Moral - Hanno Sauer - E-Book

Moral E-Book

Hanno Sauer

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Beschreibung

Moderne Gesellschaften sind Krisengesellschaften: Universelle Werte sind erodiert, eine allgemeingültige Moral scheint für immer der Vergangenheit anzugehören. Doch der Schein trügt: Tatsächlich gibt es universelle Werte, die alle Menschen miteinander teilen. Hanno Sauer erzählt die Geschichte unserer Moral von der Entstehung menschlicher Kooperationsfähigkeit vor 5 Millionen Jahren bis zu den jüngsten Krisen moralischer Polarisierung. Und er beschreibt, welche Prozesse biologischer, kultureller und historischer Evolution die moralische Grammatik formten, die unsere Gegenwart bestimmt.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Einleitung

Alles, was uns wichtig war

1 5 000 000 Jahre – Genealogie 2.0

Abstieg

Kooperation

Adaption

Biologische Evolution

Die Unwahrscheinlichkeit der Kooperation

Wir wollen nur spielen

Kooperation im Labor

Menschen, Affen

Tugend ohne Gott

Zwei Brüder (oder acht Cousins)

Tit for Tat

Teure Signale und grüne Bärte

Altruisten unter sich

2 500 000 Jahre – Verbrechen und Strafe

Die Höhle von Addaura

Exodus

Versprechen dürfen

Ein gezähmter Affe

Selbst-Domestizierung

Strafe und Kooperation

Die Psychologie der Vergeltung

Lügner und Betrüger

Soziale Sanktionen

Verbrechensaufklärung

Der Prozess

Die Zukunft des Strafens

Schleichender Tod

3 50 000 Jahre – Mängelwesen

Das Leben der Anderen

Wer wir sind

Das Telefon und die vier Tode seines Erfinders

Kumulative Kultur

Verloren und gestrandet

Feuer fangen

Lehrlinge, evolutionshalber

Nischenkonstruktion

Die Koevolution von Genen und Kultur

Kulturelle Evolution

Paris oder Kalifornien?

Kognitive Geräte

Hyperimitatoren

Die Undurchsichtigkeit der Kultur

Die vierte Kränkung

Das individualistische Vorurteil

Alles beim Alten

Kultur und Moral

4 5000 Jahre – Die Erfindung der Ungleichheit

Der Mondgott

Goldene Zeitalter

Inter pares

Der größte Fehler aller Zeiten

Die Beleidigung des Fleisches

Kinder des Korns

Warum wir feststecken

Große Götter

Die Psychologie der Ungleichheit

Angleichung nach unten

Nach dem Krieg sind alle gleich

Ungleichheit heute

Die Vererbung von Ungleichheit

Gender Trouble

Der Preis der Ungleichheit

5 500 Jahre – Die Entdeckung der Seltsamkeit

Der Untergang

Eine Genealogie der Moderne

Die Seltsamsten Menschen der Welt, Erster Teil

Die Seltsamsten Menschen der Welt, Zweiter Teil

Die Seltsamsten Menschen der Welt, Dritter Teil

Die kulturelle Evolution der modernen Seele

Dicker als Wasser

Dialektik der Seltsamkeit

Die Entzauberung der Welt

Kein Held, nirgends

Das große Entkommen

Das Anna-Karenina-Prinzip

Geplünderte Körper

Westlicher Triumphalismus?

6 50 Jahre – Die Moral der Geschichte

Harte Lehren

Moralischer Fortschritt?

Die Macht der Umstände

Die Banalität des Bösen

Gesetze des Blutes

Krieg und Frieden

Stille Revolution

Der schnöde Mammon

Der expandierende Kreis

Demoralisierung

7 5 Jahre – Unpolitische Betrachtungen

Kommt nach der Flut das Feuer?

Die moralische Krise der Gegenwart

Die Ursprünge der Wokeness

Aufwachen

Stay woke

Einmal Rassismus und zurück

Vokabeltest

Wahrheit: ein Nachruf

Keine Plattform!

Zeichen der Tugend

Gegen den Strich

Moralischer Absolutismus

Schluss – Die Zukunft von allem

Menschenfresser

Lektionen

Fragile Ideologien

Lügen, die uns verbinden

Der Mythos der Polarisierung

Heute probiere ich mein neues Schwert aus (an einem nichts ahnenden Wanderer)

Dieses ganz große Fest

Dank

Literatur

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Res nolunt diu male administrari

Einleitung

Alles, was uns wichtig war

Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Werden wir uns, wenn sie zu Ende ist, noch lieben können?

Es ist eine lange Geschichte, denn sie handelt von allem, was uns wichtig war: unseren Werten, unseren Prinzipien, den Quellen unserer Identität, den Fundamenten unserer Gemeinschaft, vom Mit- und vom Gegeneinander, von den zwei Seiten des Verurteilens und Verurteilt-Werdens und dass wir nicht immer auf der Seite aufwachen, auf der wir uns schlafen gelegt haben.

Woran können wir uns orientieren? Wie wollen wir leben? Wie können wir miteinander auskommen? Wie ist es uns früher gelungen, und wie wird es in Zukunft möglich sein? Dies sind moralische Fragen, und die Geschichte, die ich erzählen will, ist eine Geschichte der Moral. Moral – das klingt nach Hemmung und Zwang, nach Einschränkung und Aufopferung; nach Inquisition, Geständnis und schlechtem Gewissen, nach Keuschheit und Katechismus: freudlos, klaustrophobisch und mit erhobenem Zeigefinger.

Und dieser Eindruck ist auch nicht falsch; er ist nur unvollständig und ergänzungsbedürftig. Meine Geschichte zeichnet die fundamentalen moralischen Transformationen der Menschheit nach, von unseren frühesten, noch nicht menschlichen Vorfahren in Ostafrika bis zu den jüngsten Konflikten um Identität, Ungleichheit, Unterdrückung und die Deutungshoheit über die Gegenwart, die online in den Metropolen der modernen Welt ausgetragen werden. Sie erzählt davon, wie sich unsere Gesellschaft über die Zeitalter hinweg veränderte, davon, wie neue Institutionen, Technologien, Wissensbestände und Wirtschaftsformen sich parallel zu unseren Werten und Normen entwickelten, und davon, dass jede dieser Veränderungen mehr als eine Seite hat: Denn wer in einer Gemeinschaft lebt, grenzt andere aus; wer Regeln versteht, will diese überwachen; wer Vertrauen schenkt, macht sich abhängig; wer Wohlstand erzeugt, schafft Ungleichheit und Ausbeutung; wer Frieden will, muss manchmal kämpfen.

Jeder Wandel hat eine Dialektik, jede willkommene Entwicklung hat eine harte, dunkle, kalte Seite, jeder Fortschritt hat einen Preis. Unsere frühe Evolution machte uns kooperativ, aber auch feindselig gegenüber allen, die nicht zu unserer Gruppe gehörten – wer »wir« sagt, sagt bald auch »die«; die Entwicklung des Strafens domestizierte uns, machte uns freundlich und verträglich, stattete uns aber auch mit mächtigen punitiven, also strafenden Instinkten aus, mit denen wir die Einhaltung unserer Regeln überwachten; unsere Kultur gab uns neues Wissen und neue Fähigkeiten, die wir von anderen erlernten – und machte uns dadurch von diesen anderen abhängig; die Entstehung von Ungleichheit und Herrschaft brachte nie da gewesenen Reichtum und ein neues Ausmaß der Hierarchie und Unterdrückung; die Moderne setzte das Individuum frei, das die Natur mit Wissenschaft und Technologie unter seine Kontrolle brachte; dabei entzauberten wir unsere Welt, in der wir jetzt heimatlos sind, und schufen die Bedingungen für Kolonialismus und Sklaverei; das 20. Jahrhundert wollte mithilfe globaler Institutionen eine friedliche Gesellschaft schaffen, in der alle den gleichen moralischen Status genießen, brachte uns die atemberaubendsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und manövrierte uns an den Rand des ökologischen Kollapses; seit kurzer Zeit versuchen wir jenes Erbe der Willkür und Diskriminierung, des Rassismus und Sexismus, der Homophobie und Exklusion endgültig abzustreifen; es wird sich lohnen, aber irgendeinen Preis werden wir auch dafür zahlen.

Unsere Moral ist ein Palimpsest: ein mehrfach beschriebenes, oft unleserliches Pergament, das schwer zu entziffern ist. Aber was ist Moral? Wie definiert man sie? Am besten: gar nicht, denn »definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat«.[1] Unsere Moral hat aber eine Geschichte, und die ist zu vielschichtig und unhandlich für die sterilen Formeln, die wir uns im Lehnstuhl ausdenken. Dass sich nur schlecht definieren lässt, was Moral ist, heißt aber nicht, dass sich nicht klar sagen ließe, was sie ist. Es lässt sich nur nicht kurz sagen.

Eine Geschichte der Moral ist keine Geschichte der Moralphilosophie. Wir denken schon seit Langem über unsere Werte nach, aber erst seit kurzer Zeit schreiben wir unsere Gedanken auch auf. Der Codex Hammurapi und der Dekalog, die Bergpredigt, Kants kategorischer Imperativ und Rawls’ Schleier des Nichtwissens spielen in meiner Geschichte eine Rolle, aber sie ist vergleichsweise gering. Es ist die Geschichte unserer Werte, Normen, Institutionen und Praktiken. Unsere Moral ist nicht in unserem Kopf, sondern in unseren Städten und Dämmen, Gesetzen und Gewohnheiten, in unseren Festen und Kriegen.

Die Geschichte, die ich erzählen werde, will einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leisten. Moderne Gesellschaften stehen aktuell unter einem moralischen Druck, die Möglichkeit ihres eigenen Fortbestehens mit den unangenehmsten Wahrheiten ihrer Existenz zu vereinen. Wie können wir die Umbauten unserer moralischen Infrastruktur, die wir gerade erleben, so kartografieren, dass Licht über dem Ganzen aufgeht? Woher kommt die Unversöhnlichkeit der Polarisierung, die wir aktuell beobachten? Was ist der Zusammenhang zwischen kultureller Identität und sozialer Ungleichheit? Am Ende werden diese Elemente so verbunden, dass sich eine Zeitdiagnose der moralischen Krise der Gegenwart ergibt. Die Diagnose, die ich vorschlage, ergibt sich aus der Geschichte unserer Moral, die ich im Lauf des Buches erzähle. Um die Gegenwart zu verstehen, muss man sich der Vergangenheit zuwenden.

Kurz gesagt: Die Evolution unserer Moral machte uns zwar kooperationsfähig, schränkte unsere moralischen Dispositionen aber auf diejenigen ein, die wir zu »unserer« Gruppe zählen (Kapitel 1, 5 000 000 Jahre). Ein durch externe Umweltveränderungen gesteigerter Kooperationsbedarf ließ sich nur durch das Zusammenleben in immer größeren Gruppen decken. Die Praxis des Strafens gab uns einerseits die Selbstkontrolle und soziale Verträglichkeit, die dafür notwendig ist, stattete uns aber andererseits mit einer Psychologie aus, die die Einhaltung der Normen unserer Gruppe mit größter Vigilanz überwacht (Kapitel 2, 500 000 Jahre). Die Koevolution von Genen und Kultur machte uns zu Wesen, die darauf angewiesen sind, von anderen zu lernen, um das akkumulierte kulturelle Kapital von Informationen und Fertigkeiten bestmöglich absorbieren zu können. Gleichzeitig musste man nun entscheiden können, von wem man lernen möchte – das heißt: wem man vertraut und glaubt –, und dieser Vorschuss an Vertrauen ist durch geteilte Werte vermittelt (Kapitel 3, 50 000 Jahre). Unserer Spezies kooperativer, punitiver und lernfähiger Wesen gelang es schließlich, immer größere Gesellschaften zu bauen, die unter dem Druck ihrer eigenen Mitgliederzahl zu kollabieren drohten. Streng hierarchische Organisationsformen begannen unseren ursprünglichen Egalitarismus zu ersetzen, wodurch sich menschliche Gesellschaften in sozioökonomische Eliten und eine Mehrheit politisch sowie materiell Benachteiligter aufspalteten. Soziale Ungleichheit wuchs, genauso wie unsere Aversion dagegen (Kapitel 4, 5000 Jahre). Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Geschichte der Moral eine kulturelle Konstellation hervorbrachte, die Verwandtschaft und Hierarchie als Strukturprinzipien der Gesellschaft durch autonom eingegangene Kooperationsverhältnisse zwischen Individuen ersetzte. Diese neue Stufe sozialer Evolution setzte bis dato unerhörte Kräfte ökonomischen Wachstums, wissenschaftlichen Fortschritts und politischer Emanzipation frei, die in die moderne Gesellschaft mündeten, in der wir heute noch leben (Kapitel 5, 500 Jahre). Gleichzeitig erhöhten sich die Spannungen zwischen unserer psychologischen Aversion gegen soziale Ungleichheit und den ökonomischen Vorteilen, die eine auf individuellen Freiheitsrechten basierende Gesellschaftsstruktur ermöglicht. Mit zunehmendem materiellem Überfluss wurde die Forderung lauter, die Versprechen menschlicher Gleichheit endlich umzusetzen: Der soziopolitische Status benachteiligter Minderheiten wurde zur moralischen Priorität (Kapitel 6, 50 Jahre). Dass sich dieses Problem nicht in der erhofften Eile lösen ließ, kennzeichnet unsere aktuelle Situation, in der sich die Hauptelemente der Geschichte unserer Moral zu einer toxischen Mischung verbinden: Unsere moralisch aufgeladene Gruppenpsychologie macht uns empfänglich für soziale Spaltung. Die Schwierigkeiten bei der Überwindung auch noch der letzten sozialen Ungleichheiten führen zum Verdacht gegenüber all denjenigen, die nicht mit der als notwendig wahrgenommenen Vehemenz für die gleiche Sache kämpfen. Dies verstärkt die Einteilung der Gesellschaft in »uns« und »die«, was unsere Anfälligkeit für Desinformation steigert, da wir die Entscheidung, wem wir Glauben schenken sollten, zunehmend von Signalen moralischer Zugehörigkeit abhängig machen. Unsere punitive Psychologie fängt nun an, die symbolischen Marker unserer Gruppenmitgliedschaft immer empfindlicher zu überprüfen und die Nicht-Einhaltung der jeweils geltenden Normen immer exzessiver zu sanktionieren. Die – linken und rechten – Identitätskonflikte der Gegenwart sind das Ergebnis dieser Dynamik (Kapitel 7, 5 Jahre). Aber so muss es nicht enden, denn unsere politischen Meinungsverschiedenheiten sind meist nur sehr oberflächlich, und unter dieser Oberfläche gibt es tief liegende, universelle moralische Werte, die alle Menschen miteinander teilen und die die Grundlage einer neuen Verständigung sein könnten (Schluss).

Ich sagte es schon: Es ist eine lange Geschichte. Sie beginnt vor langer Zeit und endet in der Zukunft. Ihr Rhythmus spitzt sich zu und verdichtet sich: Vom ersten bis zum zweiten Kapitel werden Millionen Jahre überwunden; die letzten drei umspannen zusammen nur wenige Hundert. Die chronologische Einteilung, die ich gewählt habe, sollte aber nicht zu wörtlich genommen werden. Viele der Entwicklungen, die ich beschreibe, überlappen sich oder sind nicht eindeutig zeitlich zuzuordnen. Die zeitlichen Abschnitte, in denen diese Erzählung organisiert ist, sind als Größenordnungen zu verstehen, die Akzente setzen und einen Überblick verschaffen sollen.

Andere Einteilungen wären möglich und sinnvoll gewesen. Man könnte die Geschichte unserer Moral auch als Geschichte wachsender menschlicher Gesellschaften erzählen. Von kleinen familiären Verbünden mit vielleicht fünf Mitgliedern über erste Sippen und Stämme von 50 oder 500, frühe Städte mit 5000 oder 50 000 Bewohnern bis hin zu modernen Großgesellschaften mit 5 Milliarden Menschen oder mehr.

Die Geschichte der Moral ist auch eine Geschichte verschiedener Formen menschlicher Evolution. Sie beginnt mit den Mechanismen biologischer Evolution, bei der unsere Moral einen Beitrag dazu leistete, was für ein Tier wir wurden, wie wir als natürliche Spezies heute beschaffen sind; sie spürt die Formen kultureller Evolution auf, mit denen wir unsere eigene Welt erschufen; und sie zeichnet die Silhouette sozialer und politischer Evolution nach, die dem aktuellen Moment der Menschheitsgeschichte seine Gestalt gibt.

Sie ließe sich schließlich als Geschichte von grundlegenden Elementen unserer moralischen Infrastruktur erzählen, in denen sich unsere Fähigkeit zur Kooperation mit unserem Hang zum Strafen, Vertrauen in und Abhängigkeit von anderen, Gleichheit und Hierarchie, Individualität und Autonomie, Verletzlichkeit, Zugehörigkeit und Identität zu unserer besonderen menschlichen Lebensform verbinden. Die hier gewählte Einteilung ist eine Karte, und als solche soll sie Orientierung verschaffen, nicht die Realität abbilden. Die genaueste Karte ist nicht immer die beste.

Jedes Kapitel baut auf den vorangegangenen auf und setzt die innere Logik der Erzählung fort. Trotzdem sind alle Teile so geschrieben, dass sie auch für sich stehen und getrennt von den anderen gelesen werden können. Wer sich für die biologische Evolution des Menschen interessiert und dafür, wie unsere Moral uns als Spezies formte, kann sich auf die ersten Kapitel konzentrieren. Wer etwas über die frühe Kulturgeschichte des Menschen erfahren möchte und darüber, wie die moralische Infrastruktur der ersten Zivilisationen diese Kultur prägte, wird am meisten von den mittleren Kapiteln profitieren können. Die letzten drei Kapitel richten sich vor allem an diejenigen, die den moralischen Zeitgeist der Gegenwart besser verstehen möchten. Und wer – wie ich – glaubt, dass sich ein solches Verständnis der Gegenwart am besten aus einem Verständnis der Vergangenheit ergibt, sollte das Buch ganz lesen.

Es ist eine pessimistische Fortschrittsgeschichte. Sie ist pessimistisch, denn innerhalb jeder Generation gibt es zu viel des Bösen. Und sie ist eine Geschichte des Fortschritts, weil zwischen den Generationen Mechanismen zu greifen scheinen, die das Potenzial einer schrittweisen Verbesserung der menschlichen Moral enthalten, und weil dieses Potenzial manchmal genutzt wird. Moralischer Fortschritt ist immer möglich und oft wirklich. Aber er ist nicht selbstverständlich, weil jede Errungenschaft gegen die regressiven Kräfte einer sperrigen menschlichen Natur, die Irrationalitäten der menschlichen Psyche und die Gnadenlosigkeit des Schicksals verteidigt werden muss.

Die Idee, dass wir unsere Moral mitsamt ihren Rätseln und Widersprüchen nur verstehen können, wenn wir ihren Ursprung verstehen, ist nicht neu. Ihr endgültiger philosophischer Durchbruch gelang mit Friedrich Nietzsche, der dieses Projekt in Anlehnung an die Ahnenforschung als »Genealogie« bezeichnete. Niemand wusste besser als Nietzsche, dass Argumente und Fakten allein keinen Sinneswandel herbeiführen. Die Geschichte vom Sklavenaufstand in der Moral, bei dem den Abgehängten und Schlecht-Weggekommenen, beflügelt vom Gift des Ressentiments gegenüber den Starken, Schönen und Vornehmen, eine Umwertung aller Werte gelingt, ist ein rhetorisches Werkzeug, das einen ersten Verdacht gegenüber unseren moralischen »Vorurtheilen« nähren soll. Seine eigentliche Moralkritik bringt Nietzsche dort nach Hause, wo er seine positive Alternative skizziert: eine Moral, die sich an diesseitigen Werten des Großmuts, des Stolzes und der lebensbejahenden Schaffenskraft orientiert.

Nietzsches Zur Genealogie der Moral aus dem Jahr 1887 erklärte die Umdeutung der Werte gut und schlecht zu böse und gut als subtile Durchsetzung einer »Heerdenmoral«, mit deren Hilfe es den Schwachen und Entrechteten einst gelang, die Vornehmen und Starken psychologisch so anzugreifen, dass diese begannen, das Missratene mit dem Liebenswerten und das Erschöpfte mit dem Wertvollen zu verwechseln. Sie versucht zu zeigen, dass sich unser moralisches Gewissen mehr der Verinnerlichung von Impulsen der Grausamkeit verdankt als einer inneren Stimme, die uns unparteiisch an unsere moralischen Pflichten erinnert, und diskreditiert jede moralische Askese der Selbstverneinung als Symptom der Dekadenz und Lebensfeindlichkeit.

Das Hauptproblem an Nietzsches Erzählung vom Ursprung der Moral: Sie ist nicht wahr. Die Behauptung, der seinerzeit vorherrschende christliche Wertekanon der Demut und Gleichheit, der Bescheidenheit und des Mitgefühls sei aus der Ohnmacht und dem Selbsthass der Machtlosen hervorgegangen, deren Missgunst und schwelende Verachtung gegenüber der Pracht der Mächtigen sie zur Erfindung lebensfeindlicher Werte inspiriert habe, hält einer historischen Überprüfung nicht stand.[2]

Vieles liegt nach wie vor im Dunkeln. Dennoch wissen wir inzwischen ziemlich genau, wie die Frage nach dem Ursprung der Moral gestellt werden muss und wie eine Antwort auf diese Frage ungefähr aussehen könnte. Dafür müssen wir viel weiter zurückgehen, als Nietzsche selbst es für nötig hielt, und uns nicht auf den Übergang von der diesseitigen, aristokratisch-heroischen Ethik der Antike zum christlichen Frühmittelalter konzentrieren, das den Wert von Mitleid und Demut, Sünde, Entsagung und Jenseitigkeit zu betonen begann. Stattdessen müssen wir das viel fundamentalere Problem ins Auge fassen, wie unsere menschliche Moral überhaupt entstehen konnte. Erst dann können wir verstehen, wie sich unsere Werte und die sozialen Strukturen, die diese Werte verkörpern, über die Zeiten hinweg wandeln konnten.

Die Geschichte der Moral, die ich anzubieten habe, ist keine Geschichtsschreibung im traditionellen Sinne, bei der auf konkrete, mehr oder weniger gut dokumentierte Ereignisse und Entwicklungen Bezug genommen wird. Sie ist eine Form der »tiefen Geschichte«, bei der nicht mit Jahreszahlen und Namen operiert, sondern ein plausibles Szenario entworfen wird, das ungefähr so abgelaufen sein könnte.

Der genaue Hergang der Ereignisse wird sich nie ganz entschlüsseln lassen; denn der Brunnen der Vergangenheit ist tief (und vielleicht sogar unergründlich). Man muss sich auf die bestmögliche Triangulation verschiedener Disziplinen verlassen. Genetik, Paläontologie, Psychologie und Kognitionswissenschaften, Primatologie und Anthropologie, Philosophie und Evolutionstheorie stellen je eigene Perspektiven bereit, die sich zu einem Bild zusammenfügen.

Wird diese Erzählung, wie Nietzsche glaubte, die pudenda origo unserer Werte ans Licht bringen – ihren beschämenden Ursprung? Werden wir uns, wenn sie zu Ende ist, noch lieben können? Wird die unbequeme Wahrheit, im kalten Licht des Tages betrachtet, unser Zutrauen in unsere Werte zerrütten? Wird sie zeigen, dass unsere Moral einer näheren Überprüfung standhält? Oder wird es in Trümmern und Hass und Schande enden, dieses ganz große Fest?

Wir können nicht wissen, was die Zukunft bringt, wie wir miteinander leben wollen und werden. Das müssen wir auch nicht. Unsere moralischen Werte sind wie Scheinwerfer: Man kann mit ihnen nicht sehr weit sehen; aber wenn man sich auf sie verlässt, kann man eine lange Reise machen. Dies ist die Geschichte dieser Reise.

Und sie beginnt so:

Kapitel 1: 5 000 000 Jahre – Genealogie 2.0

Abstieg

Mit der Dürre verschwanden die Bäume. Und in dem Land, das zerbrach, bildeten sich steile Täler und raue Schluchten, riesige dunkle Seen und Sümpfe, hohe Berge und flache Hügel. Stachelige Büsche, Sträucher und scharfe Gräser traten bald an die Stelle der üppigen Wälder, die uns zuvor Schutz geboten hatten zwischen Lianen, riesigen, taubedeckten Farnen und saftigen Fettpflanzen, wo zwischen Wurzeln, die aus dem Boden aufragten, duftende Pilze auf bunten Blumenkelchen wuchsen.

Nachdem wir die Bäume und die Bäume uns verlassen hatten, erwartete uns das offene Land. In dieser neuen, grenzenlosen Welt regnete es Steine und Feuer, und es gab wenig zu essen. Dafür gab es große Tiere mit grimmigen Mäulern, die schneller waren als wir und genauso hungrig.

Ein Einkaufswagen, halb gefüllt mit Knochen aus Stein.[3] Mehr ist von unseren frühesten Vorfahren nicht übrig geblieben. Jedenfalls wurde nie mehr gefunden als ein paar Zähne, Schädelfragmente, Bruchstücke der Augenbrauenwülste, Teile von Unter- und Oberkiefern, Splitter von ein paar Schenkelknochen.

Die Fachterminologie ist verwirrend. Man unterscheidet heute verschiedene Taxa (im Singular Taxon, nach dem altgriechischen táxis für Rang), je nachdem, auf welchem Arm des zoologischen Stammbaums man sich befindet und welche Unterschiede und evolutionären Abspaltungen betont werden sollen: Die Familie der Hominidae schließt alle Menschenaffen ein, also neben der Gattung Homo auch die Gorillas, Orang-Utans und Pane, zu deren rezenten Vertretern die Schimpansen und Bonobos gehören; die Bezeichnung Homininae bleibt dagegen, unter Ausschluss der asiatischen Ponginae (Orang-Utan), für die afrikanischen Menschenaffen reserviert, zu denen neben den Menschen nur die Pane und Gorillas gehören. Der Begriff der Hominini schließlich umfasst alle Menschen im engeren, aber immer noch nicht im engsten Sinn: Zu diesem Stamm – biologisch Tribus – gehören die frühesten menschenartigen (aber zugegeben noch nicht sehr menschlichen) Wesen, die vor ungefähr fünf Millionen Jahren begannen, Teile des südlichen und östlichen Afrikas zu bevölkern, eine Reihe von Australopithecinen und verschiedene schon vertrautere Kategorien wie Homo ergaster, erectus, heidelbergensis sowie neanderthalensis. Von diesen Hominini sind heute nur wir übrig geblieben: Homo sapiens.

Kooperation

Die Evolutionsgeschichte der ersten Hominini ist die Geschichte der frühesten protomenschlichen Vorläufer nach der Abspaltung von dem Vorfahren, den wir mit den anderen heute noch lebenden Menschenaffen teilen. Diese kritische erste Phase unserer Evolution lässt sich ungefähr auf die Zeit vor fünf Millionen Jahren eingrenzen.[4]

Die erhaltenen Fossilien – mit Ausnahme von Sahelanthropus tchadensis, dem ältesten, dessen asymmetrisch deformierter Schädel in der trockenen Djurab-Wüste im nördlichen Tschad an der Fundstelle Toros-Menalla entdeckt wurde – finden sich hauptsächlich im östlichen Afrika im heutigen Äthiopien, Kenia und Tansania: Fragmente des Oberschenkels und ein Daumenknochen von Orrorin tugenensis in der Lukeino-Formation in den grün bewachsenen Tugen-Hügeln; die hinteren Backenzähne von Ardipithecus ramidus und der Unterkiefer von Australopithecus afarensis (zu der auch »Lucy« gehört) im Afar-Dreieck am Fluss Awash. Die zweite Hauptkonzentration von Fossilienfunden liegt in Südafrika, wo sich die Überreste verschiedener unserer Vorfahren in den Höhlen von Sterkfontein und Gladysvale, Drimolen und Malapa finden ließen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir diese Flaschenpost Leoparden und anderen großen Raubtieren verdanken, die in solchen Höhlen lebten und ihre Beute dorthin zu schleppen und zu fressen pflegten.

Heute sind unsere versteinerten Überbleibsel in paläoanthropologischen Forschungsinstituten auf der ganzen Welt zerstreut, wo sie mit bürokratischen Bezeichnungen versehen, aktenkundig, archiviert, registriert und unterscheidbar gemacht wurden: Sahelanthropus tchadensis heißt hier sehr prosaisch bloß TM 266, Orrorin tugenensis BAR 1000’00; andere Splitter, Fragmente, und Brocken werden als Stw 573, KT-12/H1 oder LH4 geführt. Ardipithecus ramidus heißt – wenig originell, aber immerhin – »Ardi«.[5]

Die Geschichte der Menschwerdung, die diese Funde uns erzählen, ist vorläufig. Sie bleibt, wie Philosophen manchmal sagen, in »Geiselhaft der empirischen Daten« und droht jederzeit durch neue Entdeckungen revidiert, korrigiert oder überholt zu werden. Das ist auch gut und richtig so, denn nur Dogmen bleiben unverändert – in der Wissenschaft ist für dauerhafte Erkenntnisse nur ausnahmsweise Platz. Der Zugriff auf unsere tiefste Vergangenheit bleibt immer spekulativ, aber nicht im nebulösen Sinn des Unüberprüfbaren und An-den-Haaren-Herbeigezogenen, sondern im soliden Sinn, in dem Legionen schlauer Köpfe, bewaffnet mit den gewieftesten Methoden vergleichender Morphologie, molekularer Genetik, Radiokarbondatierung, Biochemie, Statistik und Geologie, die plausibelste Version dieser Geschichte aus vielen heterogenen Theorien und Datensätzen zu rekonstruieren versuchen. Diese Rekonstruktion bleibt darauf angewiesen, welche ihrer Geheimnisse sich die Erdkruste durch geologische Zufälle mit uns zu teilen entschloss: Hier gleichen wir nicht selten dem Betrunkenen, der auf die Frage, warum er unter der Laterne nach seinem verlorenen Schlüssel suche, antwortet, dass dort eben das Licht am besten sei.

Die Wiege der Menschheit könnte nach Ostafrika verlegt worden sein, weil die geologischen Bedingungen dort Gesteinsschichten zutage förderten, die anderswo unter Dutzenden Metern von Geröll, Sand und Lehm vergraben blieben. Hinzu kommt, wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen, eine Anreizstruktur, die auch die seriösesten Forscher dazu verführt, ihre jüngsten Funde vorzugsweise unseren Ahnen und nicht vermeintlich banaleren Arten zuzurechnen: Von Schimpansen und Bonobos gibt es erstaunlicherweise so gut wie gar keine Fossilien, wobei natürlich »niemand die Chance, zum Entdecker eines der frühesten Homininen zu werden, zugunsten des Entdeckers des frühesten Panins aufzugeben bestrebt ist«.[6]

Wenn wir von den frühesten menschlichen Vorfahren nach der evolutionären Abspaltung von den restlichen Menschenaffen sprechen, sprechen wir von Tieren, deren Physiognomie und Erscheinung nur sehr entfernt an den modernen Menschen erinnern. Kaum über einen Meter groß, mit den für Primaten charakteristischen überlangen Armen, hervorspringender Schnauze, offen stehenden breiten Nüstern und am ganzen Körper von dichtem schwarzbraunem Fell bedeckt, ähnelten diese Protomenschen heutigen Affen eher als uns. Erste Zeichen von Kultur und intelligentem Problemlösen finden sich erst wesentlich später: Die primitiven Steinwerkzeuge, die die tansanische Olduvai-Schlucht berühmt gemacht haben, sind höchstens 2,5 Millionen Jahre alt.

Auch damals war es schon warm, aber nicht zu warm, weil unser Lebensraum häufig in Höhen über 1000 Metern lag. In diesen offenen, locker bewaldeten Graslandschaften suchten wir in kleinen Gruppen tagsüber im Boden nach Wurzeln und Knollen, bitteren Sprossen und zerklüfteten Rhizomen, nach Nüssen und Termiten und fanden, mit etwas Glück, die Überreste von Tieren, die von Hyänen oder Löwen – damals noch bedeutend talentiertere Jäger als wir – zurückgelassen worden waren. Angetrocknete Fleischreste von deren Kadavern versorgten uns mit Proteinen, ebenso wie das Mark ihrer Knochen und Hirn, das wir mit geschickten Fingern aus ihren geborstenen Schädeln löffelten.

Vor zwei Millionen Jahren beginnt das Pleistozän, und damit eines der für die menschliche Evolution entscheidenden Erdzeitalter. Die Erde ist bevölkert von bizarrer Megafauna: Mammuts, Wollnashörner, Säbelzahntiger und Riesengürteltiere streifen durchs Land. Sie alle sind inzwischen ausgestorben, auch unseretwegen.

Wir lebten in einer rauen, gefährlichen Welt. Die offene, savannenartige Fläche, die durch den Großen Afrikanischen Grabenbruch entstanden war und seitdem den östlichen Teil des Kontinents umgestaltet hatte, machte uns verletzlich für Raubtiere, vor denen wir uns im versteppenden Land nicht mehr durch eine rasche Flucht in die Baumwipfel schützen konnten. Die Berglandschaften, die sich im Westen aufzutürmen begonnen hatten, riegelten die Fläche gegen den Wind und den Regen ab, die sonst vom Atlantischen Ozean bis hierher gekommen waren und den Boden mit Wasser versorgt hatten.[7]

Die Fußabdrücke von Laetoli, die erhalten geblieben sind, erinnern an eine Familie – zwei Erwachsene und ein Kind –, deren Spuren vor knapp vier Millionen Jahren von der Asche des Vulkans Sadiman im Norden Tansanias an uns überliefert wurden. Sie sind die ältesten belastbaren Hinweise für ein Leben im aufrechten Gang. Die neuen Lebensbedingungen außerhalb dichter Wälder unterstützten eine solche bipedale Lebensweise. Wir blieben zwar noch lange kompetente Kletterer, waren aber zunehmend darauf angewiesen, größere Strecken zu Fuß zurückzulegen. In diesen flach bewachsenen, weiten Ebenen lohnten sich ein besserer Überblick und ein zügigerer Schritt.

Das Sozialleben dieser Gruppe früher Homininen lässt sich mit Zeitbudgetmodellen untersuchen, die erst in allerjüngster Zeit ausbuchstabiert wurden.[8] Um in ihrer Umwelt überleben zu können, mussten wir Primaten (und andere Lebewesen) letztlich drei Dinge tun: Nahrungsmittel beschaffen, Ruhepausen einlegen und den sozialen Zusammenhalt sichern. Sobald man eine ungefähre Idee davon hat, wie die archaische Umwelt zu der Zeit beschaffen war, um die es geht, und man ungefähr beziffern kann, wie viel reine Tageszeit (also abzüglich der Nacht) einer gegebenen Spezies zur Verfügung stand, kann man die maximale Größe der Gruppen ablesen, deren Zusammenhalt durch das sogenannte Grooming – also die wechselseitige Fellpflege, die der zentrale Mechanismus zur Etablierung sozialer Solidarität unter Primaten ist – gerade noch zu ermöglichen war. Wer so und so lange nach Futter suchen und sich so und so lange ausruhen musste, der hatte maximal einen Betrag x an Zeit übrig, um sich um den Zusammenhalt der Gruppe zu kümmern. Dieser Zeitraum reichte nicht aus, um Gruppen mit mehr als zwanzig Mitgliedern zu erhalten.

Aber warum war das Sozialleben für unsere Vorfahren so wichtig? Warum begann unsere Fähigkeit zu kooperieren eine so wichtige Rolle einzunehmen? Diese Fragen bringen uns zurück zu den klimatisch-geologischen Veränderungen, die durch den Großen Afrikanischen Grabenbruch entstanden.

Die erste fundamentale moralische Transformation des Menschen bestand in der Entdeckung der Moral überhaupt. Die meisten Tierarten kennen Verhaltensregularitäten, die den Zusammenhalt einer Gruppe ermöglichen und fördern. Fischschwärme, die geisterhaft einem unhörbaren Takt zu folgen scheinen, kooperieren durch Konformität; soziale Insekten wie Bienen oder Ameisen haben eine Arbeitsteilung perfektioniert, die dem Individuum zugunsten von Stock oder Kolonie oft völlige Selbstaufopferung abverlangt. Die spezielle Form von Kooperation, die die Moral des Menschen geformt hat, besteht darin, das Interesse des Einzelnen zugunsten eines größeren Gemeinwohls hintanzustellen, von dem alle profitieren.

Die Entstehung menschlicher Kooperation war die erste entscheidende moralische Transformation unserer Spezies. Warum Kooperation? Die Evolution unserer einzigartigen Kooperationsfähigkeit verdankt sich den klimatisch-geografischen Veränderungen, bei denen tropische Wälder durch offenere, savannenartige Flächen verdrängt wurden. Dies erklärt auch, warum sich unsere Lebensweise so drastisch von Schimpansen und Bonobos unterscheidet. Unsere nächsten Verwandten, die von vergleichbaren klimatischen Umwälzungen verschont blieben, wohnten weiterhin in dicht bewaldeten Gebieten um den zentralafrikanischen Fluss Kongo und waren dadurch einem völlig anderen Selektionsdruck ausgesetzt. Die Destabilisierung unserer Umwelt und die Tatsache, dass wir in weitaus drastischerem Ausmaß dem Zugriff gefährlicher Raubtiere ausgesetzt waren, erhöhten den Druck, diese neue Verletzlichkeit durch verbesserten gegenseitigen Schutz zu kompensieren. Wir fanden Rückhalt und Stärke in größeren Gruppen mit engerer Zusammenarbeit. Wir Menschen sind das, was aus den intelligentesten Affen wird, wenn man diese fünf Millionen Jahre lang dazu zwingt, auf offenen Flächen in großen Graslandschaften zu leben.[9]

Adaption

Die evolutionäre Psychologie versucht, aus unserer Evolutionsgeschichte etwas über die Gegenwart herauszufinden. Sie hat einen schlechten Ruf: Vielen erscheint sie als der nur ungeschickt versteckte Versuch, reaktionäre Vorurteile pseudowissenschaftlich zu legitimieren. Dieser Verdacht ist nicht ganz unbegründet, vor allem die Erforschung von Geschlechterdifferenzen verführt so manchen Theoretiker dazu, teilweise haarsträubende »Just-so Storys« – also kaum überprüfbare, aber plausibel klingende Versionen unserer evolutionären Vorgeschichte – zu entwerfen, die angeblich erklären sollen, warum Frauen gerne Schuhe kaufen und Männer gerne Fußball gucken. Als Sammlerin von Früchten und Beeren ist nämlich die archetypische Frau schon immer gerne auf die Suche nach kleinen bunten Gegenständen gegangen, die es dann nach Hause zu bringen galt. Für den Mann dagegen, der seit jeher der Jagd verpflichtet ist, übt naturgemäß der physische Wettkampf, das Zielen, Kämpfen und Überwältigen, eine endlose Faszination aus. Deswegen, so die Idee, sei es auch heute noch ganz gut und richtig, wenn der Mann, um seine Familie zu ernähren, die Beute mit nach Hause bringe und die Frau im Gegenzug sicherstelle, stets hübsch auszusehen.

Der Chauvinismusvorwurf gegen die evolutionäre Psychologie wird also nicht ganz zu Unrecht erhoben. Dennoch bedeutet die Tatsache, dass die Hälfte einer Disziplin sexistischer Bullshit ist, nicht, dass ihre andere Hälfte ebenso unseriös sein muss. Dass die Evolution unsere Psyche geformt hat, so wie sie unseren Körper formte, ist vernünftigerweise nicht zu bestreiten. Es wäre verblüffend – ja geradezu verstörend und mysteriös –, wenn die natürliche Selektion ihre Spuren nur südlich unseres Halses hinterlassen hätte.

Die evolutionäre Psychologie versucht, Psychologie mit evolutionstheoretischen Mitteln zu betreiben. Sie versucht herauszufinden, ob und inwiefern unsere evolutionäre Laufbahn die Art beeinflusst hat, wie wir denken, fühlen, wahrnehmen und handeln, um damit aus dem Gestern für das Heute zu lernen.

Ein wichtiger Teil dieses Projekts besteht darin, die Umweltbedingungen zu verstehen, unter denen diese Evolution stattgefunden hat. Es ist ja kein Zufall, dass wir Schlangen und Spinnen misstrauen, Städte mit Parks ausstatten, die Savannenlandschaften ähneln, Lagerfeuer zu schätzen wissen, stundenlang über andere Menschen tratschen können, dass plötzliche, laute Geräusche uns erschrecken oder dass wir gezielt werfen und lange Strecken laufen können. Unsere visuelle Wahrnehmung ist nur für einen Teil des elektromagnetischen Spektrums sensibilisiert – nämlich den Teil, den sehen zu können sich biologisch auszahlt (wir nennen ihn »Licht«). Ähnlich, so die Vermutung, ist es auch um andere Eigenschaften unserer Psychologie bestellt. Unser Geist arbeitet auch heute noch nach den Mustern, die für unsere Vorfahren einmal ein Wettbewerbsvorteil waren. Eine Eigenschaft, die einen solchen Vorteil durch Anpassung bringt, nennt man »adaptiv«. Nicht jede unserer Fähigkeiten ist zwangsläufig evolutionären Ursprungs. Funktional komplexe Eigenschaften sind aber mit hoher Wahrscheinlichkeit adaptiv – oder waren es jedenfalls einmal.

Eine der interessantesten Konsequenzen der evolutionären Psychologie ist, dass sie viele Fehlfunktionen unseres Denkens und Handelns erklären kann. Das wahrscheinlich bekannteste Beispiel für eine solche Inkongruenz von Geist und Umwelt ist unser nahezu unbegrenzter Appetit auf Zucker. Kohlenhydrate sind eine wichtige Energiequelle für den menschlichen Körper, und Energie war meist vor allem eines: knapp. Es ergab deshalb Sinn für uns, eine Disposition evolutionär ererbt zu haben, die dafür sorgte, dass wir keine Gelegenheit auslassen würden, Zucker zu uns zu nehmen. Solange Kohlenhydrate rar sind, bleibt diese Disposition auch adaptiv, da uns die Lust am Zucker effektiv motiviert, eine für uns wichtige Energiequelle in uns aufzunehmen. In dem Moment aber, in dem wir unsere Umwelt evolutionärer Angepasstheit verlassen und durch Supermärkte und Tankstellen dauerhaft Zugang zu unbegrenzten Zuckervorräten haben, wird unsere Begierde zum Problem: Der evolutionäre Imperativ, in Vorbereitung auf magerere Zeiten immer so viel Energie wie möglich zu konsumieren, muss von nun an willentlich eingehegt werden.

Unsere Psychologie ist bedauerlicherweise mit einem ganzen Arsenal atavistischer Tendenzen ausgestattet, für die moderne Gesellschaften eine zunehmend feindliche Umwelt darstellen, in der wir urzeitliche Instinkte, Denk- und Verhaltensmuster ständig mit großem Aufwand unterdrücken müssen. Dies steigert den Bedarf an Selbstkontrolle und führt nach und nach zu einem diffusen »Unbehagen in der Kultur«[10], weil diese zwar unsere materiellen Nöte eliminiert, gleichzeitig aber die Ansprüche an unsere kognitive Disziplin intensiviert. Dadurch perpetuiert sich eine paradoxe Wahrnehmung: Vom materiellen Wohlstand entwickelter menschlicher Gesellschaften scheint ein Glücksversprechen auszugehen, das nur frustrierend langsam – und nie vollständig – eingelöst wird, weil wir für jeden Zuwachs an sozialer Komplexität mit einem Zuwachs an kognitiver Überforderung bezahlen.

Für eine Geschichte der Moral kommt es darauf an, welche Attribute unserer evolutionären Vergangenheit die Art und den Umfang unserer Kooperationsbereitschaft geformt haben. Wir wissen, dass wir über eine ungewöhnlich spontane und dabei erstaunlich flexible Kooperationsbereitschaft verfügen. Aber warum?

Die entscheidende Phase unserer spezifisch menschlichen Evolution – also der evolutionären Vorgeschichte, die wir nicht mit Amöben, Amphibien oder anderen Säugetieren teilen – fand in einer hochgradig volatilen Umwelt statt. Dies heißt nicht, dass das Wetter zu jener Zeit besonders unvorhersagbar gewesen wäre. Vielmehr bedeutet es, dass Populationen unserer Vorfahren über Generationen hinweg mit rapiden und drastischen klimatischen Umwälzungen zu tun hatten; Umwälzungen, die sonst langsamer oder weniger extrem oder beides verlaufen waren. Eine instabile natürliche Umgebung setzt eine Prämie auf gesteigerte Flexibilität und Plastizität aus, was Nahrung, Mobilität, Sesshaftigkeit betrifft. Diese erlaubten es unseren Vorfahren, sich neue Lebensräume zu erschließen, auch ohne zuerst anatomische Veränderungen durchmachen zu müssen. Erste technologische Durchbrüche sorgten für eine verbesserte Fähigkeit, mit den Zumutungen der Natur fertigzuwerden und neue Nischenbedingungen erfolgreich zu überstehen. Eine zunehmend kapriziöse Umwelt machte außerdem das Teilen von Risiken sinnvoll. Wenn man weiß, dass jedes Jahr drei von zwanzig Hütten Stürmen zum Opfer fallen, aber nicht, wessen Hütte es dieses Jahr treffen wird, lohnt es sich, in die soziale Struktur Sicherungssysteme einzubauen, die die Mitglieder einer Gruppe notdürftig vor den Launen des Schicksals schützen.

Die Präsenz größerer Säugetierspezies machte das gemeinsame Jagen adaptiv. Viele Tiere jagen kooperativ; aber das Niveau an Präzision und Koordination, das Menschen an den Tag legen, ist sonst unerreicht. Unsere Vorfahren waren irgendwann zunehmend darauf angewiesen, sich mit dem Fleisch großer Tiere versorgen zu können. Diese Tatsache machte es evolutionär sinnvoll, kollektive Absichten – sogenannte Wir-Intentionen[11] – auszubilden, die komplexe Fähigkeit des Jagens zu lernen und schließlich gemeinsam mit anderen auszuüben. Ausgefeilte Institutionen, die die Teilnahme an der Jagd sowie das Teilen der Beute regulieren, begannen sich parallel zu entwickeln.

Auf diese Weise gelang es kooperationsfähigen Wesen wie uns, die Früchte der Zusammenarbeit zu ernten, die uns die natürliche oder soziale Umwelt bot. Es entstehen sogenannte Skaleneffekte, bei denen sich die Vorteile der Kooperation mit wachsenden kooperativen Netzwerken sogar noch vergrößern. Dieses von Ökonomen als increasing returns to scale bezeichnete Phänomen besteht darin, dass sich unser Handlungserfolg nicht immer linear entwickelt, sondern manchmal plötzlich explodiert. Wenn man einen Elefanten oder ein Zebra nur mindestens zu sechst jagen kann, besteht die Wahl zwischen dem Jagen in Fünfer-Gruppen und dem Jagen in Sechser-Gruppen nicht in der Wahl zwischen fünf oder sechs Kaninchen, sondern zwischen fünf Kaninchen und einem Elefanten.

Die Hirschjagd ist ein theoretisches Modell, mit der sich diese Form der Kooperation modellieren lässt. In diesem Zusicherungsspiel gibt es zwei Spieler (A und B) und zwei Optionen (Hirsch- oder Hasenjagd). Den Hirsch können die Spieler nur gemeinsam erlegen; einen Hasen kann jeder selbst fangen. Nun kommt es darauf an, dass die Spieler ihre Handlungen koordinieren. Wenn A den Hirsch jagt und B den Hasen, geht A hungrig nach Hause, und B mit einer vertanen Chance. Nur wenn beide die Hirschjagd wählen, wird das Optimum erreicht.

In unserer Umwelt evolutionärer Angepasstheit lebten wir in kleinen Gruppen. Ein Schlüsselbegriff der evolutionären Anthropologie ist die Dunbar-Zahl. Der britische Evolutionspsychologe Robin Dunbar konnte zeigen, dass die Größe des Neocortex von Primaten eine Obergrenze für die Anzahl von Mitgliedern in einer Gruppe darstellt, weil größere Gruppen mit entsprechend komplexerer Sozialstruktur gesteigerte Ansprüche an unsere Informationsverarbeitung stellten.[12] Man musste entscheiden, wem man vertrauen kann, und die soziale Reputationsbuchführung auf dem neuesten Stand halten, um einschätzen zu können, wer ein guter Freund oder Lehrer oder beides ist, wer am besten jagt, kocht, Spuren liest oder wer wen wann wie stark beleidigt hat.

Der zunehmende Umfang einer Gemeinschaft wirkt auf lange Sicht destabilisierend, weil uns von Natur aus der institutionelle Werkzeugkasten fehlt, um kooperative Arrangements dauerhaft belastbar zu machen. Dunbar ist sogar der Meinung, die natürliche Gruppengröße menschlicher Populationen, hergeleitet aus deren durchschnittlichem Großhirnvolumen, relativ genau auf 150 Personen eingrenzen zu können. Dieser Wert findet sich in den unterschiedlichsten Kontexten wieder, von Stammesgesellschaften bis hin zur internen Struktur militärischer Organisationsformen. Salopp gesagt gibt es höchstens 150 Menschen, denen man sich unbefangen in einer Bar auf einen Drink anschließen würde.[13] Das Besondere an menschlichen Gesellschaften ist natürlich, dass diese weit mehr als 150 Menschen integrieren können. Dies kann aber erst seit Kurzem und nicht ohne ein institutionelles Gerüst geschehen, das die Bildung größerer Gruppen kooperativ reguliert. Spontane Gemeinschaften spalten sich auf, sobald ihre numerische Tragfähigkeit überstrapaziert wird.

Die kleinen Gruppen, auf deren Leben unsere evolutionären Vorfahren zugeschnitten waren, befanden sich in einem Zustand permanenten, zumindest latenten Konflikts. Zum einen kam es unter den unwägbaren Umweltbedingungen in unserer evolutionären Vergangenheit häufig zu heftigen Konflikten um knappe natürliche Ressourcen. Ob wir den Menschen mit Thomas Hobbes als des Menschen Wolf bezeichnen können, bleibt eine kontroverse Frage. Dass menschliche Gruppen aber einander meist außerordentlich feindlich gegenüberstanden, lässt sich durch Daten aus der forensischen Archäologie sehr deutlich belegen.[14] In manchen Stämmen nomadischer Jäger und Sammler soll sogar der Begriff eines natürlichen Todes, der nicht gewaltsam durch die Mitglieder eines benachbarten Stammes herbeigeführt wurde, mehr oder weniger unbekannt gewesen sein.

Dass das Aufeinandertreffen vorzeitlicher Gruppierungen meist zu gewaltsamem Konflikt geführt haben muss, überrascht nicht. Evolutionär ergibt es Sinn, territoriale Kriegsführung und Auseinandersetzungen um Ressourcen zu erwarten, weil Gruppenkonflikte ideal dafür geeignet sind, den Selektionsdruck auf kooperative Mechanismen zu erhöhen.[15] Je mehr das Überleben des Einzelnen vom Erfolg der Gruppe abhängt, desto mehr beginnen sich altruistische Handlungen zugunsten des Kollektivs auszuzahlen. Kriegsführung als Beispiel für altruistische Kooperation anzuführen widerstrebt vielen, ist aber technisch korrekt: Wer mitkämpft, ordnet sein eigenes Interesse einem gemeinsamen Projekt unter und wählt damit die kooperative Option.[16] Dafür, ob der Krieg gewonnen wird, ist der eigene Beitrag vernachlässigbar. Die Früchte des Sieges genießt auch der Verweigerer. Kriege sind also klassische Probleme kollektiver Handlungen. Ob die Kriegshandlungen einer moralisch guten Sache dienen, ist dafür sekundär: Kooperation ist ein zentrales Fundament menschlicher Moral auch dann, wenn zugunsten niederträchtiger Zwecke kooperiert wird.

Zu Ausbrüchen von Gewalt kam es wahrscheinlich nicht nur durch zufällige Begegnungen, sondern vor allem auch im Rahmen strategischer Überfälle zwischen verfeindeten Gruppen. Beides wurde durch das oben erwähnte volatile Klima nur begünstigt, da häufige Migrationsverwerfungen den Zusammenprall vormals isolierter Gruppen umso wahrscheinlicher machten. Ethnografische Erhebungen zu rezenten indigenen Bevölkerungen ergeben dasselbe Bild. Nach innen waren unsere Vorfahren familiäre Pazifisten, nach außen mordende und plündernde Gangs.

Unsere Umwelt evolutionärer Angepasstheit ist kein Ort, den man auf der Weltkarte einkreisen könnte, keine historische Periode, die sich auf einem Zeitstrahl markieren ließe. Unsere evolutionäre Vergangenheit ist ein Sammelbegriff für die Kollektion an natürlichen und sozialen Bedingungen, die einen effektiven Selektionsdruck auf die Entwicklung unserer Spezies ausgeübt haben. Wer unsere Moral verstehen will, muss die Geschichte dieser Selektion verstehen.

Biologische Evolution

Um die Mechanismen menschlicher Evolution genauer zu verstehen, muss man zunächst begreifen, wie Evolution im Allgemeinen funktioniert. Dass jemals ein »Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen«[17] werde, hielt Kant noch 1790 für »ungereimt« und damit schlechthin ausgeschlossen. Nur 69 Jahre später erschien Charles Darwins On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) und zeigte damit erneut, dass, was heute unmöglich erscheint, morgen schon Wirklichkeit sein kann.

Der Eindruck, die belebte Welt sei das Ergebnis absichtlicher Intervention, ist auf den ersten Blick unwiderstehlich. Das Auge ist zum Sehen da, das Herz zum Pumpen. Geparden sind schlank und schnell, damit sie gut jagen können. Vögel können fliegen, damit – und so weiter. Die Evolutionstheorie räumt mit diesem Eindruck auf und entlarvt ihn als teleologische Illusion. Das Leben ist nur scheinbar zweckorientiert, es folgt in Wahrheit dem ungeplanten Tidenhub von Mutation und Selektion.

Tatsächlich verdankt sich der Anschein intelligenten Designs einem graduellen Prozess, in dessen Verlauf sich über Abermillionen von Jahren die Häufigkeit von Varianten unter externem Selektionsdruck (etwa durch Seuchen, Klimawandel etc.) verändert. Evolution spielt sich immer dort ab, wo es zu »Abstammung mit Veränderung« (Darwin spricht von »descent with modification«) kommt. Sie basiert auf der Kombination mehrerer Faktoren wie Variation, unterschiedlichem reproduktivem Erfolg und Vererbung. Zufällige Mutationen sorgen für Variation. Unterschiede im relativen Reproduktionserfolg der so entstandenen Varianten führen via Vererbung zu einer Neumischung der nächsten Generation. Dieser Prozess heißt natürliche Selektion.

All das geht »blind« vor sich, was hier so viel heißen soll wie »ungeplant«. Niemand dirigiert den Ablauf, der, wie der Philosoph Daniel Dennett feststellt, »algorithmisch«[18] fortschreitet. Ein Algorithmus ist ein Entscheidungsverfahren, das, wenn korrekt und wiederholt angewandt, mechanisch ein bestimmtes Ergebnis produziert. Evolution produziert Adaption – und, auf lange Sicht, die Entstehung neuer Arten (Speziation) – durch die wiederholte Anwendung von Variation und Selektion.

Natürliche Selektion ist nicht der einzige Mechanismus, der über die Zusammensetzung einer Population entscheidet. Neben zufälliger genetischer Drift spielt auch sexuelle Selektion eine Rolle. Ob sexuelle Selektion eine Spielart natürlicher Selektion ist, ist allerdings umstritten. Im Prozess sexueller Selektion hängt der jeweilige Reproduktionserfolg eines Organismus (genauer: seiner Gene) nicht vom Diktat der Natur ab, sondern vom kapriziösen Geschmack des anderen Geschlechts.

Es gibt wahrscheinlich wenige wissenschaftliche Begriffe, die so leicht verständlich scheinen und doch so häufig missverstanden werden. Der Begriff der Anpassung oder Adaption lädt zu dem Lamarckistischen Fehlschluss ein, dass Umwelteinflüsse zu phänotypischen Veränderungen am bereits existierenden Organismus führen können. Evolution würde demnach zum Beispiel darin bestehen, dass sich der Hals einer Giraffe durch den Versuch verlängert, die Blätter besonders hoher Baumkronen zu erreichen. Dagegen spricht sowohl, dass erworbene Eigenschaften (abgesehen von wenigen epigenetischen Ausnahmen) nicht vererbt werden können, als auch, dass sich bestimmte Eigenschaften gar nicht erst erwerben lassen. Ein noch fundamentaleres Missverständnis liegt aber in der Annahme, dass Evolution ein Prozess ist, der an Individuen stattfindet. Tatsächlich ist der Evolutionsbegriff populationsstatistisch zu verstehen, und betrifft die intergenerationelle Variabilität in der Distribution eines Merkmals in einer Population, soll heißen: wie sich die Häufigkeit eines Merkmals von Generation zu Generation verändert. Giraffen mit längeren Hälsen haben mehr Nachwuchs, sodass die Folgegeneration mehr Giraffen mit längeren Hälsen enthält.

Die ursprünglich gar nicht von Darwin selbst, sondern fünf Jahre nach Erscheinen seines Origin of Species von dem englischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer geprägte Formel von der Evolution als dem Prozess des survival of the fittest suggeriert, dass es evolutionsunabhängige Fitnesskriterien gebe die der Evolutionsprozess dann gleichsam aufspürt. Tatsächlich sind die Fittesten einfach diejenigen, die den größten Reproduktionserfolg haben. Der Begriff der Fitness ist quasi-zirkulär und tautologisch: Wer setzt sich durch? Die Fittesten. Wer sind die Fittesten? Die, die sich durchsetzen. Wer diese Fittesten sind, und ob sie groß oder klein, stark oder schwach, schlau oder dumm sind, ist der Evolution gleichgültig, solange sie nur überleben und Nachkommen erzeugen.

Dass ein Merkmal adaptiv war – was sich immer erst im Rückblick und nie ex ante herausstellt –, bedeutet nicht, dass es die bestmögliche Anpassung darstellt. Evolution optimiert nicht. Viele Menschen wundern sich zum Beispiel, warum wir Menschen immer noch an Krebs erkranken. Sollte dieser »König aller Krankheiten«[19] nicht schon längst besiegt sein? Sollte die Evolution uns nicht immun gemacht haben? Leider ist die Evolution uns und unserem Leid gegenüber indifferent. Das Einzige, was sie interessiert, ist, wie eine Eigenschaft den reproduktiven Erfolg meiner Gene beeinflusst. Die meisten Menschen haben ihre Gene längst weitergegeben, bevor sie an Krebs erkranken. Dass es noch besser wäre, erst gar keinen Krebs zu bekommen, geht die Evolution nichts an, da sie nur am gerade noch gut genug interessiert ist. Worauf es im evolutionären Wettbewerb ankommt, ist, vergleichsweise durchsetzungsfähiger zu sein als die Konkurrenz. Optimale Qualität spielt keine Rolle. Tatsächlich sind Optimierungsstrategien sogar maladaptiv, da der Selektionsdruck den effizientesten Umgang mit Ressourcen prämiert. Perfektionisten geht es an den Kragen.

Nicht jedes Merkmal verdankt sich einem Prozess der Adaption. Neben Adaptionen gibt es auch Exaptationen, bei denen das funktionale Profil eines Merkmals, das ursprünglich für dessen Selektion gesorgt hat, nachträglich zweck- oder besser: funktionsentfremdet wird. Das kanonische Beispiel sind Vogelfedern, deren ursprüngliche thermoregulative Funktion darin bestand, die Körpertemperatur des Organismus zu kontrollieren, und die erst später evolutionär zu Fluginstrumenten umgedeutet wurden. Zweitens verändert sich die Ausprägung von Merkmalen in einer Population häufig überhaupt nicht durch die Reproduktionsdifferenzen, die durch (dys)funktionale Performance entstehen, sondern durch zufällige genetische Drift. Zu nicht adaptiver Drift kommt es zum Beispiel dann, wenn eine Spezies durch einen Populationsflaschenhals geht: Eine Flut oder ein Sturm hat einen Großteil der Gruppe eliminiert, sodass nur die genetische Information der zufällig Verschonten übrig bleibt.

Schließlich hat die Tatsache, dass ein Merkmal adaptiv ist – also zu relativem Reproduktionserfolg führt –, nichts damit zu tun, dass dieses Merkmal in irgendeinem anderen Sinn gut oder wünschenswert wäre. Die Evolutionsbiologie und evolutionäre Psychologie ist ein Panoptikum aus Brutalitäten und Obszönitäten, die zwar oft strategisch günstig, aber ethisch mehr als zweifelhaft sind. Je nach Bedingungen können Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Diebstahl, Fremdenhass und Eifersucht durchaus adaptiv sein. Moralisch richtig werden diese dadurch nicht.

Wie wichtig die wissenschaftliche Entdeckung der Evolution ist, lässt sich kaum überschätzen. Die Idee, dass sich eine scheinbar absichtliche Anpassung durch das unkoordinierte Zusammenspiel von Mutation und Selektion erklären lässt, gehört zu den größten Einsichten der Menschheitsgeschichte, vergleichbar nur mit drei oder vier anderen Entdeckungen ähnlichen Ranges. »Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein«[20], hatte Nietzsche einst prognostiziert. Der »Darwinsche Abgrund«[21] sollte sich als tiefer erweisen als jemals gedacht. Dennett beschreibt die Evolutionstheorie treffend als »universelle Säure«, die sich durch jedes unserer traditionellen Konzepte, Ideen und Theorien frisst.[22] Welche Weltanschauung auch immer mit ihr in Kontakt tritt, jede wird grundlegend verändert. Viele Ideologien haben den Kontakt gar nicht überlebt.

Die Unwahrscheinlichkeit der Kooperation

Vor allem in den letzten Jahrtausenden ist viel passiert. Der Philosoph und Neurowissenschaftler Joshua Greene stellt sich vor, dass eine überlegene Zivilisation von Außerirdischen alle 10 000 Jahre die Erde besucht, womöglich um zu sehen, ob sich eine der hier ansässigen Spezies als vielversprechend herausstellt. Zu Homo sapiens notierten sie vor 100 000 Jahren: »Jäger & Sammler, einige primitive Werkzeuge; Population: 10 Millionen«[23]; ebenso vor 90 000 Jahren, vor 80 000 und auch noch vor 10 000 Jahren. Bei ihrem letzten Besuch im Jahr 2020 besagen ihre Aufzeichnungen dann: »Globalisierte Industriewirtschaft, fortgeschrittene Technologie mit Atomkraft, Telekommunikation, künstliche Intelligenz, Raumfahrt, umfassende soziale/politische Institutionen, demokratische Regierung, fortgeschrittene Wissenschaft […]«. Wir haben es weit gebracht, und unsere Fähigkeit zur Moral hat diese Entwicklung entscheidend geformt und vorangetrieben.

Es hätte nicht so kommen müssen, denn alternative Szenarien lassen sich leicht ausmalen. Die US-amerikanische Anthropologin Sarah Hrdy vergleicht, wie sich ein Flug abspielen würde, je nachdem, ob Schimpansen oder Menschen zu den Passagieren gehören.[24] Ich vermute, dass nur die wenigsten Menschen wirklich Freude am Fliegen haben. Dennoch muss man zugeben, dass trotz der frustrierenden Hindernisse, die überwunden werden müssen, bevor man an Bord gehen darf, das Ganze doch überwiegend gesittet zugeht. Schließlich sitzen wir mehrere Stunden lang, eng zusammengepfercht unter Fremden, schweigend und regungslos, mit zweifelhaftem Essen versorgt und von noch zweifelhafteren Medien unterhalten. Gelegentlich irritiert ein betrunkener Passagier oder ein schreiendes Baby, das sich nicht beruhigen lässt, aber wer hätte jemals einen ernsthaften oder gewaltsamen Zwischenfall erlebt?

Wie würden sich Schimpansen unter vergleichbaren Bedingungen verhalten? Man kann von dem Versuchsaufbau nur abraten: demolierte Sitze, zerborstene Scheiben, Blutlachen auf dem Teppichboden, abgerissene Ohren, Finger und Penisse, zahlreiche tote Affen in allen Ecken des Innenraums, ein einziges Heulen und Zähneklappern.

Damit soll übrigens nicht angedeutet sein, dass Schimpansen – oder nicht menschliche Tiere überhaupt – durch und durch blutrünstige, impulsive und zu keiner Kooperation fähige Scheusale seien. Der Punkt ist vielmehr, dass unsere menschliche Kooperationsfähigkeit anders funktioniert als die aller anderen Tiere: Wir kooperieren häufiger, flexibler, großzügiger, disziplinierter, mit weniger Argwohn und sogar mit Fremden. Irgendetwas ermöglicht es uns, die Vorzüge der Kooperation zu sehen und gleichsam anzuzapfen. Wer Artgenossen für diverse Win-win-Projekte zu rekrutieren vermag, dem eröffnet sich eine Welt neuer Möglichkeiten. Uns gelingt es erstaunlich gut, diese zu erkennen und zu ergreifen.

Wir wollen nur spielen

Im 20. Jahrhundert hat sich eine eigene wissenschaftliche Disziplin herausgebildet, die sich zu einem großen Teil mit den Bedingungen und Grenzen menschlicher Kooperation beschäftigt. Die sogenannte Spieltheorie untersucht, wie rationale Akteure miteinander interagieren, und versucht insbesondere zu erklären, warum es oft so schwierig ist, kooperatives Handeln entstehen zu lassen und zu stabilisieren.

Die Bezeichnung Spieltheorie ist unglücklich gewählt, da sie entweder suggeriert, es handle sich um eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Spielen – also etwa Schach oder Poker oder Basketball – oder dass das menschliche Zusammenleben als unseriöser Zeitvertreib denunziert werden solle. Beides ist nicht der Fall. Tatsächlich interessieren sich Spieltheoretiker dafür, menschliche Interaktion mit präzisen mathematischen Modellen zu beschreiben – vor allem mit dem Ziel zu verstehen, warum Kooperation so oft misslingt oder gar nicht erst zustande kommt. Die Bezeichnung Spieltheorie hat damit zu tun, dass sich Interaktionen als Sequenzen von Handlungen betrachten lassen, bei denen der jeweils vorangegangene Zug von A darüber entscheidet, was für B der beste Gegenzug wäre.

Als kooperativ wird ein Verhalten genau dann bezeichnet, wenn es das unmittelbare Selbstinteresse zugunsten eines größeren gemeinsamen Vorteils zurückstellt. Dies hat nichts mit Selbstaufopferung zu tun: Von Kooperation profitieren alle, weswegen es besonders frustrierend ist, wenn diese an Kleinlichkeit, Impulsivität oder kurzsichtigem Denken scheitert.

Kooperative Handlungen orientieren sich an Normen, die die rationale Nutzenmaximierung des Einzelnen zwar einschränken, dadurch aber zu Win-win-Situationen führen, die in der Spieltheorie als Spiele mit positiven Summen bezeichnet werden. Nullsummenspiele wie Poker zeichnen sich dadurch aus, dass die Verluste des einen die Gewinne des anderen sind – die Summe von Gewinnen und Verlusten ist null. Bei Negativsummenspielen verlieren alle. Weil niemand zu kurz kommt, erfüllen kooperative Win-win-Handlungen deshalb ein wichtiges Kriterium der Gerechtigkeit: Sie lassen sich allen Betroffenen gegenüber rechtfertigen.

Es gibt mindestens ein Schlagwort aus der Spieltheorie, das inzwischen Eingang in den populären Diskurs gefunden hat: der Begriff des Gefangenendilemmas (prisoner’s dilemma). Die Geschichte geht ungefähr so: Zwei Kriminelle sind von der Polizei verhaftet worden. Man kann ihnen auf jeden Fall ein kleineres Verbrechen (etwa unerlaubten Waffenbesitz) nachweisen, will sie aber eigentlich wegen eines kürzlich begangenen Bankraubs drankriegen, für den die Beweislage aber noch unzureichend ist. Also werden die beiden in getrennte Verhörzimmer gebracht, und man bietet ihnen einen Deal an: Wenn Person A Person B beschuldigt, kommt A mit einer leichten Gefängnisstrafe von einem Jahr davon. B muss jetzt, da man ihm beide Verbrechen nachweisen kann, zehn Jahre absitzen. Aber: B bekommt denselben Deal angeboten. Wenn beide schweigen und man ihnen nur das leichtere Vergehen anhängen kann, kriegen beide nur jeweils drei Jahre. Wenn beide einander verraten, können sie von jeweils fünf Jahren ausgehen. Da beide nicht miteinander kommunizieren können, muss jeder die für sich optimale Strategie auswählen. Für A gilt: Wenn B mich verrät, sollte ich B ebenfalls verraten, andernfalls gehe ich als Alleintäter für zehn Jahre ins Gefängnis. Wenn B aber dichthält und schweigt? Dann sollte ich ihn dennoch verraten, wodurch sich meine Strafe auf ein Jahr reduzieren würde. Das Problem ist, das beide in der gleichen Lage sind. Also werden beide einander beschuldigen und können deshalb mit jeweils fünf Jahren rechnen.

Das Gefangenendilemma scheint eine entlegene Spezialsituation zu beschreiben, die nicht alltagsrelevant ist. Tatsächlich handelt es sich dabei nur um eine lebhafte Illustration eines allgemeineren Problems, mit dem sich der Grundkonflikt sozialen Handelns präzise modellieren lässt. Kooperatives Verhalten ist für alle Beteiligten fast immer die beste Option. Das Problem ist, dass es für jede einzelne Person noch besser ist, wenn alle anderen kooperieren, sie aber die anderen übervorteilen kann. Anders gesagt: Unkooperatives Verhalten ist für jeden Einzelnen immer die beste Wahl, unabhängig davon, ob die anderen kooperieren oder nicht. Wenn ich belogen werde, ist es besser, selbst zu lügen. Wenn die anderen ehrlich sind – ebenfalls. Nicht-Kooperation wird zur dominanten Strategie, und beidseitige Nicht-Kooperation befindet sich dadurch in einem stabilen Nash-Equilibrium: Niemand kann ohne Nachteil unilateral aus diesem Gleichgewicht ausscheren. Das Paradoxe am Gefangenendilemma ist, dass es zeigt, wie das individuell Rationale und das kollektiv Vernünftige auseinanderfallen können. Wenn jeder individuell rational handelt, kommt es zu einem kollektiv suboptimalen Ergebnis. Die Früchte der Kooperation bleiben ungeerntet.

Sobald man die Grundidee verstanden hat, fängt man an, überall Gefangenendilemmata – oder allgemeiner: Probleme kollektiver Handlungen – zu sehen. Das liegt vor allem daran, dass Probleme kollektiver Handlungen tatsächlich überall zu finden sind. Die vielleicht bekanntesten Beispiele stammen aus dem Kontext der Erschöpfung natürlicher Ressourcen. Dieses Problem – vom schottischen Philosophen David Hume bereits im 18. Jahrhundert antizipiert – ist seit Garrett Hardin als Tragik der Allmende (tragedy of the commons) bekannt.[25] Die Beobachtung des US-amerikanischen Ökologen: Natürliche Ressourcen, wie etwa Weiden oder Fischbestände, die nicht durch Eigentumsgrenzen parzelliert sind, werden tendenziell über ihre Kapazitätsgrenzen hinweg ausgebeutet. Unabhängig davon, wie sich die anderen verhalten – ob nachhaltig oder ebenfalls ausbeuterisch –, ist es für jeden Einzelnen die beste Strategie, die Ressource übermäßig auszunutzen. Die Vorteile dieses Fehlverhaltens kann jeder Einzelne selbst absorbieren; die Kosten werden an den Rest des Kollektivs »externalisiert«.

Viele scheinbar banale Alltagsphänomene lassen sich als Probleme kollektiver Handlungen analysieren. Autobahnstaus entstehen oft durch die Indiskretion neugieriger Gaffer, die für einen flüchtigen Blick auf eine Unfallstelle kurz abbremsen und damit nach und nach die Verlangsamung hinter sich eskalieren lassen. Trampelpfade sind Abkürzungen, die für jeden Einzelnen vorteilhaft sind, am Ende aber für alle hässliche Spuren im Boden hinterlassen.

In der Ökonomie spricht man seit Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute von »demonstrativem Konsum«, bei dem oft erhebliche Mittel für Statussymbole aufgewandt werden, die letztlich keine intrinsische Befriedigung verschaffen, sondern rein positionale Effekte haben: Wertvoll sind sie nur dann, wenn (und weil) andere bestimmte Güter nicht haben. Sobald die Konkurrenz aber aufgeholt hat, sind alle schlechter dran: Jeder ist ärmer, aber keiner glücklicher, und das kollektive keeping up with the Joneses hätte besser gar nicht erst begonnen.[26]

Politisch hat sich die Spieltheorie vor allem im Zusammenhang mit dem Aberwitz des Wettrüstens im Kalten Krieg bewährt.[27] Vielen Intellektuellen schien die Welt im Kalten Krieg einfach verrückt geworden zu sein, der Verstand der Opponenten vergiftet von unversöhnlichen Ideologien, die den Gegner als minderwertig oder böse erscheinen ließen. Auch diese Erklärung liegt aber auf fatale Weise falsch, weil sie das Problem ins Außeralltäglich-Unlösbare verbannt, anstatt den banalen Kern im reziproken Abschreckungsszenario zu sehen. Wenn alle anderen nuklear aufrüsten, ist es für mich besser, ebenfalls Atomwaffen zu besitzen. Wenn ich der Einzige bin – noch besser.

Auch viele soziale Probleme lassen sich so beschreiben: Amerikanische Waffenbesitzer weisen gerne darauf hin, dass sie sich mit einer Schusswaffe sicherer fühlen als ohne; Selbstverteidigung wird von so gut wie jedem als legitimer Wunsch anerkannt, weswegen die US-Waffenlobby den Ruf nach wirksamerer Regulation insbesondere von leistungsfähigen Waffen wie Sturmgewehren wahlweise als Symptom verweichlichter Ostküsten-Dekadenz oder als übergriffigen Kontrollwahn Washingtoner Eliten wegerklärt. Das spieltheoretische Vokabular zeigt, dass das Nonsens ist; in Wahrheit geht es auch hier um den Umgang mit einer Situation, in der die individuell rationale Handlung, eine Waffe zu besitzen, kollektiv irrational ist. Allgemeiner Waffenbesitz »frisst« die Selbstverteidigungsvorteile des Einzelnen sofort wieder auf. Man muss sich also eine immer noch größere Kanone kaufen, bis der nachbarschaftliche Frieden schließlich nur noch mit Panzern zu sichern ist. Und auch das nicht auf Dauer.

Das neuerdings grassierende Impfgegnertum ist ein Ärgernis, das letztlich ebenfalls auf ein Kollektivhandlungsproblem zurückgeht. Die angeblich vorhandenen Risiken des Impfens sind zwar meist fiktiv, aber wer opfert schon gerne einen Vormittag im Wartezimmer des Kinderarztes, eingepfercht mit dem siechen Nachwuchs Fremder, um den wütend und heulend protestierenden eigenen Sprösslingen am Ende eine Metallnadel in den Arm jagen zu lassen? Wenn alle anderen sich impfen lassen, lassen sich die Vorzüge der Herdenimmunität genießen, ohne das eigene Kind dergestalt kujonieren zu müssen. Erst wenn die Impfrate unter das Niveau der Herdenimmunität sinkt, wird individuelles Impfen aufgrund steigender Krankheitsfälle wieder rational. »Anti-Vaxxers« verhalten sich also – abgesehen davon, dass sie oft an hanebüchene Verschwörungstheorien glauben – nicht unvernünftig, sondern unmoralisch, weil sie von kooperativen Strukturen profitieren, ohne ihren Beitrag zu leisten.

In der biologischen Welt sind Kollektivhandlungsprobleme ohnehin ubiquitär. Die kalifornischen Sequoia-Mammutbäume wachsen über einhundert Meter hoch, nur um sich den besten Platz an der Sonne zu sichern. Leider sind sie unfähig, sich gegenseitig vertraglich eine Maximalhöhe von fünfzig Metern zuzusichern, womit dieser obszön ineffiziente Überbietungswettbewerb vorzeitig beendet werden könnte.[28]

Kollektives Handeln ist nicht unmöglich; die oben genannten Beispiele und die Logik kollektiver Handlungsprobleme zeigen aber, dass die Formierung eines handlungsfähigen Wir mit mächtigen Hindernissen konfrontiert wird, für deren Überwindung es kein universell gültiges Rezept gibt. Das Problem, dass kooperative Arrangements immer gegen Ausbeutung verletzlich bleiben, lässt sich nicht lösen.

Was bedeutet das für die Evolution unserer Moral? Stellen Sie sich eine kleine Gruppe von fiktiven menschenartigen Wesen vor. Jedes kämpft für sich selbst und interessiert sich nur für den eigenen Vorteil. Kooperation gibt es keine. Nun entsteht, durch zufällige genetische Mutation, ein Individuum, das etwas altruistischer und kooperativer eingestellt ist als die anderen – aber nur geringfügig. Dieses Individuum hat eine rudimentäre Moral und neigt manchmal dazu, andere nicht auszubeuten und das eigene Selbstinteresse nicht immer über die Interessen aller anderen zu stellen.

Eine solche Variante könnte sich niemals durchsetzen und würde im Kampf um Ressourcen und Reproduktion schnell untergehen. Der Selektionsdruck gegen diese Variante wäre rücksichtslos und könnte sich nicht in der Population verbreiten. Der umgekehrte Fall einer Gruppe von Kooperierern, die sich gegenseitig helfen, verliefe genauso. Auch hier würde ein zufällig durch Mutation entstandenes Individuum, das nur geringfügig weniger kooperationsbereit ist als die anderen, einen großen Wettbewerbsvorteil genießen. Dessen Erbgut würde sich durch eine höhere Zahl an Nachkommen rasch in der Population verbreiten. Der Selektionsdruck der Evolution wirkt sich – so scheint es – immer zuungunsten moralischen Verhaltens aus. Dies ist das Rätsel der Kooperation.

Kooperation im Labor

Dass kooperative Strukturen die Neigung haben, zu kollabieren oder sich sogar in Zyklen destruktiver Gewalt zu verfangen, ist empirisch immer wieder bestätigt worden. Die experimentellen Spiele der Verhaltensökonomie zeigen, dass Menschen zwar tendenziell und unter Vorbehalt kooperationsbereit sind, diese Bereitschaft aber von Trittbrettfahrern meist so ausgenutzt wird, dass der durchschnittliche Beitrag des Einzelnen zum Gemeinwohl schnell drastisch abnimmt und schließlich auf annähernd null absinkt.

Um menschliches Kooperationsverhalten präzise studieren zu können, muss es zunächst wissenschaftlich operationalisiert werden. Im Öffentliche-Güter-Spiel werden Kollektivhandlungsprobleme als Entscheidungssituation modelliert, in der eine kleine Anzahl von vier oder fünf Spielern eine bestimmte Anfangsausstattung erhält, die jeder entweder für sich behalten oder an den gemeinsamen Topf spenden kann.[29] Nach jeder Runde wird der gemeinsam erzielte Betrag multipliziert (meist verdoppelt) und zu gleichen Teilen an alle Teilnehmer – unabhängig vom jeweils eigenen Beitrag – ausgezahlt. Man sieht sofort, dass Trittbrettfahren, auch Defektion genannt, die dominante Strategie ist. Individuell profitiert jeder von den Beiträgen der anderen und kann überdies seinen in jeder Runde nicht an den Topf gespendeten Anteil selbst einstreichen.

Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn mehrere Runden gespielt werden und die Anzahl der Durchgänge in einem solchen iterierten Gefangenendilemma den teilnehmenden Spielern ex ante bekannt ist. Dann lässt sich die beste Strategie in jeder Runde mittels Rückwärtsinduktion aus der optimalen Strategie der letzten Runde herleiten. Wenn klar ist, dass zehn Runden gespielt werden sollen, ist auch klar, dass das eigene Verhalten in der zehnten und letzten Runde keine Konsequenzen mehr für das Ergebnis der elften Runde haben kann (weil es diese nicht gibt). In der letzten Runde ist deshalb zu erwarten, dass sich die Teilnehmer unkooperativ verhalten – was de facto die neunte Runde zur letzten Runde macht, sodass auch hier Nicht-Kooperation zu erwarten ist. Damit fällt die ganze Kette in sich zusammen, und Nicht-Kooperation wird bereits in der ersten Runde unwiderstehlich. Dieses theoretische Resultat hat sich empirisch bestätigt: Obwohl viele Teilnehmer in den ersten Runden des Öffentliche-Güter-Spiels kooperationsbereit sind, fällt dieser Zustand schnell in sich zusammen, nachdem die ersten Spieler begonnen haben, vom Beitrag anderer zu profitieren, ohne selbst ihren Beitrag zu leisten. Nach wenigen Runden konvergieren die Zahlungen an den gemeinsamen Topf gegen null.