Mr Norris steigt um - Christopher Isherwood - E-Book

Mr Norris steigt um E-Book

Christopher Isherwood

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Beschreibung

Berlin am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Der junge Engländer William Bradshaw verbringt seine Tage damit, bourgeoisen Damen Englischstunden zu geben, nachts jedoch umgibt er sich mit Gestalten der Halbwelt. Besonderen Eindruck macht die Begegnung mit Arthur Norris auf ihn, einem Lebemann und Kommunisten - im Deutschland jener Tage eine zunehmend riskante Haltung. Und dann steht der Reichstag in Flammen … Mit großer Präzision zeichnet Christopher Isherwood das faszinierende Porträt eines Menschen, dem zuletzt alles genommen wird. Und wie schon in Leb wohl, Berlin fängt er auch hier auf einmalige Weise die Stimmung im Deutschland der Vorkriegszeit ein - aus der Perspektive eines scheinbar unbeteiligten Beobachters.

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Christopher Isherwood

Mr Norris steigt um

Roman

Roman

Aus dem Englischen von Georg Deggerich

Hoffmann und Campe

Für W.H. Auden

Erstes Kapitel

Als Erstes fiel mir auf, dass der Fremde ungewöhnlich helle blaue Augen hatte. Sie sahen mich mehrere Sekunden lang an, starr und sichtlich verängstigt. Auf arglose Weise vorwitzig, erinnerten sie mich vage an einen Zwischenfall, den ich nicht recht einordnen konnte; etwas, das vor langer Zeit geschehen war und mit dem Unterricht in der neunten Klasse zu tun hatte. Es waren die Augen eines Schülers, den man beim Verstoß gegen eine Regel erwischt hatte. Dabei hatte ich ihn offenbar bloß aus seinen Gedanken aufgeschreckt: Vielleicht dachte er, ich könne sie lesen. Jedenfalls schien er weder gehört noch bemerkt zu haben, wie ich von der anderen Seite des Abteils auf ihn zugetreten war, denn beim Klang meiner Stimme zuckte er zusammen, und zwar so heftig, dass seine plötzliche Bewegung mich wie ein Rückstoß traf. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück.

Es war genau so, als wären wir auf der Straße zusammengestoßen. Wir waren beide verwirrt und beflissen, uns zu entschuldigen. Um ihn zu beruhigen, wiederholte ich lächelnd meine Frage:

»Dürfte ich Sie um Feuer bitten, Sir?«

Aber auch jetzt antwortete er nicht sofort. Er schien in Gedanken eilig etwas zu überschlagen, während seine Finger nervös und hektisch an seiner Weste herumzupften. Man hätte meinen können, er wolle sie aufknöpfen, um einen Revolver zu ziehen oder auch nur um nachzuschauen, ob ich vielleicht sein Portemonnaie entwendet hatte. Dann verschwand die Bestürzung aus seinem Blick, wie eine kleine Wolke, und hinterließ einen strahlendblauen Himmel. Endlich verstand er, was ich von ihm wollte:

»Ja, ja. Äh – selbstverständlich. Aber sicher.«

Während er redete, tippte er sich leicht mit den Fingerspitzen an die linke Schläfe, hüstelte und lächelte dann plötzlich. Sein Lächeln war äußerst charmant. Es entblößte die hässlichsten Zähne, die ich je gesehen hatte. Sie sahen aus wie abgebrochene Felskanten.

»Selbstverständlich«, wiederholte er. »Mit Vergnügen.«

Vorsichtig fischte er mit Daumen und Zeigefinger in der Westentasche seines edlen grauen Flanellanzugs und zog ein goldenes Benzinfeuerzeug hervor. Seine Hände waren weiß, feingliedrig und sorgfältig manikürt.

Ich bot ihm eine von meinen Zigaretten an.

»Äh – vielen Dank. Danke vielmals.«

»Nach Ihnen, Sir.«

»Nein, nein. Bitte.«

Die winzige Flamme des Feuerzeugs flackerte zwischen uns, so flüchtig wie die Atmosphäre, die unsere übertriebene Höflichkeit erzeugt hatte. Der leiseste Atemhauch hätte die eine ausgelöscht, eine einzige unbedachte Geste oder ein Wort die andere zerstört. Als beide Zigaretten brannten, setzten wir uns zurück auf unsere Plätze. Der Fremde war noch immer misstrauisch. Er überlegte wohl, ob er zu weit gegangen und in die Fänge eines Langweilers oder eines Ganoven geraten war. Sein ängstliches Wesen drängte auf Rückzug. Ich für meinen Teil hatte nichts zu lesen dabei und sah eine Reise in völliger Schweigsamkeit vor mir, sieben oder acht Stunden lang. Ich war entschlossen zu reden.

»Wissen Sie, wann wir die Grenze erreichen?«

Im Rückblick scheint mir diese Frage nicht besonders ungewöhnlich gewesen zu sein. Es stimmt, dass mir an der Antwort nichts lag; ich wollte lediglich eine Frage stellen, die ein Gespräch in Gang brachte und zugleich weder neugierig noch unverschämt war. Die Wirkung auf den Fremden war bemerkenswert. Zweifellos hatte ich sein Interesse geweckt. Er warf mir einen langen, geheimnisvollen Blick zu, und seine Gesichtszüge schienen sich zu straffen. Es war der Blick eines Pokerspielers, den plötzlich der Gedanke beschleicht, dass sein Gegenüber einen Straight Flush auf der Hand hat und er sich besser in Acht nehmen sollte. Schließlich erwiderte er betont langsam und vorsichtig:

»Bedauerlicherweise kann ich Ihnen das nicht genau sagen. In etwa einer Stunde, nehme ich an.«

Sein Blick, der einen Moment lang nur leer gewesen war, trübte sich wieder. Ein unangenehmer Gedanke schien ihn wie eine Wespe zu ärgern; als wollte er ihm ausweichen, legte er den Kopf leicht zur Seite. Dann fügte er seltsam gereizt hinzu:

»Alle diese Grenzen … eine fürchterliche Plage.«

Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Vielleicht war er eine Art Internationalist, ein Anhänger des Völkerbunds. Ich wagte mich vor:

»Sie sollten abgeschafft werden.«

»Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung. Das sollten sie tatsächlich.«

Sein Eifer war unverkennbar. Er hatte eine klobige fleischige Nase und ein Kinn, das zur Seite gerutscht schien, wie eine kaputte Ziehharmonika. Wenn er redete, machte es die tollsten Verrenkungen, und auf einer Seite zeigte sich ein tiefes, schmales Grübchen wie eine Stichverletzung. Die Stirn über seinen apfelroten Wangen war weiß wie die einer Marmorskulptur. Darauf lag ein merkwürdig geschnittener dunkelgrauer Pony, dicht, schwer und kompakt. Nach eingehender Betrachtung stellte ich höchst amüsiert fest, dass er eine Perücke trug.

»Besonders«, schickte ich meinem ersten Erfolg hinterher, »diese vielen bürokratischen Formalitäten; die Passkontrollen und so weiter.«

Nein. Das war ein Fehler gewesen. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich sofort, dass ich einen neuen, beunruhigenden Aspekt angesprochen hatte. Wir redeten ähnliche, aber dennoch unterschiedliche Sprachen. Diesmal jedoch reagierte der Fremde nicht mit Misstrauen. Er fragte mit verblüffender und unverhohlener Neugier:

»Hatten Sie hier schon einmal Schwierigkeiten?«

Befremdlich war weniger die Frage als vielmehr der Ton, in dem sie gestellt wurde. Ich verbarg meine Verwunderung hinter einem Lächeln.

»Aber nein. Ganz im Gegenteil. Oft machen sie sich gar nicht erst die Mühe, das Gepäck zu öffnen; und der Pass wird auch nur flüchtig kontrolliert.«

»Ich bin froh, dass Sie das sagen.«

Er muss mir angesehen haben, was ich dachte, denn er fügte hastig hinzu: »Es mag Ihnen absurd vorkommen, aber ich hasse es, wenn man mir Umstände macht und mich belästigt.«

»Natürlich. Das verstehe ich gut.«

Ich grinste, denn soeben war mir eine plausible Erklärung für sein Verhalten gekommen. Der alte Knabe wollte irgendein harmloses Geschenk ins Land schmuggeln. Vermutlich ein Kleidungsstück aus Seide für seine Frau oder eine Kiste Zigarren für einen Freund. Und natürlich wurde er jetzt nervös. Dabei sah er so betucht aus, als müsste er sich eigentlich keine Sorgen über Zollgebühren – ganz gleich in welcher Höhe – machen. Die Reichen haben seltsame Marotten.

»Dann haben Sie diese Grenze noch nie überschritten?« Ich kam mir sehr wohlwollend, beschützend und überlegen vor. Ich würde ihn aufmuntern und ihm nötigenfalls mit einer glaubhaften Lüge zur Seite springen, um das Herz des Zollbeamten zu erweichen.

»Seit einigen Jahren nicht mehr. Gewöhnlich reise ich über Belgien. Aus verschiedenen Gründen. Ja.« Wieder wurde sein Blick leer, er verstummte und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Plötzlich schien ihn irgendetwas an meine Gegenwart zu erinnern: »Vielleicht ist es nun an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Arthur Norris, Gentleman. Oder vielleicht besser: Privatier?« Er kicherte nervös und rief erschrocken: »Ich bitte Sie, bleiben Sie doch sitzen!«

Wir saßen zu weit voneinander entfernt, um einander die Hand zu geben. Deshalb beließen wir es bei einer höflichen Verbeugung.

»Ich heiße William Bradshaw«, sagte ich.

»Du liebe Zeit! Sie sind nicht zufällig einer der Bradshaws aus Suffolk?«

»Vermutlich schon. Vor dem Krieg wohnten wir in Ipswich.«

»Was Sie nicht sagen. Tatsächlich? Ich war dort einmal bei einer Mrs Hope-Lucas zu Besuch. Sie hatte ein hübsches Haus in der Nähe von Matlock. Vor ihrer Heirat war sie eine Miss Bradshaw.«

»Ganz recht. Das war meine Großtante Agnes. Sie starb vor etwa sieben Jahren.«

»Ach ja? Das tut mir aufrichtig leid … Natürlich war ich damals noch ein junger Mann; und sie eine Dame mittleren Alters. Bedenken Sie, ich rede von 98.«

Die ganze Zeit über betrachtete ich verstohlen seine Perücke. Ich hatte noch nie eine gesehen, die so raffiniert gemacht war. Am Hinterkopf ging sie nahezu unmerklich in sein eigenes Haar über. Nur der Scheitel verriet sie sofort, aber aus drei oder vier Metern Entfernung war auch das nicht zu erkennen.

»Nun denn«, bemerkte Mr Norris. »Wie klein die Welt doch ist.«

»Meine Mutter haben Sie wohl nicht kennengelernt? Oder meinen Onkel, den Admiral?«

Ich hatte mich damit abgefunden, dass nun das übliche Verwandtschaftsgerede folgen würde. Es war langweilig, aber nicht weiter anstrengend und konnte stundenlang fortgeführt werden. Ich sah eine ganze Kette von Themen vor mir, die sich wie von selbst abspulten – Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, ihre Ehen und ihren Besitz, Erbschaftssteuern, Hypotheken, Verkäufe. Dann weiter zu Internaten und Universitäten, Betrachtungen über das Essen, Anekdoten über Lehrer, legendäre Kricket-Matches und umjubelte Ruderwettbewerbe. Ich wusste genau, welcher Ton angemessen war.

Aber zu meiner Überraschung schien Mr Norris sich nicht darauf einlassen zu wollen, denn er antwortete hastig:

»Leider nein. Seit Kriegsbeginn habe ich den Kontakt zu meinen englischen Freunden weitgehend verloren. Meine Geschäfte haben mich oft ins Ausland geführt.«

Bei dem Wort »Ausland« schauten wir beide unwillkürlich aus dem Fenster. Die Niederlande zogen mit der trägen Schläfrigkeit, die einen manchmal nach dem Abendessen überkommt, an uns vorbei: eine beschauliche, sumpfige Landschaft, begrenzt von einem Deich, über den eine elektrische Bahn fuhr.

»Kennen Sie dieses Land gut?«, fragte ich. Seit mir die Perücke aufgefallen war, konnte ich ihn nicht mehr mit »Sir« ansprechen. Außerdem, wenn er sie trug, um jünger auszusehen, war es ebenso lieblos wie unhöflich, auf diese Weise auf dem Altersunterschied zu beharren.

»Ich kenne Amsterdam ziemlich gut.« Mr Norris rieb sich klammheimlich und nervös das Kinn. Das war ein Tick von ihm. Dabei öffnete er den Mund zu einer Art fauchenden, aber harmlosen Grimasse, wie ein alter Löwe im Käfig. »Ziemlich gut, ja.«

»Ich würde gerne einmal hinfahren. Es muss so ruhig und friedlich sein.«

»Ganz im Gegenteil, ich kann Ihnen versichern, dass es eine der gefährlichsten Städte Europas ist.«

»Tatsächlich?«

»Aber ja. So sehr ich auch an Amsterdam hänge, werde ich doch nie aufhören zu beteuern, dass es drei entschiedene Nachteile hat: Erstens sind die Treppen in vielen Häusern so steil, dass nur geübte Bergsteiger sie erklimmen können, ohne einen Herzinfarkt zu riskieren oder sich das Genick zu brechen. Zweitens: die Radfahrer. Sie überschwemmen praktisch die ganze Stadt und scheinen es als Ehrensache zu betrachten, nicht die geringste Rücksicht auf Menschenleben zu nehmen. Erst heute früh bin ich gerade noch einmal davongekommen. Und drittens: die Kanäle. Im Sommer, müssen Sie wissen … ganz und gar unhygienisch. Oh, äußerst unhygienisch. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich gelitten habe. Wochenlang hatte ich Halsschmerzen.«

Als wir Bentheim erreichten, hatte mir Mr Norris in einem ausführlichen Vortrag sämtliche Nachteile der meisten größeren Städte Europas auseinandergesetzt. Ich war überrascht, wie weit gereist er war. In Stockholm hatte er unter Rheuma gelitten, in Kaunas unter Zugluft; in Riga hatte er sich gelangweilt, in Warschau hatte man ihn äußerst respektlos behandelt, in Belgrad hatte er nirgends seine Lieblingszahnpasta bekommen. In Rom hatten ihn die Mücken geplagt, in Madrid die Bettler, in Marseille die Taxihupen. In Bukarest hatte er eine höchst unerfreuliche Begegnung mit einem Wasserklosett gehabt. Konstantinopel hatte er als teuer und geschmacklos empfunden. Die einzigen beiden Städte, die er vorbehaltlos lobte, waren Paris und Athen. Vor allem Athen. Athen war seine geistige Heimat.

Der Zug hatte gehalten. Blasse stämmige Männer in blauen Uniformen schlenderten den Bahnsteig entlang, mit jener bedrohlichen Aura von Muße, die typisch für Beamte an Grenzbahnhöfen ist. Sie hatten etwas von Gefängniswärtern. Es war, als sollte niemandem von uns die Weiterreise gestattet sein. Vom Ende des Waggons hallte eine Stimme durch den Gang: »Deutsche Passkontrolle.«

»Ich glaube«, sagte Mr Norris und lächelte mir weltmännisch zu, »meine schönsten Erinnerungen gelten den Vormittagen, die ich in den malerischen alten Gassen hinter dem Theseustempel verbrachte.«

Er war äußerst nervös. Seine schmale weiße Hand spielte unaufhörlich mit dem Siegelring an seinem kleinen Finger; seine blauen Augen schielten immer wieder ängstlich in den Gang. Sein Ton war aufgesetzt; schrill und gewollt fröhlich, erinnerte seine Stimme an die eines Darstellers in einer Gesellschaftskomödie der Vorkriegszeit. Er sprach so laut, dass die Fahrgäste im Nebenabteil bestimmt jedes Wort hörten.

»Man stößt, völlig unerwartet, auf die faszinierendsten Winkel. Eine einzelne Säule, inmitten eines Bergs von Unrat …«

»Deutsche Passkontrolle. Die Pässe bitte.«

Ein Grenzbeamter stand in der Tür zu unserem Abteil. Seine Stimme ließ Mr Norris leicht, aber unverkennbar zusammenzucken. Damit er Zeit hatte, sich zu sammeln, hielt ich dem Beamten eilig meinen Pass hin. Wie erwartet, warf er nur einen flüchtigen Blick darauf.

»Ich reise nach Berlin«, sagte Mr Norris und reichte dem Mann mit einem charmanten Lächeln seinen Pass; es war derart charmant, dass es ein wenig übertrieben wirkte. Der Beamte zeigte keinerlei Reaktion. Er grunzte nur, blätterte interessiert in dem Pass und ging dann damit auf den Gang, um ihn am Fenster gegen das Licht zu halten.

»Es ist bemerkenswert«, setzte Mr Norris seine Unterhaltung mit mir fort, »dass sich in der gesamten Literatur der Antike kein Hinweis auf den Lykabettus, den Stadtberg Athens, findet.«

Ich war verblüfft über seine Verfassung. Die Finger zuckten, und er konnte seine Stimme kaum noch kontrollieren. Schweißperlen standen auf seiner Alabasterstirn. Wenn es das war, was er mit »belästigt werden« meinte, wenn dies die Qualen waren, die er erlitt, wann immer er gegen Vorschriften verstieß, nahm es nicht wunder, dass er frühzeitig kahl geworden war. Er warf einen kurzen zutiefst betrübten Blick auf den Gang. Ein weiterer Beamter war hinzugetreten. Zu zweit untersuchten sie den Pass, wobei sie uns den Rücken zuwandten. Durch eine zweifellos heroische Anstrengung gelang es Mr Norris, seinen zwanglosen Plauderton zu wahren.

»Man sagt, es habe dort ganze Wolfsrudel gegeben.«

Jetzt hielt der andere Beamte den Pass in der Hand. Es schien, als wollte er ihn mitnehmen. Sein Kollege blätterte in einem kleinen, schwarz glänzenden Notizheft. Er hob den Kopf und fragte unvermittelt:

»Ihre aktuelle Adresse lautet Courbierestraße 168?«

Einen Augenblick lang dachte ich, Mr Norris würde ohnmächtig werden.

»Äh – ja … das stimmt …«

In hilfloser Faszination waren seine Augen auf den Fragesteller gerichtet, als wäre er ein Vogel, der sich einer Kobra gegenübersieht. Man hätte meinen können, er erwarte, auf der Stelle verhaftet zu werden. Aber der Beamte machte lediglich eine kurze Notiz in sein Heft, grunzte erneut, drehte sich auf dem Absatz um und ging weiter zum nächsten Abteil. Sein Kollege gab Mr Norris den Pass zurück und sagte: »Vielen Dank, der Herr.« Dann salutierte er freundlich und folgte dem anderen.

Mr Norris ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf die harte Holzbank sinken. Einen Moment lang schien es ihm die Sprache verschlagen zu haben. Er zog ein großes weißes Seidentaschentuch hervor und begann sich damit die Stirn zu tupfen, sorgsam darauf bedacht, dass die Perücke nicht verrutschte.

»Wären Sie so freundlich, das Fenster zu öffnen«, sagte er schließlich mit schwacher Stimme. »Die Luft hier drinnen ist plötzlich so furchtbar stickig.«

Ich beeilte mich, der Aufforderung nachzukommen.

»Kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragte ich. »Ein Glas Wasser vielleicht?«

Er winkte kraftlos ab. »Sehr freundlich von Ihnen … Nein, danke. Es geht gleich wieder. Mein Herz ist nicht mehr, was es einmal war.« Er seufzte: »Ich werde zu alt für diese Dinge. Das viele Reisen … nicht gut für mich.«

»Sie sollten sich nicht so aufregen.« Ich hatte mehr denn je das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Dieser zärtliche Beschützerinstinkt, den er so leicht in mir weckte, sollte unsere ganze Beziehung prägen. »Sie lassen sich zu leicht von Kleinigkeiten beeindrucken.«

»Das nennen Sie eine Kleinigkeit!«, rief er in reichlich pathetischem Ton.

»Aber ja. Die ganze Sache hätte sich auch so in wenigen Minuten geklärt. Der Mann hat Sie einfach mit jemandem verwechselt, der genauso heißt wie Sie.«

»Glauben Sie wirklich?« Wie ein Kind wollte er in Sicherheit gewiegt werden.

»Welche Erklärung sollte es sonst geben?«

Mr Norris schien nicht gänzlich davon überzeugt. Unsicher sagte er: »Nun – äh – keine, nehme ich an.«

»Außerdem passiert so etwas laufend. Ganz und gar unschuldige Menschen werden mit berühmten Juwelendieben verwechselt. Sie müssen sich ausziehen und werden am ganzen Körper durchsucht. Stellen Sie sich vor, das wäre Ihnen widerfahren!«

»Wirklich!«, kicherte Mr Norris. »Schon der bloße Gedanke treibt mir die Schamesröte ins Gesicht.«

Wir mussten beide lachen. Ich war froh, dass ich ihn erfolgreich aufgemuntert hatte. Aber was in aller Welt, fragte ich mich, würde passieren, wenn der Zollbeamte auftauchte? Denn wenn ich mit den geschmuggelten Geschenken richtig lag, war das der eigentliche Grund für seine Nervosität. Wenn schon das kleine Missverständnis um seinen Pass ihn so aus der Fassung gebracht hatte, musste der Zollbeamte einen Herzinfarkt bei ihm auslösen. Ich überlegte, ob ich ihn nicht gleich darauf ansprechen und ihm anbieten sollte, die Sachen in meinem Koffer zu verstecken, aber er schien sich des drohenden Unheils so wenig bewusst zu sein, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihn aufzuschrecken.

Ich lag gänzlich falsch. Die Zollkontrolle rückte näher, und Mr Norris schien sich regelrecht darauf zu freuen. Er zeigte nicht die geringste Anspannung, und in seinem Gepäck wurde auch nichts gefunden, was zu verzollen gewesen wäre. In fließendem Deutsch scherzte er mit dem Zollbeamten über eine große Flasche Parfum von Coty: »Oh, ich kann Ihnen versichern, das ist allein für meinen persönlichen Gebrauch. Ich würde es für nichts auf der Welt hergeben. Lassen Sie mich einen Tropfen auf Ihr Taschentuch geben. Es ist so herrlich erfrischend.«

Schließlich war alles vorbei. Der Zug rumpelte langsam nach Deutschland hinein. Der Speisewagenkellner lief den Gang entlang und schlug gegen einen kleinen Gong.

»Und jetzt, mein Junge«, sagte Mr Norris, »nach all den Aufregungen und Abschweifungen und Ihrem höchst wertvollen moralischen Beistand, für den ich Ihnen dankbarer bin, als ich es auszudrücken vermag, hoffe ich, Sie erweisen mir die Ehre und sind beim Mittagessen mein Gast.«

Ich bedankte mich und sagte, es wäre mir eine Freude.

Nachdem wir es uns im Speisewagen bequem gemacht hatten, bestellte Mr Norris einen kleinen Cognac.

»Normalerweise trinke ich nie vor dem Essen, aber es gibt Umstände, die vehement danach verlangen.«

Die Suppe wurde aufgetragen. Er nahm einen Löffel, rief den Kellner in leicht vorwurfsvollem Ton.

»Ich bin sicher, Sie werden mir zustimmen, dass sie zu stark nach Zwiebeln schmeckt?«, fragte er vorsichtig. »Tun Sie mir einen Gefallen? Ich möchte Sie bitten, selbst zu probieren.«

»Jawohl, Sir«, sagte der Kellner, der alle Hände voll zu tun hatte und den Teller mit herablassender Dienstbeflissenheit vom Tisch nahm. Mr Norris wirkte gequält.

»Haben Sie das gesehen? Er wollte sie nicht probieren. Er wollte nicht zugeben, dass etwas nicht damit stimmt. Mein Gott, wie halsstarrig manche Leute doch sind!«

Wenig später jedoch war die kleine Enttäuschung über die menschliche Natur vergessen. Mit großer Sorgfalt studierte er jetzt die Weinkarte.

»Mal sehen … mal sehen … Wie wär’s mit einem weißen Rheinwein? Was meinen Sie? Aber ich warne Sie, das ist ein Glücksspiel. Im Zug muss man immer auf das Schlimmste gefasst sein. Ich denke, wir sollten es riskieren, oder?«

Der Rheinwein kam und war ein voller Erfolg. Mr Norris versicherte mir, er habe seit seinem Lunch mit dem schwedischen Botschafter in Wien im vorangegangenen Jahr keinen so guten Rheinwein mehr getrunken. Und es gab Nieren, sein Leibgericht. »Du meine Güte«, bemerkte er erfreut, »ich habe einen Mordsappetit … Wenn Sie perfekt zubereitete Nieren essen wollen, müssen Sie nach Budapest fahren. Für mich war das eine Offenbarung … Diese hier sind aber auch sehr köstlich. Erst dachte ich, sie wären mit diesem widerlichen Cayennepfeffer gewürzt, aber das war wohl meiner überreizten Einbildung geschuldet.« Er rief den Kellner zu sich: »Würden Sie bitte dem Koch meinen Gruß ausrichten und ihm sagen, dass ich ihn zu einem ganz ausgezeichneten Essen beglückwünschen möchte? Vielen Dank. Und jetzt bringen Sie mir eine Zigarre.« Ein Sortiment Zigarren wurde gebracht, berochen, zwischen Zeigefinger und Daumen gewogen. Zuletzt entschied Mr Norris sich für das größte Exemplar auf dem Tablett. »Wie, mein Junge, Sie rauchen nicht? Oh, das sollten Sie aber. Nun ja, vielleicht haben Sie andere Laster?«

Mittlerweile war er bester Laune.

»Ich muss sagen, je älter ich werde, desto mehr lerne ich die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens schätzen. Grundsätzlich achte ich darauf, erster Klasse zu reisen. Das zahlt sich immer aus. Man wird so viel aufmerksamer behandelt. Nehmen wir nur den heutigen Tag. Hätte ich nicht in einem Dritte-Klasse-Abteil gesessen, undenkbar, dass man mich belästigt hätte. Da haben Sie Ihren deutschen Beamten. Hat nicht jemand sie als ›ein Volk von Unteroffizieren‹ bezeichnet? Wie absolut treffend das ist! Wie wahr! …«

Gedankenverloren stocherte Mr Norris eine Weile in seinen Zähnen herum.

»Meine Generation ist damit aufgewachsen, Luxus unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Seit dem Krieg scheinen die Leute das anders zu sehen. Häufig sind sie einfach nur ordinär. Sie kennen bloß noch grobschlächtige Vergnügen, finden Sie nicht auch? Manchmal hat man selbst ein schlechtes Gewissen angesichts all der Arbeitslosigkeit und Not. In Berlin ist es besonders schlimm. Ja, sehr schlimm … wie Sie zweifellos auch wissen. Auf meine bescheidene Weise versuche ich zu helfen, wo ich kann, aber es ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.« Mr Norris seufzte und führte seine Serviette an die Lippen.

»Und wir sitzen hier und reisen mit allem Komfort. Die Vorkämpfer für eine gesellschaftliche Reform würden uns zweifelsohne verdammen. Wie auch immer, wenn niemand im Speisewagen säße, müssten die hier Angestellten ebenfalls stempeln gehen … Oje, oje. Es ist alles so furchtbar kompliziert heutzutage.«

Wir trennten uns am Bahnhof Zoo. Im Gedränge der Fahrgäste hielt Mr Norris lange Zeit meine Hand.

»Auf Wiedersehen, mein Junge. Auf Wiedersehen. Ich sage nicht Lebewohl, denn ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Die kleinen Unannehmlichkeiten, die ich auf dieser abscheulichen Reise erlitten habe, wurden durch das große Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, mehr als aufgewogen. Und nun frage ich mich, ob Sie diese Woche einmal zu mir zum Tee kommen wollen? Sagen wir Samstag? Hier ist meine Karte. Bitte sagen Sie ja.«

Ich versprach es ihm.

Zweites Kapitel

Mr Norris’ Wohnung hatte zwei Eingangstüren. Sie befanden sich direkt nebeneinander. Beide hatten kleine runde Spione in der Mitte, glänzend polierte Knäufe und Messingschilder. Die Gravur auf dem linken Schild lautete: Arthur Norris. Privat. Und auf dem rechten stand: Arthur Norris. Export und Import.

Nach kurzem Zögern drückte ich auf den linken Klingelknopf. Die Klingel war erstaunlich laut und musste überall in der Wohnung zu hören sein. Trotzdem geschah nichts. Von drinnen war kein Laut zu hören. Ich wollte gerade ein zweites Mal klingeln, als ich bemerkte, dass mich ein Auge durch den Spion in der Tür anstarrte. Wie lange es schon dort war, wusste ich nicht. Ich war verlegen und unsicher, ob ich mich auf einen Wettstreit einlassen oder so tun sollte, als hätte ich es nicht gesehen. Demonstrativ musterte ich die Decke, den Fußboden, die Wände; dann riskierte ich einen verstohlenen Blick, um sicherzugehen, dass es verschwunden war. Aber es war noch da. Verärgert wandte ich der Tür den Rücken zu. Beinahe eine Minute verging.

Schließlich drehte ich mich wieder um, weil die Tür nebenan, die Export-und-Import-Tür, geöffnet wurde. Ein junger Mann stand auf der Schwelle.

»Ist Mr Norris zu Hause?«, fragte ich.

Der junge Mann sah mich misstrauisch an. Er hatte wässrig-gelbe Augen und ein fleckiges Gesicht in der Farbe von Haferbrei. Sein Kopf war riesig und rund und saß seltsam schief auf seinem gedrungenen, plumpen Körper. Er trug einen eleganten Straßenanzug und Lackschuhe. Sein Blick gefiel mir ganz und gar nicht.

»Werden Sie erwartet?«

»Ja.« Ich war sehr kurz angebunden.

Sogleich verzog sich sein Gesicht zu einem schmierigen Lächeln. »Oh, Sie sind Mr Bradshaw? Einen Augenblick, bitte.«

Zu meiner Überraschung schlug er mir die Tür vor der Nase zu, um im nächsten Moment in der linken Tür zu erscheinen und mich einzulassen. Sein Verhalten war umso merkwürdiger, als ich beim Eintreten sah, dass die Privat-Seite der Eingangshalle von der Export-Seite nur durch einen schweren Vorhang getrennt war.

»Mr Norris lässt ausrichten, dass er sofort bei Ihnen sein wird«, sagte der junge Mann mit dem wuchtigen Schädel, während er auf den Spitzen seiner Lackschuhe über den dicken Teppich trippelte. Er sprach sehr leise, als befürchtete er, jemand könne uns belauschen. Nachdem er die Tür zu einem großen Wohnzimmer geöffnet hatte, bedeutete er mir schweigend, Platz zu nehmen, und entfernte sich.

Alleingelassen, sah ich mich leicht verwirrt um. Alles zeugte von gutem Geschmack, das Mobiliar, der Teppich, die farbliche Abstimmung. Trotzdem fehlte es dem Raum seltsamerweise an Charakter. Er wirkte wie aus Requisiten zusammengesetzt oder wie das Schaufenster eines exklusiven Möbelgeschäfts; elegant, teuer, dezent. Ich hatte eine eher exotische Einrichtung erwartet; etwas Chinesisches hätte zu Mr Norris gepasst, mit goldenen und scharlachroten Drachen.

Der junge Mann hatte die Tür offen gelassen. Irgendwo ganz in der Nähe hörte ich ihn, vermutlich am Telefon, sagen: »Der Gentleman ist hier.« Dann hörte ich, noch deutlicher, die Stimme von Mr Norris, der hinter einer Tür auf der anderen Seite des Wohnzimmers erwiderte: »Ach, ja? Vielen Dank.«

Ich wollte laut lachen. Diese kleine Komödie war so unnötig, dass sie beinah unheimlich wirkte.

»Mein Junge, welche Ehre! Ich freue mich, Sie in meiner bescheidenen Bleibe willkommen zu heißen.«

Er sah nicht gut aus. Sein Gesicht war nicht so rosig wie bei unserer ersten Begegnung, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er nahm in einem Sessel Platz, stand aber sofort wieder auf, als könnte er im Augenblick nicht stillsitzen. Er musste eine andere Perücke tragen, denn diesmal waren die Nähte nicht zu übersehen.

»Sie wollen sich vermutlich die Wohnung ansehen?«, fragte er und tippte sich nervös mit den Fingerspitzen an die Schläfen.

»Sehr gerne.« Ich lächelte verwirrt, weil Mr Norris offenbar in großer Eile war. Hektisch nahm er meinen Ellbogen und führte mich zu der Tür, durch die er soeben gekommen war.

»Hier entlang, ja.«

Aber kaum hatten wir ein paar Schritte gemacht, brach in der Eingangshalle plötzlich ein lautes Gezeter los.

»Das können Sie nicht. Ausgeschlossen«, hörte ich die Stimme des jungen Mannes, der mich eingelassen hatte. Woraufhin eine mir unbekannte Stimme brüllte: »Das ist eine dreckige Lüge! Ich weiß genau, dass er hier ist!«

Mr Norris blieb abrupt stehen, als wäre er von einer Kugel getroffen. »Oje!«, flüsterte er. »Oje!« Vor Unentschlossenheit und Schrecken wie gelähmt, blieb er mitten im Zimmer stehen, als würde er verzweifelt überlegen, wohin er sich wenden sollte. Sein Griff um meinen Arm verkrampfte sich, entweder weil er Halt suchte, oder weil er mir bedeuten wollte, bloß still zu sein.

»Mr Norris wird erst spät am Abend zurücksein.« Die Stimme des jungen Mannes klang jetzt nicht mehr zaghaft, sondern sehr bestimmt. »Es hat keinen Zweck zu warten.«

Offenbar hatte er einige Schritte gemacht und befand sich direkt vor dem Wohnzimmer, vielleicht um den Weg hinein zu versperren. Im nächsten Moment wurde die Tür behutsam geschlossen, und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Wir waren eingesperrt.

»Er ist da drinnen!«, rief die fremde Stimme laut und drohend. Es gab ein Handgemenge, gefolgt von einem dumpfen Schlag, als wäre der junge Mann gegen die Tür gestoßen worden. Das Geräusch riss Mr Norris aus seiner Schockstarre. Mit einer einzigen, erstaunlich flinken Bewegung zog er mich hinter sich her ins Nebenzimmer. Zusammen standen wir in der Tür, jeden Moment bereit für einen weiteren Rückzug. Ich hörte ihn nach Luft schnappen.

Inzwischen rüttelte der Fremde an der Wohnzimmertür, als wollte er sie aufbrechen. »Du verdammter Gauner!«, brüllte er wütend. »Warte nur, bis ich dich zu fassen kriege!«

Die ganze Situation war so außergewöhnlich, dass ich ganz vergaß, mich zu fürchten, obwohl die Person auf der anderen Seite der Tür sehr wahrscheinlich entweder sturztrunken oder wahnsinnig war. Ich warf Mr Norris einen fragenden Blick zu, worauf er mir beruhigend zuflüsterte: »Ganz sicher wird er gleich verschwinden.« Seltsam war, dass er zwar Angst hatte, ihn das Geschehen aber offenbar nicht im Geringsten überraschte. Seinem Tonfall nach zu schließen, sprach er über ein unangenehmes, aber geläufiges Naturereignis, ein heftiges Gewitter beispielsweise. Seine blauen Augen blickten argwöhnisch, ängstlich wachsam. Mit der Hand hielt er die Klinke fest, um die Tür jederzeit zuschlagen zu können.

Aber Mr Norris hatte recht. Schon bald war der Fremde es leid, an der Wohnzimmertür zu rütteln. Mit einem Schwall Berliner Flüche entfernte sich seine Stimme. Wenig später fiel die Eingangstür ins Schloss.

Mr Norris atmete tief durch. »Ich wusste, es würde nicht lange dauern«, bemerkte er zufrieden. Zerstreut zog er einen Briefumschlag aus der Tasche und begann sich damit Luft zuzufächeln. »Wie ärgerlich«, murmelte er. »Manche Menschen sind einfach taktlos … Mein Junge, ich möchte mich ausdrücklich für diese Störung entschuldigen. Glauben Sie mir, das war ganz und gar unerwartet.«

Ich lachte. »Schon gut. Es war ziemlich aufregend.«

Mr Norris wirkte erleichtert. »Ich bin froh, dass Sie es nicht weiter ernst nehmen. Man findet selten jemanden in Ihrem Alter, der frei von diesen lächerlichen bürgerlichen Vorurteilen ist. Mir scheint, wir haben eine ganze Menge gemeinsam.«

»Ja, das glaube ich auch«, sagte ich, obwohl ich nicht recht wusste, welche besonderen Vorurteile er lächerlich fand und in welcher Weise sie auf den aufgebrachten Besucher zutrafen.

»Ich kann reinen Herzens sagen, im Laufe meines langen und nicht gerade ereignisarmen Lebens nie jemandem begegnet zu sein, der es an Dummheit und Starrsinn mit dem Berliner Krämer aufnehmen könnte. Wohlgemerkt, ich rede hier nicht von den größeren Firmen. Dort geht es stets vernünftig zu, mehr oder weniger …«

Er war in einer vertraulichen Stimmung und hätte mir eine Menge interessanter Dinge mitgeteilt, wenn nicht in diesem Moment die Wohnzimmertür aufgeschlossen worden und der junge Mann mit dem großen Kopf hereingetreten wäre. Sein Anblick schien den Faden von Mr Norris’ Gedanken auf der Stelle zu kappen. Schlagartig war sein Auftreten zaghaft, ängstlich und unsicher, als hätte man uns bei etwas ertappt, das in den Augen der Öffentlichkeit als kindisch galt und nur durch formvollendete Etikette wieder wettgemacht werden konnte.

»Darf ich vorstellen: Herr Schmidt – Mr Bradshaw. Herr Schmidt ist mein Sekretär und meine rechte Hand. Nur, in diesem Fall«, kicherte Mr Norris angespannt, »kann ich Ihnen versichern, dass die rechte Hand genau weiß, was die linke tut.«

Von nervösem Hüsteln unterbrochen, versuchte er, den Scherz ins Deutsche zu übersetzen. Herr Schmidt, der offensichtlich nichts verstand, gab sich erst gar keine Mühe, amüsiert zu tun. Er lächelte mir jedoch verschwörerisch zu, wie um mich zu ermuntern, seine gönnerhafte Verachtung für die humoristischen Anwandlungen seines Chefs zu teilen. Ich reagierte nicht darauf. Schmidt war mir schon jetzt zuwider. Er bemerkte dies, und in dem Augenblick war ich froh, dass er es tat.

»Kann ich Sie einen Moment alleine sprechen?«, sagte er zu Mr Norris, in einem Ton, der mich unmissverständlich beleidigen sollte. Seine Krawatte, sein Kragen und der Straßenanzug saßen makellos. Ich konnte keinerlei Anzeichen der gewalttätigen Auseinandersetzung erkennen, in die er kurz zuvor verwickelt gewesen war.

»Ja. Äh – ja. Selbstverständlich. Natürlich.« Mr Norris klang gereizt, aber kleinlaut. »Würden Sie mich einen Moment entschuldigen, mein Junge? Ich hasse es, meine Gäste warten zu lassen, aber diese nicht weiter bedeutsame Angelegenheit ist ziemlich dringend.«

Er eilte durchs Wohnzimmer und verschwand durch eine dritte Tür, gefolgt von Schmidt. Schmidt würde ihm natürlich von den Einzelheiten der Auseinandersetzung berichten. Ich überlegte, an der Tür zu lauschen, kam aber zu dem Schluss, dass es zu riskant wäre. Ohnehin würde Mr Norris mir irgendwann davon erzählen, wenn wir uns erst besser kannten. Mr Norris machte nicht den Eindruck, ein sonderlich diskreter Mensch zu sein.

Ich sah mich um und stellte fest, dass das Zimmer, in dem ich die ganze Zeit gestanden hatte, ein Schlafzimmer war. Es war nicht sehr groß, und der wenige Raum wurde nahezu völlig von einem Doppelbett, einem wuchtigen Wandschrank und einer kunstvoll gearbeiteten Frisierkommode mit Flügelspiegel eingenommen, auf der unzählige Flaschen Parfum, Lotionen, Desinfektionsmittel, Tiegel mit Gesichtscreme, Hautbalsam, Puder und Salben standen, die ausgereicht hätten, eine ganze Drogerie zu bestücken. Verstohlen zog ich eine Schublade auf, die aber bis auf zwei Lippenstifte und einen Augenbrauenstift leer war. Bevor ich weitere Nachforschungen anstellen konnte, hörte ich, wie die Tür zum Wohnzimmer aufging.

Mr Norris betrat ziemlich aufgekratzt den Raum. »Und nun, nach diesem höchst bedauerlichen Zwischenspiel, wollen wir unsere persönliche Führung durch die königlichen Gemächer fortsetzen. Vor sich sehen Sie meine keusche Schlafstätte; ich habe sie extra in London anfertigen lassen. Die deutschen Betten sind einfach lächerlich schmal. Die Matratze ist mit den besten Sprungfedern ausgestattet. Wie Sie sehen, bin ich so konservativ, mich an meine englischen Laken und Überzüge zu halten. Deutsche Federbetten bereiten mir die schrecklichsten Albträume.«

Er redete schnell und lebhaft, aber ich sah sofort, dass das Gespräch mit seinem Sekretär ihn deprimiert hatte. Es schien mir taktvoll, den Besuch des Fremden nicht noch einmal zu erwähnen. Mr Norris wollte das Thema offenbar fallenlassen. Er fischte einen Schlüssel aus seiner Westentasche und öffnete die Tür des Kleiderschranks.

»Ich habe schon immer Wert darauf gelegt, für jeden Tag der Woche einen Anzug zu haben. Sie werden vielleicht sagen, ich sei eitel, aber Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, was es mir in heiklen Momenten des Lebens bedeutet hat, meiner Stimmung gemäß gekleidet zu sein. Ich bin überzeugt, das stärkt das Selbstvertrauen.«

Hinter dem Schlafzimmer befand sich ein Esszimmer.

»Bitte bewundern Sie die Stühle«, sagte Mr Norris und fügte – einigermaßen seltsam, wie ich damals fand – hinzu: »Ich darf verraten, dass diese Sitzgarnitur auf viertausend Mark geschätzt wurde.«

Vom Esszimmer aus führte ein Durchgang zur Küche, wo ich einem mürrischen jungen Mann vorgestellt wurde, der den Tee vorbereitete.

»Das ist Hermann, mein Majordomus. Er teilt sich mit einem chinesischen Jungen, den ich vor vielen Jahren in Shanghai hatte, die Ehre, der beste Koch zu sein, der jemals in meinen Diensten stand.«

»Was haben Sie in Shanghai gemacht?«

»Ach«, sagte Mr Norris abwehrend, »was man so macht auf der Welt. Im Trüben fischen, könnte man vielleicht sagen. Ja … vergessen Sie nicht, ich rede hier von 1903. Heute liegen die Dinge ganz anders, habe ich mir sagen lassen.«

Wir gingen zurück ins Esszimmer, gefolgt von Hermann mit einem Tablett.

»Ja, ja«, bemerkte Mr Norris und nahm seine Tasse. »Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Den Sturm im Wasserglas.«

Ich grinste verlegen. Erst später, als ich ihn besser kannte, wurde mir bewusst, dass er mit diesen abgestandenen Kalauern (und er verfügte über ein großes Repertoire) niemanden zum Lachen bringen wollte. Sie gehörten einfach zum Tagesablauf. Darauf zu verzichten, wäre so gewesen, als hätte man das Tischgebet ausgelassen.

Nachdem er seinem Ritual nachgekommen war, verfiel Mr Norris in Schweigen. Offenbar beschäftigte ihn wieder der lärmende Besucher. Wie üblich, wenn ich mir selbst überlassen war, begann ich seine Perücke zu betrachten. Ich muss ihn angestarrt haben, denn plötzlich hob er den Kopf, sah mich an und fragte unverwandt:

»Sitzt sie schief?«

Ich lief purpurrot an. Es war mir furchtbar peinlich.

»Ein kleines bisschen vielleicht.«

Dann musste ich laut lachen. Wir lachten beide. In diesem Moment hätte ich ihn umarmen können. Endlich war es heraus, und unsere Erleichterung war so groß, dass wir zwei Menschen glichen, die einander eben ihre Liebe gestanden hatten.

»Sie müsste eine Spur weiter links sitzen«, sagte ich und streckte meine Hand aus. »Darf ich …«

Doch das ging zu weit. »Mein Gott, nein!«, rief Mr Norris und schreckte entsetzt zurück. Im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen und lächelte reumütig.

»Ich fürchte, das ist eines der – äh – Geheimnisse der Toilette, die am besten in der Privatheit des Boudoirs erledigt werden. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …«

»Ich fürchte, die hier sitzt nicht besonders gut«, fuhr er fort, als er einige Minuten später aus dem Schlafzimmer zurückkam. »Ich habe sie nie gemocht. Es ist bloß die Nummer zwei.«

»Wie viele haben Sie denn?«

»Insgesamt drei.« Mr Norris untersuchte mit verhaltenem Besitzerstolz seine Fingernägel.

»Und wie lange halten sie?«

»Bedauerlicherweise nicht sehr lange. Alle achtzehn Monate etwa muss ich eine neue anfertigen lassen, und sie sind unverschämt teuer.«

»Wie teuer ungefähr?«