Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt - E-Book

Montag oder Die Reise nach innen E-Book

Peter Schmidt

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Beschreibung

Der begabte Schüler Marc Herzbaum soll auf Wunsch seiner Eltern Physiker werden, doch seine wahre Liebe gilt der Malerei. Eine Vorliebe, die seine Eltern nicht teilen. Überhaupt haben sie weder Zeit noch Sinn, sich mit seinen, für einen Jugendlichen typischen Fragen zu Leben, Liebe und Tod zu beschäftigen. Heimlich geht er jeden Tag ins Museum, um die Bilder seines verehrten Meisters Hieronymus Bosch zu studieren. Dort macht er die Bekanntschaft des schon betagten Museumswächters Alexander Montag, in dem Marc zu seiner Überraschung einen jener alten weisen Lehrmeister des Lebens kennenlernt, wie sie die Geschichte wohl nur wenige Male und in großen Zeitabständen hervorbringt. –– Fernab jeder unglaubwürdigen Esoterik oder oberflächlichen Mainstream-Psychologie entdeckt er nach und nach die Prinzipien des Positiv- und Negativseins im Leben, der tiefgreifenden inneren Veränderung zu immer feineren Wahrnehmungsebenen von Gefühlen, Gedanken, Bewertungen, die plötzlich in unerhörtem Maße und in einer Weise lenkbar werden, von der der Alltagsmensch nichts ahnt ...

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Peter Schmidt

Montag oder Die Reise nach innen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

ÜBER DEN AUTOR

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Weitere Titel zum Thema (Sachbuch)

Weitere Titel (Belletristik)

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Der begabte Schüler Marc Herzbaum soll auf Wunsch seiner Eltern Physiker werden, doch seine wahre Liebe gilt der Malerei. Eine Vorliebe, die seine Eltern nicht teilen. Überhaupt haben sie weder Zeit noch Sinn, sich mit seinen, für einen Jugendlichen typischen Fragen zu Leben, Liebe und Tod zu beschäftigen. Heimlich geht er jeden Tag ins Museum, um die Bilder seines verehrten Meisters Hieronymus Bosch zu studieren. Dort macht er die Bekanntschaft des schon betagten Museumswächters Alexander Montag, in dem Marc zu seiner Überraschung einen jener alten weisen Lehrmeister des Lebens kennenlernt, wie sie die Geschichte wohl nur wenige Male und in großen Zeitabständen hervorbringt.

Fernab jeder unglaubwürdigen Esoterik oder oberflächlichen Mainstream-Psychologie entdeckt er nach und nach die Prinzipien des Positiv- und Negativseins im Leben, der tiefgreifenden inneren Veränderung zu immer feineren Wahrnehmungsebenen von Gefühlen, Gedanken, Bewertungen, die plötzlich in unerhörtem Maße und in einer Weise lenkbar werden, von der der Alltagsmensch nichts ahnt ...

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ÜBER DEN AUTOR

Peter Schmidt, geboren in Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers, John le Carré, als einer der führenden deutschen Kriminalautoren des Genres. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Medizinthriller, SF- und Wissenschaftsthriller, Psychothriller und Detektivromane und mehrere Sachbücher über mentale Veränderung.

Bereits dreimal erhielt er den Deutschen Krimipreis („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.

1

Wage dich an den äußersten Rand des Nichtanhaftens. Völliges Nichtanhaften ist nicht möglich, nicht einmal für einen kurzen Augenblick, wie etwa bei der Wahl des Freitods. Denn auch das, was im Nichtanhaften angestrebt wird, ist ein Wert, an dem man haftet. Anders ausgedrückt: Nichtanhaften ist selbst ein Anhaften.

A. Montag

Mein Vater und meine Mutter hätten niemals eingewilligt, dass ich mich freiwillig und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte – was man so geistige Kräfte nennt – auf ein derart unsicheres Terrain wie die Kunst wagte.

Und sei es nur, um Kunstgeschichte zu studieren und damit irgendeine versteckte Absicht zu verfolgen, wie insgeheim Maler zu werden – »Kunstmaler«, wahrscheinlich dachten sie sogar an »Straßenmaler« oder dergleichen, jedenfalls aber an eine Form von Hungerleiderdasein …

Also gab ich vor, Physiker werden zu wollen – jemand, der mit Materie, Energie und mathematischen Formeln auf der internationalen Bühne der Wissenschaft jonglierte wie ein Artist in der Zirkusarena.

Und als Nebenstudium würde ich Kunst belegen. Zwei Fächer, die sich wunderbar ergänzten.

Mit dem einen drang man in die tiefsten Geheimnisse der Materie und des Universums ein, mit dem anderen in die Ästhetik und die Welt des Gefühls, das den Menschen eigentlich ausmacht. Obwohl ich damals gerade sechzehn geworden war, bereitete ich mich mit großem Ernst auf mein Studium vor. Ich war alles andere als perfekt. Ich war ein Torso.

Aber im Unterschied zu meiner Familie – was man so Familie nennt – hatte ich wenigstens die Absicht, mich zu verändern.

Wir waren erst vor fünf Tagen in das neue Haus im Zentrum eingezogen. Genauer gesagt: meine Eltern waren dort eingezogen, denn ich selbst hätte niemals freiwillig die Idylle des alten Felssteinbaus auf dem Land verlassen.

Vor den Fenstern standen hohe Apfel- und Birnbäume, es war wunderbar schattig, die Sonne knallte einem niemals ins Gesicht. Und der ganze Bau war wie ein großer Weinkeller – etwas muffig, kühl und wegen seiner dicken Wände fast so sicher wie ein Atombunker.

Ich war mit ihnen gegangen, weil ein Fünfzehnjähriger – wir zogen einen Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag um – nun einmal keine andere Wahl hat, wenn er nicht auf der Straße oder bei den Behörden landen will. Ich ließ es mir zwar nicht anmerken, das wäre unter meiner Würde gewesen, diese Familie hatte schon genug mit sich selbst zu tun, aber ich war auch nicht bereit, mich wegen des Umzugs zu überschwänglichen Kommentaren hinreißen zu lassen.

Oberhaupt hatte entschieden: Geld vor Idylle. Nicht, weil er nur noch an den Mammon dachte, wie man leicht unterstellen könnte, sondern weil er etwas nachjagte, das sich nur ganz vage in seinem Bewusstsein abzeichnete, von dem selbst er nicht wusste, was es war: ein Ziel ohne Gestalt und klare Konturen. Irgend etwas, das unbedingt erreicht werden musste, ein unbekannter Zweck.

Geld war wirklich nur ein Mittel für ihn. Trotzdem würde er erst damit aufhören, wenn er eine Milliarde auf dem Konto hatte. Obwohl einem eine Milliarde wenig erschien im Vergleich zu den anderen Geschäftemachern, die immer noch besser waren und es noch »richtiger« machten als man selbst.

Er selbst war genauso wie sein Ziel. Er war ein geldmachender Schatten, seltsam unkörperlich, ungreifbar. Oder besser gesagt: er war durchsichtig. Sie kennen vielleicht diese Leute, die so merkwürdig gläsern wirken, als seien sie gar nicht anwesend?

Die alternde Squaw ging unterdessen ihren politischen Geschäften nach. Sie versuchte ihre Kontrahenten im Parlament davon zu überzeugen, dass man seine Quecksilberbatterien nicht mal in spezielle Sammeltonnen warf.

Weil dann nämlich ein paar gewissenlose Geschäftemacher den gutgläubigen Bürger dazu missbrauchten, aus dem Zeug eine Menge anderer giftiger Dinge herzustellen, die in der Rüstung oder in obskuren Forschungslabors landeten. Man gab sie lieber an alternative kleine Klitschen weiter, die verantwortungsvoller damit umgingen.

Ich weiß nicht, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch so etwas wie ein Sexualleben hatte. Falls ja, dann hielt sie es sorgfältig geheim. Vielleicht ließ sie es auch einfach bei Benns ernüchternder Erkenntnis bewenden, die Ehe sei eine Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebs.

Das Ganze ist mehr und mehr zu einem kollektiven Zwang geworden. Legt man keinen Wert mehr darauf, fühlt man sich nicht vollständig, obwohl es ja möglich wäre, dass man das gleiche Vergnügen auch auf anderen Gebieten empfindet und deshalb als guter Kaufmann (der wir alle sind), gar keinen Verlust macht. Ich glaube, die Politik hatte vollständig ihre Sexualität ersetzt.

Und zwischendurch verwaltete sie den Haushalt, jagte mit dem Kleinwagen von einem Supermarkt zum anderen, um den billigsten Salatkopf zu ergattern, sprayte umweltfreundliche Reinigungsmittel aus dem Handzerstäuber auf die Fensterscheiben und versorgte ihre mehr oder weniger wohlgeratenen Kinder.

Oberhäuptling war der Meinung, seine Konkurrenten in der Baubranche seien bei der Auftragsvergabe im Vorteil, weil sie im Zentrum arbeiteten. Fünfunddreißig Kilometer Anfahrt vom freien Land wären nur per Hubschrauber zu bewältigen.

Wenn man einmal den Standpunkt des Merkantilismus verinnerlicht hat, kommen einem solche Gedanken selbst noch beim Zähneputzen oder beim Abtasten der Hämorrhoiden.

Und an Hämorrhoiden litt er, seitdem er sich bloß noch zwischen Schreibtisch und Bett bewegte, wie nur ein armes Individuum mit verstopftem Darmausgang leiden kann. Nicht an der gewöhnlichen, sondern an der großen, schmerzhaftesten Form, die von den Ärzten der Universitätsklinik »Granatapfel« genannt wurde.

Also hatte er in seinem vierundfünfzigsten Lebensjahr zwei Blocks vom Bauamt und von der verkehrsumtosten Einkaufszone entfernt ein vierzehnstöckiges Hochhaus mit außenlaufenden Fahrstühlen hochgezogen – das repräsentativste neue Gebäude der Stadt, obwohl es wie ein Fremdkörper zwischen dem Bahngelände und den niedrigen Häusern aufragte.

Es bestand ausschließlich aus naturbelassenem Beton, Holz und Glas, von den Wasser- und Elektroinstallationen und den an den Fassaden entlangjagenden Fahrstühlen natürlich abgesehen. So konnte er bequem zu Fuß gehen. Die Betonung liegt auf konnte. Er ließ sich trotzdem in seinem schwarzen Mercedes zur Arbeit chauffieren.

In den ersten Tagen nach unserem Einzug stand ich oft am Fenster und sah zum Nationalmuseum hinüber – ungeduldig und in ständiger innerer Anspannung wegen all der Entdeckungen, die dort auf mich warteten.

Zwischen der Gemäldegalerie und dem Haus lag nur der verwilderte Garten, in dem pausbäckige Engel und Teufel mit abgeschlagenen Nasen standen, als seien sie wahllos von einer Hand aus den Wolken dort hingestreut worden.

Durch die Scheiben konnte ich den glänzenden hellbraunen Parkettboden des Museums sehen: so deutlich, als rieche man das Bohnerwachs. In diesem Teil des Anbaus waren die alten Meister untergebracht.

Es waren nicht nur die Bilder, die mich interessierten, sondern auch der merkwürdige grauhaarige Museumswächter im Hauptsaal …

Manchmal sah ich nur seine Hosenbeine durch das Fenster. Er war sicher schon über sechzig Jahre alt und strahlte Ruhe und Würde aus. In seinen Bewegungen lag trotz aller Einfachheit etwas Aristokratisches.

Vielleicht war es auch nur die Weisheit, die manche Menschen angeblich in diesem Alter erreichen, wenn sie sich ernsthaft darum bemühen.

Sein Blick war immer freundlich und teilnahmsvoll, als habe er Verständnis für die Leiden der menschlichen Kreatur, gleichgültig, ob man selbst dafür verantwortlich war oder nur das Opfer widriger Umstände oder irgendeiner inakzeptablen Form der Naturkausalität. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, dessen Bewegungen so gewandt und harmonisch waren, und das, obwohl er eigentlich meist auf dem Stuhl an der Kordelabsperrung saß. Von dort aus konnte er den ganzen Saal überblicken, ohne die Besucher beim Betrachten der Gemälde zu stören.

An seinem Revers klemmte das polierte Messingschild des Museums.

Bei meinen ersten beiden Besuchen hatte ich seinen Namen nicht genau entziffern können. Irgend etwas wie Montauk oder Montag …

Sobald er sich auf dem Stuhl niederließ, schien er zur Verkörperung der Ruhe zu werden. Es war fast beängstigend, welche Kraft dann von ihm ausging, obwohl er eher schlank, ja schmächtig wirkte.

Manchmal waren seine Augen geschlossen und sein Kopf leicht nach vorn geneigt, als schlafe er. Aber ich hatte herausgefunden, dass er niemals schlief. Er war hellwach. Man sieht einem Menschen an, ob er geschlafen hat, wenn er die Augen öffnet.

Im Nebenzimmer heulte ein Plattenspieler auf. Meine Deckenlampe begann zu pendeln und das Barometer fiel von der Wand. Es landete mit einem Knall auf meinen Kunstbüchern. Die tiefen Bässe der Boxen versetzten das alte Haus mit seinen Holzböden in Schwingungen.

Anja war am selben Tag neunzehn geworden wie ich sechzehn (irgendein verdammter Witz der Vorsehung) und studierte Gesang und Musik. Obwohl sie die Sache nicht allzu ernst nahm, zumindest, was die klassische Musik anbelangte.

Anscheinend legte man es in ihrem Alter immer noch darauf an, sein Gehör zu ruinieren und alle Welt mit wimmernden Schnulzen aus Michael Jacksons elektronischen Musiklabors zu tyrannisieren.

Wenn ich jetzt nach nebenan ging, um meine Schwester um etwas mehr Ruhe zu bitten, würde sie garantiert wieder anzügliche Bemerkungen über mein Sexualleben machen und mich fragen, ob ich »nur zwei Finger oder die ganzen Hand« dazu gebrauchte. Wie denn mein Orgasmus sei? Lang und anhaltend oder kurz? Versetzte er meinen ganzen Körper in Schwingungen – oder nur »das Ding da« – the dinky thing, wie sie gern hinzufügte.

Dabei würde sie mich mit diesem unsäglich mitleidigen Grinsen ansehen, bei dem ihre schönen dunklen Augen so gebrochen dreinblickten wie ein toter Schellfisch.

Anja führte ein Leben, das sich hauptsächlich zwischen Boutiquen, Diskotheken und den Cafeterias der Universität abspielte. Immer ein gutes Stück entfernt von den Seminarräumen und Vorlesungssälen. Und mit der entsprechenden Menge von Studenten, die scharf auf sie waren und das auch ständig zum Ausdruck brachten. Ich fragte mich ernsthaft, ob sie sich jemals einen Hörsaal von innen angesehen hatte.

Als ich zum Mittagessen nach unten ging, brach der Lärm abrupt ab. Dann ertönte ein langanhaltender Schrei. Gleich darauf flog die Tür auf, und Anja stürzte an mir vorüber nach unten.

»Hab’ ich dir nicht gesagt, tu das nie wieder?« rief sie, als sie im Esszimmer angelangt war. »Ich bringe dich um. Ich erwürge dich mit bloßen Händen …«

Ein Stuhl kippte auf den Boden.

»Sie tut’s wirklich. Die kleine Nutte bringt mich um«, jammerte Rolo. Meine Mutter hatte unbedingt im reifen Alter von zweiundvierzig Jahren noch ein weiteres Kind zur Welt bringen müssen.

Er riss sich los und verschwand wieselflink unter dem Tisch. Wegen der herabhängenden Tischdecke konnte man nicht erkennen, wo er sich gerade befand.

Ich setzte mich an meinen Platz und begann gelangweilt die Frankfurter Allgemeine zu studieren. Es war nur wieder eine der üblichen kleinen Familienszenen, eine Art Overkill des Familienlebens.

Es gab keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Man konnte nur abwarten, bis die Kräfte, die für ihre Gedanken verantwortlich waren, zufällig jene indeterminierten Quantensprünge machten, die von der Physik als das wahre Prinzip der Mikrophysik angesehen wurden: Zufall und Chaos. Oder allenfalls noch statistische Wahrscheinlichkeit.

»Warum hilfst du mir nicht, du verdammter Ignorant?«, fragte Anja und trat wahllos mit dem Fuß gegen das Tischtuch. »Eines Tages wird sich das kleine Ungeheuer auch dich vornehmen, dann gnade dir Gott …«

»Mal bin ich ein Ignorant und mal mische ich mich in deine Angelegenheiten ein.«

»Er war wieder in meinem Zimmer.«

»Schließ einfach die Tür ab …«

»Ich hab’ nur ein bisschen nach dem Rechten gesehen«, erklärte Rolo unter dem Tisch.

»Was hast du denn in meiner Tasche zu suchen gehabt?«

Sicher irgend etwas, das Mädchen für Jungen interessant machte, dachte ich. Liebesbriefe, Tagebücher. So würde die Sache noch bis in alle Ewigkeit weitergehen, abgeschmackt und ohne jedes Gefühl für Würde. Wir waren keine Familie, die sonderlich aus dem Rahmen fiel. Wir waren eine stinknormale Familie, gewöhnlich und roh wie ein unbehauener Holzklotz.

Wahrscheinlich leiden alle Familien auf der Welt an irgendwelchen speziellen Verrücktheiten. Meine Mutter zum Beispiel litt schrecklich unter der Vorstellung, dass die Ressourcen der Erde versiegen könnten. Sie wurde von der fixen Idee geplagt, künftige Generationen verfügten über kein Erdöl mehr und müssten ihren Kaffee mit verseuchtem Wasser kochen. Sie war bemerkenswert hellsichtig in einer Zeit, in der der Club of Rome gerade seine Studie über »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht hatte.

Irgendein überdrehter Psychiater, den mein Vater für sie konsultierte (sie selbst wäre niemals auch nur in die Nähe seiner Praxistür gekommen), war der Meinung, es handele sich um einen schwer behandelbaren existentiellen Konflikt. Eifersucht, Frigidität, Depressionen: kein Problem.

Aber bei den Existenzkrisen seien die Überzeugungen genauso fest verwurzelt wie bei Paranoia. Er riet ihr, in die Politik zu gehen.

»Sie wollen, dass ein seelisch kranker Mensch in die Politik geht, um gesund zu werden?«, fragte mein Vater.

»Das wäre eine durchaus gängige Form der Selbstbehandlung«, bestätigte er.

Ich stand gähnend auf, legte die Zeitung weg und ging zur Tür, ohne die anderen noch eines Blickes zu würdigen.

Im Flur kam mir Hanna mit einem Tablett aus der Küche entgegen. Vermutlich hatte sie wieder eines ihrer hochexplosiven Gemische im Dampfkochtopf angerichtet, durch das sie unsere Gesundheit auf Trab brachte. Je mehr Vitamine und Mineralien, desto besser, und das gelang am besten, wenn kein einziges Molekül davon durch den offenen Deckel entfleuchen konnte.

Das Gesicht meiner Mutter sah nach dem Kochen immer gerötet und verschwitzt aus. Manchmal verlief die schwarze Wimperntusche so in ihren Krähenfüßen, dass man glauben konnte, an ihren Augenwinkeln klebten kleine südamerikanische Skorpione.

Sie war gerade mal dreiundfünfzig, aber ich fand, dass ihr die Arbeit im Parlament nicht bekam. Sie übernahm sich damit.

»Hallo, wohin des Weges?«, erkundigte sie sich. »Wir essen gleich. Oder hat unser kleiner Outcast schon wieder die Nase voll von unserer Familie?«

2

Wenn ich das Nationalmuseum betrat, saß er meist auf seinem einfachen Holzstuhl an der Wand, dem Narrenschiff von Hieronymus Bosch gegenüber, das eine vielbewunderte Leihgabe des Louvre war. Es zeigt eine ziellos auf dem Meer schwimmende Barke, vollbesetzt mit Verrückten, die essen, trinken, musizieren, sich streiten.

Einer klettert mit seinem Messer am Mast hoch, wo ein Braten hängt, doch keiner scheint auf den Gedanken zu kommen, bis zu dem an der Mastspitze angebundenen Strauch zu klettern, in dem eine Eule – der Vogel der Weisheit – sitzt.

Trotz seines altmodischen Motivs schien es mir ein ganz modernes Gemälde zu sein, das einen tragischen Sinn für das Unglück des menschlichen Lebens offenbarte.

Es war eines meiner Lieblingsbilder, nicht nur wegen der harmonischen, in feinsten Braun- und Beigetönen abgestimmten Farbkomposition und seiner an Karikaturen gemahnenden menschlichen Gestalten.

Es war dieselbe Verlorenheit an die Welt, die ich auch in meiner Umgebung wahrnahm. Ich schlich mich jedes Mal mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung aus dem Haus, wenn ich in die Galerie ging, denn fünf oder zehnmal dasselbe Museum zu besuchen, hätte mein Versprechen, mich einem handfesten Gewerbe wie dem des Physikers zu verschreiben, sofort als Lüge entlarvt.

Ich weiß nicht, ob Montag – merkwürdigerweise hieß er wie der erste Tag der Woche – mich wiedererkannte.

Er sah so freundlich lächelnd durch mich hindurch, als sei ich klares Glas. Einen Moment lang irritierte mich sein Blick, weil ich argwöhnte, ich könnte bereits die Physiognomie meines Vaters angenommen haben, der ebenfalls aus Glas war.

Doch als ich weiterging, streifte ich diesen Eindruck ab wie einen lästigen Gedanken, den man denken konnte oder auch nicht. Es war lediglich eine Frage der Macht, die der Geist über seine eigenen Vorstellungen erlangte.

In der Halle nebenan befand sich ein noch berühmteres Bild aus dem Prado in Madrid: Boschs Triptychon Der Garten der Lüste.

Die Wanderausstellung mit seinen Bildern blieb nur für kurze Zeit in der Stadt, deshalb nutzte ich jeden unverdächtigen Augenblick, um soviel wie möglich davon aufzunehmen: das ganze Spektrum der Ausschweifungen, den Hexenkessel der Gefühle und Begierden, das Jüngste Gericht, die Höllenstrafen, die Todsünden, die Versuchungen mit ihren grausam-angstvollen Phantasien.

Seine Gestalten waren Personifikationen von Lastern, Ausgeburten der Unterwelt in monströser Hässlichkeit. Abenteuerliche Tiergestalten dienten den Menschen als Reittiere. Liebende und sich vereinigende Menschen schwammen in Muscheln, waren in Früchten und gläsernen Käfigen gefangen. Teufel in Tiergestalt, Bestien, fratzenhafte Gnome verrichteten ihr erbarmungsloses Geschäft.

Wuchernde Pflanzen (und immer wieder Erdbeeren, Erdbeeren für die sinnliche jungfräuliche Vulva), Fruchtblasen, überproportional abgebildete Tiere symbolisierten die verschiedenen Sünden und Vergehen: der Rabe den Unglauben, der Pfau die Eitelkeit, der Ibis, der die toten Fische fraß, vergangene Vergnügen.

Frage ich mich heutzutage (als alter Klinikhase und mit einer gutgehenden Psychiatriepraxis), was mich damals an dieser Kunst faszinierte, dann scheint mir, als hätte ich in ihr all jene Probleme ins Bild gesetzt gesehen, die mich auch noch in späteren Jahren beschäftigten. Es ist gewissermaßen der »Rohstoff« unserer Verrücktheiten. Die Menschen schaffen sich ihre eigene Hölle.

Aber bei meinen ersten Besuchen sah ich mich eher als lernbegierigen Schüler, der den alten Meistern ihre Geheimnisse ablauschte. Ich verstand die Themen, ohne ihnen sonderlich viel Gewicht beizumessen, es sei denn, in den dunkleren Tiefen meines Unterbewusstseins, dem Raum, der nicht ganz unbewusst, aber auch nicht hell bewusst ist.

Oberflächlich interessierte mich mehr der Pinselstrich. Das geheimnisvolle Halbdunkel mit seinen Schattierungen, die gegeneinandergesetzte Farbe, die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit der Konturen, das kleine Detail. Ich war von den Details in Bann gezogen, ohne das Ganze zu sehen. Das änderte sich erst, als ich Boschs verstecktes Selbstporträt entdeckte.

Montag folgte mir nie wie ein gewöhnlicher Museumswächter durch die Säle der Galerie. Manchmal sah ich, dass er einer Schulklasse nachging, aber immer in gehörigem Abstand, um nicht zu stören.

Dann stand er versunken da, die Hände vor dem Bauch übereinandergelegt, den grauen Kopf leicht geneigt, als lausche er irgendwelchen Stimmen aus der Tiefe des Raumes. Und wenn sich das Tross der albern kichernden Schüler mit den üblichen Schwierigkeiten in den benachbarten Saal bewegte, gab er einfach stumm nickend seine Verantwortung an den nächsten Wächter ab. Es verstärkte noch mehr den Eindruck in mir, dass ich irgendein gläserner Gegenstand für ihn war.

Einmal stand ich vor Pieter Bruegels Die Blinden, einer Leihgabe des Nationalmuseums Neapel, und ließ so laut einen fahren, dass er wegen dieser Frechheit unwillkürlich den Kopf hätte wenden müssen.

Aber er schien nicht nur blind zu sein für uns gewöhnliche Sterbliche – so blind wie die Gestalten auf dem berühmten Bild, die, lange Stöcke in den Händen, in die Luft blickend übereinander purzelten –, sondern auch taub. Ich gab einen noch krachenderen Ton von mir – ich furzte, was das Zeug hielt, bis mir die Luft ausging. Ohne Ergebnis.

Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich in die Ecke pinkelte, unter die Kordelabsperrung von Boschs Weltgerichts-Triptychon, einem der teuersten Gemälde der Welt. Würden dann die Sirenen losheulen und die halbe Stadt meinem Abtransport im vergitterten Polizeiwagen beiwohnen?

Oder kam nur jemand von den dienstbaren Geistern wie auf einen geheimen Befehl mit dem Aufnehmer, um wortlos die Spuren meiner Schandtat zu beseitigen?

Die Atmosphäre des Nationalmuseums bekam seit diesem Tage etwas Kafkaeskes für mich. Oder noch besser: Ich traute Montag zu, dass er sich wie ein Yogi durch die Sutren des Patanjali in die Lüfte erhob und zur gläsernen Kuppel des Saales emporschwebte. Mit oder ohne Stuhl. Er setzte die Schwerkraft außer Kraft, weil sie sich als etwas erwies, das nichts weiter als ein Spuk in unseren Köpfen war, eine durch Gewohnheit erzeugte Erwartung. Ich misstraute schon damals den Gesetzen der Physik.

Wenn doch zugegebenermaßen keiner von den Herren Physikern zu sagen wusste, was die Schwerkraft wirklich war – »eine Krümmung des Raumes«, was für eine grandiose geistige Krücke, welche Worthülse für das Rätsel, um seine Unwissenheit mit ein paar mathematischen Formeln zu bemänteln! –, dann konnte sie auch jederzeit ihre andere, unbekannte Seite zeigen, die gewöhnlich verborgen war.

Also floh ich an diesem kafkaesken Vormittag Hals über Kopf aus dem Museum, um nicht miterleben zu müssen, wie sich unser Universum langsam in seine erlogenen Bestandteile auflöste. Ich würde niemals Physiker werden. Dazu war ich zu schlau …

Ich hatte bereits zuviel vom Baum der Erkenntnis gegessen, der unsere naive, so handfest erscheinende Alltagsrealität, die aus krümelartigen bewusstseinsunabhängigen Materiepartikeln bestehen soll, als bloßes Vorurteil entlarvte.

Aber vielleicht würde ich meine Rolle noch eine Weile weiterspielen müssen. So wie die Kirche den Gläubigen vorlog, Jesus sei über das Wasser des Sees Genezareth gelaufen, um schwankende Seelen zu frommer Gesinnung zu überreden.

Beim Mittagessen saß ich schweigend und in Gedanken versunken am Tisch, um eine Lösung für mein Problem zu finden. Ohne das übliche Gefühl von Ekel übrigens, das mich sonst bei Fleischgerichten befiel. Es gab Hühnersuppe und danach das übliche Aas vom Schwein mit Dampfkochtopf-gegarten Möhren und Kartoffeln. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, bald ins Lager der Vegetarier überzuwechseln, machte mir Fleisch heute nichts aus …

Die Lösung war wie jeder große Einfall einfach. Wenn Montag mir nicht folgte, würde eben ich ihm folgen! Wenn er mich nicht beachtete und durch mich hindurchblickte, würde ich ihn nur um so genauer beobachten.

»Wieder bei irgendwelchen tiefgründigen Theorien über den wahren Ursprung des Universums, Marc?«, erkundigte sich meine Mutter.

Meine Schwester lachte und beugte sich so weit vor, dass ich in ihren Ausschnitt sehen konnte. Sie wusste, wie sie auf mich wirkte, und nutzte das bei jeder Gelegenheit aus. Sie ließ mich meine menschliche Begrenztheit spüren, die Fesseln der Sexualität, die den aufrichtig strebenden Mönch versuchen und aus der Bahn werfen sollten. Anja hatte mein verdammtes Tagebuch aufgestöbert, ein billiges Notizheft, und der erste Satz darin, datiert zweieinhalb Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag, lautete, dass ich mich entschieden hatte, fortan der Sexualität zu entsagen, weil sie eine Irreführung des Intellekts sei.

Ihre Gabel durchbohrte ein Stück Aas.

»Er ist in der Pubertät«, erklärte sie mitleidig lächelnd und führte das aufgespießte Stück Aas an ihren sinnlichen Mund. »Er versucht mit seinen philosophischen Flausen der Geschlechtsreife zu entkommen. Aber niemand entkommt der Sexualität. Die Anziehung unter den Geschlechtern und der Beischlaf sind die stärksten Kräfte im Leben.«

Stärker als die Gravitationskraft, dachte ich. Und mindestens genauso illusionär.

»Ich bitte dich, Anja, nicht vor den Kindern«, sagte meine Mutter errötend. »Rolo ist erst elf, er ist noch zu jung für so was.« Sie war tatsächlich immer noch so prüde wie eine Matrone der fünfziger Jahre.

Anja legte prustend ihre Gabel weg …

Die Unschuld ist nichts, was uns in die Wiege gelegt wird, wie ein paar idealistische Träumer glauben. Und falls doch, so verlieren wir sie schon wenige Augenblicke nach der Geburt, wenn wir zum erstenmal an der Mutterbrust entdecken, dass wir hoffnungslos dem Geschmack am Leben verfallen sind.

3

Dass mich die Öffentlichkeit heutzutage in der Rolle des Modearztes sehen will, eines modernen Gurus, eines »weltlichen Priester« für alle Fragen und Lebensprobleme, einer Rolle, die mir kaum noch Zeit lässt, mich meinen Forschungen an der Universität zu widmen, verdanke ich wohl – will man nicht von Vorsehung reden – meinem damaligen Entschluss, diesem merkwürdigen Mann im Museum zu folgen – zu folgen in mehrfacher Hinsicht.

Aber damals ahnte ich noch nichts von den Höhen und Tiefen, in die mich seine Bekanntschaft stürzen würde …

Ich wartete ab, bis das Museum schloss, und folgte Montag langsam durch die menschenleeren Straßen.

Er ging über die steinerne Brücke und dann durch eine sehr alte Gasse, die von den Bombenangriffen des Weltkriegs verschont geblieben war. Sein Haus war ein scheußliches Gebäude aus der Vorkriegszeit, in dem neunzehn Parteien lebten – mit so gleichmäßig geschwärzten Fassaden, dass man glauben konnte, die Patina sei seine ursprüngliche Farbe. Einige Zimmer seiner Wohnung lagen im Erkerturm.

In Kopfhöhe an den Hauswänden befanden sich die üblichen Kreidesprüche, abgestuft nach Schulaltern. An ihnen ließ sich leicht die psychologische Theorie bestätigen, dass jedes Lebensalter seine eigene Sprache hat und über andere Dinge lacht. Und wenig verrät mehr über unsere Schwächen als das, worüber wir lachen!

Lachen wir Älteren, die wir uns so viel auf unsere Erfahrungen und unseren Durchblick einbilden, dann sollten wir uns immer vergegenwärtigen, dass da vielleicht noch jemand über uns ist, der unser Lachen höchst lächerlich findet.

Anfangs gelangte ich immer nur bis zur gegenüberliegenden Straßenseite. Ich beobachtete aus dem Hauseingang, wie in Montags Fenstern das Licht anging und wieder verlöschte. Ich wartete darauf, dass irgend etwas passierte, mir irgendein Zeichen, eine Bestätigung für meine Neugier gegeben wurde. Aber je nachdrücklicher ich darauf wartete, desto weniger geschah.

Nun gut, es gab ein paar kuriose Zwischenfälle bei meinen Verfolgungen. Einmal leerte jemand aus dem Fenster seinen Nachttopf über Montag aus, wohl in der Annahme, er sei für den Lärm verantwortlich, den ein anderer mit einem verfrühten Silvesterfeuerwerk – es war kurz vor Weihnachten – in der Gasse veranstaltet hatte. Die Reste der Knallfrösche flogen bis in den Hauseingang.

Montag blickte nur kurz nach oben, als habe er sich für die Notiz, die man von ihm nahm, zu bedanken, zog seinen Hut ab, klopfte ihn mit dem Handrücken zurecht, und ging weiter! Sein langer schwarzer Mantel glänzte feucht. Er war tatsächlich von oben bis unten mit Pisse begossen!

Ein andermal hetzte jemand einen dieser Bullterrier auf ihn, die darauf abgerichtet sind, Menschen zu zerfleischen, gleichgültig, ob sie selbst dabei draufgehen oder nicht. Man rammt ihnen sein Taschenmesser in den Körper, schleudert sie hin und her, aber ihre Zähne lösen sich nicht eine Sekunde lang mehr von den Gliedmaßen, wenn sie sich einmal festgebissen haben.

Wäre Montag einer jener Zauberer oder Medizinmänner vom Amazonas gewesen, die noch soviel Instinkt für die primitive Kreatur besitzen, dass sie mit ein paar ruhigen Worten und festem Blick jede Bestie in die Knie zwingen – ich hätte mich kaum über die Reaktion des Hundes gewundert. Aber dieser hier kam auf ihn zugelaufen, wurde zwei Meter vor ihm immer langsamer, ohne dass Montag ihn überhaupt eines Blickes würdigte, und drehte mit gesenktem Kopf und eingezogenem Stummelschwanz ab. Mich hätte die Bestie auf der Stelle in Stücke gerissen.

Nach der Schule hielt ich mich so oft es ging im Museum auf.

Mein Vater hatte sich einen Kompagnon zugelegt, einen in Geldfragen besonders gewieften Burschen aus dem New Yorker Bankenviertel namens Dornenvogel (kein Pseudonym – es war sein echter Name, und sein Einfluss auf unsere Familie wurde diesem Namen auch schon bald vollauf gerecht).

Er war wegen Schwierigkeiten mit der amerikanischen Steuerfahndung nach Deutschland zurückgekehrt. Von da an hatte Oberhäuptling alle Hände voll zu tun, mit diesem schrägen Dornenvogel sein Vermögen zu sortieren. Und meine Mutter machte gerade eine schwere Zeit im Parlament durch, weil ihre winzige Ökologenfraktion von Politikern attackiert wurde, die in diesen ersten Ansätzen konsequenter Umweltpolitik Gefahren für die Wirtschaft sahen. Sie war immer noch der Rufer in der Wüste. Also hatte ich plötzlich genügend Zeit für mein Steckenpferd, Boschs Kuriositätensammlung …

Ich entdeckte, dass sich der Maler im Weltgericht selbst porträtiert hatte: als fetter dickbäuchiger alter Gnom im Vordergrund des Bildes, nackt, mit schwarzem Kopftuch, schwarzen Stiefeln und einer klaffenden roten Wunde auf der rechten Seite des Unterbauchs.

Er sah aus wie ein Demiurg, der das Inferno in seinem Geiste erst erschaffen hatte, anstatt es nur abzubilden, und so versuchte ich herauszufinden, warum er sich keinem freundlicheren Genre gewidmet hatte.

Warum dieses Ausleben der aberwitzigsten, düstersten Phantasien, wenn es auch eine von der Sonne beschienene Wiese, ein unschuldiges Fohlen, ein Spaziergang am Meer, ein jungfräulicher Strand ohne Teufel und Chaoten hätte sein können?

Würde ich jemals selbst so malen wollen? War das eine genaue Beschreibung der Realität?

Ich begann mich vor meiner selbstgewählten Aufgabe zu fürchten. Auch die abstrakte Kunst stellte nur selten Ausgeglichenheit und Harmonie dar, sondern meist eine verfremdete Wirklichkeit, die auf geheimnisvolle Spannungen und Stimmungen zusammenschrumpfte, den Konvulsionen der Wirklichkeit nicht ganz unähnlich. Offenbar war ich auf dem besten Wege, mich wie ein Zahnarzt, der sein Leben lang mit faulen oder vereiterten Zähnen, mit Zahnstümpfen, Parodontose und anderen Entzündungen des Mundraums zu tun hat, ohne Not in die Schattenbereiche des Lebens zu begeben.

Boschs klaffende rote Wunde am Bauch machte mir deutlich, wie sehr der Künstler an seiner Kunst litt.

Als ich an diesem Punkt angelangt war, brach ich meine Besuche im Museum ab. Ich saß tagelang in meinem Zimmer – es waren Weihnachtsferien –, würdigte den protzigen Christbaum in der Eingangshalle keines Blickes, weil er mir mit einem Male als das erschien, was er wirklich war: die hohle, überaus kitschige Bemäntelung eines alten Brauches, unter dessen Oberfläche sich vielleicht eine Wahrheit verbarg, aber eine Wahrheit, an die niemand glaubte.

Mein Vater pflegte unsere Geschenke nicht nur im ganzen Haus zu verstecken, sondern sie auch noch, um uns irrezuführen, in falsche Kartons zu verpacken – die Stereoanlage in den Staubsaugerkarton, meine Kunstbücher in die Verpackung einer Kaffeemaschine –, und dieses Spielchen trieb er noch nach dem Fest, weil er völlig die Orientierung verloren hatte, wo sich was befand. Währenddessen betäubte Anja die Wände mit klassischer Rockmusik. Die Tapeten knisterten und feiner Staub rieselte aus den Mauerfugen.

Ich studierte lustlos in meinen Physikbüchern (man hatte mir ungefähr einen halben Zentner davon geschenkt, um die Angelegenheit ein für allemal für die Wissenschaft zu entscheiden), denn selbst die Physik offenbarte nichts weiter als das Chaos. Daran konnten auch ein paar in der Praxis verlässliche Naturgesetze wenig ändern.

Freud hätte behauptet, ich litte an meinem Über-Ich. Mein Es sei der Lust am Malen und am Künstlertum verfallen, doch Moral und Realität drängten diese sublimierte Libido zurück. Aber wie viele moderne Irrenärzte glaube ich dem alten Wiener Charmeur kein Wort. Er irrt sich selten völlig, doch er setzt die Akzente falsch. Der Blickwinkel ist verschoben. Nicht nur meine Professur für die Erforschung höherer Bewusstseinszustände belehrte mich darüber, dass der alte Knabe mit dem Sextick einem verhängnisvollen Irrtum zum Opfer gefallen war.

4

Kennen Sie diese Leute, die so herumstolzieren, als wüssten sie irgend etwas? Als seien sie im Besitze einer geheimen Wahrheit?

Als beherrschten sie eine wichtige Regel? Nicht irgendeine Regel, sondern die Regel par excellence?

Die Welt ist voll davon. Haben Sie erst einmal den Blick auf diesen merkwürdigen Sachverhalt gelenkt, dann fällt es Ihnen plötzlich wie Schuppen von den Augen.

Sie werden feststellen, dass die meisten Menschen irgendwelche Regeln verkünden, von so singulären Erscheinungen wie Napoleons Verbannung, Gorbatschows Sturz oder der Verspätung des Eiermanns mal abgesehen. Und jeder hat eine unfehlbare Einsicht in die Evidenz seiner Regeln.

Alle diese Methoden sollen Sie glücklich machen, Ihnen zu einem bequemen, von Leiden befreiten Leben verhelfen. Unser gesamtes Erziehungssystem beruht darauf. Aber Sie können solche Regeln ebenso gut an der Theke wie am Stammtisch und im Parlament hören. Jeder weiß es besser.

Wenn mein Alter sagte: »Marc, du verdammter Stinker, wer zum Teufel hat schon wieder seine dreckigen Socken im Badezimmer herumliegenlassen?« – dann meinte er damit, abgesehen von der bloß rhetorischen Frage: Es macht dich und uns alle glücklicher, wenn das Zeug mit seinem Käsegeruch nicht unnütz im Haus herumliegt.

Aber was, wenn irgend jemand meine Socken gern roch? Wo blieben dann seine absolut gültigen Regeln?

Diese Frage kann man jedem stellen, der einem irgendwelche Rezepte verkaufen will. Sei es nun die Regel, wie man keine Pickel kriegt, wie man sich vor Selbstmord oder Geschlechtskrankheiten schützt, wie man seine Depressionen los wird oder Verstimmungen überhaupt erst einmal als das identifiziert, was sie sind.

Tatsächlich scheint es solche Regeln auch zu geben. Nur sind sie alles andere als allgemeingültig. Sie haben für den einzelnen keine Spur von Plausibilität, solange sie sich nicht in der Praxis bewähren. Und diese Bewährung kann im nächsten Moment in ihr Gegenteil umschlagen.

Ich war damals schon ein beachtlicher Erkenntnistheoretiker, deshalb warf es mich kaum aus der Bahn, als mir meine Mutter die goldene Regel für meine weitere Ausbildung verkündete:

»Wir haben über deine berufliche Zukunft nachgedacht, Marc, und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es besser wäre, wenn ein Privatlehrer deine Ausbildung übernähme.«

»Ein Privatlehrer? Du meinst in Physik?«

»Nein, allgemein.«

»Darf ich fragen, womit ich diese Auszeichnung verdiene? Meine Noten sind doch ganz ordentlich?«

»Deine Lehrer glauben sogar einen – nun bleib mal auf dem Teppich – genialischen Zug bei dir zu erkennen. Allerdings mit einem deutlichen Hang zur Verwahrlosung, was deine schulischen Leistungen anbelangt.«

»Anders ausgedrückt: Sie halten mich für begabt, aber faul?«

»Ein guter Lehrer könnte dir den Einstieg ins Studium erleichtern. Wir möchten, dass du mit einer erstklassigen Abiturnote abschließt.«

Also daher wehte der Wind! Sie wollten niemanden, der beim Abschluss kläglich versagte. Wahrscheinlich würde das meinen Vater ein halbes Dutzend Aufträge für Hochhäuser und meine Mutter ihren Sitz im Parlament kosten.

»Und was sagt die Schulbehörde dazu?«

»Kein Problem, es ist ja nur eine Zusatzausbildung. Sie wird dich von der Straße holen, Marc. Das ist Vaters größte Sorge. Er macht sich Gedanken darüber, wo du dich nach dem Gymnasium herumtreibst.«

»Ich sitze meist in der Bibliothek, um meine Physikkenntnisse zu vervollständigen.«

»Tatsächlich?« Sie warf mir eine ungläubigen Blick zu – so ungläubig wie manche Frauen, wenn ihr Angetrauter jeden Eid auf seine eheliche Treue schwört.

»Deshalb könnt ihr euch das Geld für den Burschen sparen.«

»Das würde die Sache allerdings ändern. Falls sich herausstellen sollte, dass du über ausreichende Kenntnisse verfügst, werden wir es einfach bei der Probezeit belassen.«

»Heißt das, ihr habt schon jemanden für mich eingestellt? Wer ist den der Glückliche?«

»Eine junge Physikstudentin.«

Ich muss ziemlich entgeistert ausgesehen haben damals. Die Überraschung war ihnen allerdings gelungen. Irgendein pickeliges Wesen ohne Hüften mit dicken Brillengläsern, dachte ich. Oder noch schlimmer: mit Schlabberpullover ohne BH und kurzgeschnittenen Fingernägeln, das dauernd Pistazien kaute. Welches Mädchen, das gut aussieht, studiert schon Physik?

»Frag mich jetzt bitte nicht, wie sie aussieht, Marc. Ausgesprochen hübsch.«

»Im Ernst? Ihr habt sie doch nicht nach Schönheit ausgesucht?«

»Man sagt, Karola sei die fähigste Studentin am Institut. Sie hat zwei Schulklassen übersprungen – mit Abiturnote 0,7.«

Diese Zahl flößte ihr offensichtlich Ehrfurcht ein. Wie die meisten Sterblichen dachte sie ständig in Kategorien von Wettbewerb und Überlegenheit, und das mag auf den ersten Blick zwar ein harmloses und sogar erfolgreiches Vergnügen sein, verseucht aber den Verstand genauso schleichend und fast unwiderrufbar wie eine Giftmülldeponie das Erdreich.

»Eine kleine Intelligenzbestie also – und auch noch hübsch?«

»Du bist ein wahrer Glückspilz.«

»Ihr wollt mich doch nicht mit ihr verkuppeln?«

»Untersteh dich, auch nur an so etwas zu denken, Marc! Sie ist deine Lehrerin, nichts weiter. Vater vertraut darauf, dass deine vollmundigen Behauptungen von einem Leben ohne Frauen ernst gemeint sind.«

Das hatte mir gerade noch gefehlt: Nachhilfestunden in Physik. Und dazu der Körpergeruch einer jungen intelligenten Frau, wenn sie sich am Schreibtisch über meine Schulter beugte. Wer sollte so etwas aushalten? Wenn ich es allerdings schaffte, meinen Vater davon zu überzeugen, dass ihre Arbeit so überflüssig war wie ein Kropf?

Das ließ sich nur durch Leistung bewerkstelligen. Ich würde mein Interesse an der Malerei auf Eis legen müssen. Ich wusste, dass ich in der Lage war, gut und schnell zu lernen. Am besten veröffentlichte ich irgendeinen genialischen Aufsatz in einem Fachmagazin für Theoretische Physik. Und nachmittags würde ich mir jeden Tag einen Gang durchs Museum gönnen, als Belohnung für meine Disziplin.

Karola war zwar hübsch, aber körperlich eher unscheinbar. Sie reichte mir gerade bis zu den Ohren. Sie liebte Pullover. Und das alles, ohne mein Sehzentrum durch breitflächige Fettpolster zu terrorisieren. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig, als verbringe sie ihre Freizeit mit Yoga-Übungen. Bei alledem hatte sie eine Art, die Dinge anzugehen, die mir Achtung abnötigte. Nicht dieses zickige Gebaren, das sich emanzipierte Frauen antrainiert haben.

Sie schien zu glauben, ich hätte noch nie im Leben etwas von Erotik oder Sex gehört, denn sie behandelte mich, als sei ich völlig geschlechtslos, als komme das alles erst in einer späteren Lebensphase.

Nachdem Anja ihr gesagt hatte, ich hätte mich für die sexuelle Abstinenz entschieden, blickte sie mir einen Augenblick lang ausdruckslos in die Augen. Wieder hatte ich dieses verdammte Gefühl von Glas. Gehörte sie etwa zu den Gläsernen wie mein Vater? Ich versuchte ihre Gedanken zu lesen. Sie dachte: Wie kann sich jemand dafür entscheiden, Mönch zu werden, wenn er gar nicht weiß, wovon er redet?

Ihr Zimmer im Dachgeschoss machte mich rasend, weil es wie ein einladendes Liebesnest wirkte, und zwar eines von der modernen Sorte, keines mit Plüsch und rotem Licht. Ich lag halbe Abende krank vor Eifersucht auf der Lauer, um herauszufinden, ob sie dort irgendwelche Freunde empfing. Aber entweder war sie cleverer als ich, oder sie hatte sich vorgenommen, während der Probezeit kein Risiko einzugehen.

Immerhin wurde ich auf diese Weise von meinem Problem mit der Kunst ablenkt. Genauer gesagt, es normalisierte sich. Es verlor an Kraft.

Die wenigen Augenblicke, in denen ich mich ins Nationalmuseum fortstahl, um einen Blick auf die Abgründe des Lebens, auf meine berufliche Zukunft zu werfen, oder auf das, woran ich als Maler anzuknüpfen gedachte, wirkten so besänftigend und anregend auf mich, dass ich eine geheimnisvolle Verbindung oder Spannung zwischen Karola, meiner paranoiden Eifersucht und der Galerie und Montag empfand.

Bosch klaffende rote Wunde am Bauch erschien mir plötzlich weniger bedrohlich. Alle diese Bedenken waren nichts weiter als der Ausdruck eines übersättigten Gehirns. Was hinderte mich eigentlich daran, einen positiven Ton in meine Malerei zu bringen? Etwa die Vergangenheit? Die Tradition?

Ich hatte meine Krise überwunden – dank eines Mädchens, das nach irgendeinem konventionellen Deodorants roch, vermischt mit billigem Studentenparfüm von den Verkaufsständen der Mensa. Ein weiterer Beleg dafür, wie leicht Frauen im Leben eines Mannes zum Katalysator werden können.

Mich faszinierte Karolas helles Lachen, wenn sie mir mit unschuldsvoller Miene, als belehre sie einen unbegabten Schüler, klarzumachen versuchte, dass sich Naturgesetze immer nur falsifizieren aber niemals verifizieren ließen und ich mit der ganzen Leidenschaft meines jungen Forscherlebens widersprach. Das war vulgärster Popper. Nichts ließ sich jemals wirklich verifizieren, wenn man der Sache bis ins letzte nachging, nicht mal der Satz, Naturgesetze ließen sich niemals verifizieren, also auch nicht die Naturgesetze.

Der Grund dafür liegt, wie ich heutzutage glaube, in der mangelnden Überprüfbarkeit unserer Gedanken. Man kann unmöglich wissen, ob sie ihre Welt nur mit Hilfe obskurer, vom Gehirn zusammengefügter Wahrnehmungen erschaffen oder auf irgendeine Weise bewusstseinsunabhängige Dinge erfassen.

Der Irrtum unserer begabten Studentin war, dass sie auf zu naive Weise ihren »Wahrnehmungen« und Gedanken vertraute. Sie war ein durch und durch normaler Mensch, so stinknormal wie meine Familie.

Sie passte vollendet zur Inneneinrichtung unseres Hauses: neureich und von der Stange, mit vergoldeten Armaturen, aber aus Kunststoff-beschichteten Spanplatten. Karola konnte mir theoretisch nicht das Wasser reichen. Sie war einfach nur bürgerlich, einschließlich aller Marotten, die sogenannte absolut gültige Verhaltensregeln mit sich bringen, wie ihre Binden vor mir im Kleiderschrank zu verstecken oder sich eine Badetuch umzubinden, wenn sie aus der Wanne kam.

Da schien mir der fette, unser großes Irrenhaus und seine höllischen Folgen abbildende Hieronymus Bosch im Weltgerichts-Triptychon schon eher auf der Höhe der Zeit. Für ihn war das Erdachte und Vermutete genauso real wie die sogenannte ordinäre Realität. Wir sind fast immer Opfer oder Nutznießer unserer Gedanken.

Besäßen wir nur genügend Innensicht, würden wir leicht erkennen, wie wenig von den Dingen übrigbleibt, die wir als »Realitätskrümmel« wahrnehmen – dem Zeug, das man sägen, zerbrechen oder verbrennen kann. Den Blick vor dieser anderen, inneren Realität zu versperren, ist die beste Voraussetzung dafür, zum psychischen Krüppel zu werden.

An diesem Freitagnachmittag hatte ich meine kleine Kamera mitgenommen, obwohl es verboten war, in der Galerie zu fotografieren. Unter dem in heller Glorie thronenden Weltenrichter war eine Apokalypse alptraumhafter Grausamkeiten ausgebrochen, in der Teufel und andere Bestien ihr gnadenloses Geschäft erledigten, während im Hintergrund des mittleren Bildes die Welt in Flammen aufging.

Eine kalte Wintersonne fiel durch die großen Fenster. Was ich brauchte, wenn ich auf den verräterischen Blitz verzichten wollte, war lediglich eine ruhige Hand und eine lange Belichtungszeit. Ein 1/15 Sekunde ohne Stativ. Als ich die Kamera ans Auge hob, sagte Montags Stimme hinter mir:

»Es ist ein Gemälde von großer innerer Hellsichtigkeit …«

5

Er sagte nicht: Verschwinde mit deiner verdammten Kamera, sondern er sah mich zum erstenmal an wie jemanden, der nicht durchsichtig ist. Ich gewann augenblicklich meine Existenz zurück und fühlte mich nicht länger als Schatten.

Sein gütiges altes Gesicht war es, das mir diesen Lebenshauch eingab. Es schien, als würde ich zugleich leicht und schwer. Als werde das Gewicht eines gewaltigen Steines von mir genommen, der mich in den Boden gedrückt hatte, und als gewönne ich dadurch auch mehr Standfestigkeit. Die Atmosphäre des Raumes schien mich zu halten und umfloss mich wie eine unsichtbare Hülle.

»Ich weiß natürlich, dass es hier verboten ist, zu fotografieren, weil das Blitzlicht den Farben schadet«, sagte ich. »Aber mir ist plötzlich klar geworden, dass ich mich länger mit dem Bild beschäftigen muss. Die Zeit im Museum reicht dazu nicht aus.«

»Weil es uns so viel zu sagen hat?«

»Auch, um seine Maltechnik zu studieren.«

»Die Technik ergibt sich immer von selbst, wenn man ernsthafte Absichten hat und genaue Beobachtungen anstellt. Ich glaube nicht, dass Bosch sehr systematisch über seinen Stil nachdachte. Natürlich wusste er, was er tat.

Aber er arbeitete aus einer künstlerischen Intuition heraus, er war sich seiner Formen völlig sicher. Entscheidend ist, ein starkes Empfinden für das zu entwickeln, was um einen herum vorgeht, und es einfach in die Realität des Bildes umzusetzen.«

»Sie haben hier im Museum genügend Zeit, darüber nachzudenken, nicht wahr?«

»Wenn ich auf meinem Stuhl sitze und die Augen öffne, will es mir manchmal so scheinen, als seien Hieronymus Bosch und ich eins geworden. Als sähen wir beide dasselbe Bild.«

»Aber es ist dasselbe Bild?«, wandte ich ein.

»Ich meine die zugrundeliegende Realität.«

»Glauben Sie wirklich an den ganzen Hokuspokus mit Engeln und Teufeln?«

»Nein, es sind nur Bilder für unsere inneren Teufel.«

»Was ist mit Gott und dem Satan?«

»Nur Bilder. Projektionen unseres Inneren für verschiedene abstrakte Realitäten, um die unser Leben kreist. Es sind Lügen, mit denen wir uns selbst beschwichtigen und unsere Angst und unser Unbehagen besänftigen. Primitive Krücken für schlichte Seelen, die noch nicht ganz dem Kindesalter entwachsen sind, die einfache Beispiele benötigen.«

Seine Worte machten einen starken Eindruck auf mich. Ich dachte den ganzen Abend über sie nach. Nicht, als erführe ich dadurch etwas völlig Neues, sondern, als werde einigen Gedanken, die schon lange vor der Tür meines Bewusstseins gestanden hatten, nun endlich der Zutritt erlaubt …

Wo es keinen Gott mit weißem Bart und keinen leibhaftigen Teufel gibt, da hat auch die sexuelle Enthaltsamkeit keinen Sinn. Was hatte mich eigentlich dazu gebracht, Mönch zu werden? Dieser katholische Wahn, der immer noch in unseren Köpfen spukt, selbst wenn wir gar keine Christen sind?

Oder jene ablehnende Haltung unseren Gefühlen gegenüber, die entsteht, wenn wir dazu erzogen werden, uns solange anzustrengen und etwas »Nützliches« zu tun, bis wir den Genuss als Schuld und die Anstrengung als Lohn empfinden?

Eine vertrocknete Form der Realität, entstanden durch plumpe Bilder, durch die Sklavenmoral des schlechten Gewissens. Plötzlich hatte ich begriffen, dass die Wirklichkeit, die solche Projektionen erzeugen, verkürzt ist, ohne Farbe und vollen Klang, ohne jeden inneren Aufschwung, ohne den ernsthaften Versuch, die Freuden des Daseins auszuloten.

Also rüstete ich mich mit drei schwarzen Präservativen der Marke Panther aus, machte auf dem Balkon ein paar Kniebeugen in der kalten Abendluft, um meinen Kreislauf auf Trab und meine Potenz in Wallung zu bringen und schlich mich zurück ins Treppenhaus, am offenen Wohnzimmer vorüber.

Als ich mit hartem Knöchel an Karolas Zimmertür klopfte, lief im Fernsehen gerade eine Schnulze aus den fünfziger Jahren, die meine Mutter augenblicklich so in ihren Sessel bannen würde, dass sie unfähig war, auch nur einen Muskel zu rühren, geschweige denn ihren gewohnten Kontrollgang durchs Haus zu machen, und meinen Vater veranlasste, auf der Stelle einzunicken.

Karolas verschlafene Stimme antwortete durch die Tür wie aus einem seit Generationen verschlossenen Grab. Ich wusste, dass sie sich gerade mehrere Nächte wegen einer schwierigen Klausur in »Diamagnetismus« um die Ohren geschlagen hatte, das ist ein in allen Stoffen durch ein äußeres Magnetfeld induzierbarer Magnetismus. Kein normaler Mensch interessierte sich noch dafür, außer ein paar verrückten Physikern, die hofften, immer weiter in die Geheimnisse der Materie eindringen zu können.

»Ich bin’s, Marc.«

»Um diese Zeit?«

»Es ist sehr dringend …«

Es war gerade mal acht Uhr. Viel zu früh für eine vitale junge Frau wie Karola, aber die richtige Zeit für alles, was der Seele auf die Sprünge half. Ich stand mit meinen Präservativen vor ihrer Tür, die Packung in der Hand wie einen verwelkter Blumenstrauß – den ich schnell hinter meinem Rücken verbarg, als ich mich selbst so sah –, da flog auch schon die Tür auf und Karola stand in irgendeinem geblümten Ding, das sie auf dem Flohmarkt am Tisch für vom Lieferwagen gefallene Textilien erstanden hatte, vor mir – die Arme in die Hüften gestützt.

Diese himmlischen weißen Arme …

»Was ist los, Herzbaum?«, erkundigte sie sich mit hochgezogenen Brauen. Karola nannte mich immer beim Nachnamen, wenn es ernst wurde. Ich versuchte irgend etwas zu sagen, biss mir aber im Eifer des Gefechts so heftig auf die Zungenspitze, dass ich vor Schmerz und Schreck völlig starr wurde.

»Was hältst du denn da hinter deinem Rücken versteckt?«

»Nichts … ich.«

»Zeig mal her!«

»Nein, bitte nicht …«

Sie sah mir in die Augen, und diesmal war ich alles andere als Glas für sie. Sie witterte, was vorging. Vielleicht roch sie es auch. Zeugungsfähigen Frauen wird nachgesagt, dass sie einen untrüglichen Sinn für die Ausdünstung männliche Hormone haben.

»Hände nach vorn oder Tür zu«, forderte sie drohend.

Ich streckte meine Hand mit der Schachtel aus.

»Marke Panther«, stellte Karola ungerührt fest, als ständen die Freier mit Präservativen vor ihrer Tür Schlange. »Ist es denn so dringend? Bist du dafür nicht noch viel zu jung?«

»Ich bin fast einen Kopf größer als du.«

»Einen halben. Frauen sind meistens kleiner als Männer.«

»Ich glaube, die Körpergröße spielt keine besondere Rolle dabei.«

»Und wieso glaubst du, dass ich für so etwas zu haben bin? Ich meine, wer gibt dir eigentlich das Recht, von mir zu denken, ich sei eine Nutte?«

Sie wippte auf den Zehenspitzen in ihrem geblümten Nachthemd, dessen einer Träger schräg über ihrer weißen Schulter hing, und grinste, halb prüfend, halb verächtlich. Die Korridorlampe warf einen Schatten auf ihr Gesicht, der wie der Pferdefuß des Leibhaftigen aussah. Eine Projektion meiner schwarzen Phantasie, versuchte ich mir einzureden.

»Ist es zum ersten Mal?«

Ich nickte.

»Jeder tut’s irgendwann zum ersten Mal. Es ist meist wenig erfreulich. Wir sind viel zu verkrampft.« Sie tippte sich mit beiden Mittelfingern an die Schläfen. »Da drinnen läuft garantiert das falsche Programm ab, beim ersten Mal.«

»Bei mir nicht«, widersprach ich.

»Du hast mir schon oft aufgelauert, nicht wahr? Du beobachtest mich.«

»Nein, wie kommst du darauf?«

»Ich bin nicht blind, Herzbaum …«

»Es ist nur wegen der Freier, die dich besuchen könnten. Der Gedanke, da könnte noch jemand anders außer mir sein, macht mich nervös.«

»Hallo, der Kleine erprobt wohl gerade seine Machoallüren? Glaub mir, wenn ich’s tue – falls ich es tue –, dann nicht, weil du es bist oder um mich bei dir einzuschmeicheln, sondern einzig und allein, weil ich selbst ein wenig Spaß daran habe. Das ist das einzige Kriterium, hast du gehört?«

»Natürlich, was sonst?«

Wir setzten uns auf ihre Bettkante und laborierten eine Weile mit den Utensilien und den dazugehörigen Körperteilen. Aber anscheinend war außer einer netten entspannenden Oberschenkelmassage an diesem Abend nicht viel drin für mich. Die Gummis erwiesen sich als viel zu groß. Oder das für diesen Zweck erforderliche Körperteil aus Angst zu klein. Mussten für irgendeinen Bodybuilder angefertigt worden sein. Sondergröße, falscher Karton im Automatenschacht.

Erstaunlicherweise meisterte Karola mein Problem mit der Diskretion einer erfahrenen Prostituierten – als sei es eine ganz alltägliche Erfahrung für sie. Ihre Hände waren unglaublich geschickt. So führte meine erste etwas persönlichere Begegnung mit Alexander Montag, zu einem eher kläglichen Ergebnis, was den Lustgewinn anbelangte.

Ich hatte Schlüsse aus seinen Bemerkungen gezogen, die noch in die Kategorie »Was denken wir auf der Affeninsel?« gehörten.

Ich begriff erst ganz allmählich, dass er mir mehr mitzuteilen versuchte als die Trivialität: Genieße das Leben, verdammt noch mal, falls Gott wirklich tot ist.

6

Die Frage, ob es den Teufel gab, brachte mich trotzdem in nicht geringe Schwierigkeiten, denn ich war ihm längst leibhaftig begegnet – während meines Wechsels zu einer anderen Schule nach unserem Umzug! Diesmal hatte er die Gestalt eines Schülers meiner Klasse angenommen: Harald Piper Müller …

Jemand musste ihm den teuflischen amerikanischen Vornamen »Piper« verpasst haben, um von seiner wahren Natur abzulenken. Ich hatte schon Tage und Nächte damit verbracht, ihn zu überführen, wie er gerade seinen Pferdefuß kratzte oder seine Hörner polierte, um bei den Mädchen Eindruck zu schinden.

Aber auf irgendeine durchtriebene Weise verstand er es immer, sich wieder rechtzeitig in seine harmlose Menschengestalt zurückzuverwandeln.

Piper hätte mir völlig gleichgültig sein können, wäre er nicht Anne-Maries älterer Bruder gewesen. Seine Schwester war das schönste Mädchen auf dem Schulhof. Ihr feuerrotes Haar wurde von einem schwarzen Lederstirnband mit indianischen Ornamenten zusammengehalten, das mich wohlig erschauern ließ, weil es mich an den Marterpfahl erinnerte. Ich verpasste keine Gelegenheit, ihr unter die Augen zu laufen. Aber sie quittierte meine Annäherungsversuche immer mit verlegenem Lächeln. Ich war wenig einfallsreich, was mein Werben um sie anbelangte. Manchmal starrte ich sie nur wie gelähmt an.

Piper hatte herausgefunden, was mit mir los war. Seitdem machte wer mir die Schule zur Hölle. Er wandte nie rohe körperliche Gewalt dabei an, sondern setzte lieber etwas ein, das viel stärker auf uns wirkt – Worte.

Nach meiner Einstandsparty an der Schule war es ihm und ein paar anderen betrunkenen Schülern gelungen, über den Baum vor meinem Fenster in mein Zimmer einzusteigen, um nach einem vermuteten Tagebuch zu suchen, in dem ich, wie Piper ganz richtig hoffte, meine unglückliche Liebe zu seiner Schwester zu Papier gebracht hatte.

Wie meine Schwester Anja waren sie prompt fündig geworden und hatten mein verdammtes Tagebuch aufgestöbert (das besagte billige Notizheft), und der erste Satz darin, datiert zweieinhalb Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag, lautete nun einmal, dass ich mich entschieden hatte, fortan der Sexualität zu entsagen, weil sie eine Irreführung des Intellekts sei. Es gab auch ein paar Bemerkungen über seine Schwester darin, die wahrscheinlich noch peinlicher wirken würden.

Also ließ dieser Teufel Harald Piper Müller keine Gelegenheit aus, in der Klasse mit halblauter Stimme daraus zu deklamieren, als zitiere er aus Dantes Göttlicher Komödie. Es machte mich krank.

Ich verlor vier Kilo Gewicht. Meine Gesicht nahm eine fahlgraue Färbung an. Mein Rücken war gebeugt, wie ich im Spiegel feststellte. Ich hatte nur noch eines im Sinn – dem dreisten Grinsen dieser Spötter zu entgehen.

Nach meinem Missgeschick mit Karola hätte mich nichts in der Welt dazu bewegen können, es noch einmal mit ihr zu versuchen. Dabei gab sie mir bei ihren Nachhilfestunden zu verstehen, dass sie unser kleines Abenteuer durchaus als amüsant empfunden hatte. Ich fürchtete, dass ein weiterer Fehlschlag meine »Impotenz« fixieren könnte.

In meinem Notizheft stellte ich lange Betrachtungen darüber an, ob ich bei Anne-Marie genauso versagen würde.

Ein gefundenes Fressen für Piper. Unser Klassenlehrer Alfons Donelli, ein gebürtiger Italiener, der Deutschland zu seiner Wahlheimat erklärt hatte, war im Nebenfach Religionslehrer.

Obwohl er nicht genau mitbekam, worum es ging, weil Piper als geborener Teufel (ich hatte sein Gesicht auf Hieronymus Boschs Weltgerichts-Triptychon entdeckt!) sein Wissen sehr geschickt einsetzte, spürte er doch die dunkle Wolke von Hass und Grausamkeit, die uns umgab.

Meine Mitschüler hatten ihr Opfer gefunden, um von ihren eigenen Schwächen abzulenken, und Donelli versuchte dieses makabere Spiel nach Kräften abzuschwächen.