Mord im Bergwald - Nicola Förg - E-Book

Mord im Bergwald E-Book

Nicola Förg

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Beschreibung

Im Schutzwald des Wilden Karwendel wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Am nächsten Tag hat Kommissarin Irmi Mangold eine verstörende Begegnung: Der Zeitsoldat Peter Fichtl, der eine Vermisstenmeldung aufgeben will, gleicht dem Toten aufs Haar! Der Gefundene muss also sein Zwillingsbruder Pius sein. Wer hat den bei der Bauernschaft verhassten Landwirt aus Mittenwald umgebracht? Ein schwieriger Fall für die Garmischer Kommissarinnen Irmi Mangold und Kathi Reindl, die es auch privat nicht leicht haben: Irmi leidet unter ihrer Fernbeziehung, und Kathi hat eine Affäre mit dem verheirateten Nachbarn …

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Für Peter und Heide und alle, die nicht aufgeben. Am Ende eines langen dunklen Tals kommt ein Zick-Zack-Pfad hinauf in sonnige Höhen.

ISBN 978-3-492-95096-1 Februar 2017 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2010 Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Umschlagabbildung: GK Hart, Vikki Hart/getty images (Widder); BY/mauritius images (Almhütte, Fensterladen, Türe, Geweih) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen.

Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt;

Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,

Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind.

ALBRECHT VON HALLER (1708–1777)

Prolog

In dem Moment, als Irmi sich bückte, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Es war mal wieder so weit. Sie wareinfach nicht dafür geboren – für den Bügel-BH. Ständigbohrte sich das Plastikteil in ihre Achselhöhle, nach spätestens fünf Waschgängen. Die teuren und die billigen BHs waren gleichermaßen tückisch. Einmal hatte sich Irmi einen BH für fünfzig Euro gekauft, sie war sich nachgerade verderbt vorgekommen, aber auch dieses luxuriöse Stück hattebinnen kürzester Zeit seinen Geist aufgegeben. Irmi nahmsich vor, künftig bei den Sport-BHs zu bleiben, den praktischen Dingern mit den breiten Trägern. Sie versuchte seufzend, den Bügel wieder in Position zu schieben, wo er etwadrei Sekunden verweilen würde, um sich dann erneut auf Wanderschaft zu begeben.

Kritisch betrachtete Irmi ihr Salatbeet. Jedes Jahr fühlte sie sich verpflichtet, wenigstens ein bisschen zu garteln – Salat, Tomaten, Karotten und Bohnen zu ziehen. Meist misslang diese Mission. Sie war als Kommissarin einfach zu wenig zu Hause, ein freier Montag wie der heutige war selten, die Schnecken und Mäuse waren immer schneller, die Sonne zu heiß, die Regengüsse zu sintflutartig ... Aber in ihrem Unterbewusstsein steckte tief drin die Vorstellung, dass eine gute Landfrau Gemüse zog, blütenrein wusch und Kuchen buk, die diesen entscheidenden Tick besser waren als die der Nachbarinnen. Lockerer, buttriger und exotischer. Eine gute Keine-wäscht-reiner-Hausfrau schneiderte auch ihre Kleidung selbst und war dabei glücklich.

Irmi runzelte die Stirn. Woher hatte sie diesen Unsinn? Schon ihre Mutter war zwar eine perfekte Bäuerin, aber alles andere als eine perfekte Hausfrau gewesen. Schon einen halben Tag bevor ein Tier erkrankte, hatte sie gewusst, dass etwas im Anzug war. Ihr Gemüsebeet war hingegen auch verwildert, ihre Kuchen eine Katastrophe. Erst mit Eismann und Bofrost begannen güldene Zeiten. Ihre Mutter hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, den Altdeutschen Apfelkuchen aus der Tiefkühltruhe als altes Familiengeheimrezept deklariert.

Irmi vermisste sie. Nicht ständig, nur manchmal dachte sie an ihre Mutter, und dann war ihr, als würde es schlagartig dunkel. Bodenlos tief fiel sie. Es gab viele Arten und Schattierungen von Schmerz. Nach jedem Liebeskummer gab es wieder Hoffnung auf einen Neubeginn. Auch wenn man den anfangs nicht sehen wollte und konnte. Aber dieser Schmerz hatte eine andere Dimension. Es gab keinen Neubeginn, es gab nur eine Mutter. Nur diesen einen Menschen, der bedingungslos liebte und bereit war, alles zu geben.

Der Schmerz kam jäh. Wie neulich, als Irmi eher zufällig ein paar Trinkgläser in der Spüle betrachtet hatte. Eines der Gläser war völlig trüb und undurchsichtig gewesen. Ihres, denn sie hatte Froschfinger, wie ihre Mutter immer wieder lachend gesagt hatte. Überall hinterließ sie Abdrücke. Das waren die Momente, in denen die Erinnerung an die Mutter sie überfiel und sie glaubte, nicht mehr atmen zu können.

In diesem Moment klingelte Irmis Handy. Es klang wie ein Telefon aus der Zeit, als es noch Wählscheiben gab. Sie hatte diesen Retroton eingestellt – nach diversen seltsamen Klingeltönen, die ihre Kollegin Kathi ihr aufgespielt hatte. Der übelste war »Der Kommissar geht um« gewesen. Wo war bloß das Handy? Es klang etwas gedämpft, und Irmi trat einen Salat platt beim Versuch, das Mobiltelefon zu orten.

Schließlich fiel ihr Blick auf den Stubentiger, der auf den lapidaren Namen »Kater« hörte. Kater lag auf einer schiefen Bank neben dem Beet. Er war dreizehn, ein Stoiker und sah keine Notwendigkeit, wegen eines Klingelns in der Magengegend aufzustehen. Bis Irmi ihn hochgewuchtet hatte – Kater hatte sicher acht Kilo –, war das Klingeln erstorben. Sie setzte Kater wieder ab und warf einen Blick aufs Display. Es war Sailer, ihr Kollege. Das verhieß nichts Gutes. Vor allem an einem freien Tag.

Irmi rief zurück, und was sie da zu hören bekam, verschlug ihr die Sprache. Sie atmete tief durch. »Kater, ich pack's, pass auf das Gemüse auf«, rief sie noch, aber Kater öffnete nicht mal die Augen.

Langsam zog Kathi sich wieder an. Sie schlüpfte in ihre Jeans, in das T-Shirt und drückte ihre Sonnenbrille in die verwuschelten Haare, die sie mühsam glättete. Dann warf sie einen Blick in den vergilbten Spiegel im Bauwagen. Korbinian war nach draußen gegangen, er rauchte.

Sie zog eine Grimasse. Die Zigarette danach, was für ein Klischee! Ein Bauwagen, den sonst die Dorfjugend für ihre Feten nutzte – mit fast dreißig war sie dafür auch zu alt, aber was blieb ihr anderes übrig, oder? Korbi war verheiratet, und zwar ausgerechnet mit der Nachbarin, was zugleich bedeutete: mit der Nachbarin ihrer Mutter und ihrer Tochter Sophia. Zu allem Überfluss war Korbis Tochter Annalena die beste Freundin von Sophia. Gut, das konnte sich ändern, denn die kleine streitbare Sofi – die es übrigens hasste, Sofi oder gar Soferl genannt zu werden – hatte ständig neue beste Freundinnen. Zickenkriege waren an der Tagesordnung. Was sich hingegen wohl nicht ändern würde, war die Wohnsituation von Korbi und Michelle. Die Blondine stammte aus Schwerin, arbeitete in Lermoos am Golfplatz und war Korbi dort beim Golfen zugelaufen.

Dass ausgerechnet der Fußballspieler Korbinian Kohler das Haus nebenan gekauft hatte, war auf den ersten Blick natürlich grandios. Korbi war so was wie ein Held, der es immerhin bis in einen englischen Spitzenverein geschafft hatte. Sonst pflegte man in Österreich ja nur Skifahrer zu verehren. Die konnten dann altern, sich das letzte Hirn wegsaufen, den dümmsten Müll erzählen, in die Politik gehen oder zum Fernsehen – und blieben trotzdem Götter.

Auch Korbi war so ein Gott. Er hatte vor einigen Jahren aufgehört, arbeitete nun irgendwas im Golfmarketing, schwamm in Geld, hatte Blondie-Barbie Michelle geheiratet und war nach Lähn gezogen. Der große Korbinian Kohler! Seit etwa drei Monaten vögelte er Kathi, was er auch sehr gut beherrschte.

Kathi trat nach draußen, das Licht blendete sie. Sie schob die große Sonnenbrille ins Gesicht. In diesem Moment meldete sich ihr Handy. Es war Irmi. Und was sie zu berichten hatte, klang mehr als merkwürdig.

Kathi wandte sich an Korbi, der auf einem alten rostigen Biergartenstuhl lümmelte. Er rauchte mit geschlossenen Augen.

»Ich muss weg. Dienst«, erklärte sie. »Ich hab zwar eigentlich frei, aber die Sache ist mehr als komisch.«

»Hmm. Bis dann.« Korbi öffnete nicht mal die Augen.

1

Beruhigend kraulte Vitus Weingand die Mulidame Zilly am Hals. Unwirsch schüttelte sie den Kopf und erzeugte ein unnachahmliches Geräusch, als ihre langen Ohren zusammenflappten.

Auf dem Vorplatz der Alm stand in der Morgensonne markig-breitbeinig Bernd Orlowski und gestikulierte lautstark herum. Sein oberlehrerhafter Ton schien Zilly dazu zu veranlassen, erneut den Kopf zu schütteln. Es konnte natürlich auch an der langen Warterei liegen. Eigentlich hätten Vitus, Zilly und die Haflingerin schon längst ihren Spätsommerjob antreten sollen: die Schutzwaldsanierung. Das tierische Team von Vitus Weingand kam vor allem in Naturschutzgebieten zum Einsatz, weil seine Tragtiere keinen Lärm machten wie ein Hubschrauber, keine Kerosinemissionen freisetzten und das Wild nicht erschreckten. Zudem konnte man mit Tragtieren die Pflanzen sehr dosiert absetzen. Das erleichterte später die Arbeit für die Pflanzer vom Forstamt.

Doch dieses Jahr hatte man Vitus dazu verdonnert, auch noch menschliche Helfer einzubinden. Man hatte ihm eine Freiwilligentruppe aus Alpenvereinsmitgliedern aufgehalst, angeführt von Bernd Orlowski, dem Vorsitzenden irgendeiner DAV-Sektion. Gestern Nacht hatte es gegossen, als hätte Petrus eine apokalyptische Flutwelle geschickt. Die Sonne brach sich nun in den Wassertropfen, und die steilen Karwendelkare der Soierngruppe zeigten sich in ihren charakteristischen Grauschattierungen. Karwendelgrau war ein wankelmütiger Farbton: Bei Schlechtwetter fast schwarz, bei intensiver Sonneneinstrahlung im Sommer hingegen hatten die Berge eine fast metallische Nuance. Karwendelgrau – so wandelbar wie das schroffe Gebirge.

Es würde heiß werden, so viel war klar, und Vitus wartete ungeduldig. Er wollte am frühen Nachmittag fertig sein, und zwar vor der Gewitterfront, die so sicher kommen würde wie das Amen in der Kirche. Aber Orlowski schwafelte weiter. Ein echter Saupreiß der übelsten Sorte, wie Vitus fand. Im Grunde seines gutmütigen Herzens war Vitus nämlich sehr tolerant. Bei der Feuerwehr hatten sie einen Mainzer, der war leicht integrierbar gewesen, weil er länger am Stammtisch verweilte als alle anderen Dorfbewohner. Und im Trommlerzug machte einer aus Husum mit (oder war es Büsum? – jedenfalls so ein windgepeitschter Sandfurunkel, und der war auch gut zu haben. Redete nämlich wenig, der Krabbenpuler. Was ihn markant von Orlowski unterschied. Der redete immer und überall, erklärte den Einheimischen, wie sie die Landwirtschaft effizienter gestalten könnten, und erläuterte den Zimmerern, wie sie die Nägel einzuschlagen hätten. Wahrscheinlich hätte er dem Pfarrer am liebsten die Predigten geschrieben und dem Arzt die Rezepte ausgestellt.

Mit großer Gestik wies Orlowski in Richtung Fischbachkopf und dann zu den Pflanzen, die aufgereiht an der Hütte standen. »Meine Lieben! Dort hinauf tragen wir Buche, Kiefer und Mehlbeere. Die Mehlbeere ist eine biologische Beimischung, die an südexponierten trockenen Standorten den Humus verbessert. Der Prozentsatz der Nadelbäume soll aber überwiegen, weil wir vor allem im Winter auf die Schutzfunktion der Baumkronen angewiesen sind.«

Er schaute drein, als erwarte er Beifall für seine Rede. Eintausendfünfhundert Pflanzen sollten heute bergwärts wandern, zwei Drittel davon würden ohnehin die Tiere tragen, den Rest Orlowskis Karawane. Der DAV-Mann hatte einen Heilpraktiker mit Doppelnamen dabei – »wenn a Mo si scho ned beim Nama durchsetzt, dann schaugt's schlecht aus«, hatte Vitus Zilly ins Ohr geflüstert. Mit von der Partie waren eine Juristin a. D., die immerhin ganz patent wirkte, die dürre Inhaberin eines Naturkost-Bioladens und eine Grundschullehrerin, die ihre Schulferien wohl sinnvoll nutzen wollte. Sie war dermaßen aufgeregt und hektisch, dass sich Vitus besorgt fragte, ob die Kinder nicht alle mit schweren Persönlichkeitsstörungen aus deren Unterricht kommen mussten. Sie hatte erst mal Zilly angequiekt: »Ist die süüüß! Ich bin die Katja, du kleines Eselchen.«

Zilly war keineswegs »süüüß«, dachte Vitus, sondern ein Arbeitstier – und ein »Eselchen« war sie schon gar nicht. Zilly war ein Muli.

»Des is a Maultier oder Muli.« Vitus räusperte sich und bemühte sich um klares Hochdeutsch. Das Thema lag ihm nämlich am Herzen. »Von einem Maultier spricht man, wenn die Mutter ein Pferd und der Vater ein Esel ist. Seltener kommt der Maulesel vor: Mutter Esel, Vater Pferd. Die Anpaarung gelingt dort seltener, weil das Paarungsverhalten beim Esel anders ist als beim Pferd.«

»Aha«, meinte die Grundschullehrerin. »Aber im Gebirge sind diese Mulis besser als Pferde?«

»Ja, vui trittsicherer. Die gehn quasi auf dem Strich. Schon immer ham Mulis im Gebirge Transportaufgaben übernommen. Viele Almen wurden mit Maultieren beschickt. Mulis trugen das Gepäck, manchmal auch einen müden Wanderer oder hohe Herrschaften, die nicht zu Fuß gehen wollten. Und dabei sind sie sehr schlau – und sehr nachtragend.« Wieder kraulte er Zilly den Hals.

Katja quiekte noch ein »Wie süüüß«, woraufhin Zilly angewidert die Ohren anlegte und ganz kurz mit dem stahlharten kleinen Huf nach hinten kickte. Nur so zur Warnung, aber von da an galt sie der Lehrerin als »Monster«.

Betty ging das alles am dicken Haflingerhintern vorbei, sie fraß aus dem Heusack und würdigte die Truppe keines Blickes.

»Freunde!«, schmetterte Orlowski nun. »Wir beladen erst einmal die Packtaschen der Tiere, dann die eigenen Rucksäcke, und auf geht's!«

Ja, hoffentlich, dachte Vitus. Sie waren weit hinter dem Zeitplan, weil die Helfer natürlich nicht rechtzeitig aus ihren Zelten gekrabbelt waren, die sie um die Alm herum platziert hatten. Die Lehrerin weigerte sich mittlerweile, näher als zehn Meter an Zilly heranzutreten, weshalb der Heilpraktiker dem Maultier zugeteilt wurde.

»Ganz schön zerstochen, das arme Tier«, sagte er und betrachtete die Knubbel von Mücken- und Bremsenstichen.

»Ja, de san recht ekelhaft dies Johr«, brummte Vitus.

»Apis müssen Sie geben, Apis! D12 würde ich empfehlen. Sie kennen doch Globuli?«

Natürlich wusste Vitus, was Globuli waren, aber das würde er diesem Deppen nicht auf die Nase binden. Stattdessen zog er eine Sprühflasche heraus und überzog Zilly mit einer bestialisch stinkenden Tinktur.

»Pure Chemie!«, heulte der Heilpraktiker auf.

»Na, des is Tiroler Steinöl«, konterte Vitus, packte Zilly am Führstrick und pfiff. Betty ruckte mit dem Kopf und trottete hinterher.

Die Lehrerin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Na, wenn die schon von dem bisschen Beladen so schwitzte, konnte das ja lustig werden in der Mittagssonne, dachte Vitus und räusperte sich.

»Mir ham zwoa Gebiet heit«, hob er an. »Links ummi am Fischbachkopf und Hohen Grasberg und rechts aui Richtung Soiernhaus und nachher aui zum Predigtstuhl.« Die Augen der Teilnehmer folgten seinen schnellen, angedeuteten Handbewegungen. »Fang mer glei amoi am Fischbachkopf o.«

Ohne ein weiteres Wort stapfte er los. Die Tiere gingen zügig, ein Tempo, bei dem die Orlowski-Truppe bald schon nicht mehr mithalten konnte. Nach etwa fünfzehn Minuten, bevor die wirklich steilen Kehren kommen würden, hielt Vitus an. Er ließ die Gruppe aufholen und gab brummig Auskunft, wo nun wer welche Menge an Pflanzen abzusetzen hätte. Die Bioladen-Lady und die Lehrerin wirkten jetzt schon derangiert, während der Heilpraktiker mit Orlowski über die Wirkung irgendeines Krauts stritt. Vitus runzelte die Stirn. Ihm war das alles zu laut. Sie setzten die ersten Pflanzen so ab, dass die Forstarbeiter sie später würden pflanzen können.

Dann ging es zurück zur Alm. Die Lehrerin rutschte auf dem kiesig-schottrigen Weg aus und polterte ein paar Meter den Hang hinunter. Vitus war in wenigen Schritten bei ihr. »Is wos passiert?« Sie schüttelte den Kopf und verdrückte ein paar Tränchen.

Es war ein Trauerspiel, Vitus verfluchte Gott und alle Heiligen. Während der Heilpraktiker der Lehrerin Arnika-Globuli eingab, kreuzten sich die Blicke von Vitus und der pensionierten Juristin. Ihr ironisches Grinsen gefiel ihm. Sie beluden erneut, und Vitus breitete seine Karte auf einem der Biertische aus.

»I glaub, mir teiln uns auf. Ihr geht's zum Lakaiensteig ummi. Wo ihr die Pflanzerl osetzn müssts, werds ihr selber sehn. Do stehn eh scho a paar Pflanzen.« Er blickte in die Runde und sah die Juristin an. »Du kimmscht mit mir, mir gehen aui auf den Grasberg mit de Viecher.«

»Gerne!« Sie hatte eine angenehme Stimme, fand Vitus.

War sowieso a Mordsweib, bestimmt schon sechzig, aber gut erhalten.

»Ich bin die Iris«, stellte sie sich mit einem sympathischen Lächeln vor.

»Vitus, aber des woaßt ja eh.«

Schweigend stiegen sie bergan. Vitus brauchte ihr nur wenig zu erklären: Iris hatte schnell kapiert, wo und wie die Pflanzen abzusetzen waren. Sie entfernte Betty einen Zweig aus dem Schweif, schnitt mit einem Taschenmesser einen Weg frei. Eine Frau, die mitdachte. Vitus entspannte sich etwas.

»Bischt eh guat z'Fuaß, oder?«, meinte Vitus auf dem Rückweg, kurz bevor sie die Hütte erreicht hatten.

»Geht so. I bin ursprünglich aus Scharnitz. Isch lang her.«

Mittlerweile waren sie beim dritten Turnus. Vitus plante nach der vierten Runde eine Mittagspause auf der Hütte. Er war versöhnt mit dem Tag, vor allem weil er Orlowski und die anderen die meiste Zeit nicht sehen und – weit wichtiger – nicht hören musste. Mit Iris hatte er knappe Sätze gewechselt. So wusste er, dass sie Staatsanwältin gewesen war. Erst in München, lange im Osten, dann wieder in München. Dass sie sich zur Ruhe gesetzt hatte und nun das Elternhaus in Scharnitz bewohnte. Und sie wusste von Vitus, dass er den Zimmererbetrieb in Krün dem ältesten Sohn übergeben hatte und als Unruheständler seine Bergbegeisterung mit seinen Tragtieren auslebte.

Vitus reichte Iris gerade eine Flasche Wasser hinüber, als vom Gegenhang ein schriller Schrei zu hören war. Es blieb kurz still, dann wehte ein »Hilfe« herüber. Vitus zog seinen Feldstecher heraus und suchte die Hänge unterm Soiernhaus ab.

»Wenn die abg'stürzt san, ham mer an Riesenärger am Oarsch«, brummte Vitus. Er warf einen Blick auf die halb vollen Tragtaschen, dann auf seine Begleitung.

»Die setzen wir noch ab«, sagte Iris. »Die haben ja Orlowski dabei, diese Koryphäe. Der wird's schon richten.«

»Guats Madl!« Vitus grinste.

Dennoch beeilten sie sich, zügig ging es talwärts, und just unterhalb der Alm, dort wo sich die Wege der beiden Gruppen getrennt hatten, trafen sie auf den Heilpraktiker.

»Vitus, so kommen Sie doch! Katja hat einen grauenvollen Fund gemacht.« Er japste regelrecht.

»Was für einen Fund?«, fragte Iris.

Sein Blick flackerte. »Einen Finger!«

»Wos?« Vitus runzelte die Stirn.

»Einen menschlichen Finger!« Seine Stimme überschlug sich.

»Hat sich von enk Deppn oaner den Finger abghackt?«, fragte Vitus ungerührt. Er lockerte die Riemen an den Packsätteln, band Zilly am Schild der Bergwacht Krün fest und ließ Betty laufen. »Wo?«, fragte er dann.

»Da oben.« Der Heilpraktiker deutete vage den Steig hinauf.

Nach zehn Minuten hatten sie die Gruppe erreicht. Katja kauerte auf einem Wurzelstock und schien unter Schock zu stehen. Die Bioladen-Lady hatte sich neben sie gehockt und murmelte beruhigend auf sie ein.

»Host ned no amoi Globuli für die?«, fragte Vitus. »Arnika huift a bei Schock.«

Der Heilpraktiker sah ihn glupschäugig an und begann dann wortlos in seinem Rucksack zu wühlen.

Orlowski bat Vitus, ihm zu folgen. Hinter einer Kurve standen auf einer kleinen Freifläche die Setzlinge. Dort bückte sich Orlowski. Vitus und Iris, die ihnen gefolgt waren, gingen in die Knie. Da lag er. Ein Finger, eindeutig. Verfaserter Stumpf, ansonsten bläulich-bräunlich. Vitus runzelte seine Stirn noch mehr.

»Hat ihn jemand angefasst? Bewegt?«, fragte Iris.

»Nein«, erwiderte Orlowski. »Katja hat ihn entdeckt, und dann mussten wir sie erst mal stabilisieren. Sie war etwas aufgeregt. Das arme Küken.«

»Gut«, sagte Iris. »Es wird auch besser sein, wenn wir uns alle verzupfen. Wir sollten möglichst wenig Spuren hinterlassen.« Iris machte eine Pause. »Falls da noch mehr von dem Bergkameraden rumliegt.«

Bernd Orlowski sah sie völlig konsterniert an. »Du meinst ...?«

»Na, der Finger wird ja nicht vom Himmel gefallen sein.«

Währenddessen war Vitus dem Pfad noch ein Stück gefolgt, man hörte ein paar Steinchen rieseln. Dann war seine Stimme zu hören. »Kemmts amoi aui!«

Als Iris und Orlowski ihn erreicht hatten, war er wieder in die Hocke gegangen. Sein Blick war starr auf den Pfad gerichtet.

Diesmal entfuhr Iris ein Laut, der tief aus der Kehle kam. Ihr wurde übel. Orlowski jaulte auf und erbrach sich dann ins Krüppelholz.

Das Ohr, das da lag, war ebenfalls menschlichen Ursprungs, und aus unerfindlichen Gründen war es weit widerlicher als der Finger. Ein Ohr, bläulich-bräunlich mit Blutkruste an der Abrissstelle.

»Hast du ein Handy dabei?«, fragte Iris, sobald sie sich gefasst hatte.

Vitus nickte. Der Netzempfang war sogar sehr gut, und so alarmierte er die Polizei.

2

Kathi und Irmi trafen fast gleichzeitig in Krün ein. Irmi hatte eine Art Déjà-vu. Letztes Jahr hatte sie sich mit Kathi auch am Fuße eines Berges getroffen, damals war es Frühjahr gewesen an der halb geschmolzenen Kandahar-Piste, heute war ein warmer Spätsommertag.

Zog es die Verbrecher neuerdings hinauf in die Berge? Oder lagen die vermehrten Bergeinsätze einfach daran, dass mittlerweile große Teile der Menschheit dorthin pilgerten, wo vor noch gar nicht so langer Zeit nach dem Volksglauben böse Geister gehaust hatten? Auffi mussten sie, mit immer exaltierteren Fortbewegungsmitteln waren sie unterwegs – und ab und an verloren sie wohl auch mal Körperteile. Was war das denn schon wieder für eine seltsame Geschichte?

»Servas!« Kathi klang heute besonders tirolerisch, was sie sonst zu unterdrücken versuchte, aber hier in Krün war man der Grenze ja schon sehr nahe. Vielleicht färbte das ab.

Sailer und die neue junge Kollegin Andrea hatten beim Sägewerk Position bezogen, ein verbeulter Pick-up der Waldarbeiter stand bereit, um sie bergwärts zu befördern. Irmi hatte schon fast befürchtet, man würde sie zum Mountainbiken nötigen. Und zu Fuß zogen sich die sieben Kilometer auf die Fischbachalm auch ziemlich. Ein Schild besagte, dass Fischbachalm und Soiernhaus geöffnet hatten, nur würde das wohl kein netter Almenausflug werden.

Ein Forstarbeiter fuhr den Wagen, Irmi hatte den Beifahrersitz bekommen, Sailer, Andrea und Kathi klemmten auf der Notbank im Fond. Irmi kannte die Fischbachalm, ein herrliches Plätzchen. Umrundet von den schroffen Spitzen der Soierngruppe, lag sie wie in einer weiten Suppenschüssel mitten in den Bergen und doch anmutig auf einem relativ weiten Wiesengrund. Ein Idyll, eigentlich.

Heute aber war alles anders. Auf der Alm hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, die Irmi mit ihrem geschulten Blick rasch erfasste. Ein völlig verheulter Pummel Anfang Dreißig, eine dürre Frau mit einem schrecklichen Orangeton in den Haaren, der sie noch blasser machte, als sie ohnehin schon war. Ein Mann Mitte vierzig mit angegrautem Pferdeschwanz, was Irmi bei Männern über fünfundzwanzig prinzipiell grauenvoll fand. Eine ältere Dame mit wachen Augen. Ein kleiner Mann Ende fünfzig mit akkuratem Haarschnitt, sündhaft teuren Trekkingklamotten und einer DAV-Weste sowie drei Holzarbeiter. Etwas abseits und grimmig dreinblickend lehnte ein schlanker älterer Mann an einem Maultier. Mit seinem Rauschebart sah er aus wie die Topbesetzung für einen Milka-Werbespot. Wären Maultier und Haflinger lila gewesen.

Kaum trafen Irmi und Kathi ein, redeten alle durcheinander. Es brach ein Tumult los, den Kathi mit einem scharfen »Ruhe, alle miteinand« unterbrach. Sie hatte Durchschlagskraft, auch stimmlich, obgleich sie optisch ein eher zartes Persönchen war. Vor Kurzem hatte sie sich die langen Haare ein wenig stufen lassen und trug nun lange Ponyfransen, die sie noch jünger aussehen ließen.

Kathi bot von sich aus an, die Befragungen zu leiten und zu protokollieren, während Irmi zum Ort des Geschehens aufsteigen sollte. Hätte Irmi ein paar Lebensillusionen mehr gehabt, dann wäre sie fast versucht gewesen, das als besondere kollegiale Nettigkeit zu bewerten. Aber Irmi wusste um Kathis absolute Verachtung für jede Form von Bergsteigen, für Sport generell (außer Skifahren und Inlineskaten ab und zu) – und da war das Protokoll eindeutig das kleinere Übel.

»Wer hat hier die besten Ortskenntnisse?«, fragte Irmi.

Der DAV-Mann warf sich in die Brust. »Ich stehe zur Verfügung. Ich leite seit dreißig Jahren Jugendkurse, ich ...«

»Danke, Herr ...?«

»Orlowski, Bernd. Sektion Rosenheim eigentlich. Ich hatte nur diesmal das Vergnügen, hier einspringen zu dürfen.« Dabei blickte er drein, als traue er keinem anderen Menschen im weiten Erdenrund diese Bergkompetenz zu, die er sich über die Jahre des harten Einsatzes im Fels erworben hatte.

Die ältere Dame machte einen Schritt auf Irmi zu. »Iris von Gstalden«, stellte sie sich vor. »Ich denke, Vitus ist am besten für diese Aufgabe geeignet. Er koordiniert die Sanierungsmaßnahme zusammen mit dem Forstamt. Vitus?« Sie lächelte den abseits stehenden Mann mit dem Rauschebart an und machte eine einladende Handbewegung.

Zögerlich kam Vitus näher, so als würde ihn ein unsichtbares Gummiband zurückziehen.

»Herr ...?«, fragte Irmi.

»Weingand, Vitus. Vitus reicht.«

»Mangold, Irmi. Irmi reicht.«

Ein ganz kurzes Lächeln umspielte seine Augen.

»Sie haben diese Körperteile gefunden? Haben Sie ...«

»Also, ich habe ...«, fiel der DAV-Mann Irmi ins Wort.

»Herr Orlowski, das geben Sie doch bitte bei meiner Kollegin da drüben zu Protokoll.« Irmis Ton war hörbar schärfer geworden. Iris von Gstalden grinste.

»Vitus?« Irmi sah ihn aufmunternd an.

»Den Finger hat die da entdeckt.« Er wies auf die pummelige Frau, die unter Schock zu stehen schien. »Mir san dann zu denen ummi, die Iris und ich warn am Gegenhang, der Rest hot drüben trogn.«

»Und weiter?« Irmi sah ihn aufmerksam an.

»I bin a Stückerl weiter aui, und do war des Ohr.«

Das klang aus seinem Mund wie: Da war das Edelweiß, oder: Da pfiff das possierliche Murmeltier von seinem Aussichtspunkt herab.

Irmi wollte sich gar nicht vorstellen, was alles an Spuren vernichtet worden war, und als könnte Iris von Gstalden Gedanken lesen, sagte sie: »Ich habe die Gruppe möglichst schnell ins Tal beordert, wegen der Spuren.«

»Sind Sie vom Fach?«, fragte Irmi mit gerunzelter Stirn.

Iris von Gstalden lächelte. »Staatsanwältin, a. D. Zuletzt in München.«

Deshalb war Irmi der Name so bekannt vorgekommen: Die Dame hatte mal in einem ziemlich medienwirksamen Prozess gegen einen gewalttätigen Schauspielerinnensohn viel Staub aufgewirbelt. Sie war unbeugsam gewesen und unbeeindruckt vom Promistatus. Jetzt hatte Irmi sie also live vor sich.

»Vitus und Frau von Gstalden, kommen Sie mit zum Fundort?«, fragte Irmi.

»Iris genügt«, sagte Frau a.D. »Der von Gstalden stammt von meinem geschiedenen Mann. Der Name war noch das Beste an ihm.«

Von Vitus kam ein unterdrücktes Glucksen.

Schweigend stapften die beiden Frauen hinter Vitus her, der ein ziemliches Tempo vorlegte. Irmi war froh, dass sie in letzter Zeit immer mal wieder in die Berge gegangen war. Mit ihm und auch privat – auf den Osterfeuerberg, den zwar auch immer mehr Städter für sich entdeckt hatten, der wochentags jedoch nur von wenigen Kennern besucht wurde. Wie der netten Hausärztin aus Söchering, die immer zu Berge stürmte, als gäbe es kein Morgen, als riefe ein Notfall am Berggipfel. Anders als Irmi hatte die Ärztin jedoch nicht zehn Kilo Übergewicht, sondern das gleiche an Untergewicht. Da stürmte es sich leichter.

Als sie an den beiden Fundorten angelangt waren, zog Irmi Gummihandschuhe über und ging langsam in die Knie. Der schmerzhafte Stich kam unerwartet. Sie konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken. Dieser vermaledeite Bügel-BH! Die Attacke kam wie immer zum ungünstigsten Zeitpunkt.

Irmi versuchte sich auf den Boden zu konzentrieren, und das, was sie sah, ließ sie das Stechen vergessen. Vor ihr lag ganz eindeutig ein Finger. Irmi schwieg, sah Vitus nur fragend an. Dieser dirigierte sie zum nächsten Fundort. Dort lag ein Ohr vor ihr auf dem Boden. Ohr und Finger sahen nicht mehr taufrisch aus und schienen schon einige Tage hier zu liegen. Aber das mussten Fachleute entscheiden.

Irmi prüfte ihr Handy, es hatte Netz, und sie rief ihren Kollegen Bernd Hase an.

»Hasibärchen, mach dich auf mit deinen Leuten. Zur Fischbachalm geht's. Oberhalb vom schönen Krün. Hier hat einer seinen – ich würde mal sagen – Mittelfinger und sein Ohr verloren.«

Seine Reaktion fiel wie erwartet aus: Er empfand jeden Einsatz als persönliche Beleidigung. Zwar war er ein akkurater Arbeiter, sobald er vor Ort war, aber bis dahin hasste er seinen Job. Ein bisschen schizophren, aber in ihrem Metier war das vermutlich noch eine milde Ausprägung des Berufswahnsinns. Irmi gab sich Mühe, fröhlich zu klingen.

»Hilft aber nix, mein Hasi, vor allem solltet ihr euch mal genauer umsehen, ob da noch mehr Teile herumliegen. Ist ja eine Zumutung für unbescholtene Wanderer, die über so was stolpern können.« Ihr war heute so zynisch zumute. »Ich lass alles in situ, damit du dir ein Bild machen kannst. Du triffst uns auf der Alm.«

Dann wandte sie sich wieder an Vitus und Iris. »Ihnen ist nichts aufgefallen, nehme ich an?«

»Nein, zumal das Geschehen wohl schon einige Tage zurückliegt, oder?«, meinte Iris von Gstalden.

Sie hatte »Geschehen« gesagt, nicht »Verbrechen«. Die Frau war ein Profi. Schließlich musste es ja kein Verbrechen sein.

Sie schwiegen alle drei eine Weile, bis Vitus irgendwann sagte: »Schreiner schneiden sich gerne amoi de Finger ab.«

»Seltener die Ohren«, kam es von Iris.

»Ja, i woaß, und wenns ihr mi froagts ...« Vitus machte eine Kunstpause.

»Ja, ich frag Sie, Vitus«, entgegnete Irmi.

»Den ham d' Viecher og'fressn, und der Rest kann sonst wo umeinanderflackn.«

Der Mann hatte recht. Die ausgefransten Ränder, der Zustand der makabren Fundstücke – da hatten sich Fleischfresser gütlich getan, eine nette Abwechslung auf dem Speiseplan. Aber wo sollten sie dann suchen? Das war ja uferlos – und eklig.

»Gehen wir zurück«, sagte Irmi.

Vitus stürmte voran. Als echter Bergmensch verfügte er über eine perfekte Abwärtsgehtechnik: federnd, aus der Hüfte. Am Abwärtsgehen erkannte man diejenigen, die schon Tausende von Höhenmetern hinter sich hatten.

Die beiden Frauen blieben etwas zurück.

»Meine Knie sind nicht die besten«, erklärte Iris von Gstalden.

»Meine auch nicht«, meinte Irmi lächelnd.

Schweigend gingen sie weiter, bis Iris plötzlich verlauten ließ: »Bei Entführungen kommt so was doch öfter vor. Entführer schneiden gerne mal Körperteile ab und untermauern damit ihre Forderungen.«

Irmi sah Iris überrascht an. Die Frau Staatsanwältin a. D. hatte recht. Überhaupt gefiel ihr diese lakonische Dame ausnehmend gut.

Auf der Alm saßen nun alle brav auf den Holzbänken, Kathi hatte den Haufen gebändigt. Sailer und Andrea hielten Wandersleute und Mountainbiker fern. Der Schutzwaldtrupp wirkte ausgelaugt, sogar Orlowski schwieg.

»Ich nehme mal nicht an, dass von denen jemand was damit zu tun hat, oder?«, meinte Kathi leise zu Irmi.

»Ich auch nicht, zumal Vitus Weingand die Theorie aufgestellt hat, es könne sich um Tierfraß handeln«, sagte Irmi.

»Hast du ... hast du das Zeugs ... äh ... die Teile gesehen?«, fragte Kathi.

»Ja, und Tierfraß scheint durchaus plausibel.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Aber dann könnte der Rest ...« Kathi brach ab.

»Ja, genau, der Rest könnte überall sein.« Irmi atmete tief durch. »Iris von Gstalden, diese Staatsanwältin a. D., hatte auch eine interessante Idee. Bei Entführungen würden doch gern mal Körperteile entfernt, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, meinte sie.«

Kathi überlegte. »Aber verschicken Entführer so was dann nicht mit der Post? Oder mit UPS oder Hermes?«

Irgendwie versuchte Kathi wohl witzig zu sein, schräger Humor oder Zynismus waren nun mal probate Mittel gegen Irrsinn. Und zudem hatte Kathi recht. Einem Entführer nützten abgetrennte Körperteile nichts, wenn sie im Schutzwald rumlagen. Alles war ziemlich undurchsichtig. Es blieb ihnen nur abzuwarten, was Hasibärchen beizutragen hatte.

Wenig später waren Bernd Hase und seine Leute vor Ort, der gequälte Gesichtsausdruck des Kollegen sprach Bände. Während die Spusi bergwärts marschierte, wandte sich Irmi an Kathi: »Dann pack ma's. Wir sollten die Vermisstenkarteien ansehen. Irgendwas müssen wir ja tun.«

Kathi nickte und ging auf den Pick-up zu. Irmi zögerte.

»Ich glaub, ich geh zu Fuß. Den Kopf lüften.«

Kathi sah sie an, als wäre sie dem galoppierenden Wahnsinn anheimgefallen. Freiwilliges Laufen?

»I kimm mit. I muaß eh oi und ebbas holn«, sagte Vitus, und Irmi war irgendwie erleichtert.

»Des is a koa schener Beruf«, meinte Vitus, nachdem sie bereits zwanzig Minuten unterwegs waren.

»Na ja«, meinte Irmi. »Ja und nein. Man sieht viele Tragödien, aber man kann einigen Opfern zu etwas Seelenruhe verhelfen.«

»Und du selber bleibscht auf dr Streckn«, erwiderte Vitus in seiner bemerkenswert schlichten Art. Es bedurfte keiner großen Worte, keiner Ratgeberbücher. Einige klare Sätze genügten, um das Leben zu begreifen.

»Man überlebt alles, man muss«, murmelte Irmi nach einer Weile.

»Aber des gibt Narben und Wunden«, sagte Vitus, der in einer Kehre angehalten hatte und Irmi einen Flachmann reichte.

Irmi testete. »Vogelbeer?«, fragte sie lächelnd.

»Ja, gut rausg'schmeckt.«

Ende der Leseprobe