Die Welt am Abend - Christopher Isherwood - E-Book

Die Welt am Abend E-Book

Christopher Isherwood

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Beschreibung

Ein rauschendes Fest im Hollywood der vierziger Jahre: Inmitten von Glanz und Glamour bestätigt sich Stephen Monks Verdacht, dass seine Frau Jane ihn betrügt – er erwischt sie in flagranti. Kurzerhand verlässt er Jane und sein altes Leben und zieht zu seiner Tante nach Pennsylvania. Hier auf dem Land kommt er zur Ruhe und kann seinen Gedanken nachhängen, vor allem an seine Ehe mit Elizabeth, seiner großen Liebe. Zusammen reisten sie quer durch die Welt, bis Elizabeth unerwartet starb. Stephen fasst den Plan, ihre Briefe als ihr Vermächtnis herauszugeben. Doch die Briefe enthüllen unliebsame Wahrheiten über ihre Beziehung und über ihn selbst, den Getriebenen. Erstmals liegt Christopher Isherwoods Werk von 1954, das auch heute noch durch sein offenes Bekenntnis zur Homo- und Bisexualität viel Beachtung findet, in deutscher Übersetzung vor: ein eleganter, schillernder Roman über den Einzelnen in einer Welt mit sich wandelndem Wertekompass, über Schein und Sein, Rausch und Lust, Liebe und Freiheit und nebenbei ein atmosphärisches Panorama Europas und der USA von den Wilden Zwanzigern bis zum Zweiten Weltkrieg.

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Seitenzahl: 524

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Christopher Isherwood

Die Welt am Abend

Roman

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Hoffmann und Campe

Für Dodie und Alec Beesley

Erster Teil

Ein Ende

Eins

Die Party fand an diesem Abend bei den Novotnys statt. Sie wohnten hoch oben an den Hängen der Hügel von Hollywood in einem Haus im Ranchstil, inklusive frühamerikanischem Ahorn, nautischem Messing und Musselinvorhängen; einfach zu niedlich für Worte. Es sah so aus, als wäre es mitsamt der Einrichtung von einem Geschäft angeliefert worden; und man konnte sich vorstellen, dass, falls keine Zahlungen erfolgten, eines Tages ein paar Männer kommen und das ganze Haus auf einem Lastwagen dorthin zurückverfrachten würden, zusammen mit Mrs Novotny, den drei Kindern, den beiden Autos und dem Cockerspaniel. Die meisten Häuser, in denen Jane und ich zu Besuch waren, sahen so aus.

Es war schon ziemlich spät, und mehrere Leute waren betrunken; zwar benahmen sie sich nicht daneben, waren aber prahlerisch, laut und sprachen mit schwerer Zunge. Ich befand mich irgendwo in einem Zustand dazwischen; für mich der beste. Solange ich nüchtern war, schmollte ich. Wenn ich weitertrank, neigte ich dazu, unangenehm zu werden und etwas Peinliches zu sagen oder aber einzuschlafen und zu schnarchen. Jane machte sich darüber immer Sorgen, und doch konnte sie sich nie vor Ende des Abends losreißen. »Warum zum Teufel gehst du nicht nach Hause, wenn du dich so langweilst«, flüsterte sie mir manchmal wütend zu, »statt wie ein gottverdammter Märtyrer herumzuhängen? Was ist los mit dir? Hast du Angst, ich könnte etwas tun, was du nicht tun würdest?« Dann grinste ich sie nur an, ohne zu antworten. Genau so sollte sie sich fühlen: meiner unsicher, unbehaglich und schuldbewusst-aggressiv. Es war die einzige mir bekannte Möglichkeit, ihr Kontra zu geben.

Inzwischen war ich im nicht ganz so überfüllten Teil des Wohnzimmers allein. Ein Spiegel an der gegenüberliegenden Wand zeigte mir, wie ich der Außenwelt erscheinen musste: als ein großer, blonder, ziemlich junger, ziemlich alter Mann mit einem mäßig gutaussehenden, ängstlichen Gesicht und dunklen, allzu ausdrucksvollen Augen, der zwischen einem Schustertisch und einem nachgebauten Spinnrad in einer Ecke stand und ein Highballglas in der Hand hielt. An der Wand neben meiner Wange hing ein Modellschiff aus Messing, aus dem ein Farn wuchs. Ich sah aus, als wollte ich mit der Szenerie verschmelzen und unsichtbar werden, wie eine Giraffe, die reglos zwischen sonnengefleckten Blättern steht.

Ich trug meine übliche verrückte Aufmachung, Symbol meines Protests gegen das Leben, das ich führte: ein weißes Smokingjackett mit einer purpurroten Fliege und einer Nelke, die zu meinem Kummerbund aus Moiré passten. Hätte Elizabeth mich so sehen können, sie hätte gesagt: »Liebling, wofür in aller Welt willst du eigentlich gehalten werden? Nein – sag es mir nicht. Lass mich raten –« In gewisser Weise glaube ich, dass ich mich genau deshalb so kleidete, weil es Elizabeth amüsiert hätte. Gewiss verstand niemand hier den Scherz, nicht einmal Jane; meine Maskerade als Figur aus einem Hollywood-Musical blieb völlig unbemerkt. Und warum auch sollte irgendeiner dieser Menschen sie bemerken? Sie kannten mich ja nur so – wie ich Abend für Abend an Janes Seite in den Türen ihrer Häuser erschien. (Abends blieben wir nie mehr allein zu Hause; das war ganz undenkbar.)

Hätte jemand sich danach erkundigt, wer ich sei, hätte fast jeder von ihnen geantwortet: »Jane Monks Ehemann«, und es dabei belassen. Es war von Anfang an so gewesen, gleich nachdem wir im Vorjahr in Kalifornien eingetroffen waren. Sogar die Klatschkolumnisten befanden, dass ich nichts hermachte und am besten ignoriert wurde. Wenn sie es vermeiden konnten, erwähnten sie mich nie direkt, auch wenn sie etwa so daherblubberten: »Jane (Mrs Stephen) Monk gesehen, die in weißem Satin und atemberaubender alter Brüsseler Spitze wunderschön (wie immer) aussah. Sie sind aus New York gekommen, über Nassau. Planen, sich für eine Weile hier niederzulassen. Jane erzählte mir –« usw. usf. – Jane liebte es. Sie schien von dem Gerede über sie nicht genug bekommen zu können, ganz gleich, wie gehässig. Einmal erzählte sie mir sogar – und fasste es als ungeheuren Scherz auf –, dass man bei Chasen’s einen Mann habe sagen hören: »Nun, er mag ein Mönch sein – aber, Bruder, sie ist keine Nonne.« Das war etwas, was ich an ihr nach wie vor reizend unschuldig und anrührend fand.

»Hier draußen an der Küste«, erklärte jemand in der Gruppe, die mir am nächsten stand, »weiß man einfach nicht, was eigentlich gespielt wird. Im Osten stehen wir praktisch schon im Krieg.« Jemand anderes stimmte zu: F.D. R. würde, sobald er einen Vorwand finden konnte, in den Krieg eintreten. Man sprach über die Luftangriffe auf London und über Rommel und die Kämpfe in Afrika (es war April 1941), aber man merkte, dass sich keiner von ihnen sonderlich darum scherte. Ihre Ängste und Interessen lagen woanders. Sid Novotny war Drehbuchautor, und die Party wurde nur für den Fall gegeben, dass das Studio zögerte, eine Option zu nehmen. Alice Faye, die Ehrengast hätte sein sollen, war nicht erschienen. Immerhin waren mehrere Front-Office-Manager anwesend, ein paar Stars zweiter Größenordnung und zahlreiche junge Schauspielerinnen und Schauspieler. Wie zum Beispiel Roy Griffin.

Ein Mann löste sich aus der Gruppe und kam auf mich zu. Mir war nicht entgangen, wie er sich mehrere Minuten lang darauf vorbereitet hatte. Wir waren einander bereits vorgestellt worden; ich wusste, dass er Produzent war, auch wenn ich seinen Namen vergessen hatte. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt, saubere behaarte Hände, neugierige Augen und eine sehr aufrichtige Art.

»Sagen Sie, Mr Monk, wissen Sie, dass ich Sie treffen wollte, seit ich gehört habe, dass Sie hier draußen sind? Ihnen heute Abend zu begegnen war wirklich aufregend. Ob Sie’s glauben oder nicht, ich bin einer der alten ursprünglichen Fans von Rydal. Ja, ich wette, ich war einer der allerersten in diesem Land.«

Ich gab einen passenden Laut von mir.

»Die Welt am Abend: herrje – ein großartiges Buch! Eines der wahrhaft großartigen Bücher, die in unserer Zeit geschrieben worden sind.« Der Produzent senkte die Stimme, als beträten wir gerade eine Kirche. »Wissen Sie was?« Er warf einen raschen Blick auf die Gruppe, die er verlassen hatte; offenbar befürchtete er, man könnte zuhören. »Irgendwo in diesem Buch steckt ein großartiger Film. Ein verdammt großartiger Film. Die meisten Leute würden das gar nicht erkennen. Ich schon. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ein Film in dem Buch steckt … Hat schon irgendjemand die Rechte erworben?«

»Ich glaube nicht.« Ich blickte zu der Menge im hinteren Teil des Zimmers. Eben war mir aufgefallen, dass Jane nicht da war. »Ich könnte es herausfinden, falls Sie interessiert sind.« Auch Roy Griffin war nicht da.

»Ich bin definitiv interessiert. Definitiv … Angenommen, wir werden uns handelseinig, würden Sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, uns beim Drehbuch zu helfen?«

»Ich bin kein Schriftsteller, wissen Sie.« Natürlich konnte Jane in der Bar sein. Oder mit Mrs Novotny neue Kleider bewundern. Vielleicht war sie ja gar nicht mit Roy zusammen.

»Kein Schriftsteller, Mr Monk? Ich bitte Sie – wir wollen doch nicht so verdammt bescheiden sein! Was ist mit der Einführung, die Sie für die Gesammelten Erzählungen verfasst haben? Ich habe sie mehrmals gelesen. Das haben Sie ganz wunderbar hingekriegt. Feinfühlig. Sensibel. Niemand außer Ihnen hätte so schreiben können. Niemand sonst kannte sie so gut wie Sie.«

»Nun – ich freue mich, dass sie Ihnen gefallen hat, aber –«

»Und es ist keine Frage von Filmerfahrung. Lassen Sie es mich so sagen – wir brauchen Sie als eine Art, nun ja, künstlerisches Gewissen. Ihnen würde es auffallen, wenn wir völlig danebenliegen. Sie sind der einzige Mensch, der uns das sagen kann. Und wir müssen von Anfang bis Ende behutsam vorgehen. Müssen auf jede kleinste Nuance achten, oder wir gehen unter. Jedes Wort, das Elizabeth Rydal geschrieben hat, ist mir heilig. Heilig. Ich meine es ernst. Ich möchte diesen Film so drehen, wie sie es sich gewünscht hätte – diesen wunderbar zarten Stil einfangen und auf Zelluloid konservieren, wenn Sie verstehen, was ich meine …«

Ich muss die beiden finden, dachte ich. Jetzt, auf der Stelle. Ich ertrage es nicht länger. Diesmal muss ich mir absolut sicher sein.

Die Stimme des Produzenten drang wieder zu mir durch: »Wie wäre es irgendwann mit einem Mittagessen? Warum rufe ich Sie nicht gleich am Montag an?«

»In Ordnung.« Ich riss ein Blatt aus meinem Notizbuch, kritzelte meine Telefonnummer hin und fügte eine falsche Ziffer ein; ein Lieblingstrick von mir. Wenn sie einen schließlich doch aufspüren, kann man immer so tun, als wäre es ein Versehen gewesen.

»Und Mrs Monk natürlich auch. Falls sie sich uns anschließen möchte.«

»Ich werde sie fragen.« Ich drückte ihm den Zettel in die Hand und entfernte mich, bevor er noch ein Wort sagen konnte.

Am Eingang zur Bar begegnete ich Mrs Novotny, anmutig und verstörend gescheit, in einem Dirndlkleid mit Sklavenarmreifen.

»Holen Sie sich einen Drink? Gut!« Sie schenkte mir ein funkelndes Lächeln und drückte die Krähenfüße um ihre Augen zusammen. »Ich mag Männer, die wissen, wie man sich um sich selbst kümmert.«

Ich grinste sie benommen an. (»Dein Sterbender-Jesus-Blick«, nannte es Jane, wenn sie wütend auf mich war.)

»Sid und ich haben uns so gefreut, dass Sie heute Abend kommen konnten. Jane ist so lustig. Sie amüsiert sich sehr. Sie bringt eine Party immer in Schwung. Sie ist eine so glückliche Person –«

»Ja«, sagte ich.

»Entschuldigen Sie mich –« Sie schenkte mir ein weiteres Lächeln, berührte leicht meinen Arm und tauchte eifrig wieder in die Menge ein. Ich hatte schon Anstalten gemacht, sie zu fragen, ob sie wisse, wo Jane sei. Genau den richtigen Tonfall zu treffen, lässig, aber nicht zu lässig, war schwer. Jetzt war ich froh, dass ich es nicht versucht hatte.

Die Bar lag drei Stufen unterhalb des Wohnzimmers. Hier drängten sich die Duellpistolen und die Schiffskompasse, die Toby-Krüge, die Tonpfeifen und die Drucke von Currier & Ives um einen fröhlichen Altar aus bunten Flaschen, und die Luft war von Rauch und Stimmengewirr erfüllt. Auf der obersten Stufe blieb ich stehen und sah hinab. Zwei Männer erkannten mich und nickten mir zu; ich nickte zurück, aber ich wusste sehr wohl, dass keiner von ihnen wirklich wollte, dass ich mich zu ihnen gesellte. Ein kalter, gelangweilter, langweiliger Intellektueller: so kam ich ihnen zweifellos vor. Oder ein hochnäsiger, halb europäisierter Playboy mit britischem Akzent und Riviera-Vergangenheit, der mit italienischen Prinzessinnen und französischen Grafen bekannt war. In jedem Fall ein Außenstehender, der nicht ihrer sorgenvollen Filmwelt angehörte, wo man seinem Gehalt sechs Monate vorauslebte und trotzdem weiter Geld ausgeben musste, damit niemand ahnte, dass man nicht kreditwürdig war. Ich hatte keinen Anteil an ihren Geschwüren und ihren Ängsten, ihren Hypotheken und ihren Optionen. Bei einer Probeaufführung oder einer Manöverkritik im Vorführraum hatte ich es noch nie ausgehalten. Und so beneideten mich diese Leute, wenn sie an mich dachten, sicherlich um mein unverdientes Geld, verachteten mich wahrscheinlich aber auch wegen meiner verantwortungslosen unmännlichen Freiheit.

In diesem Moment war ich drauf und dran, sie alle mit einem lauten Gebrüll der Verzweiflung zu erschrecken, wie ein im Schlamm steckendes Tier. Auf irgendeine Weise war ich in diesen Dschungel schnatternder Scharlatane geraten, und jetzt befand ich mich hier, stolperte dümmlich im Morast meiner elenden Eifersucht umher und sank mit jeder Bewegung tiefer ein. Ich durfte mir nicht einmal selbst leidtun, was tröstlich gewesen wäre. Ich gab nicht im mindesten eine tragische oder bedauernswerte Figur ab; nein, ich war nur armselig und lächerlich. Das wusste ich und konnte doch nicht anders. Ich konnte mich aus dem Morast nicht befreien. Ich versuchte, an Elizabeth zu denken und mir vorzustellen, was sie dazu gesagt hätte; aber es nützte nichts. Elizabeth war nicht hier. Ich war ganz allein. Ich musste weiterzappeln und versinken. Ich hatte keine Kontrolle mehr darüber, was geschehen würde.

Jane war nicht in der Bar. Roy Griffin auch nicht.

Als ich mich von der Treppe abwandte, ging ich schnell einen kurzen Gang entlang, öffnete eine Glastür und trat hinaus in den Garten. Er teilte sich in zwei Terrassen am steilen Hang; oben ein Dichondra-Rasen und unten ein kleiner nierenförmiger Swimmingpool. Das Wasser des Pools musste erwärmt worden sein, denn in den Strahlen der Unterwasserlampen dampfte es leicht, und die grün beleuchteten Dünste stiegen theatralisch vor der riesigen grellen Nachtlandschaft von Los Angeles auf, die wie eine Million billiger Verlobungsringe bis zum Horizont funkelte.

Im Garten war niemand.

Am Rand des Beckens blieb ich stehen. Es war blitzsauber; kein einziges Blatt, das auf der Wasseroberfläche trieb, kein einziger Schmutzfleck auf dem gefliesten Boden. Gott verfluche diese antiseptische, herzlose, hassenswerte Neon-Schimäre einer Großstadt! Mögen ihre Swimmingpools austrocknen! Mögen ihre Lichter für immer erlöschen! Ich holte tief Luft, Luft, in der sich schwindelerregend der Duft von Sternjasmin mit Chlorgeruch vermischte.

Diesmal würde es also genauso ausgehen wie all die anderen Male. Ich würde sie nicht finden. Ich würde keine Gewissheit erlangen. Später würde sie ganz beiläufig ins Wohnzimmer kommen und lächelnd sagen: »Wir haben eine Spritztour gemacht. Ich musste an die frische Luft.« Oder einfach nur lächeln und es überhaupt nicht für nötig halten, sich zu erklären. Und auch Roy würde sich entweder, wie etliche andere vor ihm, beiläufig geben, oder er wäre, meinen Blick meidend, verlegen und auf einen starken Drink angewiesen. Und ich würde Jane anschauen, und sie würde mich anschauen; und es gäbe nichts weiter zu sagen, weil ich nichts beweisen konnte.

Wahrscheinlich waren sie und Roy zusammen in die Berge gefahren, so wie es die High-School-Schüler taten. Neulich, auf einer anderen Party, hatte uns ein Mann erzählt, er habe auf dem Mulholland Drive eine Reifenpanne gehabt, sei zu einem in der Nähe geparkten Auto gegangen, um sich, nach einem angemessen warnenden Hüsteln, einen Wagenheber zu leihen, und habe zwei von ihnen überrascht – der Junge um die sechzehn, das Mädchen vielleicht jünger, beide splitternackt. »Heiliger Strohsack«, hatte der Junge gesagt, »eine Minute lang dachte ich, Sie wären ein Polizist!« Anscheinend hatten sie sich nicht im Geringsten geschämt … Janes Kommentar zu der Geschichte hatte gelautet: »Schön für sie!«

Plötzlich wurde ich mir meiner Hand bewusst, das Glas darin blitzte grün im magischen Licht des Wassers. Es war leer und wollte aufgefüllt werden. Dazu musste ich zurück ins Haus. Ich würde mir einen riesigen Drink machen, mich dann irgendwo hinsetzen und mir eine clevere Möglichkeit ausdenken, sie ein für allemal in die Falle zu locken und sicher zu sein.

Aber halt. Was war das?

Nicht die fernen Geräusche aus dem Haus. Nicht die Grillen, die am ganzen Hang zirpten. Nicht das Pochen meines Herzens.

Da war es wieder. Ganz in der Nähe.

Aber natürlich! Das Puppenhaus, ich hatte es völlig vergessen.

Eigentlich war es ein Spielhaus, das an das Hexenhaus in Hänsel und Gretel erinnerte; die gestreiften Säulen sahen aus wie Zuckerstangen, und die Dachschindeln waren toffeefarben gestrichen. Die drei Kinder der Novotnys waren gerade noch klein genug, um sich hineinzwängen zu können; Mrs Novotny fand es niedlich, wenn sie sie dazu bringen konnte, es sonntagnachmittags den Gästen vorzuführen. Jetzt sah man nur schwarze Umrisse im Dunkel der Oleanderbäume rings um das Bassin.

Ich stellte mein Glas ganz sanft aufs Pflaster und ging, den Atem anhaltend, auf Zehenspitzen hinüber.

Leise, aber unverwechselbare Geräusche. Aus dem Dunkel heraus, direkt zu meinen Füßen.

Und dann Janes Stimme, die keuchend flüsterte: »Roy –!«

Stockstill stand ich da und ballte die Fäuste. Aber ich musste doch grinsen.

Denn jetzt plötzlich – jetzt, da es nie wieder Zweifel, Angst oder Argwohn geben würde – hier, in der brutalen Gegenwart der schlichten, unglaublichen Tatsache, empfand ich, womit ich nie gerechnet hätte: ein großes, fast quälendes Aufwallen von Schadenfreude, von schadenfroher Erleichterung.

Erwischt. Endlich habe ich sie erwischt.

In meinem ersten Internat in England hatten wir an Winterabenden mitunter Verstecken gespielt. Wir knipsten die Lichter aus und versteckten uns überall in dem großen Gebäude. Wenn man der Suchende war, lief man auf Zehenspitzen umher, hielt den Atem an und lauschte, bis der Hörsinn so geschärft war, dass man den Eindruck hatte, meilenweit jeden Laut hören zu können. Ich hatte es immer gehasst, der Suchende zu sein, aber es lohnte sich, die Anspannung und die schauerliche Einsamkeit zu ertragen: für den einen berauschenden, schadenfrohen Augenblick, wenn man wusste, dass man sie erwischt hatte, jene Flüsternden, die in der Dunkelheit lauerten und einen verhöhnten.

Ein lustiger Gedanke schoss mir durch den Kopf: Schon seit fast vier Jahren bin ich der Suchende. Was für ein langes Spiel –

Direkt zu meinen Füßen kicherte Jane: »Roy, du Mistkerl –«

Und als wäre es das Signal, auf das sie gewartet hatten, flogen meine geballten Fäuste in die Höhe und schlugen donnernd auf das Dach des Puppenhauses.

Dann, leichtfüßig und behände wie ein Mörder, drehte ich mich um und lief lachend die Stufen vom Pool hinauf, sprang in ein Blumenbeet, brach durch eine Reihe von Büschen und war draußen auf der Einfahrt. Glücklicherweise hatte ich mein Auto in einiger Entfernung von der Haustür geparkt. Hastig kramte ich nach dem Schlüssel, ließ den Motor an, setzte schnell wie eine Rakete zurück, fuhr krachend gegen ein anderes Auto – drückte vermutlich den Kotflügel ein –, prallte ab, riss das Lenkrad herum und war auf und davon.

Danach ging alles schief. Der Wagen raste mit mir die Straße hinab, schlitterte kreischend in die Kurven. Meine Linke wollte ihn über den Straßenrand lenken und in eine Schlucht stürzen lassen, bis er nur noch ein loderndes Wrack wäre; meine Rechte jedoch weigerte sich und blieb stärker. Meine Stimme brüllte irre und obszöne Worte: was man Jane nicht alles antun müsste. Mein Verstand saß irgendwo abseits, ruhig und seltsam unbeteiligt, lehnte jede Verantwortung für diesen lärmenden Verrückten ab, beobachtete nur, lauschte und wartete auf das, was als Nächstes passieren würde.

Und dann war ich oben im Schlafzimmer unseres Hauses. Ich hatte einen ihrer Lippenstifte gefunden und bekritzelte den Spiegel und die Wände in großen scharlachroten Buchstaben mit den Worten, die ich zuvor geschrien hatte. Jetzt warf ich, als stünde das Haus in Flammen, meine Sachen in einen Koffer. Als ich im Schrank nach Kleidungsstücken griff, berührten meine Hände ein Abendkleid, packten und zerknüllten es und zogen es heraus, und es war Jane, die ich töten wollte. »Zerfetze sie. Zerfetze sie ganz«, murmelte ich und suchte im Kulturbeutel nach einer Rasierklinge. Die Klinge war zweischneidig, schwierig zu handhaben. Als ich vor starrsinniger Wut auf das Kleid losging, schnitt ich mir tief in den Daumen; die Seide war erstaunlich hart. Aber endlich war es so weit. Schluchzend schleuderte ich das arme, schöne, harmlose Ding in die Ecke, alles war blutbeschmiert, zerschnitten und zerstört. Wie grässlich! Ich wollte mich übergeben, stolperte mit dem blutenden Daumen im Mund ins Badezimmer und erreichte gerade noch rechtzeitig die Toilettenschüssel.

Als ich mich gewaschen hatte, ging ich zurück ins Schlafzimmer, um meinen Koffer zu holen. Ich fühlte mich schwach, erschüttert und fast nüchtern. Da erinnerte ich mich an Elizabeths Briefe. Sie lagen in dem Raum, den ich mein Arbeitszimmer nannte, aber nie benutzte, in einer Mappe auf dem Schreibtisch; ich hatte sie seit Monaten nicht angesehen. Ich konnte sie nicht bei Jane zurücklassen. Sie würde sie womöglich verbrennen. Sie würde sie womöglich lesen. Ich würde sie mitnehmen müssen – wo auch immer ich hinging.

Vor der Haustür hielt ich inne, wandte mich um und warf einen letzten Blick auf unser kleines Hassnest. Vielleicht hatte ich es bis zu diesem Augenblick nie richtig wahrgenommen; meine Gefühle für Jane hatten es auf eine Art flache, farblose Kulisse reduziert. Eigentlich hatte es beträchtliches komisches Potenzial. Die Eingangshalle war in spanischem Hollywood-Stil gehalten: verzierte Balken, eine Treppe mit schmiedeeisernem Geländer und gefliesten Stufen, die fröhlich mit Vögeln und Blumen bemalt waren. Hoch oben an der Wand, deren Oberfläche wie sehr teures cremefarbenes Briefpapier anmutete, befand sich ein mit einer indischen Decke drapierter Balkon. »Romeo und Julia«, sagte ich laut. Dann bemerkte ich eine Flasche Whisky, die ungeöffnet in einer Papiertüte auf der geschnitzten italienischen Mitgifttruhe stand. Ich hob sie auf und lief den mosaikgepflasterten Gehweg hinunter zum Auto. Die Tür ließ ich offen und alle Lichter brennen.

In der abgedunkelten Hotellobby war einzig die Rezeption beleuchtet. Es war totenstill wie in einer Kapelle, der Empfangschef hielt inmitten der Schatten Wacht, die die großen, verschlafenen Zimmerpflanzen warfen. Ich unterschrieb die Gästekarte und dachte, wie so oft: Immerhin ist anzunehmen, dass ich tatsächlich existiere. Zumindest scheine ich einen Namen zu haben, genau wie jeder andere auch.

»Werden Sie sich lange bei uns aufhalten, Mr … Monk?«, fragte der Empfangschef nach einem raschen Blick auf meine Unterschrift. Sein Verhalten war untadelig, korrekt und zeugte zugleich von diskretem Verständnis. Es war, als wüsste er genau, was ich dachte. Sie können uns vertrauen, schien sein beruhigendes Lächeln zu besagen. Wir werden Sie als den akzeptieren, der Sie zu sein behaupten. Wir werden unterstellen, dass Sie eine reale Person sind. Per definitionem sind alle unsere Gäste reale Personen.

»Ich bin mir meiner Pläne noch nicht sicher.« (Aber noch während ich es sagte, wusste ich mit einem Mal, was ich vorhatte.)

Der Angestellte nickte freundlich und schrieb etwas in ein Buch. Für seine Totenwache war er wie für eine lebhafte Party gekleidet; Anzug, Hemd, Krawatte und Zähne waren makellos, und sein hübsches, sonnengebräuntes junges Gesicht zeigte nicht das geringste Anzeichen von Müdigkeit. Wie kommt es, wollte ich ihn fragen, dass Sie Stunde um Stunde so ruhig und allein hier sitzen können? Was ist Ihr Geheimnis? Wie haben Sie es gelernt, die Nacht zu bewohnen? Ich wäre gerne geblieben, um mich mit dem jungen Mann zu unterhalten und ihm alles, was geschehen war, genau zu schildern, ohne Scham oder Entschuldigung, wie man es einem Arzt oder einem Priester erzählen würde. Doch schon stand der Portier mit meinem Koffer hinter mir, und der Angestellte sagte: »Vier zweiundsechzig, Sir. Ich hoffe, Sie werden es bequem haben.«

»Würden Sie bitte einen Anruf für mich durchstellen?«, sagte ich. »Ferngespräch nach Dolgelly, Pennsylvania. Die Nummer müssen Sie sich von der Auskunft geben lassen. Sie ist unter Pennington, Miss Sarah Pennington, zu finden. Das Haus selbst heißt Tawelfan. T-a-w-e-l-f-a-n. Es befindet sich in der Boundary Lane.«

»Gewiss.« Der Angestellte notierte sich alles. »Gute Nacht, Mr Monk.«

Der Anruf wurde sehr schnell durchgestellt, nur wenige Minuten, nachdem der Portier mich in meinem Zimmer allein gelassen hatte.

»Bitte sprechen, Los Angeles. Ihr Gesprächspartner ist am Apparat.«

»Hallo –«

»Ja –?« Sarahs Stimme klang schwach, ängstlich und alt. Ich sah sie vor mir – ihr Haar vermutlich zu Zöpfen geflochten –, im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen und in Angst vor einer Unglücksnachricht.

»Tante Sarah, ich bin’s, Stephen … Ich habe dich geweckt, nicht wahr? Es tut mir so leid, aber ich musste es dir sofort sagen. Ich –«

»Stephen! Du bist es! Wo steckst du?«

»Immer noch hier. In Kalifornien. Aber hör zu –«

»Es tut mir leid, Stephen, Lieber, ich kann dich nicht hören –«

»Was ich wissen möchte, ist – könntest du mich vielleicht in Tawelfan unterbringen? Ich meine, jetzt sofort?«

»Stephen! Du willst bleiben? Um hier zu leben?«

»Nun, es könnte auch nur für ein, zwei Tage sein. Vielleicht auch länger. Ich weiß es noch nicht … Aber bist du dir auch ganz sicher, dass es dir nicht ungelegen kommt?«

»Ungelegen! Höre sich das einer an! Er erwartet, dass ich ihm sage, dass es mir ungelegen kommt, ihn hier zu haben … Ach, Stephen, Lieber, ich bin so aufgeregt, dass ich es kaum fassen kann! Wann glaubst du denn, dass du kommen wirst?«

»Ich sollte morgen bei dir sein. Das heißt, wenn ich heute noch einen Flug bekomme. Sobald ich Genaueres weiß, schicke ich dir ein Telegramm.«

»Ach, wie wunderbar … Stephen, ich träume doch nicht, oder? Du kommst wirklich?«

»Natürlich komme ich, Tante Sarah. Jetzt gehst du wieder ins Bett und schläfst dich aus.«

»Oh, ich werde kein Auge zumachen können. Außerdem wird es schon hell. Ich muss aufstehen und tätig werden. Gute Nacht, liebster Stephen. Ich nehme an, bei dir ist es noch Nacht? Wie sonderbar! Gott segne dich.«

»Gute Nacht, Tante Sarah.«

Mit einem Seufzer des Kummers und der Erleichterung legte ich auf. Ihre Freude machte mich traurig und schuldbewusst, als hätte ich sie irgendwie betrogen. Aber es war eine Erleichterung, zu wissen, dass es jetzt getan war; ich hatte den einzig notwendigen, unwiderruflichen Schritt getan. Und jetzt wurde mir klar, was ich bis dahin nicht begriffen oder mir nicht eingestanden hatte – dass ich ihn gerade noch rechtzeitig getan hatte. Die geringste Verzögerung beim Durchstellen des Anrufs, und vielleicht wäre ich – nein, so gut wie sicher wäre ich zurück zum Haus gefahren. Zurück zu Jane, und zwar zu ihren Bedingungen, zu beliebigen Bedingungen. Das war die schlichte, die elende Wahrheit.

»Aber jetzt ist es getan«, wiederholte ich laut. Ich öffnete meinen Koffer und nahm die Whiskyflasche heraus. Zuerst würde ich ins Bett gehen und dann trinken, bis ich eingeschlafen wäre. Der Morgen würde bald kommen. Die Dinge würden anfangen, von allein zu geschehen, und das Leben würde beginnen, mich langsam, langsam davonzutragen, fort von meinem Unglück.

Aber der Whisky erregte Übelkeit in mir. Ich konnte ihn nicht anrühren. Stattdessen lag ich da, starrte an die Decke und wurde von einem weiteren Hassanfall derart erschüttert, dass ich zitterte. Wild grinsend dachte ich an Roy Griffin, diese Filmfee, diesen schwuchteligen Imitator eines Mannes, der niemanden täuschen konnte außer sich selbst und der bei einer äußerst kostspieligen Nymphomanin blieb. Jetzt hatte er sie am Hals, wusste nicht, wie er sich herauswinden sollte, und kriegte Muffensausen wegen seiner Karriere. Vielleicht würde er sie sogar heiraten müssen. Haha, es war zum Lachen! Der arme, erbärmliche, schwuchtelige kleine Dreckskerl, verheiratet mit einer Schlampe, die es gewohnt war, in einer Woche mehr für sich auszugeben, als er in sechs Monaten verdiente. Oder glaubte er, von Unterhaltszahlungen leben zu können? Nun, wenn er das glaubte, war er auf dem Holzweg. Nicht einen Cent würde diese Hure bekommen. Nicht einen einzigen Cent. Nicht einmal, wenn sie den Fall vor den Obersten Gerichtshof brächte. Eher würde ich ins Gefängnis gehen.

Doch als ich an die beiden zusammen dachte, wurde mir ganz heiß: zwei sich paarende Riesen, die die Zwergenwelt des Puppenhauses ausgefüllt und mit ihren Verrenkungen beinahe zertrümmert hatten. Ich spielte die Szene immer wieder durch und schmückte jedes Detail aus, bis mir vor Ekel und Erschöpfung ganz übel wurde. Und so schlief ich gegen Tagesanbruch ein.

Zwei

Was machst du jetzt, Jane? Was denkst du? Fragst du dich nicht, wo ich bin? Bist du nicht erstaunt? Wütend? Tut es dir nicht leid? Hast du nicht ein wenig Angst? Jane, warum hast du mich dazu gebracht, dir das anzutun? Ich hasse dich dafür. Ich hasse dich, weil du mich dazu gebracht hast, dich zu hassen.

Ich hasse dich, weil du immer nur an dich denkst und auf alles andere pfeifst. Früher habe ich immer Komplotte geschmiedet und Fallen gestellt; du aber hast dir nie Sorgen gemacht und stets gewonnen. Ich hasse dich, weil ich dich nicht verletzen konnte.

Ich hasse dich dafür, was ich Elizabeth antun musste. Es hat dir nichts bedeutet. Es hat lediglich deine Eitelkeit gekitzelt. Du hast nie verstanden, was ich bei alldem empfand. Ich hasse dich, weil du mich dazu gebracht hast, mich selbst zu hassen.

Du hast mich nie wirklich gekannt. So vieles war dir keine Nachfrage wert. Sarah und Tawelfan gehören zu dem Teil, den du nicht kennst. Elizabeth ist ein weiterer Teil. Ich konnte dir nie davon erzählen, weil du dich nie dafür interessiert hast. Zu Beginn habe ich kleine Tests durchgeführt, um herauszufinden, ob du irgendetwas wissen möchtest. Aber du wolltest nicht. Du hast nicht einmal bemerkt, was ich da tat. Du warst viel zu stark in deinen Kokon eingesponnen. Aber sieh dich vor; er wird immer dicker – wie du eines Tages feststellen wirst, wenn du versuchst, aus ihm auszubrechen, und es dann nicht mehr kannst.

Damals machte es mir etwas aus. Dass es dir egal war, schmerzte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte. Jetzt bin ich froh. Himmel, ich bin dankbar, dass ich etwas Eigenes mitnehmen kann, das nichts mit dir zu tun hat. Etwas, das du nicht berührt und nicht gemein, dumm und scheußlich gemacht hast.

Hör zu, Janey – eigentlich spielt es keine Rolle mehr –, aber jetzt, wo alles vorbei ist, gibt es nur noch eines, was du verstehen solltest, und das ist –

Hör auf.

Hör auf, mit ihr zu reden. Hör auf, an sie zu denken. Du verleihst ihr damit nur mehr Macht. Du machst sie immer stärker.

Um Himmels willen, was ist nur mit dir los? Kein Wunder, dass sie dich verachtet. Du machst mich wahnsinnig.

Komm schon, entspann dich. Öffne die Fäuste. Lehn dich auf deinem Sitz zurück. Atme tief ein. Atme aus.

Schon besser.

Mal sehen, ob du es schaffst, eine ganze Minute lang nicht an sie zu denken. Denk an nichts anderes als an diesen Moment. Schau aus dem Fenster.

Unser Flugzeug flog über die Wüste, irgendwo in der Nähe der Staatsgrenze von Arizona. Direkt hinter uns ging die Sonne unter und bewirkte, dass sich noch der winzigste Felsbrocken auf dem von Felsen übersäten Boden der Wildnis schwarz gegen die letzten blendenden Strahlen horizontalen Lichts abhob. Die Hügel, die zur Mittagszeit wie blasses, zerknittertes Sandpapier aussahen, wiesen nunmehr die schauerlichsten Mineralfarbtöne auf: Violett, Grün und Orange, dazwischen tief eingeschnittene purpurrote Schatten. Es war die Art von Superspektakel, die manche Menschen an Gott oder an Michelangelo erinnert und die andere nur abstoßend oder langweilig finden, weil es ihr eigenes Ego vollkommen auszuschließen scheint. So jedenfalls hatte Jane auf unserer Reise zur Küste auf die Wüste reagiert; sie hatte die Nase schmollend in ihrer Vogue vergraben und mich gebeten, ihr Bescheid zu sagen, wenn die Zivilisation wieder zu sehen wäre. Und ich wusste genau, wie ihr zumute war.

Jetzt aber machte mich die Unnahbarkeit, die absolute Andersartigkeit dieser Landschaft fast glücklich. Dies ist echtes Ödland, eigensinnig ungeordnet und im strengen Sinne nutzlos. Eine Welt, die sich nur für Einsiedler, Reptilien und Militärmanöver eignet; prähistorisch, posthistorisch, zeitlos, streng neutral; sie beweist nichts, sie widerlegt nichts. Ein simpler geographischer Beweis für Janes völlige Abwesenheit.

Ich hätte öfter daran denken sollen, sagte ich mir und sah nach unten. Mir hätte einfallen können, dass es diesen Ort immer gab, jenseits der schmutzigen Küste mit ihren Filmen und Ölquellen, ihrer Werbung und ihren unwirklichen Immobilien. Jenseits ihrer Swimmingpools und ihrer Puppenhäuser. Dies wäre eine Gegend gewesen, in die ich mich im Geiste hätte zurückziehen können. Hierher hätte sie mir nicht folgen können.

Und jetzt, da wir in Richtung Sierras und Nacht aufstiegen, ging die Innenbeleuchtung an und ließ die lange, röhrenförmige, gepolsterte Kabine fälschlicherweise gemütlich erscheinen. Ich schloss die Augen und sah die zerbröselnden Wirbel eines Schneesturms, spürte, wie die Luft eiskalt wurde, hörte das Stottern eines ausfallenden Motors, als wir unsere Sicherheitsgurte anschnallten und das Flugzeug winzig und verloren in ein weißes Nichts stürzte. Dann, im allerletzten Moment, direkt vor uns, die furchtbar massive Wand eines Steilhangs … Tage später würde der Suchtrupp zu dem Wrack und den verstreuten Leichen vordringen. Ich selbst läge natürlich unversehrt da, entspannt, im Tod wunderschön, ein leicht spöttisches Lächeln auf den Lippen. Das Foto der Woche im Life-Magazin. Jane würde eine Ausgabe davon neben ihrem Bett aufbewahren. Sie würde das Foto in ihren Albträumen sehen und schreiend aufwachen. »Es war alles meine Schuld. Ich habe ihn im Stich gelassen. Ich habe ihn in den Tod geschickt. Ich werde bestraft werden, solange ich lebe.«

Aber es gab keinen Schneesturm. Die Motoren liefen reibungslos. Es versprach eine sternenklare Nacht zu werden. Und es gab keine Jane. Nur die süße kleine Flugbegleiterin, die strahlend aus dem »Charm Room« (wie sie die Toilette nennen) kam und ihre Uniform glättete, während sie den Gang entlangschritt. Sie beugte sich über jeden Sitz, lächelte das Lächeln der großen Schwester und murmelte ihren Schutzbefohlenen zu: »Ich wette, Sie sind hungrig? Bestimmt sind Sie das! Nun, ich werde Ihr Abendessen sofort richten.«

Damit hattest du immer schon gerechnet, nicht wahr, Elizabeth?

(Inzwischen war es sehr spät; vielleicht waren wir über Kansas. Allmählich schlief ich ein, irgendwo hoch oben in der dünnen kalten Luft. So hoch oben, so weit weg. Im Nirgendwo von Raum und Nacht. Fast fühlte ich mich körperlos.)

Natürlich hättest du mich gewarnt. Vor irgendetwas hast du mich immer gewarnt. Und du hattest immer recht. Aber warum konntest du mich nie meine eigenen Fehler begehen lassen? Dann wäre ich nicht so hilflos. Dann wäre ich nie in diesen Schlamassel geraten.

Jetzt, da es so weit gekommen ist, hoffe ich, dass du zufrieden bist.

Natürlich hasst du Jane. Ich kann es dir nicht verübeln. Du konntest nicht anders. Sie hat mir etwas gegeben, was du mir nie geben konntest; etwas, worum du immer herumgeredet hast, mochte es noch so brillant und wunderbar und lustig klingen, du konntest es nicht. Jetzt wird mir klar, wie sehr auch du die anderen gehasst haben musst. Du warst nur viel zu schlau, es dir anmerken zu lassen.

Ist es das, was du willst – dass ich von nun an immer allein bin? Stets auf der Suche nach jemandem, stets zugeben zu müssen, dass es niemanden gibt, der deinen Platz einnimmt? Kannst du wirklich so eitel und grausam sein? Was soll ich deiner Meinung nach tun? In ein Kloster gehen? Oder den Rest meines Lebens damit verbringen, deinen kostbaren Kult zu pflegen – dich zu edieren und zu annotieren und zu kommentieren, bis die Leute den Klang deines Namens leid sind?

Ja, ich gebe es zu, du hast mich erfunden. Bevor du mir gesagt hast, wer ich bin, hatte ich nicht einmal begonnen zu existieren. Ich war die lebensechteste deiner Figuren. Die Leute bewunderten mich, und das hat dir gefallen. Aber ich glaube nicht, dass du dir jemals etwas aus mir gemacht hast.

Nein, Elizabeth. Nein, verzeih mir; ich habe es nicht so gemeint. Es war nicht deine Schuld; es war meine Selbstsucht. Ich war es, der dich benutzt hat. Ich habe mich an deine Stärke geklammert. Ich bestand darauf, dass du perfekt bist, und ich wurde ängstlich und wütend, wenn du es nicht warst. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie du dich gefühlt haben musst. Ich habe dir nie durch schlechte Zeiten geholfen. Aber du hast dich nicht beschwert, nicht einmal gegen Ende. Selbst dann noch hast du mir geholfen. Du warst der mutigste Mensch, den ich je kennen werde.

Jetzt werde ich dich mehr denn je brauchen. Ich hoffe, du weißt, wie sehr ich dich brauche und wie sehr ich dich liebe. Ohne dich bin ich verloren. Ich bin ein Nichts.

Gute Nacht, Elizabeth. Gib mir das Gefühl, dass du bei mir bist. Hilf mir, mich zu erinnern.

Am nächsten Nachmittag in der Broad Street Station, Philadelphia, sah ich viele Uniformen in der Menschenmenge. Hier konnte man bereits – zwar noch schwach, aber doch unverkennbar – den Krieg riechen. Jeder Mann und jede Frau in dieser Menge konnte ihn riechen; und man sah, wie es sie erschreckte und zugleich erregte. In den bevorstehenden Wochen und Monaten würden sie durcheinanderrennen, wachsam seiner Spur nachschnüffeln und murmeln: »Wie schrecklich! Wie schrecklich! Bald werden wir uns im Krieg befinden! Bald werden wir uns im Krieg befinden!« Sie würden nicht ruhen, bis sie ihn gefunden hatten, oder er sie.

Der Krieg roch nach Blut und Kot, nach verschwitzten Körpern und den Dämpfen von Motoren und Sprengstoffen. Er war schmutzig und böse, zumindest aber hatte er nichts mit Gefühlen zu tun, die Jane betrafen. Er würde jeden annehmen, wie eine brutal dogmatische, jedoch ganz und gar beruhigende Religion, die zwar schreckliche Bußen verhängte, gleichzeitig aber garantierte, dir deine Schuld zu nehmen; die Schuld, dass du es gewagt hast, dich in einem exklusiven Haus in Beverly Hills – Miete vierhundert Dollar im Monat – privatem Unglück hinzugeben.

Während des ganzen letzten Jahres hatte der Krieg nur als laute, hässlich passende Hintergrundmusik für meine kostspielige private Hölle existiert. Warum sollte London nicht in Flammen stehen, warum sollten Juden nicht gefoltert werden, warum sollte nicht ganz Europa versklavt werden, solange der große Tyrann »Ich« litt? Es schien nicht mehr als natürlich zu sein.

Ich nehme an, so fühlen sich die Menschen in Irrenhäusern. Ich musste sehr nah dran gewesen sein, verrückt zu werden. Vielleicht war ich ja eine Weile lang verrückt. Doch hier, inmitten der dahineilenden nachmittäglichen Menschenmenge, war das Wort nur ein Wort. Es schreckte mich nicht. Es würde mir gut gehen; das wusste ich. Auch wenn die Alltagsluft vergiftet war vom Kriegsgeruch, so war sie doch herrlich erfrischend. Ich atmete sie ein, atmete sie wie ein Genesender tief ein.

Und dann kam der lokale Elektrozug, der mich aus der Stadt in die selbstgefällig hübsche, leuchtend grüne Landschaft der Philadelphia Main Line befördern sollte. Kleinstädte, Golfplätze, Gärten, diskreter Wohlstand, hinreichend versichert. Eine Landschaft ohne Geheimnisse, bewohnt von Menschen, deren Gedanken, Worte und Handlungen einer gründlichen FBI-Untersuchung allesamt standhalten würden. Ich konnte mich an nichts davon genau erinnern, doch sie weckte ein vertrautes Gefühl in mir.

Ich musterte meine Mitreisenden und versuchte, die Quäker unter ihnen auszumachen. Ich glaubte, es zu können. Die Männer sind groß, knochig, breitschultrig, bedächtig und auf gesunde Weise blass. Sie sprechen langsam, umsichtig und wählen ihre Worte. Sie wirken leicht erschöpft. Die Frauen sind energisch und intelligent. Sie kämmen ihr Haar zurück und binden es zu einem Knoten. Sie benutzen kein Make-up. Sie tragen flache Absätze, billige, zweckmäßige Kleider und im Sommer Strohhüte, die irgendwie an Hauben erinnern. Alle kennen einander. Alle sind verheiratet.

Hat der Krieg einen Geruch, so erinnern einen die Quäker an einen Geschmack; den Geschmack von einfachem selbstgebackenem Brot. Es ist immer vorhanden, und man betrachtet es als etwas Selbsverständliches, zerbröckelt es verschwenderisch mit den Fingern, isst ein wenig davon zwischen einem Bissen Hummer Newburg und einem Schluck Liebfrauenmilch und denkt kaum darüber nach. Manchmal aber, nach einer langen Krankheit, wenn der ermattete Magen vor jeder Art von Sauce, Gewürz oder Süße zurückschreckt, bittet man um dieses Brot, kaut es demütig und dankbar und gesteht sich traurig ein, dass es gesunde und angemessene Kost ist, dass all die ausgefallenen Gerichte unbekömmlich waren und man in Zukunft weiser essen sollte. Hier war ich nun, stand am Anfang meiner Genesung von Jane, und meine Kost würden die Quäker und Tante Sarah und Dolgelly sein, vielleicht monatelang. Also sollte ich mich besser auf sie einlassen und sie irgendwie hinunterschlucken. Sie waren gewiss bekömmlich. Sie waren so wunderbar, auf so schreckliche und eintönige Weise bekömmlich, dass ich der bloßen Aussicht wegen am liebsten geweint hätte.

Dolgelly Station kam früher, als ich erwartet hatte. Ich schrak aus meinen Gedanken auf und stellte fest, dass ich auf das Bahnhofsschild starrte und mich beeilen musste, um aus dem Zug zu steigen, der nur zwei Minuten hielt. Der Bahnhof sah genauso aus wie andere Stationen, die wir passiert hatten, und der Drugstore gegenüber war neu und glänzte. Da gab es nichts wiederzuerkennen. Am Fuß der Bahnhofstreppe stand ein Taxi. Ich fragte den Fahrer, ob er Tawelfan kenne. Als er bejahte, war ich überrascht. Es war, als hätte ich bis zu diesem Moment nicht so recht geglaubt, dass der Ort wirklich noch existierte.

Als wir in die Boundary Lane einbogen, begann ich mich ganz schwach zu erinnern. Ein Sträßchen, wie es sie in Südengland gibt, mit hohen Hecken und überhängenden Baumkronen. Das frische Blattwerk stand schon sehr dicht; und im Hochsommer würde es die Häuser großenteils verdecken. Tawelfan, das wusste ich, lag auf der Spitze des Hügels und weit weg von der Straße, am Ende einer Auffahrt mit einem breiten weißen Tor. Sarah hatte mir oft von diesem Tor erzählt: wie sehr ich es geliebt hatte, darauf zu schaukeln, und wie es mir verboten worden war, weil es ziemlich schief hing, aus eigenem Antrieb heftig aufschwang und so hart gegen den Torpfosten schlug, dass man, wenn man sich nicht festhielt, abgeworfen wurde. Offenbar war ich letzten Endes abgeworfen worden und auf dem Kopf gelandet. An den Unfall konnte ich mich nicht erinnern, aber ich hatte eine schwache Narbe an der rechten Schläfe, wo man mich genäht hatte, davongetragen.

Wie auch immer, das Tor war inzwischen verschwunden, und die Auffahrt war kürzer, als ich erwartet hatte. Es blieb keine Zeit, mir einen klaren Gesamteindruck zu verschaffen, ein reales Bild, das ich über meine Erinnerung an die vergilbten Fotos in Sarahs Album legen konnte. Doch soweit ich es beurteilen konnte, schien alles mehr oder weniger an seinem Platz zu sein: der hohe Ahorn auf dem Rasen, die dunkle Tanne zur Linken, die große Scheune zur Rechten und in der Mitte das weiß getünchte, etwas schiefe Steinhaus. Eigentlich bestand Tawelfan aus zwei Häusern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Größe, die miteinander verbunden worden waren. Das kleinere und ältere Gebäude, ein schlichtes kleines Bauernhaus aus dem frühen 19. Jahrhundert, hatte eine Veranda und einen hohen Backsteinkamin; das größere und neuere war eine prätentiöse Kopie mit leicht trügerischen Zutaten – Fensterläden, die zu kunstvoll wirkten, Mansardenfenster, die allzu pittoresk aussahen. Natürlich gab es zwei Haustüren.

Die neuere Haustür stand halb offen, und als das Taxi anhielt, kam bellend ein kleiner einäugiger Hund, ein Boston Bull, herausgeschossen. Während ich den Fahrer bezahlte, kläffte der Hund um meine Knöchel herum, und nun erschien auch Sarah selbst in der Türöffnung; eine kleine, kompakte, resolute Gestalt, eifrig und mädchenhaft, trotz ihrer weißen, unordentlichen Haare. Sarahs Haare waren schon immer unordentlich gewesen; und mir schien, dass das Einzige, was sich in all den Jahren, in denen ich sie kannte, an ihr verändert hatte, die Haarfarbe war. Ihre Augen und ihre Brille funkelten vor Aufregung. »Stephen«, rief sie, »willkommen daheim!«

Ich beugte leicht die Knie, und sie warf ihre Arme um meinen Hals und drückte mein Gesicht gegen ihre weiche, faltige Wange. Sie roch sehr sauber. Ich konnte mich gerade noch daran hindern, ihr den Hintern zu tätscheln – ein bedingter Reflex.

»Stephen, mein lieber Junge! Wie war die Reise? Nicht schlecht, hoffe ich? Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Ich habe dich vor Stunden erwartet.«

»Wir mussten eine Weile in Chicago warten. Irgendwo hat es einen Sturm gegeben.«

»Nun, lass dich ansehen. Meine Güte, du bist aber dünn! Ich bin sicher, das ist nicht Janes Schuld. Zu viele lange Nächte, nehme ich an? Sag mir die Wahrheit, sofort! Ich habe alles von diesen Hollywood-Partys gehört.«

»Aber Tante Sarah! Du hast diese gemeinen alten Klatschkolumnisten gelesen. Die übertreiben alle.«

»Und schau nur – du hast dich ja geschnitten! Was hast du nur getan? Bestimmt hast du dir einen Mitternachtssnack gemacht? Das kommt davon, wenn man einen Mann in die Küche lässt.«

»Ach das?« Leicht verwirrt blickte ich nach unten auf das Pflaster um meinen Daumen. Sarah hatte Augen wie ein Falke. »Das ist nichts. Ich hab’s kaum gespürt.«

Wir traten ins Haus; nicht ohne Schwierigkeiten, denn Sarah versuchte, mir mit meinem Koffer zu helfen, und der Boston Bull sprang herbei und schnappte nach unseren Füßen.

»Du kennst deinen Onkel Stephen nicht, oder, Saul?«

»Hallo, Saul.« Ich bückte mich und streckte meine Hand aus. Aber der Hund wich vor mir zurück und knurrte. Das war das Seltsame an Sarahs Haustieren; sie waren fast immer bösartig. Zu Problemtieren schien sie sich instinktiv hingezogen zu fühlen.

»Saul und ich haben uns letztes Jahr in New York gefunden. Das war ein entsetzlich heißer Sommer, weißt du, und ich habe in Harlem gearbeitet, im Versammlungshaus der Freunde, dem Quäkerzentrum. Nun, eines Abends ging ich wieder in mein Zimmer – ich war so müde, dass ich fast im Gehen einschlief –, und er folgte mir. Zuerst versuchte ich, ihn auszuschließen, weil ich dachte, er müsste jemandem im Haus gehören. Aber er stand vor meiner Tür und bellte und bellte. Und dann – nun, ich fürchte, ich habe etwas schrecklich Gotteslästerliches gesagt –«

»Was denn?«

»Ich sagte: ›Saul, Saul, was verfolgst du mich?‹ Ich kann mir nicht erklären, woher die Worte rührten; aber so kam Saul zu seinem Namen … Natürlich erzähle ich diese Geschichte nicht jedem.«

»Ich hoffe nicht! Sie würden dich aus der Versammlung werfen.«

Sarah kicherte: »Aber Stephen! Du würdest mich doch nicht verpetzen? Dir kann ich doch vertrauen, oder?«

»Lass mich darüber nachdenken. Jedenfalls habe ich jetzt etwas gegen dich in der Hand.«

Es war, als würde man nach langer Zeit wieder eine Fremdsprache sprechen, eine Sprache, von der man glaubte, sie vergessen zu haben. Die Sarah-Stephen-Sprache hatte ihre Grenzen; es gab viele Dinge, die sich darin überhaupt nicht sagen ließen. Aber wie tröstlich und sicher war sie doch, genau aus diesem Grund! Als ich erst einmal begonnen hatte, fielen mir die Sätze rasch wieder ein, auch wenn sie eher wie Zitate aus einem Sprachführer klangen.

Unterdessen schaute ich mich im Wohnzimmer nach etwas Bekanntem um. Da war nichts. Aber das war kaum verwunderlich; denn wie ich mich jetzt erinnerte, war das ganze Haus von meinem kunstbeflissenen Onkel George, der hier bis zu seinem Tod vor fünf Jahren gelebt hatte, renoviert worden. Bei dem Versuch, die authentische Atmosphäre einer Bauernstube einzufangen, war es ihm lediglich gelungen, ein seiner selbst bewusstes Museum zu errichten. Es gab riesige Mahagonischränke mit Glastüren, die sich wie Erkerfenster wölbten, viktorianisch-gotische Wandkonsolen und schwarze Truhen im Pennsylvania-Dutch-Stil, die mit Zwillingsherzen in Gold und Rot verziert waren. Von der Decke hing ein alter Gaskandelaber, der ans Stromnetz angeschlossen und mit geprägtem Blech verkleidet war.

»Nun«, fragte Sarah und strahlte mich an, »wie fühlt es sich an, zurück zu sein?«

»Wundervoll!« Ich bemühte mich, so begeistert wie möglich zu klingen. Sie beobachtete jede Regung meines Gesichts.

»Ach, Stephen, du weißt nicht – du kannst gar nicht wissen –, wie glücklich ich bin, dass du hier bist! Wenn uns doch nur deine liebe Mutter sehen könnte! Wir werden eine herrliche Zeit verbringen, nicht wahr, du und ich?«

Wie klein und gebrechlich sie war! Wie verletzlich, und doch pochend vor intensivem Leben wie ein Vogel. Ich bemerkte, dass der Rahmen ihrer Brille mit Draht geflickt war, sehr ungeschickt; höchstwahrscheinlich hatte sie ihn selbst ausgebessert.

»Ganz bestimmt.«

Jane, Jane, Jane, Jane. Plötzlich war es wieder da, wie Zahnweh. Jane, wo bist du jetzt? Denkst du nicht an mich? Willst du mich nicht zurückhaben? Macht es dir nichts aus, wenn ich dich verabscheue? Liegt dir überhaupt etwas an mir? Was tue ich hier, dreitausend Meilen von dir entfernt, und rede mit dieser alten Frau? Ich habe kein Recht, in diesem Haus zu sein und es mit meinem bösen, langweiligen Elend zu infizieren. Ich hätte nie hierherkommen sollen.

»Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie es Jane geht.«

»Jane geht es gut«, sagte ich und war sofort auf der Hut; ich hatte vergessen, dass Sarah über gefährliche telepathische Fähigkeiten verfügte.

»Kommt sie auch in den Osten?«

»Ich weiß es nicht … Im Moment nicht.«

»Ich nehme an, da draußen findet sie eine Menge, um sich zu beschäftigen?«

»Ja – in der Tat.«

»Ich muss ihr schreiben, der Guten. Ich möchte ihr danken, dass sie dir erlaubt hat, mich zu besuchen.«

»Das brauchst du nicht.«

»Oh, aber ich würde gerne. Obwohl ich mir sicher bin, dass sie weiß, wie mir zumute ist. Sie wird dich schon jetzt vermissen, und es wird ihr leidtun, dass sie dich hat gehen lassen. Das ist das Schlimmste, wenn man einen so beliebten Ehemann hat! Aber sie wird sich nie beschweren, oder? Jane ist eine sehr mutige kleine Person.«

»Gewiss. Sie, die ohne mich auskommt, muss schon eine echte Heldin sein.« Ich zwang mich zu einem Grinsen, um meinen Ärger zu verbergen. Das sah Sarah so ähnlich. Sie kannte Jane kaum – sie waren sich nur zweimal begegnet, als wir uns im vergangenen Jahr in New York aufgehalten hatten –, und schon nahm sie sie ganz für sich in Anspruch. Das hatte sie auch früher schon getan, wenn ich Freunde aus der Schule mitbrachte. Binnen einer Stunde wusste sie weit mehr über deren Häuser und Familien als ich und interessierte sich geradezu vampirisch für deren Hobbys, Leistungen im Baseball und Schulaufgaben. Und sie konnte nie verstehen, weshalb mich das so wütend auf sie machte.

»Stephen Monk, ich muss schon sagen, du hast dich kein bisschen verändert! Immer musst du deine arme alte Tante necken. Und du weißt, dass sie es einfach liebt!« Sarah drückte meinen Arm. Dann fiel ihr Blick auf das Sonnen- und Mondziffernblatt einer Großvateruhr, die in der Ecke stand. »Himmel der Berge – ist es schon so spät? Ich muss an die Arbeit. Lass uns nachschauen, ob in deinem Zimmer alles in Ordnung ist.«

Eine Tür in der Wand verband die beiden Häuser miteinander. Man ging drei Stufen hinunter in das niedrige Speisezimmer, das einmal die Stube des ursprünglichen Bauernhauses gewesen sein musste. Sarah führte mich zu einer Tür, die wie eine Schranktür aussah, in Wirklichkeit aber der Eingang zu einer sehr steilen, schmalen, mit weiß gestrichenen Holzbrettern verschalten Treppe war, die nur von einem kleinen Buntglasfenster erhellt wurde. Immer, wenn ich an Tawelfan dachte, erinnerte ich mich an dieses Fenster. Es zeigte blaue Trauben und gelbe Blätter auf einer roten Raute. Als Kind musste ich Stunden davor zugebracht haben. Dann schaute ich durch die verschiedenen Farben der Scheibe hinaus in den Garten, wechselte die Szene nach Belieben von einer Farbstimmung zur anderen und erlebte das ungetrübte Vergnügen von Empfindungen, die keiner Analyse bedürfen. (»Das ist meine Vorstellung vom Himmel«, hatte Elizabeth einmal gesagt, als ich ihr von dem Fenster erzählte: »Ein Ort, an dem du nichts beschreiben musst.«) Wie hatte sich Rot im Alter von vier Jahren angefühlt? Was hatte Blau zu bedeuten? Wozu gab es Gelb? Würde ich es wissen können, heute, würde ich vielleicht auch alles, was mir in der Zwischenzeit widerfahren war, verstehen. Aber ich würde es niemals wissen. Mein Erkenntnisorgan hatte sich verändert, und ich hatte nichts mehr, womit ich erkennen konnte. Wenn ich jetzt durch dieses Fenster schaute, würde ich nichts als eine Menge Adjektive sehen.

»Das Haus sieht bei weitem nicht so aus, wie es sollte«, sagte Sarah, die vor mir die Treppe hinaufstieg. »Die letzten Mieter waren leider alles andere als rücksichtsvoll. Und es gibt immer furchtbar viel zu putzen.«

»Warum schmeißen wir den Kram dann nicht raus und stellen ein paar französische Modemöbel hin? Du weißt schon – Glas, Aluminium und Schnur. Die könntest du mit dem Gartenschlauch abwaschen.«

Sarah kicherte, nachdem sie sich zunächst umgedreht und einen raschen Blick auf mein Gesicht geworfen hatte, um sich zu vergewissern, dass ich es nicht ernst meinte. Zweifellos glaubte sie, ich sei, wie irgendein verrückter deutscher Fürst aus dem 19. Jahrhundert, zu jeder Extravaganz fähig.

Als wir das obere Ende der Treppe erreichten, kam Saul, der sich an uns vorbeigedrängt hatte, durch eine halb geöffnete Tür auf den Flur gesaust.

»Saul hat dein Zimmer für dich hergerichtet«, sagte Sarah.

»Danke, Saul. Das weiß ich wirklich zu schätzen.« Unsere Augen trafen sich, und Saul bedachte mich mit einem Blick höchst unhündischer Verachtung. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns aufgrund unserer wechselseitigen Antipathie viel besser verstanden, als Sarah in ihrer Unschuld jemals hätte ahnen können.

»Ich hoffe, ich habe nichts vergessen«, murmelte sie vor sich hin, als sie mich ins Schlafzimmer führte: »Seife, Handtücher, ein Aschenbecher – du rauchst doch noch, nicht wahr, Stephen?«

»Ich fürchte, ja, Tante Sarah. Aber solange ich hier bin, werden wir das schon irgendwie hinkriegen. Ich zähle darauf, dass du mir hilfst, mit dem Dämon Nikotin zu ringen.«

Sarah prustete vor Vergnügen. Sie liebte diese Art von Gerede.

»Ach, Stephen, du schrecklicher Junge! Als ob ich dir jemals helfen könnte, wo du doch weißt, dass du es bist, der mich auf Abwege bringt! Was ist mit dem Martini, den du mir im Barbizon Plaza serviert hast?«

»Nun, ich habe nie gesagt, dass du ihn trinken sollst. Ich wollte nur, dass du weißt, wie er riecht, falls du jemals einen Abstinenzkreuzzug führen solltest.«

»Und wenn ich hundert Jahre alt werde, diesen entsetzlichen Geschmack werde ich niemals vergessen.«

»Hör mal – der hat dir doch gut geschmeckt. Leugne es nicht. Als wir danach im Park spazieren gegangen sind, warst du ziemlich fröhlich. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass du gesungen hast – was war das noch gleich? Jeepers creepers, where’d ya get those peepers?«

»Von allen lästerlichen Unwahrheiten! Von so einem Lied habe ich nicht einmal gehört! Du weißt, dass ich es nicht gesungen habe!«

»Na schön, wenn du es leugnest, gibt es natürlich nichts mehr zu sagen.« Plötzlich war ich der Martini-Episode überdrüssig; sie drohte, zu einer von Sarahs vielen Sagen zu werden. Ich warf meinen Koffer aufs Bett, öffnete ihn und wollte eben auspacken, als mir die Mappe mit Elizabeths Briefen einfiel, die, eingewickelt in meinen Pyjama, im Koffer lag. Wenn Sarah sie zu Gesicht bekäme, gäbe es noch mehr Fragen. Ich tat so, als hätte ich das Bedürfnis nach einer Zigarette, hielt inne, holte mein Zigarettenetui hervor und zündete mir eine an.

Sarah beobachtete mich und tupfte sich mit einem Zipfel ihres Taschentuchs zwei kleine Lachtränen aus den Augen. »Wo ist der Rest deines Gepäcks?«, wollte sie wissen.

»Ach –« Ich wurde sehr vage. »Das wird später kommen, denke ich.« Und ich dachte daran, dass ich mich würde hinausstehlen und mir mehr Kleidungsstücke würde kaufen müssen, sobald Sarah Zeit gehabt hätte, die Angelegenheit zu vergessen.

»Und jetzt wirst du dich waschen wollen. Ich nehme an, dass du früh essen möchtest? In einer halben Stunde werde ich das Abendessen fertig haben.«

»Ich komme gleich und helfe dir.«

»Papperlapapp! In diesem Haus erlauben wir den Männern nicht zu arbeiten. Außerdem gibt es wirklich nichts zu tun. Gerda hat das meiste schon vorbereitet, bevor sie ausgegangen ist –« Sarah unterbrach sich und legte mit einer schelmisch theatralischen Geste die Hand auf den Mund: »Erbarmen, was bin ich doch für ein altes Plaudermaul! Dabei hatte ich dich überraschen wollen! Nun, der Schaden ist angerichtet, dann kann ich es dir ebenso gut auch sagen. Sie ist schon hier! Sie kam vorgestern an.«

»Oh – gut.«

Ich musste ein ausdrucksloses Gesicht gemacht haben, denn Sarah rief vorwurfsvoll: »Aber Stephen – sag bloß, du hast es vergessen? Gerda – Gerda Mannheim. Du weißt schon – das Mädchen, von dem ich dir geschrieben habe.«

»Ja – ach ja, natürlich.« Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wen Sarah meinte; aber das war nicht weiter überraschend, denn ich las ihre Briefe selten über die ersten paar Absätze hinaus. Sie waren so schrecklich lang und unzusammenhängend, und sie (die ständig bestrebt war, nichts zu vergeuden) schrieb sie in mikroskopisch kleiner Handschrift auf verschiedene Papierfetzen, wie etwa Lebensmittelrechnungen oder die Umschläge von Quäker-Broschüren über den Frieden. »Gerda Mannheim«, wiederholte ich und versuchte, den Namen im Kopf zu behalten.

»Die Formalitäten sind sogar noch schneller abgewickelt worden, als ich gehofft hatte. Ich war selbst beim Bezirksstaatsanwalt, und ich gebe zu, dass er sehr kooperativ war.«

»Das ist schön.« Ich entschied, dass dieses Mannheim-Mädchen eine von Sarahs Kriminellen sein musste – möglicherweise eine Mörderin –, die auf Bewährung aus dem Staatsgefängnis entlassen worden war. Sarah hatte eine Leidenschaft für Kriminelle. Sie hatte sich bereits in mehreren derartigen Fällen engagiert. Und sie hatten bewundernswerte Anstellungen gefunden, geheiratet und sich niedergelassen – bis auf einen, der sie fast erwürgt und das Haus in Brand gesetzt hatte und der sich mittlerweile in einer Irrenanstalt befand.

»Gerda ist eine ganz reizende Person. Ungeheuer geradlinig. Ihr beide werdet die besten Freunde sein, da bin ich mir sicher.«

»Sie muss einiges durchgemacht haben«, sagte ich, nach weiteren Informationen fischend.

»Ach, Stephen – wenn du erst einmal den Rest ihrer Geschichte hörst! Was für ein Elend! Was für eine schreckliche Unsicherheit und Angst! Und jetzt kommt sie zu uns und sucht ein neues Leben, etwas, woran sie glauben und worauf sie hoffen kann. Wir werden sie dabei nach Kräften unterstützen, nicht wahr?«

»Ja, das werden wir.«

»Sie ist nach Philadelphia gefahren, um Freunde zu besuchen – einige ihrer eigenen Leute. Ich fürchte, dass du sie erst morgen früh sehen wirst.«

»So ein Pech.« Ich fühlte mich sehr erleichtert. Allmählich wurde ich todmüde; war nicht in der Stimmung, einer Fremden gegenüberzutreten – am allerwenigsten einer geläuterten Mörderin mit einer reizenden Veranlagung und der Suche nach Glauben und Hoffnung. Sarah musste es gespürt haben, denn sie sagte lebhaft: »Komm, Saul, wir werden Onkel Stephen in Ruhe lassen.«

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ging ich zum Fenster, blieb dort stehen und schaute hinaus. In dem klaren, regnerischen Licht gab die Scheune, deren Karminrot verblasst war, all ihre Risse und Wetterflecken preis. Unter mir lag der Obstgarten, und zwischen den Hartriegeln, die bald blühen würden, stand das Brunnenhaus. Und dahinter, auf dem Grund des flachen Tals, konnte man vor der Kulisse niedriger bewaldeter Hügel die Dächer des Dorfes Dolgelly sehen. Die Wälder wirkten wilder und wirrer als die Wälder Englands, sie erinnerten daran, dass diese Landschaft erst jüngst gemütlich und vorstädtisch geworden und dies einst der Vorposten einer Welt gewesen war, die Frontlinie fanatisch humorloser, düster heroischer Männer und Frauen, die sich hinter ihren Bibeln und ihren Vorurteilen, ihrer dunklen, biederen Kleidung und ihren steinernen Bauernhausmauern verschanzt hatten und der heidnischen Wildnis grimmig entgegengetreten waren.

Ich wandte mich vom Fenster ab und inspizierte den Raum. Ein Bettgestell aus Messing. Zwei handkolorierte Audubon-Radierungen; ein amerikanischer Flamingo und ein Schneereiher. Ein Sekretär mit Marmorplatte. Ein Waschtisch mit Schüssel und Krug; nur zur Dekoration, da es auch ein modernes eingebautes Waschbecken mit fließendem Wasser gab. Eine gestreifte blaue Tapete mit goldenen Blumen. Alles unvertraut. Nichts, was mich zu den Empfindungen angeregt hätte, die man angeblich hat, wenn man in das erste Zimmer zurückkehrt, das man in seinem Leben erblickt hat.

Ja, hier war ich zur Welt gekommen; wahrscheinlich in diesem Bett. Es bedeutete nichts. Jane hatte nie hier mit mir geschlafen; Elizabeth hatte nie aus diesem Fenster geschaut, nie diese Wälder gesehen. Es war wirklich ein Neuanfang; oder schlimmstenfalls eine Sackgasse. Nach zweiunddreißig Jahren war ich in das Zimmer zurückgekehrt, in dem ich zur Welt gekommen war, und hatte niemanden mitgebracht und nichts als einen Koffer. Jetzt endlich, sagte ich mir voller Besorgnis und Aufregung, habe ich es tatsächlich getan. Ich habe alle Rettungsleinen durchtrennt, alle Stützen beiseitegestoßen.Von nun an, was auch immer geschieht, werde ich ganz und gar allein sein.

Drei

Sarah erklärte, dass Tawelfan auf Walisisch »Der stille Ort« bedeute, dass auch Dolgelly ein walisischer Name und das Dorf, wie mehrere andere in diesem Viertel, im achtzehnten Jahrhundert von walisischen Siedlern gegründet worden sei. Aus Gewohnheit hatte sie die gezielt informelle Haltung eingenommen, in der sie auch zu einer Versammlung der Freunde gesprochen hätte; sie beugte sich ein wenig in ihrem Sessel vor und legte die Hände dabei locker verschränkt auf den Tisch. Sie sprach langsam, laut und sehr deutlich, damit Gerda Mannheim sie verstand.

Das war am nächsten Morgen, wir drei saßen im Esszimmer und verzehrten unser Frühstück. Gerda saß mir gegenüber. Sie war eine kräftig gebaute, junge Frau Ende zwanzig, mit etwas zu dicken Beinen, ansonsten aber einer guten Figur und ruhig-wachsamen braunen Augen; eher attraktiv als hübsch. Ihr kastanienbraunes Haar glänzte; sie trug es nach Art deutscher Bauersfrauen in einem Flechtkranz. Ihr Lächeln war offen und warm, sie hatte gute Zähne, Mund und Kinn waren fest, ohne streng zu wirken. Sarah hatte beim Abendessen mehr von ihr erzählt, und ich wusste jetzt, dass sie doch keine Kriminelle war, sondern ein Flüchtling aus Nazideutschland. Ich glaubte, sie zu mögen. Oder besser gesagt, ich glaubte, sie mögen zu können, falls ich jemals wieder in der Lage wäre, mich für irgendjemanden außer Jane, Jane, Jane, Jane zu interessieren.

»Aber die Monks sind natürlich keine Waliser«, fügte Sarah hinzu. »Ursprünglich kamen sie aus Ostengland – aus Suffolk, nicht wahr, Stephen?«

»Ja.« Ich antwortete eher knapp, weil mich Sarahs Frage irritierte. Sie wusste genauso gut wie ich, oder besser als ich, woher die Monks kamen, und ihre Bitte um Bestätigung war Teil der Selbstdarstellung einer vermeintlich niedlichen Familie, Gerda zuliebe.