. B. ob eine apparative Versorgung sinnvoll sein könnte oder ob der Patient einer tinnitusspezifischen psychotherapeutischen Intervention bedarf.

1.6.1 Grundlegende HNO-Diagnostik

Auf der HNO-Seite müssen als erstes relevante Höreinschränkungen und möglicherweise therapierbare Erkrankungen wie eine Otosklerose, ein Cholesteatom, eine Perilymphfistel, eine Bogengangsdehiszenz oder ein Tumor (Akustikusneurinom) erkannt bzw. ausgeschlossen werden. Ebenso sollten „objektive“ Tinnitus-Formen identifiziert werden, selbst wenn sich keine kurativen Maßnahmen ergeben.

Nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde aus dem Jahr 2015 (vgl. AWMF-Leitlinie, 2015) sollten möglichst folgende Untersuchungen durchgeführt werden:

HNO-ärztliche Untersuchung einschließlich Trommelfellmikroskopie, Nasopharyngoskopie, Tubendurchgängigkeit.

Orientierende neurologische Untersuchung.

Auskultation des Ohres und der A. carotis, insbesondere bei pulssynchronem Ohrgeräusch.

Tonaudiometrie mit Luft- und Knochenleitung.

Unbehaglichkeitsschwelle, ggf. mit kategorialer Lautheitsskalierung.

Bestimmung von Tinnitus-Lautheit und Frequenzcharakteristik mittels Schmalbandrauschen und Sinustönen.

Ebenfalls aufgeführt werden

Bestimmung des minimalen Maskierungspegels mit weißem Rauschen und Sinustönen.

Ggf. Maskierungskurven nach Feldmann und Bestimmung der Residualinhibition/metachronen Tinnitus-Inhibition.

Tympanometrie und Stapediusreflexe einschließlich Aufzeichnung möglicher atem- oder pulssynchroner Veränderungen.

TEOAE und DPOAE.

Orientierende Vestibularisprüfungen, ggf. einschließlich kalorischer Prüfung.

Orientierende, funktionelle Halswirbelsäulendiagnostik und Untersuchung des Gebisses und des Kauapparates in stiller Umgebung zur Erfassung von Tinnitus-Modulationen.

Orientierende Funktionsprüfung des N. facialis.

Gegebenenfalls muss eine Kernspintomografie des Schädels zur Abklärung retrocochleärer Schäden, bei einseitiger Taubheit, bei Hinweisen auf ein zentral-auditorisches Geschehen oder bei neurologischen Erkrankungen erfolgen. Eine digitale |32|Subtraktionsangiografie oder Angiografie/Angio-MRT/Angio-CT des zerebrovaskulären Systems kann bei einem pulssynchronen Tinnitus notwendig werden.

1.6.2 Grundlegende psychologische Diagnostik

Zu einer strukturierten Erfassung von relevanten tinnitusbezogenen Informationen bietet sich das Strukturierte Tinnitus-Interview (STI, Goebel & Hiller, 2001) an. Das STI erhebt medizinische und psychologische Informationen in Form eines strukturierten und halbstandardisierten Interviews und berücksichtigt Daten zur Anamnese und Ätiologie des Tinnitus. Es kann zur grundlegenden therapeutischen Befunderhebung und zur Planung weiterer diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen eingesetzt werden. Das STI ist in folgende Abschnitte unterteilt:

Persönliche Daten,

Tinnitus-Anamnese,

mit Tinnitus assoziierte Problemfelder,

ätiologische Faktoren des Tinnitus,

psychologische Aspekte des Tinnitus,

bereits durchgeführte therapeutische Maßnahmen.

Zur psychologischen Anamnese und Planung der therapeutischen Intervention sind die 20 Fragen (Nr. 37 bis 57) aus dem fünften Abschnitt des STI: „Psychologische Aspekte des Tinnitus“ relevant. Dieser Abschnitt umfasst folgende Punkte:

Hörbeeinträchtigung durch den Tinnitus (H),

Penetranz des Tinnitus (P),

Entspannungs- und Schlafstörungen (E/S),

Emotionale Belastungen (E),

Dysfunktionale Kognitionen (DK),

Psychosoziale Beeinträchtigungen (PS),

Berufliche Beeinträchtigungen (B).

Der Patient wird z. B. gefragt, ob:

die Lautheit des Tinnitus ihn stört, an Unterhaltungen mit anderen Menschen teilzunehmen (H);

der Tinnitus auch bei interessanten Tätigkeiten nicht „überhört“ wird (P);

wegen des Tinnitus Schlafstörungen bestehen (E/S);

der Patient wegen des Tinnitus niedergeschlagen bzw. gereizt ist (E);

dem Tinnitus die Schuld an all seinen Schwierigkeiten gegeben wird (DK);

sich der Patient von sozialen Aktivitäten bzw. von Freunden oder Bekannten zurückgezogen hat (PS);