Mordsviecher - Nicola Förg - E-Book
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Nicola Förg

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Beschreibung

Ein Toter auf einem entlegenen Hof – umgeben von potenziellen Mördern: Schlangen, Spinnen und Skorpionen. Das Opfer, das an Schlangengift starb, hatte mehr als nur eine Leiche im Keller. Fieberhaft suchen Irmi Mangold und Kathi Reindl nach dem Täter, denn eine schwarze Mamba lässt sich kaum verhaften … Diesmal hat es die Mordkommission in Garmisch mit einem besonders delikaten Fall zu tun. Auf einem abgelegenen Hof wird ein Toter aufgefunden, umgeben von potenziellen Mördern: Klapperschlangen, Cobras, Spinnen und Skorpionen. Bald steht fest: Der Tote, der durch das Gift einer Mamba starb, war der erfolgreiche Unternehmer Kilian Stowasser, der hochwertige Daunenprodukte herstellte und dabei nur Material von artgerecht gehaltenen Gänsen verwendete. Doch hinter der politisch korrekten Fassade lauern Abgründe. Kommissarin Irmi Mangold stößt auf jede Menge Mordverdächtiger, darunter eine engagierte Journalistin, unliebsame Konkurrenten und militante Tierschützer. Kam Stowassers Frau seinerzeit wirklich durch einen Unfall ums Leben? Und kann man eine Schwarze Mamba eigentlich des Mordes anklagen?

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Für Daggi und Elten

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95539-3

© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2012 Karte: cartomedia, Karlsruhe Umschlaggestaltung: Medienbureau Di Stefano, Berlin unter Verwendung der Fotos von Bernard Jaubert / Getty Images, peJ029 / iStockphoto, PLAINVIEW / iStockphoto und Charles Brutlag / iStockphoto Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

You may be a king,

or just a common man.

Some high fashioned model

with a Hollywood tan.

It just don’t matter

who you think you are.

You’ll be a slave to love tonight.

You may wear a gun

and a badge for the FBI.

A Soho stripper,

or a Soviet spy.

You think you’re the devil,

but with those angel eyes

you’re just a slave to love tonight.

»Slave to Love«, aus Manœuvres, Greg Lake (1983)

PROLOG

Diese verdammten Köter. Unnützes kläffendes Gschwerl. Da bringt man ihnen was zu Fressen, und die Viecher beißen einem den halben Arm ab. Sein rechter Arm sah aus wie durch den Fleischwolf gedreht. Eiterte, schmerzte. Alles nur wegen der Köter. Da lobte er sich seine Lieblinge. Stumm und elegant. Vor ein paar Tagen waren neue gekommen. Nachts natürlich. Die deutschen Behörden waren so unflexibel …

Ihre Gegenwart war ein Fest für ihn, das er regelrecht zelebrierte. Er sah sie an. Lange. Er würde umbauen müssen, ja, das würde er als Nächstes tun. Sie waren so schön.

Er nahm die rasche Bewegung kaum wahr. Sie kam aus dem Nichts. Wieder schmerzte sein Arm. Stärker. Anders diesmal. Er riss an dem Verband, der längst schon in Fetzen hing, doch sein linker Arm gehorchte ihm nicht, erlahmte auf einmal. Da ahnte er etwas, wollte loslaufen und sackte im nächsten Raum zusammen. Dachte dabei an einen Boxkampf von Klitschko gegen irgendwen, der – kaum hatte er begonnen – wieder zu Ende gewesen war.

Er mochte Boxen. Boxen war männlich. Kraftvoll und gewaltig. Und es ging ums Bluffen, um große Worte und große Gesten. Es ging darum, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Das hatte auch er immer vermieden. Er hatte die Karten in der Hand behalten, das Ass stets im Ärmel gehabt. Die Welt war so leicht zu manipulieren. Die Menschen waren so gutgläubig. Sie bettelten doch fast darum, betrogen zu werden.

Nun aber war er bewegungslos. Das letzte Ass war ihm abhandengekommen. Er lag am Boden, wie festgenagelt. Aber sein Gehirn gab immer noch Botenstoffe ab. Es dachte. Es fühlte. Es lehnte sich auf. Angst und Panik fluteten ein. Er hätte schreien wollen, aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Er starrte zu den Heizungsrohren an der Decke und hörte die Kläffer da drüben. Deutlich hörte er sie. Gefangen in seinem Körper.

Die Brust wurde ihm eng, ein gewaltiger Felsbrocken schien sich auf ihn zu wälzen. Dann sah er ein Augenpaar, und er wusste alles. So zu verlieren. Gegen so einen Gegner. Er wusste, dass es noch dauern würde. Nicht sehr lange, und doch eine grauenvolle Ewigkeit.

Bis das Ende kam.

Das gnädige Ende.

1

Andrea war nahe dran gewesen, das Foto wegzuwerfen. Kathi konnte aber auch ätzend sein. »Hanni und Andreanni!«, hatte sie gerufen. »Dick und Dalli und die Ponys!« Dabei hatte sie sie provozierend angesehen und offen gelassen, in welcher Rolle bei den »Mädels vom Immenhof« sie Andrea sah.

Diese hatte sich vorgenommen, Kathis Attacken zu ignorieren. War sie wirklich ein kindisches Ponymädel, bloß weil sie ein Bild ihres Pferdes auf dem Schreibtisch stehen hatte? Keinen Mann, keinen Lover, keine Kinder.

Natürlich hätte sie kontern können und sollen: »Besser ein netter Gaul als deine ständig wechselnden Lover. So schnell kannst du die Bilder ja gar nicht austauschen.« Das wäre gut gewesen, aber die guten Sachen fielen ihr nie ein, wenn die schlanke Kathi sich vor ihr aufbaute.

Sie hätte auch sagen können: »Wie praktisch, dass du ein Foto deiner Tochter aufgestellt hast, da siehst du sie wenigstens ab und zu mal. Die kennt ihre Mutter doch eh kaum, sondern bloß die Oma.« So eine Bemerkung hätte Kathi getroffen, denn das war ihre verwundbare Stelle: Sie hatte nie Zeit für ihre Tochter Sophia. Das wäre richtig fies gewesen, aber Andrea war nicht fies.

Letztlich hatte sie das Bild von Moritz, dem braunen süddeutschen Kaltblut, dann doch stehen lassen und empfand das als Sieg. Als Sieg über Kathis Ätzereien.

Während Andrea sinnierend vor dem Foto saß, kam ihr Kollege Sailer zur Tür herein.

»Andrea, mir müssen.«

»Was müssen wir?«

»Raus.«

»Raus wohin?«

»Die Frau Irmengard und die Kathi san ja auf Weilheim zu einer Besprechung. Und sonst is auch keiner verfügbar außer unsereinem.«

Zwei weitere Kollegen waren zu einem Nachbarschaftsstreit unterwegs, bei dem es seit Monaten um einen renitenten Gockel ging, zwei andere waren auf Fortbildung.

»Und wohin sollen wir, Sailer?«

»Zu dem Gebelle.«

»Hä?«

»Da, wo die Hund immer bellen wie verruckt.«

Sailer war der Meister kryptischer Reden, der Erfinder der Minimalkonversation. Das waren keine Würmer, die man ihm aus der Nase ziehen musste, sondern richtige Kaventsmänner, so dick wie Aale.

Diesmal wusste Andrea allerdings, worauf Sailer anspielte. Vor einigen Wochen hatten sie Beschwerden von Anwohnern und Spaziergängern bekommen, weil auf einem Anwesen in relativer Alleinlage in Krün anscheinend ein paar Hunde so schauerlich bellten und heulten wie der Spukhund von Baskerville. Offenbar stank es dort auch bestialisch. Es war sogar schon die eine oder andere Streife vorbeigefahren, im Anwesen hinter den hohen Hecken hatten sie aber niemanden angetroffen.

Andrea wusste: So etwas wurde eher halbherzig verfolgt, denn wen interessierte es wirklich, ob sich in Krün ein paar Hunde die Seele aus dem Leib bellten? Besonders stark besiedelt war die kleine Stichstraße am Waldrand nicht gerade, die Belästigung hielt sich also in Grenzen. Außerdem waren die Anrufe dann abgeflaut.

Allerdings war heute in der Früh ein anonymer Anruf eingegangen. Mit verstellter Stimme und unterdrückter Rufnummer hatte jemand gesagt, die Polizei solle besser mal dort hinfahren. Der Anrufer hatte sofort wieder aufgelegt.

»Und warum sollen wir da jetzt doch hin? Gerade heute, wo wir eh hier Stalldienst haben?«, wollte Andrea wissen.

»Weil aa no eine Nachbarin ang’rufen und g’sagt hat, dass da scho seit heut früh ein Jeep steht und die Hund noch irrer bellen als sonst.«

Dabei sprach er den Jeep wie »Chip« aus, und Andrea musste sich ein Grinsen verkneifen.

»Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber von mir aus«, meinte sie dann.

Draußen jagte ein scharfer Wind Regenschauer durch die Luft. Es war kalt, so kalt, dass der Niederschlag weiter oben sicher schon in Schneeregen überging. Andrea war wirklich eine wetterfeste Bauerstochter, aber vier Grad und Nässe von überallher wirkten selbst auf sie extrem lähmend. Es war ein typischer bayerischer Sommer. Hitze, die sich feucht und schwer aufbaute und sich fast jeden Abend in gewaltigen Gewittern entlud. Gewaltig und gewalttätig in ihrer dröhnenden Macht. Gerade wieder war so ein Gewitter mit einer Sturmfront durchgezogen, und es war schlagartig um gut zwanzig Grad kälter geworden.

Immerhin war der Wind abgeflaut und der Regen legte gerade eine Pause ein, als Andrea und Sailer in Krün am Ende der besagten Stichstraße ankamen. Die Straße war stetig leicht angestiegen, vor ihnen lag nun ein kleiner Wendeplatz, der in der Mitte wie eine Verkehrsinsel gestaltet war, auf der ein elender Birkenstängel wuchs. Ein dürres, krankes Gewächs, das sich seiner Blätter entledigt hatte. Dahinter befand sich das Grundstück. Sie starrten auf ein offenes Tor. Rechts und links von dem geöffneten Stahltor erhoben sich hohe Mauern, die fast vollständig von Thujahecken überwuchert waren. Noch außerhalb des Tors lehnte sich ein kleiner alter Schuppen an die Mauer, dahinter begann Dickicht.

Eine Frau kam herangeeilt, die den Kragen ihrer Jacke so fest zuhielt, dass man meinen konnte, sie wollte sich selbst erwürgen. Sie stellte sich als Frau Sanktjohanser vor. Ihrer abgehackten Rede war zu entnehmen, dass der Geländewagen schon seit den frühen Morgenstunden da stehe. Dass jemand wie wild gehupt habe. Und dass es nun wirklich reiche!

Andrea sah sich um. In etwa fünfzig Metern Entfernung gab es eine zweite Mauer und ein zweites Tor aus Gitterstäben, das ebenfalls offen stand. Dazwischen parkte ein großer Wagen auf der gekiesten Zufahrt.

»Sind Sie reingegangen?«, erkundigte sich Andrea.

»Da geh ich doch nicht rein!«, entrüstete sich Frau Sanktjohanser. »Was weiß ich denn, was das für Bestien sind?« Es folgte eine lange Tirade über ständigen Lärm und nächtens vorfahrende Lastwagen. »Der letzte Transport ist erst vor drei Tagen gekommen. Vielleicht wird da mit Drogen oder Frauen gehandelt!«

»Die bellen aber ned«, brummte Sailer.

Andrea war ihm fast dankbar für diesen Satz, der sie ein wenig heiterer stimmte. Denn ihr war seit der Fahrt übel, was natürlich auch am Mittagessen liegen konnte, das aus Junkfood vom Drive-in bestanden hatte.

Währenddessen echauffierte sich die Frau weiter und erzählte, dass der Jeep schon öfter hier gewesen sei. Sonst würde er aber immer nur so reinhuschen. Im Übrigen stehe heute zum ersten Mal das Stahltor offen.

»Und da warn S’ ned neugierig?«, fragte Sailer.

»Ich geh da nicht rein. Dafür ist die Polizei da!«

Sie verschwand nebenan in einer Einfahrt, vor der zwei Löwen mit bayerischem Wappen auf zwei Säulen hockten – Kitsch as Kitsch can.

Der Wind blies unvermindert, während sie auf den Geländewagen zugingen. Sailer pfiff durch die Zähne.

»A Hummer H zwoa«, sagte er.

Andrea hatte so ein Auto noch nie live gesehen, sondern nur im Fernsehen. In der Fernsehserie »CSI«, wo die Farben immer so bunt waren wie bei einem Musikvideo. Die Menschen alle leicht bekleidet und makellos schön. Wo immer Sommer war.

Anders als hier. Die Kälte kroch unerbittlich in ihre Jacke. Ihre Finger waren klamm.

»Koscht sicher siebzigtausend«, meinte Sailer ehrfürchtig.

Das monströse Fahrzeug war abgeschlossen, kein Mensch war zu sehen, was aber lauter wurde, war das Gebell. Andrea ließ den Blick schweifen. Rechts von der Einfahrt lagen drei Einzelgebäude mit Flachdächern, von dort schien auch das Bellen zu kommen. Der Weg wandte sich jenseits der Häuser in einer Linkskurve leicht bergan und schien zu einer Pferdekoppel zu führen.

Sailer rief gegen den Wind: »Hallo, is einer da?«

Doch niemand antwortete.

Sie ließen die Gebäude fürs Erste rechts liegen und näherten sich einem Gehege.

In dem Moment, als sie vor der Pferdekoppel standen, wusste Andrea, dass sie dieses Bild ihr Leben lang nicht mehr vergessen würde. Dass es sie anspringen würde, dass es ihr Leben vergiften würde und ihr den Schlaf rauben.

Sie vermochte nicht zu sagen, wie viele es waren. Die Tiere standen bis über die Fesseln in tiefem Matsch und Mist. Sie waren abgemagert bis auf die Knochen. Andrea sah nur noch Rippenbögen. Jemand hatte wohl vor gar nicht langer Zeit in dieses Matschloch Heu und Stroh geworfen, das zertrampelt war und kaum noch als Nahrung dienen konnte. Es hatte einfach zu viel geregnet. Der Schimmel, dessen Kopf über den Zaun hing, als würde er nur von einem Gummiband gehalten, hatte eine Wunde an der Flanke, aus der Maden krochen.

Andreas Tränen vermischten sich mit dem Regen, der wieder eingesetzt hatte. Trotzdem musste sie immer wieder hinsehen zu all den Kreaturen mit den leeren Augen. Bis ihr Blick in der Ecke dieses Foltergefängnisses hängen blieb. Dort wo ein windschiefer Unterstand fast einen Meter hoch mit Mist und Strohresten gefüllt war, lag ein Fohlen. Ein geschecktes Fohlen. Es lag im Matsch, das Köpfchen irgendwie noch herausgereckt. Als hätte es um sein Leben gekämpft. Als hätte es sagen wollen: »Aber ich will noch nicht sterben, ich bin doch noch kein halbes Jahr alt. Warum hilft mir denn keiner?« Sie hatten es zertrampelt in ihrer verzweifelten Suche nach Futter und Wasser.

Die Woge kam ohne Vorwarnung. Andrea spie den Burger aus, die Essiggurke schier unverdaut. Sie spie und spie und hoffte auf Gnade. Wie konnte jemand so respektlos sein, so mit Tieren umgehen?

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Irgendwann reichte ihr Sailer ein Taschentuch, drehte sie um und schob sie behutsam den Weg hinunter. Bis zum Polizeiauto. Dort drückte er sie auf den Beifahrersitz. Orderte per Funk Verstärkung, Tierschutz, Veterinäramt. Schließlich rief er Irmi an. Andrea hörte ihn aus weiter Ferne, als hätte sie Watte in den Ohren.

»Frau Irmengard, tut mir leid, wenn i stör, aber Sie müssen kommen. Sofort, i schaff des ned, und so was schafft sowieso keiner allein. Bitte.« Er nannte die Adresse und erklärte, dass er schon alle alarmiert habe. »Einfach alle!«

Irmi starrte auf ihr Handy. Das war nicht der Sailer, den sie kannte. Was war mit seiner Stimme passiert? Sie drehte sich zu Kathi um.

»Das war Sailer. Total verstört!«

Kathi lachte. »Sailer verstört? Da müsst aber schon eine Mure sein Elternhaus zerstört haben und alle drin gleich dazu, oder. So wie sein Haus liegt, gibt’s da aber keine Muren.«

»Kathi, ich sag dir, seine Stimme klang wie die von einem anderen Menschen.«

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass du dir mal ein neues Handy holen solltest anstatt dieser schnarrenden Antiquität. Und nicht im Auto telefonieren. Ohne Freisprechanlage, Mensch, Irmi, das erlaubt die Polizei doch nicht.«

Sie waren auf dem Rückweg von Weilheim und kamen gerade durch Murnau. Es war früher Nachmittag.

»Er klang wie aus der Hölle oder so«, beharrte Irmi.

»Ach, Irmi. So viel Dramatik.« Kathi stöhnte theatralisch. »Um was geht’s denn eigentlich? Wo ist der Tote? Die Tote? Die Toten?«

»Hat er nicht gesagt.«

»Wie, hat er nicht gesagt? Wir fahren irgendwohin, ohne zu wissen, worum es geht? Selbst unser Sailer hat so was wie eine Ausbildung und sollte wissen, wie man eine Meldung korrekt absetzt.« Kathi fingerte am Polizeifunk herum, doch was sie nun erfuhren, machte die Sache nicht durchsichtiger. Sailer hatte eine Armee angeordnet, so viel verstanden sie. Von einem Todesfall war aber nicht die Rede.

»Ach, kimm! Das geht uns doch nix an. Ich hab jetzt Feierabend. Das Meeting in Weilheim war ja wohl genug für den Tag, oder?«, maulte Kathi.

Kathi hasste solche Fahrten ins »Flachland aussi«, wie sie sich auszudrücken pflegte.

»Ich fahr da jetzt hin«, sagte Irmi, und ihr Ton wurde einen Tick schärfer. »Ich lass dich gern an deinem Auto raus.«

»Ja, ist ja gut. Dann lass uns halt zu Sailer in die Hölle fahren«, zischte Kathi.

Warum blieb Irmi dieser Satz im Kopf, während sie weiterfuhr? Kathi schwieg beharrlich wie ein Trotzkind, während Irmi auf die Straße starrte und ihren Scheibenwischer auf die höchste Stufe schaltete, weil ein erneuter Schauer durchzog. Mit dem Regen kamen nasse Blätter von irgendwoher, eines verklemmte sich im Wischblatt und zog eine Spur über die Scheibe. Die Hölle, was um Himmels willen hatte Sailer mit der Hölle zu schaffen?

Als Irmi in die Stichstraße einbog, waren dort wirklich Fahrzeuge in Armeestärke angerückt. Polizeiautos parkten den Weg zu, ein Kollege wedelte mit den Händen und deutete Irmi an, dass sie zur Seite fahren solle. Sie manövrierte den Wagen halb in die Hecke und beobachtete einen Konvoi aus Pferdehängern, der gerade einfuhr.

»Was ist denn das hier?« Kathi hatte die Stirn gerunzelt.

Irmi ließ den letzten Pferdehänger durch und stieg aus. Kathi kletterte über die Mittelkonsole und stellte sich zu ihrer Kollegin. Es hatte aufgehört zu regnen, doch es war schneidend kalt. Sicher fünf Grad kälter als in Weilheim.

»Sepp!« Irmi schnippte mit den Fingern und sah den Kollegen, der sie eingewiesen hatte, scharf an. »Was ist hier los?«

»Irre. Solche san Irre«, rief Sepp und eilte davon, weil sein Funk fordernd knarrte und rauschte.

Irmi und Kathi gingen durch das Tor. Weitere Autos, Hänger, ein Lkw, zwei Kleinbusse, ein Notarztwagen, und dann erkannte Irmi die Amtstierärztin Doris Blume, die mit ihrem Rotschopf die Szenerie erhellte.

»Frau Mangold!«

»Bitte, was ist hier los? Hier scheinen alle die Sprache verloren zu haben.«

»Das passiert schon mal, wenn das Unvorstellbare sprachlos macht. Wir vom Amt und vom Tierschutz sehen so was leider öfter, Frau Mangold. In dieser krassen Form allerdings schon lange nicht mehr. Das hier ist die Hölle.«

Da war es wieder, das Wort. Irmi und Kathi folgten der Amtstierärztin, deren leicht schwäbischer Akzent ihrer Rede etwas Charmantes verliehen hatte. Unpassend charmant, denn nun waren auch Irmi und Kathi an der Pferdekoppel angelangt. Vier große unförmige Gebilde im Matsch waren mit Planen überdeckt, eine Plane war kleiner. Unter den Abdeckungen ragten Hufe hervor, und das Bizarrste war, dass sich diese Hufe wie Schnabelschuhe aufgebogen hatten, wie bei mittelalterlichen Gauklern … Dieses Bild sollte Irmi lange nicht mehr verlassen. Sie schluckte.

»Vier mussten wir sofort einschläfern. Das Fohlen war schon tot. Zertrampelt.«

Doris Blumes Sprache war sachlich. Obwohl Irmi eigentlich nicht hinsehen wollte, glitt ihr Blick immer wieder über die Herde. Klapperdürre Tiere, viele mit schwärenden Wunden, eine junge Frau war gerade dabei, aus der Flanke eines Pferdes mit der Pinzette Würmer zu entfernen. Dabei redete sie leise mit dem Tier und lächelte ihm immer wieder zu. Irmi war nahe dran, sich zu übergeben. Kathi gab ein seltsames Geräusch von sich.

»Ich hab ein paar Kollegen aus der Veterinärmedizin informiert«, sagte die Tierärztin und wandte sich dann an Kathi: »Geht’s denn?«

Kathi nickte, und Irmi kämpfte weiter gegen die aufsteigende Magensäure, während Doris Blume in alle Richtungen schnelle, knapp formulierte Befehle gab. Aus einem der Nebengebäude kam gerade die Chefin des Garmischer Tierheims. Sie trug einen großen Korb.

»Die packen’s, mein ich.« Sie nickte Irmi und Kathi zu. »Wird etwas dauern, bis sie Vertrauen gefasst haben. Die seelischen Schäden sind meist das Schlimmere.« Die Welpen in dem Korb starrten nur so vor Kot und Schmutz, fünf von ihnen wirkten apathisch, eines aber versuchte, einem der Geschwisterchen spielerisch ins Ohr zu beißen. Irmi schossen Tränen in die Augen. Heiße salzige Tränen, Tränen der Wut und der Verzweiflung. Kathi war ein paar Schritte zur Seite getreten, ihre Schultern zuckten.

»Bei den Hunden ist es noch vergleichsweise erträglich«, meinte die Leiterin des Tierheims. »Sie hatten immerhin einen großen Raum und einen Zwinger. Kaum Wasser, kaum Futter, alles total zugekotet, aber ich habe schon Fälle gesehen, wo die Tiere nicht nur den Kitt aus den Fenstern gefressen haben, sondern auch noch sich gegenseitig.«

»Wie viele Hunde sind es denn?«, fragte Irmi und spürte, wie ihre Stimme ihr nicht gehorchte, sondern sich irgendwie piepsig anhörte.

»Zweiundsechzig, mit den achtzehn Welpen.«

»Und wo bringt ihr die unter?« Kathi starrte die Frau an.

»Genau da beginnt das Problem. Natürlich nicht alle bei uns, wir müssen sie auf alle bayerischen Tierheime verteilen, ich flehe und bettle. Die Tierheime müssen das stemmen, Geld gibt’s keines vom Staat. Glauben Sie mir, manchmal hasse ich meinen Job. Ohne die Spenden wären wir verloren, wären die Tiere verloren. Drum muss ich jetzt auch meinen Telefonmarathon fortführen.« Sie lächelte Doris Blume zu, die zurückgekommen war, und eilte davon, einen Hundekorb unterm Arm.

Die Amtstierärztin verzog das Gesicht. »Die Leiterin des Tierheims legt den Finger in die Wunde. Kürzlich haben wir dreiundvierzig Katzen sichergestellt. Dreiundvierzig von ursprünglich sechsundsechzig, der Rest war tot. Das kostet das Tierheim acht Euro am Tag bei einer durchschnittlichen Verweildauer von knapp hundertfünfzig Tagen. Ergibt pro Tier zwölfhundert Euro, das sind für dreiundvierzig Katzen fast zweiundfünfzigtausend plus circa sechstausendfünfhundert Euro Tierarztkosten. Und da rechne ich noch sehr am unteren Rand, denn Tiere aus solchen Verhältnissen sind meist sehr krank. Jedenfalls hat das Tierheim plötzlich auf einen Schlag fast sechzigtausend Euro Kosten! Und dabei habe ich die außerordentlichen Tierarztkosten, die Fahrtkosten und die zusätzlichen Mitarbeiterstunden gar nicht eingerechnet! Ich hab die Zahlen stets parat, die haben sich mir eingebrannt. Ich verwende sie als drohendes Beispiel, nur leider kann man Landräten oder höheren Tieren so schlecht drohen.«

Irmi sah sie fragend an.

»Schauen Sie, Frau Mangold, die Tierheime sehen keinen Cent von der öffentlichen Hand. Wenn die die Viecher nicht aus Tierliebe aufnehmen würden, stünden die vermeintlich Geretteten auf der Straße. Wie hier beginnt ein Telefonmarathon quer durch die Republik, um abzuklären, wer wie viele Tiere aufnehmen könnte. Wir alle benötigen neue rechtliche Grundlagen – Animal Hoarding ist ein vielschichtiges Problem.«

Animal Hoarding, krankhaftes Tiersammeln, das war der Begriff, den Irmi irgendwo im Hinterkopf gehabt hatte. Direkt war sie allerdings noch nie damit befasst gewesen. Da starben ja auch nur Tiere, keine Menschen, für die die Kripo zuständig war.

Und als hätten sich ihre Gedankenbahnen irgendwo gekreuzt, sagte die Amtstierärztin: »Im Prinzip geht Sie das hier ja gar nichts an, Frau Mangold. Das Leben ist zynisch. Tote Tiere verstoßen maximal gegen das Tierschutzgesetz.«

»Können wir trotzdem was helfen?«, fragte Irmi. »Gerade deshalb.«

»Sicher, jede Hand zählt. Wir müssen die Hunde einzeln versorgen. Sie überzeugen, in Transportkisten zu gehen. Haben Sie Erfahrung mit Hunden?«

Irmi stiegen die Tränen wieder hoch. »Entschuldigung. Meine Hündin ist kürzlich gestorben, der Schmerz ist … verdammt.« Sie schniefte.

O ja, sie hatte Hundeerfahrung. Wally hatte lange und gut gelebt und sterben dürfen, bevor sie allzu sehr hatte leiden müssen. Hier hingegen vegetierten Hunde vor sich hin, die nur gelitten und noch keinen einzigen Tag ein schönes Hundeleben erfahren hatten.

Die Amtstierärztin lächelte. »Wissen Sie, Frau Mangold, es gibt so viele arme Schweine, die auf ein besseres Leben hoffen, vielleicht hat Ihre Hündin ja Platz gemacht für so ein armes Schwein. Ich meine, irgendwann.« Dann sah sie Kathi an. »Würden Sie ein paar Telefonate für mich erledigen? Wenn Sie als Polizei Druck machen, wirkt das besser.«

Kathi nickte. Doris Blume reichte ihr einen Zettel mit Telefonnummern und sagte ein paar schnelle Sätze zur Erläuterung.

»Alles klar!« Kathi warf sich herum, flüchtete eiligen Schrittes zum Auto. Sah sich nicht mehr um.

Irmi folgte der Amtstierärztin, der Geruch wurde immer unerträglicher. Ein junger Mann mit einem Käscher kam ihnen entgegen. »Wir haben die meisten.«

»Wie viele?«

»An die hundert, fürchte ich.«

Irmi sah von der Amtstierärztin zu dem jungen Mann.

»Wellensittiche«, erklärte diese. »Sehr viele. Die schwirrten in einem Raum mit über gut achtzig Kaninchen. Kein Wasser, kein Futter. Viele der Kaninchen haben blutige Ohren oder nur noch Ohrfragmente, weil die ausgehungerten Wellensittiche in ihrer Verzweiflung die Kaninchen angenagt haben. Es sind auch verweste Tiere darunter. Da müssen wir uns noch einen Überblick verschaffen, mein Chef ist schon drin. Das erspar ich Ihnen. Wissen Sie, Frau Mangold, Nager können nicht bellen oder miauen. Sie krepieren stumm und quälend langsam. Kommen Sie!«

Aus dem Gebäude mit den Kaninchen quoll ein Geruch, der Irmi fast den Atem nahm. Sie schaute starr geradeaus und folgte Doris Blume in den Hundezwinger. Zum Glück waren hier längst ein halbes Dutzend Tierschützer und zwei Tierärzte zugange.

»Können Sie versuchen, die zwei Hunde da hinten milde zu stimmen?«, fragte die Amtstierärztin. »Riskieren Sie nichts, aber vielleicht können Sie die beiden bestechen.« Sie warf ihr eine Tüte Leckerlis zu. »Und falls sie irgendwas davon annehmen, bitte auf dieses Spezialfutter umsteigen. Die haben außer Würmern nichts im Magen, die müssen sich langsam an Nahrung gewöhnen.« Sie warf ihr noch zwei Beutel zu. Irmi erkannte die Packungen: ein sündhaft teures Futter für Hunde mit Niereninsuffizienz oder für Rekonvaleszenten.

Der Raum hatte etwas von einem Bunker. Bis auf wenige winzige vergitterte Fenster war er düster. In einer Nische befanden sich zwei Hunde. Irmis Augen mussten sich erst ans Halbdunkel gewöhnen. Sie näherte sich langsam. Der eine Hund zog die Lefzen hoch und knurrte. Der andere hatte die Rute eingeklemmt und starrte sie mit riesigen Augen an.

Irmi behielt den knurrenden im Auge. »He, ich versteh ja, dass du schlechte Laune hast, aber würdest du mir bitte glauben, dass ich dir helfen will?« Knurren. »Du, ich weiß, dass das etwas schwer zu glauben ist in deiner Situation, aber ich bin eigentlich eine ganz Nette.«

War sie eine Nette? Ja, natürlich. Sie war ihr ganzes Leben lang unkapriziös gewesen. Hatte immer getan, was eben getan werden musste. Hatte selten geklagt, und wenn, dann im stillen Kämmerlein. Sie hatte nie Allüren entwickelt, selten gezickt. Wahrscheinlich hatte sie deshalb auf Dauer auch keinen Mann halten können, die Drama-Queens hatten da bessere Karten. Männer fühlten sich wohl mehr geliebt, wenn eine Frau ihretwegen so richtig hysterisch wurde.

Man kann niemanden zwingen, einen zu lieben, hatte sie immer gedacht. Aber offenbar konnten das manche Frauen eben doch. Sie zwangen Männer zum Bleiben. So wie die Frau von ihm. Er war bei ihr geblieben, und Irmi hatte sich in die Rolle der Geliebten drängen lassen.

Sie sah die beiden Hunde an. Plötzlich war sie sich sicher, dass es zwei Hündinnen waren. Mutter und Tochter. Dabei hätte sie gar nicht sagen können, warum. Sie sah die Tochter an, die mit der eingeklemmten Rute und den panischen Augen.

»Mädelchen, ich werf dir mal was Feines hin. Probier mal.« Ein Leckerli flog zwischen sie und die Hündin. Die Mutter knurrte.

»Mama, du musst dein Kind nicht mehr beschützen, das übernehmen jetzt andere für dich. Du musst dich mal entspannen, Mama. Mamachen …« Wieso hatten Tränen nur so ein Eigenleben? Irmi war immer der Meinung gewesen, dass man mit Tieren reden konnte. Vielleicht verstanden sie nicht den exakten Inhalt, aber sie verfolgte die Theorie, dass der Inhalt der Rede den richtigen Tonfall verlieh. Bei ihren Kühen und Schafen funktionierte das, auch wenn ihr Bruder Bernhard sie deswegen immer belächelt hatte.

Irmi warf der kleinen Hündin noch ein Leckerli hin. Die Mama knurrte nicht mehr. Und ganz langsam machte die Tochter einen Schritt nach vorne. Schnappte das Leckerli und quetschte sich wieder in die Ecke.

»Gute kleine Lady.«

Die Tochter schnappte sich das zweite Leckerli. Irmi warf ihr noch eins hin und dann eines vor die Füße der Mutter. Man konnte sehen, wie sie mit sich rang, doch letztlich siegte der Hunger: Sie nahm es.

Nach einigen weiteren Leckerlis öffnete Irmi den Beutel mit dem Spezialfutter. Doch da war keine Futterschüssel. Himmel, als würde das etwas ausmachen. Diese Tiere hatten zwischen Exkrementen überlebt, da war eine Schüssel verzichtbarer Luxus. Wo war eigentlich die Normalität geblieben? Einerseits Goldnäpfe und Diamanthalsbänder für die Haustiere, andererseits Kreaturen wie diese. Warum wurde die Welt immer extremer? Weil die Menschen immer irrer wurden?

Irmi näherte sich auf etwa fünfzig Zentimeter, verteilte den Inhalt der Tüten auf zwei Häufchen und ging wieder einen Schritt zurück. Die beiden Tiere fraßen, nein, schlangen das Futter in sich hinein.

Doris Blume war neben sie getreten. Leise und mit einem Lächeln. »Frau Mangold, wenn Sie die Kripo mal verlassen, kommen Sie doch zu mir. Meinen Sie, die lassen sich ein Halsband anlegen?«

»Die Kleine ja, die Große … wer weiß?«

»Kleine und Große?«

»Mutter und Tochter, denk ich. Ist so ein Gefühl.«

Die Tierärztin nickte. »Könnte passen. Versuchen Sie es?«

Irmi näherte sich mit einem Leckerli der Kleinen, hatte Halsband und Leine in der Hand. Nun galt es. Was, wenn die Mama sie anfiel? Die Kleine machte sich noch kleiner, ließ sich aber ein Halsband umlegen, während Irmi ihre Augen auf Mama gerichtet hatte.

Sie murmelte: »Mama, Mamachen, es ist vorbei, aber es ist nur vorbei, wenn du jetzt mitmachst.« Als sie an der Leine zog, stand die Kleine auf – und es kam Irmi wie ein Wunder vor, dass die Mutter folgte.

Es war wie ein Triumphmarsch. Die Helfer hatten eine Gasse gebildet, es war auf einmal still. Kein Hund bellte mehr.

Irmi trat nach draußen, wo es dämmerte. Aber auch im fahlen Licht wurde das ganze Ausmaß der Tragödie sichtbar. Die Hundemutter humpelte, sie hatte ein paar böse eitrige Bisswunden. Die Kleine war so dünn, dass Irmi dachte, ihre Knochen würden beim Auftreten bersten.

»Gehen Sie zum Bus«, flüsterte Doris Blume. »Einfach gehen, nicht anhalten. Der Bus hat eine Rampe.«

Irmi gelang es, beide Hunde ins Fahrzeug zu bugsieren. Sie gab den beiden Tieren ein Leckerli, die Mutter nahm es sogar aus ihrer Hand.

»Eine Kämpferin«, sagte die Amtstierärztin und zeigte auf die Größere der beiden Hündinnen. »War so eine Art Chefin im Rudel, denke ich. Die kriegen wir schon wieder hin. Und ihre Tochter wird sich auch berappeln. Eigentlich hübsche Hunde. Irgendwas mit Labrador drin.«

In der Tat. Die Mutter war schwarz, die Kleine schokobraun. Sie waren glatthaarig, nur die Schnauzen erinnerten eher an einen Collie.

Die Ärztin schloss die Tür und bat den Fahrer, den Bus zu starten. »Wir haben im Tierheim eine Art mobiles Lazarett eröffnet. Da werden die erst mal verarztet. Frau Mangold, wie heißen die beiden denn?«

Irmi zögerte nur ganz kurz: »Mama und Schoko.«

»Schön«, sagte Doris Blume und schrieb etwas auf ihr Klappbrett.

Irmi fühlte sich, als hätte sie hundert Stunden nicht mehr geschlafen, als trüge sie Schuhe aus Blei.

2

Der Bus fuhr davon. Irmi blickte sich nach ihrer Kollegin um. Erst nach einer Weile entdeckte sie Andrea und Kathi beim Notarztwagen und ging auf sie zu.

»Tut mir leid. Ich bin zusammengeklappt«, erklärte Andrea, die auf einem Stuhl vor dem Wagen saß. »Das war unprofessionell, aber …«

»Das war eine normale Reaktion. Ich mach mir nichts aus Tieren, aber das … das …« Kathi schossen Tränen in die Augen.

Kathi tröstete Andrea! Das Leben war ein fortwährendes Mysterium. Mitten im Wahnsinn gab es Lichtblitze, gab es Hoffnung, seltsame Wendungen. War der Mensch so? Musste es immer erst zu Katastrophen kommen, damit man zusammenrückte und milder wurde?

»Andrea, du musst dir keine Vorwürfe machen. Wir alle haben so etwas noch nicht gesehen«, meinte Irmi. »Aber hör mal, vielleicht könnte deine Familie zwei oder drei der Pferde unterbringen? Ihr habt doch leere Boxen. Die sind hier sicher froh um jeden Stallplatz.«

Andreas Eltern hatten eine Landwirtschaft, und erst kürzlich hatte ihre Cousine geheiratet und drei Pferde mitgenommen. »Bis auf Raisting aussi« hatte sie geheiratet, das war für die Traditionalisten in Andreas Umfeld fast schon eine Weltreise. Eine Weltreise von etwa dreißig Kilometern.

Raisting lag in einem ganz anderen Einzugsgebiet. Von hier war es viel näher zur Landeshauptstadt und zum Starnberger See, wo schicke Münchenpendler zu Mietpreisen lebten, die sittenwidrig waren. Wo man sich fortwährend darüber unterhielt, ob man auf der richtigen oder der falschen Seite des Sees lebte, und wie eine Sinuskurve war mal die Feldafinger Seite die angesagte, mal die Berger Seite.

Solche Fragen stellte man sich in Andreas Familie nicht, sondern eher die, wie man den Nachbarn ärgern konnte, der immer mit seinem viel zu großen Bulldog die Kante des Feldes zu Matsch zerfuhr. Das waren die wichtigen Werdenfelser Lebensfragen.

»Meinst du?« Andrea klang wie ein Schulmädchen. Normalerweise hätte Kathi sie deshalb veralbert, aber diesmal blieb Kathi stumm.

»Ruf an! Red mal mit der Amtstierärztin«, schlug Irmi vor.

Andrea lief davon, und Kathi murmelte: »Wenn man selber Pferde hat, ist das wahrscheinlich noch viel schlimmer.«

Aktion, selbst blinder Aktionismus war besser als Verharren. So lange der Mensch noch irgendetwas tun konnte, blieben Panikattacken weitgehend aus. Aber sie lauerten ganz knapp unter der Oberfläche, bereit, jederzeit auszubrechen.

Bevor Irmi ihre eigenen nächsten Schritte überlegen konnte, kam Sailer. Zusammen mit dem Kollegen Sepp.

»Mir ham da noch so a Gebäude aufbrochn«, sagte Sailer, und noch immer klang seine Stimme ganz anders als sonst. Auch ein Sailer war zu erschüttern, oder gerade jemand wie er, dessen Weltbild so fest gezimmert war.

»Mir ham es sofort wieder zug’macht«, schickte Sepp hinterher.

Noch mehr Elend? Noch mehr Hölle? Was hatten sie entdeckt, was Angstflackern in ihren Augen erzeugt hatte?

»Was ist denn in dem Raum?«, fragte Irmi und wollte die Antwort am liebsten gar nicht hören.

»Des glauben Sie ned«, kam es von Sailer.

»Wo die armen Karnickel waren …« Sepp stockte kurz. »Do is noch a Nebengebäude. Verrammelt wie a Hochsicherheitstrakt. Also, i moan, des is a Hochsicherheitstrakt, weil da san Monster drin.«

Es war Kathi, die allmählich wieder zu ihrer gewohnten Form fand. »Könnten zwoa g’standene Mannsbilder amoi de Zähn auseinanderbringa?« Kathi konnte ein sehr gepflegtes Hochtirolerisch sprechen, wenn es sein musste, und nach einigen weiteren Nachfragen war den Herren zu entlocken, dass sie einen weiteren Raum gefunden hatten. Dass die Damen vom Tierschutz sie gebeten hätten, den Raum aufzubrechen. Dass das eine Weile gedauert hätte und dass sie als Erstes fast auf ein Krokodil getreten wären. Oder einen Leguan oder »so a Urviech mit Monsterzähn«, wie Sailer sich ausgedrückt hatte.

Jedenfalls waren ihnen noch offene Gitterboxen aufgefallen, und sie hatten die Tür wieder zugeworfen. Was völlig korrekt war, denn jeder Polizeischüler lernte, dass da Fachleute hermussten.

»Was habts gmacht, Burschn?«, fragte Kathi.

»Die Frau Tessy vom Tierschutz g’suacht, aber de is grad auf Garmisch abi«, meinte Sailer und sah Irmi hoffnungsfroh an.

Die Frau Irmengard, die würde es schon richten. »Sailer! Sepp! Was machen wir in so einem Fall? Erst denken, dann lenken! Also?«

»Den Schlangenbeschwörer anrufen?«, kam es von Sepp.

»Genau, gut erkannt. Anrufen! Auf geht’s!« Manchmal half nur die Flucht in den Zynismus und in sehr knappe Befehle.

In dem Moment kamen Tierschutzchefin und Amtstierärztin wieder vorgefahren. Die Scheinwerfer zerschnitten den Nebel, es war dunkel geworden. Zappenduster. Sie kurbelten die Scheiben runter, und Irmi setzte sie ins Bild, auch darüber, dass sie ihre Leute angewiesen hatte, den »Schlangenbeschwörer« zu rufen. So nannten sie den Inhaber des Reptilienhauses in Oberammergau, ein Experte für all diese dubiosen Kriechtiere. Er trat mit seinen Schlangen sogar in Filmen auf.

»Das fehlt ja grad noch!«, rief Doris Blume. »Auch noch Reptilien! Die kriegst du ja nirgends unter! Die Reptilienauffangstation in München wird uns lieben, wenn wir denen ein paar Hundert kranke Schlangen und Krokos bringen.«

»Ein paar hundert?«, fragte Kathi nach.

»Ja, bei den Terrarianern ist die Sammelleidenschaft meistens noch schlimmer. Da kommen leicht mal zwei- bis dreihundert Viecher zusammen. Gut, dann warten wir mal.«

Eigentlich hätten Irmi und Kathi jetzt von diesem unwirtlichen Ort verschwinden können, für sie gab es nichts zu tun, aber Irmi wollte auf jeden Fall noch nach Andrea sehen, und da Kathi nicht meuterte, gingen sie zusammen zu einem Stadl, unter dessen Dachüberstand sich sogar eine schiefe alte Biergartengarnitur befand, auf der man einigermaßen trocken sitzen konnte. Die Amtstierärztin hatte Kathi eine Decke mitgegeben, die sie sich um die Schultern hängte. Irmi fror komischerweise überhaupt nicht, obwohl ihre Fleecejacke nicht sonderlich warm war. Dann warteten sie.

Der Schlangenbeschwörer hatte sich beeilt, schien es. Schon bald traf er ein und wünschte ihnen mit fröhlicher Stimme einen guten Abend.

Irmi hatte ihn ein paar Mal erlebt. Er war ein Mann in den Vierzigern, mit einem leichten Allgäuer Dialekt und einem lakonischen Humor gesegnet, der Situationen entkrampfte. Seine Präsenz wirkte auf sie alle irgendwie beruhigend.

»Es war also bisher niemand drin?«, wollte er wissen.

»Nein, meine Kollegen haben die Tür sofort geschlossen. Ein Untier läuft offenbar auch frei da drin herum«, sagte Irmi.

Der Reptilienspezialist begann sein Auto zu entladen. Er hatte verschließbare Plastikbehälter dabei, Nylonsäcke, Styroporkisten, einen Schlangenhaken, Greifzange, Handschuhe und eine Gesichtsmaske. »Falls eine Speikobra dabei ist«, erklärte er.

Sie folgten ihm mit den Utensilien beladen zu besagtem Gebäude. Der Schlangenbeschwörer hatte eine Taschenlampe dabei, die einen ersten vorsichtigen Lichtstrahl in den Raum schickte. Schon bald fand er einen Lichtschalter, und augenblicklich war der Raum taghell. Blendend hell.

»Sie bleiben draußen! Ich seh schon von hier, dass die Viecher hier in Gitterkäfigen gehalten werden. Ist in Deutschland offiziell verboten. Hat auch den Nachteil, dass da leichter Tiere abhandenkommen. Ein vernünftiges Terrarium ist an sich ein- und ausbruchssicher. Wie Alcatraz.« Er lächelte. »Ich verschaff mir erst mal einen Überblick.«

Er verschwand im Inneren und war relativ schnell wieder draußen. »Das Untier ist ein Waran. Abgemagert und unterkühlt. Den hab ich schon mal in eine Styroporkiste gepackt. Ist völlig harmlos. Die allermeisten Echsen sind nämlich ungiftig. Trotzdem wird das hier ziemlich uferlos. Rufen Sie bitte die Münchner an, ich brauch Hilfe«, sagte er an die Amtstierärztin gewandt. »Dabei war ich nur im vorderen Raum, es gibt aber mindestens noch einen zweiten. Zumindest ist da eine Tür.«

Irmi stellte sich vor, wie er – sobald er die zweite Tür öffnete – von Schlangen attackiert wurde. Es war ein apokalyptisches Bild, auf dem schwarze Schlangen niederfuhren. Woher hatte sie solche Weltuntergangsbilder?

Ihre Gedanken schweiften umher wie Scheinwerfer im Nebel. Diffus. Thor und die Midgardschlange hatten sich gegenseitig getötet, war das so gewesen? Dabei wusste sie, dass Schlangen so ziemlich alles taten, um vor den Menschen zu flüchten. Sie hatte im Laufe ihres Lebens genug harmlose Ringelnattern angetroffen, die sich schnell aus dem Staub gemacht hatten. Und sie wusste, dass die Kreuzotter den trampeligen Menschen scheute und schon fünf von ihnen gleichzeitig zubeißen müssten, um für den Menschen eine akute Lebensgefahr zu bedeuten. Aber Schlangenangst hatte nichts Rationales, und die Situation hier war einfach gespenstisch.

»Warum haben wir bloß solche Furcht vor Schlangen?«, fragte Irmi laut.

»Wissen Sie, Schlangenangst ist heute eher eine Erziehungsfrage. Früher war das anders: Als die Bauern bei uns noch mit der Sense mähten, war der Respekt vor Schlangen oft lebensnotwendig. Und in Australien zum Beispiel tut man sich schwer, eine Schlange zu finden, die nicht giftig ist.« Er zuckte mit den Schultern und ging wieder hinein. Irmi sah ihm nach, heftete ihre Augen an die Tür.

Nach einer Weile kam der Schlangenmann wieder. Sein Gesichtsausdruck war ernst. »Das ist jetzt allerdings … ich meine, das ist jetzt ungut«. Er suchte Irmis Blick. »Da drin liegt ein Mann. Tot. Und ich befürchte, er ist umgeben von ganzen Scharen von Mordverdächtigen: nicht nur Schlangen, sondern auch Spinnen, Schwarzen Witwen zum Beispiel. Ihren Biss merkt man kaum, aber sie verfügen über ein Nervengift, auf das manche mit extrem starken Unterleibsschmerzen reagieren. Und natürlich gibt es Skorpione da drinnen. Den Arabikus beispielsweise, der ungleich giftiger ist als der schwarze Skorpion. Pfeilgiftfrösche sind auch dabei.«

Irmi fühlte sich überfordert und müde. »Sie meinen, irgend so ein giftiges Tierchen hat den Mann ins Jenseits befördert?«

»Die Vermutung liegt nahe. Ich habe auch keine Schussverletzung oder irgendwas anderes Auffälliges gesehen. Recht unversehrt der Mann, man könnt meinen, die Pupillen sind etwas kleiner. Ich bin ja kein Profi, aber …« Er brach ab.

Irmi wurde klar, was das bedeutete: Erstens war sie nun schlagartig zuständig, und zweitens würde sich die Sache auch ermittlungstechnisch zur Hölle ausweiten. Sie konnten schließlich nicht einfach so ins Gebäude marschieren. Die potenziellen Mörder waren alle noch vor Ort – lauter hochgiftige Tiere wie Klapperschlangen, Vipern, Cobras, Spinnen und Skorpione.

»Sie können wahrscheinlich nicht ausschließen, dass da irgendwelche Tiere noch immer frei rumlaufen, oder?«, fragte Kathi.

»Es wäre am sinnvollsten, auf die Münchner Kollegen zu warten, erst mal die Tiere sicherzustellen und dann den Mann herauszuholen. Tot ist er ja schon.« Er zuckte bedauernd die Schultern. »Da bin ich mir zumindest sicher.«

Wenn die Reptilienpatrouille gleich überall herumkroch, war es nahezu aussichtslos, hinterher noch verwertbare Spuren zu sichern. Der Schlangenbeschwörer mochte zwar die Kriechtiere verdächtigen, dennoch mussten sie damit rechnen, dass der Mann auch aus anderen Gründen das Zeitliche gesegnet haben konnte.

Allein dieser Ort! »Tod in der Tierhölle. Mord im Viecher-KZ« – sie sah schon die Schlagzeilen vor sich. Irmi seufzte. Natürlich wollte sie weder die Kollegen noch die Spurensicherung oder den Notarzt gefährden. Eine Schlangenattacke auf einen Polizisten oder den Arzt würde mit Sicherheit noch schönere Schlagzeilen einbringen. Und sie konnte sich schon vorstellen, wie Kollege Hase vom Kriminaltechnischen Dienst auf ihren Vorschlag reagieren würde, inmitten von derartigen Giftspritzen Spuren zu sichern. Aber es half alles nichts.

Irmi sah Kathi an. Die hatte die Stirn gerunzelt.

»Versteh ich Sie richtig? Wir müssen erst mal den Raum von den Tieren befreien, oder?«, fragte sie nach.

»Ganz genau, und wir brauchen die Experten von der Reptilienauffangstation in München«, sagte Irmi und sah den Schlangenmann an.

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