Mühlviertler Gift - Eva Reichl - E-Book

Mühlviertler Gift E-Book

Eva Reichl

4,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

In Bad Kreuzen wird ein Mann vergiftet auf einer Parkbank aufgefunden. Schnell gerät die Kräuterhexe Katharina Wunderfall, die sich mit Pflanzengiften bestens auskennt, in den Fokus von Chefinspektor Oskar Stern und seinem Team. Als Stern erfährt, dass das Opfer seine Frau zu Lebzeiten schwer misshandelt hat, traut er den Mord ebenso der gut gelaunten, frisch gebackenen Witwe und deren Mutter zu. Dann wird der Kadaver einer Katze gefunden, sie wurde offenbar mit demselben Gift wie das Opfer getötet. Ist der Mörder etwa noch nicht am Ende seiner Mission angelangt?

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Seitenzahl: 325

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Eva Reichl

Mühlviertler Gift

Kriminalroman

Zum Buch

Das letzte Mahl In Bad Kreuzen wird der Manager Roland Petrovsky tot auf der Parkbank vor der Kirche aufgefunden. Die Obduktion ergibt, dass das Opfer mit dem Blauen Eisenhut vergiftet wurde. Kurz darauf haben Chefinspektor Oskar Stern und Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht mehrere Verdächtige, allen voran die als Kräuterhexe bekannte Katharina Wunderfall, die sich mit Pflanzengiften bestens auskennt. Doch auch die frisch gebackene Witwe Gloria Petrovsky und deren Mutter sowie Schwester geraten ins Visier von Oskar Stern, der vor seinen Kollegen nicht verheimlichen kann, dass ihm eine der Verdächtigen besonders gefällt. Als er erfährt, dass das Opfer seine Frau zu Lebzeiten brutal geschlagen, misshandelt und vergewaltigt hat und die Frauen keinen Hehl daraus machen, froh über das Ableben des Managers zu sein, traut er ihnen den Mord durchaus zu. Doch was hat der auskunftsfreudige Altbauer Karl mit der Sache zu tun? Und wieso wurde neben dem Manager auch noch eine Katze mit Blauem Eisenhut vergiftet?

Eva Reichl wurde in Kirchdorf an der Krems in Oberösterreich geboren und zog wenige Jahre später mit ihrer Familie ins Mühlviertel, wo sie bis heute lebt. Neben ihrer Beschäftigung als Controllerin schreibt sie überwiegend Kriminalromane und Kindergeschichten. Mit ihrer Mühlviertler Krimiserie verwandelt sie ihre Heimat, das wunderschöne Mühlviertel, in einen Tatort getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Böse liegt so nah?

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Eva Reichl

ISBN 978-3-8392-7414-9

Widmung

Für Zwergi, den großartigsten Kater

Prolog

Im Schatten seines Glanzes welkte Gloria wie eine Blume, die man besser in die Sonne gepflanzt hätte. Sie bekam zwar so viel Licht ab, dass sie nicht starb, doch um ihre Blüten prächtig entfalten zu können, reichte es nicht.

Glorias Ehemann war mächtig und wurde von allen respektiert. Zu Veranstaltungen lud man ihn gern ein und nannte seinen Namen bei der Verkündung der anwesenden VIPs noch vor jenem des amtierenden Bürgermeisters. Er hieß Roland Petrovsky und war der Werbebeauftragte des beschaulichen Kurortes Bad Kreuzen. Seine Kontakte reichten bis in die höchsten Ebenen der oberösterreichischen Landesregierung, mitunter sogar bis nach Wien in die dort regierende Politprominenz.

Roland Petrovsky war aber nicht nur der Liebling der Mühlviertler Wirtschaft und Presse, er war ebenso ein Schläger. Brutal und ohne Gewissen. Seine Fausthiebe trafen Gloria in den Magen, bis ihr die Luft wegblieb. Selten schlug er sie ins Gesicht. Der Rest ihres Körpers war ihm hilflos ausgeliefert. Sie lag auf dem Boden und krümmte sich, während er sie in den Bauch trat, als kickte er einen Fußball quer durchs Stadion. Mit den Armen schützte Gloria ihren Kopf und zählte die Sekunden zwischen den Treffern.

Eins … zwei … drei …

Ob er sie dieses Mal töten würde?

Seit sieben Jahren waren sie verheiratet. Sieben verdammt lange Jahre, die ihr vorkamen wie ein ganzes Leben.

Eins … zwei … drei …

Wenn sein nächster Tritt ihren Kopf zertrümmern würde, wäre ihr Leid vorbei. Dieser Gedanke drängte sich in ihr Gehirn wie ein Verdurstender an eine Quelle und bot ihr für einen Augenblick Hoffnung.

Eins … zwei … drei …

Ob sie die Arme öffnen und dadurch seine Hiebe auf ihren Schädel lenken sollte? Wenn es ihr dann noch gelänge, ihn anzulächeln, würde er ausrasten und weitaus härter zuschlagen. Ihr Leben wäre endlich zu Ende und sie erlöst.

Eins … zwei … drei …

Ihr Überlebensdrang verhinderte jedoch, dass sie sich ihm freiwillig auslieferte, egal, wie sehr sie es sich wünschte. Es ging nicht.

Eins … zwei … drei … vier … fünf …

Die Abstände zwischen den Tritten wurden größer, demnach war Roland erschöpft. Entkräftet und ausgepowert, weil er sich an ihr abreagiert hatte. Weil das Essen nicht heiß genug gewesen war, als sie es auf den Tisch gestellt hatte. Weil die Kartoffeln mehlig anstatt speckig gewesen waren. Weil die Post zu weit von ihm weg gelegen hatte und er die Briefe und Prospekte nicht hatte erreichen können, ohne aufzustehen. Einfach weil sie da gewesen war, während er seine Ruhe gewollt hatte. Ihre bloße Existenz war schuld an seiner Grausamkeit, warf er ihr dann jedes Mal vor, wenn es über ihn kam und er mit Fäusten auf sie eintrommelte und mit Füßen nach ihr trat, als wäre er von Sinnen. So wie jetzt. Wie vor einer Woche und eine Woche davor.

Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben …

Er keuchte. Gloria vernahm es trotz heftiger Schmerzen. Ein gutes Zeichen. Er war nicht trainiert und schnell außer Puste. Endlich ließ er von ihr ab und ging ins Badezimmer, um sich frisch zu machen. Um den Schweiß von seiner Stirn zu wischen. Das war ihre Chance, in den Keller zu flüchten und sich dort zu verstecken. Ihre Blessuren zu lecken wie ein waidwundes Tier. Bis er sich beruhigt hatte. Wenn genug Zeit verstrichen war, würde sie nach oben schleichen und den Abwasch erledigen, als wäre nichts passiert. Wenn sie Glück hatte, würde er sich vor den Fernseher setzen und bis spät in die Nacht hinein irgendwelche Sendungen über Menschen anschauen, die sie nicht interessierten. Wenn sie aber Pech hatte, dann …

Daran mochte sie nicht denken.

Sie verkroch sich im Keller und betrachtete ihren Körper. Der Bauch war rot gefärbt und übersät mit blauen Flecken, dasselbe galt für ihre Arme und Beine. Sie würde sich etwas Langes anziehen müssen, damit niemand die Spuren der Misshandlungen sah. Damit niemand mitbekam, welches Arschloch ihr Mann war.

Wie lange würde sie das noch verheimlichen können? Schließlich war Sommer, da fiel es auf, wenn sie von Kopf bis Fuß verhüllt einkaufen ging.

Andererseits hatten sich die Bad Kreuzener an ihre seltsame Erscheinung längst gewöhnt, denn es wäre nicht das erste Mal, dass sie bei unerträglicher Hitze bis zu den Händen und Knöcheln bedeckt herumliefe. Sie pflegte dann immer zu sagen: »Was gegen Kälte hilft, hilft ebenso gegen Hitze. Die Beduinen in der Wüste tragen auch solche Sachen, also mache ich das wie sie.« Damit erstickte sie genaueres Nachfragen im Keim.

Aber wahrscheinlich wussten ohnehin alle Bescheid, was sich bei ihnen zu Hause abspielte. Die Blicke, die ihr die Menschen auf der Straße, in den Geschäften, ja sogar im Bus zuwarfen, ließen sie das annehmen.

Er hatte ihr ein Büschel Haare ausgerissen, das verknotet in ihren zerzausten braunen Locken festhing. Sie zog es heraus und warf es zu Boden, brachte ihre Frisur halbwegs in Ordnung, indem sie mit den Fingern ihre Haare kämmte, und ging anschließend die Kellertreppe hinauf. Oben blieb sie stehen und lauschte. Es war ruhig, nur der Fernseher lief. Wenn Roland vor der Glotze hockte, konnte sie in der Küche sauber machen. Dann war sie sicher.

Oder beinahe sicher.

Nur einmal hatte er einen erneuten Wutanfall bekommen, sie von der Spüle weggezerrt und geschlagen, dass die Töpfe mitsamt dem Abwaschwasser über den Boden geschlittert waren. Als sie auf Knien die Sauerei hatte beseitigen wollen, hatte er sie von hinten genommen. Hart und brutal. Er hatte ihr die Kleider vom Leib gerissen und war in sie eingedrungen, dass sie aufgeschrien hatte, weil sie gedacht hatte, sie würde explodieren. Ihr Unterleib würde zerfetzt. Doch je mehr sie geschrien hatte, umso grober war er geworden. Als es endlich vorbei gewesen war, hatte sie geblutet und er sich zufrieden die Hose hinaufgezogen. Sie hatte geweint, er gelacht. Das war nun mehrere Wochen her.

Gloria konnte nicht sagen, in was es begründet lag, aber es schien, als würde ihr Leid Roland nähren. Als würde er sie aussaugen wie ein Parasit seinen Wirt. Wenn er sie demütigte, erstrahlte er anschließend, verließ das Haus und trieb große Projekte erfolgreich voran. Wenn er sie nach einem harten Arbeitstag schlug, wirkte er danach entspannt und zufrieden. Manchmal wollte er dann Sex, so wie dieses eine Mal auf dem Küchenboden. Am nächsten Tag hatte er jedoch behauptet, dass es nie mehr auf so brutale Weise geschehen würde. Anscheinend hatte er bemerkt, dass er zu weit gegangen war, was Gloria erstaunlich fand, da ihm das normalerweise nicht auffiel. Für Roland existierte nur er selbst und sonst niemand. Er nahm sich alles, von dem er glaubte, dass es ihm zustand. Er tat, was er für richtig hielt, unabhängig, ob andere darunter litten oder dadurch gar zu Schaden kamen. Für ihn waren negative Auswirkungen auf Menschen, die nicht Roland Petrovsky hießen, akzeptable Kollateralschäden.

Aus dem Wohnzimmer hörte Gloria die Nachrichten, die von den Moderatoren des »Zeit im Bild«-Studios präsentiert wurden. Ansonsten war es ruhig. Auf Zehenspitzen schlich sie den Flur entlang, damit er sie nicht hörte. Damit sie ihn nicht störte und auf sich aufmerksam machte.

In der Küche sammelte sie das Geschirr vom Tisch, schob die Essensreste in den Abfalleimer unter der Abwasch und steckte Teller, Besteck und Gläser in die Spülmaschine. Die Töpfe würde sie von Hand reinigen, ebenso die Pfanne, in der sich zu viel Fett befand, um sie in den Geschirrspüler zu geben. Das hatte Roland ihr eingebläut, nachdem sie das neue Gerät gekauft hatten und sie alles, auch das Geschirr zum Kochen, darin eingeräumt hatte. Und eingebläut war keinesfalls untertrieben! Noch heute spürte sie die Schläge, wenn sie daran dachte.

Es war eines der wenigen Male gewesen, dass er ihr ins Gesicht geschlagen hatte und ihre rechte Seite blutunterlaufen gewesen war, als hätte sie einen Boxkampf verloren. Verloren hatte sie tatsächlich, aber keinen Kampf, sondern ihre Zuversicht, je ein normales Leben führen zu dürfen. Denn obwohl sie die Spuren der Brutalität ihres Ehemannes für alle gut sichtbar herumgetragen hatte, hatte niemand die von so vielen Frauen benutzte Ausrede, sie sei gegen eine offene Tür gelaufen, hinterfragt. Alle hatten die Erklärung akzeptiert. Ohne nachzuhaken und wahrscheinlich in der Hoffnung, dann nichts unternehmen zu müssen.

Das war vor sechs Jahren gewesen.

Seither wusch sie die Töpfe und Pfannen mit der Hand. Sie nahm sie vom Herd, stellte sie in das Spülbecken und ließ heißes Wasser einlaufen.

»Du Schlampe bist ja immer noch nicht fertig«, sagte Roland plötzlich hinter ihr in der Tür stehend.

Die Nachrichten waren vorbei. Gloria hatte ihn wegen der Geräusche, die das einlaufende Wasser verursachte, nicht kommen hören. Nun wurde die Wettervorhersage im Fernsehen gezeigt. Sonnenschein oder Regen, Gloria bekam es nicht mit. Es war ihr auch egal. Für sie war nur von Bedeutung, dass sich erneut ein Gewitter in dem schmucken Einfamilienhaus mitten in Bad Kreuzen zusammenbraute. Dass es diesmal heftig ausfallen würde, erkannte Gloria in Rolands Augen.

Er sah sie lüstern an. Zweifelsohne wollte er Sex. Nicht gewöhnlichen Beischlaf. Er wollte sie sich nehmen, gegen ihren Willen. Er wollte sie besitzen, sie demütigen und mit ihr machen, was immer er wollte.

Gloria konnte nicht ausschließen, dass er dieses Mal zu weit gehen würde. Dass er sich nicht im Griff haben würde, wenn es über ihn kam und sich nicht gleich dieses Hochgefühl einstellte, nach dem ihn so dürstete. Irgendwann würde es ihm nicht mehr genügen, sie zu erniedrigen und ihr wehzutun. Irgendwann bräuchte er einen weiteren Kick. Hoffentlich war das nicht heute.

Langsam ging er auf sie zu, öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Sein Gesicht drückte Abscheu aus für die Frau, die er vor sieben Jahren angeblich aus Liebe geheiratet hatte und die heute lediglich dazu diente, sein Selbstwertgefühl zu stärken. Doch eines Tages würde auch das vorüber sein. Und was dann?

»Roland, bitte nicht …«, wimmerte Gloria.

»Sei still!«, herrschte er sie an, packte sie an den Haaren und riss sie herum. Mit der einen Hand drückte er ihren Oberkörper über die Spüle, mit der anderen schob er ihren Rock in die Höhe, riss an ihrem Slip, bis er zu Boden fiel, und drang ihn sie ein.

Gloria würgte und übergab sich in das Abwaschwasser. Tränen schossen ihr in die Augen und sie zitterte am ganzen Körper. Doch all das bemerkte ihr Mann nicht oder es war ihm egal. Sie hatte keine Ahnung, an was er in so einem Moment dachte.

Gloria jedenfalls dachte daran, wie es wäre, frei zu sein. Diesen Demütigungen nicht mehr länger ausgesetzt sein zu müssen. Ein ganz normales Leben zu führen, ohne die Angst, geschlagen und verletzt zu werden. Eines Tages umgebracht zu werden. Am Abend zu Hause mit einem Glas Wein in der Hand auf dem Sofa zu sitzen und eine Serie zu schauen. In einer kurzen Hose hinaus auf die Straße zu gehen und ein T-Shirt zu tragen …

An all das dachte Gloria. Und dass es einen Weg gab, dieses Leben zu erreichen, daran dachte sie auch.

1. Kapitel

Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht lag auf der Couch in ihrer Linzer Wohnung und starrte die Decke an. Das Begräbnis war sieben Wochen her, aber es fühlte sich an, als wäre Edwin erst gestern gestorben. Als hätte ihn die Kugel vor wenigen Stunden aus ihrem Leben gerissen.

Seit der Schießerei in dem alten Bauernhof hatte sie zahlreiche Tränen vergossen, doch jetzt weinte sie nicht mehr. Die innere Leere fraß sie auf. Sie drehte sich zur Seite und nahm den ausgeschalteten Fernseher ins Visier. In dieser Stellung würde sie so lange ausharren, bis ihre Schulter zu schmerzen anfing und sie dadurch genötigt wurde, die Position zu wechseln. Der körperliche Schmerz war im Augenblick ihre einzige Antriebskraft, sich zu bewegen, daran vermochten auch die Psychopharmaka, die ihr der Arzt verschrieben hatte, nichts zu ändern.

Edwin und sie hatten vorgehabt zu heiraten. Der Traum war geplatzt, ohne Vorwarnung. Seither verließ sie die Couch nur noch, um auf die Toilette zu gehen oder ihren Freunden, die sie täglich besuchten und nach ihr sahen, die Tür zu öffnen. Familie hatte sie keine mehr, die war mit Edwin gestorben. Ihre Mutter lag seit Jahren unter der Erde, und wo sich ihr Vater herumtrieb, wusste sie nicht. Interessierte sie auch nicht. So wie er sich nie für sie interessiert hatte. Geschwister hatte sie keine.

Ihr Magen knurrte, Appetit hingegen stellte sich nicht ein. Die Gruppeninspektorin hatte in den letzten Wochen vier Kilo abgenommen. Bei der ohnehin schlanken Figur keine Kleinigkeit, hatte Oskar Stern, ihr Chef, erst gestern verkündet und ihr eine Schale mit frischem Obst hingestellt, da er ihre Leidenschaft für gesundes Essen kannte.

Für Grünbrechts Katze hatte er verschiedene Schälchen Futter mitgebracht. Romy hatte sich sogleich gierig auf das Fressen gestürzt, das ihr Stern in einen Napf, der zuvor blitzblank sauber ausgeleckt gewesen war, gefüllt und hingestellt hatte. Die Gruppeninspektorin brachte nicht die Kraft auf, die grau-braune Tigerin regelmäßig zu füttern, oder sie vergaß es einfach, wie sie ebenso nicht daran dachte, für sich selber zu sorgen. Während Stern bei ihr gewesen war, hatte sie weder die Bananen noch die Mühlviertler Bioäpfel oder die Marillen aus der Wachau angerührt. Nach einer Stunde war Stern gegangen, seither lag Grünbrecht wieder auf der Couch. In Klamotten, die längst gewechselt und gewaschen gehörten.

Die Frage, die sie im Augenblick beschäftigte, war, ob sie jemals in der Lage sein würde, in den Dienst zurückzukehren. Schließlich war ihr Verlobter während eines Einsatzes getötet worden, und kaum schloss sie die Augen, sah sie ihn vor sich, wie er sterbend mit dem Rücken an die Wand gelehnt in dem alten Bauernhaus am Boden saß und sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle.

Sie hatte ja gesagt.

Stern hatte ihnen seinen Ehering gegeben und Edwin Mirscher ihr diesen an den Finger gesteckt. Nun baumelte der Ring an der Kette um ihren Hals – sie hatte bislang nicht die Kraft aufgebracht, ihn kleiner machen zu lassen. Vor dem Gesetz waren sie zwar nicht verheiratet, aber Grünbrecht fühlte sich durch diese Geste so tief mit Edwin Mirscher verbunden, dass sie meinte, die Hochzeitszeremonie tatsächlich erlebt zu haben.

Wie erwartet, begann ihre Schulter zu schmerzen. Grünbrecht setzte sich auf und Romy nutzte die Gelegenheit, um auf ihren Schoß zu springen und die in letzter Zeit so selten gewordenen Streicheleinheiten einzufordern. Die Gruppeninspektorin vergrub ihr Gesicht im Fell der Katze, als könnte sie sich darin verstecken. Doch irgendwann musste sie ins Leben zurückkehren.

Wann würde dieser Zeitpunkt sein?

Würde sie spüren, wann es so weit war? Oder würde sie abgleiten an einen dunklen Ort, weil sie den Schmerz ihres Verlustes nicht länger ertrug? In Depressionen versinken, weil sie mutterseelenallein auf diesem Planeten war? Hatte ihr Leben noch einen Sinn? Und was zum Teufel war überhaupt der Sinn des Lebens?

Das auf dem Wohnzimmertisch liegende Handy vibrierte. Sie hätte es gänzlich ausschalten sollen, doch aus Gewohnheit wollte sie zumindest wissen, wenn jemand versuchte, sie zu erreichen. Ihr Gesicht tauchte aus dem Fell der Katze auf und ihre Augen lugten auf das Display. Es war Stern. Bestimmt wollte er erfahren, wie es ihr ging.

Natürlich beschissen! Wie jeden Tag.

Aber wenn sie nicht abhob, würde er hier aufkreuzen. Ebenfalls wie jeden Tag.

Wenn er verhindert war, schickte er die Kollegen. Meist Gruppeninspektor Hermann Kolanski. Oder Dominik Weber, den Gerichtsmediziner. Oder beide zusammen, auch das war schon vorgekommen.

Grünbrecht rang sich durch, das Gespräch entgegenzunehmen und fröhlich zu klingen. Sie streckte den Rücken gerade und beugte sich nach vorn, um das Handy zu erreichen, worüber Romy nicht sonderlich begeistert war und anklagend miaute. Die Gruppeninspektorin ergriff das vibrierende Gerät und wischte über das Display.

»Hallo, Oskar.«

»Mara, schön, dass du rangehst. Wie fühlst du dich heute?«, fragte Stern hörbar erleichtert, die Stimme seiner Kollegin zu vernehmen.

Grünbrecht überlegte, ob sie ihrem Chef die Wahrheit sagen sollte, dass sie über den Sinn des Lebens nachgegrübelt hatte, bis er angerufen hatte. »Es geht schon«, blieb sie vage.

»Und was meint der Arzt? Ist der auch dieser Meinung?«, hakte Stern nach. »Du warst doch heute beim Arzt, oder?«

Grünbrecht blickte auf die Tabletten, die ihr Dr. Schuster verschrieben hatte und die ihr helfen sollten, die erste schlimme Zeit nach Edwins Tod zu überstehen. Die leere Blisterpackung lag auf dem Couchtisch. Antidepressiva – für die Momente, wenn sie sich nicht gut fühlte, hatte der Arzt gesagt. Seit Edwins Tod fühlte sie sich aber permanent nicht gut, sie fühlte sich miserabel. Mit oder ohne die Tabletten.

»Er meinte, dass ich die Tabletten nehmen soll«, antwortete Grünbrecht.

»Und? Tust du das?«

Seit Tagen war die Packung leer und Nachschub hatte Grünbrecht nicht besorgt. Das Rezept steckte in irgendeiner Tasche, in welcher, vermochte sie im Augenblick nicht zu sagen. Und den Termin heute hatte sie vergessen, redete sie sich ein. In Wahrheit hatte sie sich nicht dazu aufraffen können. Doch das verschwieg sie.

»Mir geht es gut, Oskar«, sagte sie erschöpft. Das Gespräch zog sich jetzt schon in die Länge.

»Das freut mich zu hören.« Zweifel schwangen in Sterns Worten mit, dann breitete sich Schweigen in der Leitung aus. Es war eine Stille, die nicht unangenehm war. Da sie alle durch Edwins Tod viel durchgemacht hatten, war zwischen ihnen in den letzten Wochen so etwas wie Trost im Einfach-da-Sein entstanden. Ohne etwas sagen zu müssen.

»Hast du Lust, mit uns an einem Fall zu arbeiten?«, nahm Stern das Gespräch wieder auf. »Oder … Was ich dich eigentlich fragen will, ist: Bist du schon so weit, dass du arbeiten kannst?«

»Mh …« Grünbrecht überlegte, ob sie das überhaupt wollte. Wieder im Polizeidienst arbeiten.

»Ich dachte, es täte dir vielleicht gut, wenn du mal aus der Wohnung und auf andere Gedanken kommst. Nicht an das denkst, was gewesen ist, sondern den Blick nach vorne richtest. Du weißt, was ich meine«, legte Stern unbeholfen nach.

»Ja, ich weiß, was du meinst«, antwortete Grünbrecht. »Aber ich kann dir nicht sagen, ob ich schon so weit bin.«

»Dann probiere es aus, Mara! Wenn es dir zu viel wird, bringt dich Kolanski nach Hause«, bot Stern ihr die Dienste des Kollegen an, der bestimmt, ohne zu zögern, bereit wäre, ihr zu helfen.

Grünbrecht antwortete nicht.

»Wir fahren gleich nach Bad Kreuzen ins untere Mühlviertel. Ein Jogger hat dort einen Mann tot auf einer Parkbank vor der Kirche gefunden, die Meldung kam eben rein«, erzählte Stern.

»In Bad Kreuzen …«, wiederholte Grünbrecht. »Wie ist er denn gestorben?«

»Das ist noch unklar. Wenn du willst, hole ich dich von zu Hause ab und wir finden es gemeinsam raus.«

Grünbrecht lachte auf. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Hast du inzwischen Fahren gelernt?«

In der Leitung herrschte Stille.

Grünbrecht biss sich auf die Lippen. Sie hatte nicht auf Sterns mangelnden Fahrfähigkeiten herumreiten wollen, dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Sie vergaß manchmal, dass sie alle gerade eine schwere Zeit durchmachten und Stern ihr nur helfen wollte. »Chef, ich hab einen anderen Vorschlag«, sagte sie reuig. »Ich hole dich ab. Ich denke, es würde mir guttun, mal wieder hinterm Steuer zu sitzen.«

»In Ordnung«, antwortete Stern und Grünbrecht glaubte, dass er dabei lächelte. Mit Recht, denn er hatte ihr Interesse geweckt und sie aus ihrer Lethargie gerissen. Und sie hatte es zugelassen, sonst hätte er keine Chance gehabt.

»Wo bist du?«, fragte sie.

»Zu Hause. Ich hab meinen Kaffee erst halb getrunken und muss noch rasch unter die Dusche. In 25 Minuten bin ich fertig.«

Die letzten Tage waren außerordentlich heiß gewesen, der Sommer hatte das Land fest im Griff. Temperaturen zwischen 30 und 35 Grad ließen Menschen und Tiere unter der Hitze stöhnen, von der Vegetation ganz zu schweigen, die vielerorts vertrocknet und dürr war und an südländische Verhältnisse erinnerte. In Grünbrechts Wohnung hatte es sogar morgens schon an die 27 Grad. Selbst in der Nacht kühlte es nicht ab. Da die Gruppeninspektorin selber noch duschen musste, erhob sie gegen Sterns Vorschlag keinen Einspruch. »Ich werde da sein«, sagte sie und legte auf.

2. Kapitel

Grünbrechts BMW hielt vor dem Gebäude in der Herrenstraße, in dem Sterns Wohnung im 2. Stock lag. Die Gruppeninspektorin ließ den Motor laufen.

Der Chefinspektor hatte schon auf sie gewartet und steuerte auf sie zu, das Sakko unter den Arm geklemmt. Gleichzeitig fixierte er Grünbrecht mit seinem Blick wie die Schlange das Kaninchen, weil er wissen wollte, wie es um ihr seelisches Wohlbefinden bestellt war. Sie hatte am Telefon zwar verkündet, dass alles in Ordnung sei, aber das hieß noch lange nicht, dass sie einsatzfähig war. Er öffnete die Beifahrertür und ließ sich neben ihr auf den Sitz fallen.

»Guten Morgen, Mara. Wie …?«

»Mir geht es gut, Oskar!«, unterbrach Grünbrecht ihren Chef und fuhr los. »Das hast du mich schon am Telefon gefragt. Und gestern auch sowie vorgestern und die Tage davor.« Ihre dunkelbraunen Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre haselnussbraunen Augen richteten sich nach vorn auf den Stadtverkehr.

»Ich mache mir halt Sorgen.«

»Ich weiß und das ist lieb von dir. Aber mit mir ist wirklich alles in Ordnung. Und diese Abwechslung tut mir gut, da hast du recht. Danke, dass du mich angerufen hast.« Grünbrecht schaltete in den vierten Gang und jagte die Rudigierstraße in Richtung Mozartkreuzung hinunter, sodass sich Stern am Griff über der Tür festklammerte. An ihrem Stil, ein Auto zu steuern, hatte sich während ihrer Auszeit wegen Mirschers Tod nichts geändert, dachte er und wusste nicht, ob er das als positiv werten sollte.

»Okay, dann ist ja alles gut«, japste er, als sie vor der Mozartkreuzung wegen einer roten Ampel abrupt anhielten und es ihn nach vorn in den Gurt drückte.

»Hast du eine Adresse, wohin wir müssen?«, fragte Grünbrecht. Dabei wippten ihre zusammengebundenen Locken im Nacken fröhlich, als wäre nie etwas Schreckliches passiert.

»Man hat mir gesagt, dass wir das gar nicht verfehlen können. Direkt vor der Kirche in Bad Kreuzen ist eine Parkbank und auf der sitzt der Tote«, wusste Stern.

»Er sitzt?«, wiederholte Grünbrecht und warf einen Blick zu ihrem Chef hinüber. »Bist du dir sicher, dass er nicht liegt oder lümmelt?«

»So wurde es mir gesagt«, erwiderte Stern. »Genaueres weiß ich nicht, aber wir werden es ja bald sehen.«

Die Ampel schaltete auf Grün und Grünbrecht gab Gas. Stern wagte nicht, wegen des zu hohen Tempos, mit dem sie durch die Landeshauptstadt rasten, zu meckern. Immerhin klemmte Grünbrecht bei der nächsten roten Ampel das Blaulicht auf das Autodach und schaltete es ein. Außerdem war es gut möglich, dachte Stern, wenn seine Kollegin weiterhin wie eine Formel-1-Fahrerin den Fuß auf das Gaspedal niedersinken ließ, dass sie dann vor Dominik Weber, dem Gerichtsmediziner, am Einsatzort einlangen würden. Denn auch wenn sich seit dem letzten Fall zwischen Weber und ihm so eine Art Männerfreundschaft entwickelt hatte, war dieser kindische Wettstreit, wer als Erster an einem Tatort eintraf, nicht gänzlich vom Tisch. Die Aussicht, dass er heute gewinnen könnte, ließ ihn die Raserei leichter ertragen.

Die Kriminalbeamten jagten die Bundesstraße 3 bis nach Baumgartenberg hinunter und bogen in Untergassolding Richtung Klam bei Grein ab. Im Seitenfenster zog die Burg Clam an ihnen vorbei, auf der in den Sommermonaten Konzerte mit bekannten Musikern veranstaltet wurden. Soviel Stern wusste, war die Burg nach wie vor bewohnt, dennoch war es möglich, sie zu besichtigen. Er nahm sich vor, mit seinen Enkeln Tobias und Melanie mal einen Ausflug hierher zu machen. Vor allem der zehnjährige Tobias würde sich darüber freuen, da er alles mochte, was mit Rittern und Burgen zu tun hatte. Melanie hingegen würde gelangweilt mit eingestöpselten Kopfhörern hinter ihnen her trotten und auf ihr Handy starren. Die 13-Jährige steckte mitten in der Pubertät, was es oftmals schwer machte, an sie ranzukommen.

Nach weiteren acht Kilometern erreichten sie Bad Kreuzen. Der an die 2.300 Einwohner zählende Ort wartete ebenfalls mit einer Burg auf, die umgeben von einer imposanten Mauer auf einer Anhöhe ein wenig außerhalb des Zentrums lag.

»Wusstest du, dass es im Mühlviertel an die 40 Burgen, Schlösser und Ruinen gibt?«, fragte Stern seine Kollegin, als sie die letzte Anhöhe hinauffuhren und der Kirchturm der Marktgemeinde bereits gut zu sehen war. Dorthin mussten sie, das war ihr Einsatzort.

»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete Grünbrecht, bog nach links ab, lenkte den Wagen viel zu schnell durch die schmale Straße und nahm bei der nächsten Kreuzung die rechte Abzweigung.

»Ja, und eine davon ist in Bad Kreuzen. Wir sind vorhin an der Zufahrt vorbeigefahren …«

»Schön«, antwortete Grünbrecht knapp.

Aufgrund einer Ansammlung von Menschen und der hiesigen Polizei, die den Bereich um den Leichenfundort zwischenzeitlich abgesperrt hatte, wussten sie, dass sie hier richtig waren. Direkt vor der Kirche stellte die Gruppeninspektorin den BMW ab.

Stern, der während der Fahrt mehrmals versucht hatte, mit Grünbrecht ein Gespräch zu führen, das nichts mit Edwin Mirschers Tod zu tun hatte, war froh, am Ziel angelangt zu sein. Es fiel ihm nicht leicht, bedeutungslose Konversation zu treiben, aber er hatte Grünbrecht auf andere Gedanken bringen wollen. Die Inspektorin ließ sich jedoch nicht in die Karten schauen, ob ihm das gelungen war. Sie stieg aus und steuerte auf das Gotteshaus zu. Davor stand besagte Parkbank, auf der eine leicht nach hinten gelehnte Gestalt mit gesenktem Haupt saß.

Stern folgte Grünbrecht und blickte sich um, von Dominik Weber war nichts zu sehen. Kurz freute er sich darüber, doch dann wurde ihm schmerzlich bewusst, dass dies der erste Mordfall ohne Edwin Mirscher war. Der Kollege, der Mirscher nachfolgte, war noch dabei, seine Wohnung in Linz zu beziehen, und würde erst morgen zum Team stoßen. Bei diesem Gedanken legte sich eine Schwere auf Sterns Gemüt, die er in den letzten Wochen oftmals gespürt hatte. Wie musste es da erst Grünbrecht gehen, schoss es ihm durch den Kopf und er blickte zu ihr hinüber. Würde es ihr nicht vorkommen, als nähme der neue Kollege Mirschers Platz ein? Und er hatte sie vorhin gefragt, ob sie wisse, wie viele Burgen und Schlösser es im Mühlviertel gebe. Jetzt fühlte er sich wie ein unsensibler Vollidiot.

»Wer ist der Tote?«, fragte er den Uniformierten, der neben der Leiche Position bezogen hatte und aufpasste, dass ihr niemand zu nahe kam und etwaige Spuren vernichtete. Währenddessen stellten Kollegen eine mobile Sichtschutzwand auf, damit der Tote nicht von Neugierigen begafft werden konnte.

»Roland Petrovsky«, antwortete der Polizist. »Er ist in Bad Kreuzen für die Werbung und den Tourismus zuständig. Neben seiner Tätigkeit in der Gemeinde betreibt er eine Werbeagentur im Ort und betreut Persönlichkeiten aus Sport und Wirtschaft aus ganz Österreich.«

»War er erfolgreich?« Stern witterte das erste mögliche Motiv. Wenn es Petrovsky gelungen war, eine Person aussichtsreich am Markt zu positionieren, bedeutete das unter Umständen, dass jemand anders in deren Schatten gestanden hatte. Jemand, der die zweite Geige hatte spielen müssen.

»Angeblich war keiner besser als er«, berichtete der Uniformierte, was sich die Leute erzählten.

»Wer hat ihn gefunden?«, wollte Grünbrecht wissen.

»Ein Jogger. Als er seine Runde gelaufen und bei der Kirche vorbeigekommen ist, hat er ihn gegrüßt, aber Petrovsky hat nicht geantwortet. Das hat ihn stutzig gemacht, weil Petrovsky sonst immer freundlich reagiert, wenn sie sich begegnen. Deshalb ist er stehen geblieben und hat nachgesehen.« Der Polizist deutete auf einen Mann, dessen Kleidung ihn als besagten Finder verriet. Kurze Hose, Laufschuhe, verschwitztes Shirt. Mit verschränkten Armen stand er im Schatten eines Baumes und schaute zu ihnen herüber.

Stern war es ein Rätsel, wie jemand bei solchen Temperaturen freiwillig Sport betreiben konnte, und sagte: »Demnach kann er uns nicht helfen. Nehmt seine Daten trotzdem auf, falls sich Fragen ergeben. Ansonsten kann er weiterlaufen.« Anschließend blickte er sich um. Neben der Parkbank entdeckte er Erbrochenes. Entweder hatte es in der Nacht jemand zu bunt getrieben oder der Tote hatte sich übergeben. Um den richtigen Schluss ziehen zu können, müsste Stern jedoch die Todesursache kennen. »Wo bleibt Weber eigentlich so lange?«

»Ist bestimmt auf dem Weg hierher«, antwortete die Gruppeninspektorin.

»Dann schauen wir uns die Leiche halt selber mal an.« Stern beugte sich nach vorn, um dem Sitzenden ins Gesicht zu sehen. Dessen Augen waren starr zu Boden gerichtet. Zweifelsohne war der Mann tot, um das zu erkennen, brauchte er keinen Gerichtsmediziner. Aber der Chefinspektor machte keine Wunde aus, die für den Tod verantwortlich sein könnte. Weder war der Mann erschossen noch erstochen worden. Möglicherweise war er einem Herzinfarkt erlegen, die Hitze der letzten Tage hatte schon viele Todesopfer gefordert. Bei derart hohen Temperaturen war Kreislaufversagen nichts Ungewöhnliches. Oder der Tod war eingetreten, weil das Opfer krank gewesen war, vielleicht Krebs im Endstadium gehabt hatte. Um das festzustellen, bedurfte es nun doch der Expertise des Gerichtsmediziners.

»Dass der Sensenmann einen ausgerechnet auf der Parkbank vor der Kirche holt, ist wirklich ein makabrer Zufall«, sagte Stern mit Blick auf das vierjochige spätgotische Bauwerk, neben dem sie sich befanden.

»Aber nicht unmöglich«, erwiderte Grünbrecht.

»Der Weg zur Kirche ist dann schon mal ein kurzer, wenngleich der Verstorbene noch ein paar Umwege einlegen muss, um tatsächlich dorthin zu gelangen. Ich bin mir sicher, dass Weber ihn in der Gerichtsmedizin …« Stern wurde vom Aufheulen eines Motors unterbrochen. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der der Lärm zu ihnen drang.

Zwischen den Häusern tauchte der Wagen des Gerichtsmediziners auf und scheuchte die Menschen, die sich vor der Kirche versammelt hatten, zur Seite. Mit blockierenden Rädern hielt er vor dem Absperrband, der Motor erstarb. Die Fahrertür wurde aufgerissen und Weber sprang aus dem Auto. Als er den Chefinspektor bemerkte, erlahmten seine hektischen Bewegungen und seine Gesichtszüge erschlafften.

»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte Stern und freute sich innerlich. Immerhin hatte er diesen kindischen Wettbewerb zwischen ihnen beiden, wer als Erster am Tatort war, gewonnen. »Na, auch schon da?«, konnte er sich eine Stichelei nicht verkneifen.

»Ich bin gefahren wie der Teufel, als die Meldung von dem Toten einging. Dass du bereits da bist, Oskar, kann eigentlich nur eines bedeuteten …«, kombinierte Weber scharfsinnig und ließ den Satz vorerst offen. Lächelnd ging er an Stern vorbei.

»Ja? Was denn?« Der Chefinspektor sah ihm enttäuscht hinterher, da sich der Gerichtsmediziner nicht zu ärgern schien.

»Dass Grünbrecht gefahren ist!« Dominik Weber umarmte die Gruppeninspektorin. »Mara, schön, dich zu sehen.« Er wusste, dass Grünbrecht seit Mirschers Tod nicht im Dienst gewesen war und dies heute ihr erster Einsatz sein würde. Alle im Team wussten es.

»Schön, wieder hier zu sein«, antwortete Grünbrecht.

Daraufhin wandte sich der Gerichtsmediziner der Leiche auf der Parkbank zu. »Na, was haben wir denn?« Geräuschvoll ließ er den Koffer aufschnappen, zog Thermometer, Diktiergerät und Handschuhe heraus und streifte Letztere über. Vor dem Toten ging er in die Knie. »Es ist ungewöhnlich, dass er in dieser Position gestorben ist. Sitzend, das hatte ich noch nie.«

»Hätte er nicht umkippen müssen?«, wollte Stern wissen, denn auch ihm mutete die Haltung des Toten seltsam an. Als hielte er bloß ein Nickerchen auf der Bank.

»Normalerweise ist das so. Aber in diesem Fall war der Körper wohl im Gleichgewicht, als das Leben aus ihm gewichen ist.«

»Kannst du uns sagen, ob er eines natürlichen Todes gestorben ist?«, fragte Stern. »Herzinfarkt oder Kreislaufversagen? Wenn dem so ist, können wir zusammenpacken und nach Hause fahren. Dann ist das kein Fall für die Kriminalpolizei, sondern einer für den örtlichen Bestatter.«

»Es könnte schon ein Herzinfarkt gewesen sein«, murmelte Weber, während er den Hemdkragen des Opfers zur Seite drückte und den Hals betrachtete, um ihn auf Würgemale zu überprüfen. Anschließend suchte er den Torso nach augenscheinlichen Verletzungen ab. »Vielleicht hat auch etwas anderes zum Tod geführt.« Weber stand auf und wies auf das Erbrochene neben der Parkbank. »Das zum Beispiel könnte, wenn es vom Toten stammt, ein Hinweis auf eine Vergiftung sein.«

»Die Spusi soll das eintüten und im Labor untersuchen lassen«, sagte Stern zu Grünbrecht und deutete auf die halbverdauten Speisereste, die ihm auch schon aufgefallen waren.

»Ja, möglichst viel davon«, verlangte Weber. »Sollte er oral Gift aufgenommen haben, befinden sich in dem Erbrochenen gewiss Reste von dem Toxin, das er geschluckt hat. Freiwillig oder durch Fremdeinwirkung sei mal dahingestellt.«

»Wer vergiftet sich denn selbst?«, entgegnete Stern. »Das ist doch ein äußerst schmerzhafter Tod.«

»Nicht alle Gifte lassen einen elendig krepieren. Es gibt welche, da schläfst du seelenruhig ein und bekommst gar nicht mit, dass es mit dir zu Ende geht. Manche Tabletten zum Beispiel«, dozierte Weber.

»Wenn er Tabletten geschluckt hat, ist es Selbstmord und kein Fall für uns«, brummte Stern.

»So schnell lass ich euch nicht vom Haken«, erwiderte Weber und untersuchte den Toten weiter. »Vielleicht wurde ihm etwas injiziert? In diesem Fall finde ich Einstichwunden, und dann ist es auf alle Fälle Mord.«

»Also kein Herzinfarkt?« Stern wischte sich über seine feuchte Stirn, da die Temperaturen rasant zulegten. Es würde wieder ein heißer Tag werden, und er sehnte sich nach den klimatisierten Räumlichkeiten des Landeskriminalamtes in Linz in der Nietzschestraße.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist«, ließ Weber verlauten. Sein Gesicht war jetzt jenem des Opfers so nahe, dass dessen Poren wie Krateröffnungen wirken mussten. »Ob er freiwillig Gift genommen hat, kann ich zwar nicht sagen …«

»Das wäre ja auch zu schön gewesen«, murmelte Stern.

»… aber die Haut des Toten spricht meines Erachtens sehr dafür, dass er durch Gift gestorben ist. Sie ist blass bis fahl und leicht marmoriert«, redete Weber weiter, stand auf und zog die Handschuhe aus. »Sobald ich ihn obduziert und ein paar Tests gemacht habe, wissen wir mehr.«

Damit schmolz Sterns Hoffnung, schnell ins klimatisierte Landeskriminalamt zurückfahren zu können, gänzlich dahin wie ein Eislutscher in der Hand eines Kindes im Hochsommer. »Todeszeitpunkt?«

»Irgendwann in der zweiten Nachthälfte«, meinte Weber. »Die Totenstarre hat bei den Augenlidern, den kleinen Gelenken, dem Hals und im Nacken bereits eingesetzt. Ich würde sage, dass der Zeitpunkt des Dahinscheidens zwischen vier und sechs Stunden her ist.«

»Wo ist eigentlich Kolanski?«, fragte Stern und wischte dieses Mal mit einem Taschentuch über seine Stirn.

»Ich ruf ihn an.« Grünbrecht wählte die Nummer des Kollegen.

»In Bad Kreuzen gibt es eine wunderbare Schlucht, die Wolfsschlucht, kennt ihr die? Dort kann man natürlich kneippen.« Weber ließ seinen Koffer zuschnappen. Er war mit der Vorortbeschau fertig. »Und da ich schon mal hier bin, werde ich dort hinfahren und mich ein bisschen abkühlen. Bei dieser Hitze ist es das Beste, was man tun kann. Ich brauche unbedingt ein paar Minuten Auszeit, bevor ich …«

»Das glaube ich jetzt nicht«, blaffte Stern den Gerichtsmediziner an. Wenn er sich in dieser Affenhitze abmühen musste, konnte Weber doch nicht so zeitig in der Früh schon Feierabend machen!

»Wieso nicht? Er ist ohnehin tot. Und Tote laufen nicht weg«, antwortete Weber gekränkt. »Bis der in der Gerichtsmedizin ist, bin ich längst …«

»Aber Täter tun es! Täter flüchten über alle Berge, wenn wir nicht schnell sind«, rief Stern aufgebracht, verstummte dann jedoch, weil ihnen die Umstehenden neugierige Blicke zuwarfen. Mittlerweile hatten sich etliche Schaulustige rund um den Fundort der Leiche versammelt. Sogar Reporter mit Kameras und Aufnahmegeräten standen hinter der Absperrung und hofften sicherlich darauf, Fotos von dem Toten machen zu können oder zumindest einen Kommentar von einem der Polizisten zu erhalten. »Ich will so schnell wie möglich wissen, ob unser Opfer tatsächlich vergiftet wurde, und wenn ja, durch welches Gift der Mann gestorben ist«, redete Stern mit gesenkter Stimme weiter.

Weber griff nach seinem Koffer und verließ wortlos den Platz vor der Kirche.

»Ich meine …« Stern war für einen Augenblick sprachlos. »In diese Wolfsschlucht kannst du später ja auch noch gehen!«, rief er dem Gerichtsmediziner hinterher, bemüht, dadurch die Wogen zu glätten. Dass Weber eingeschnappt war und nicht mehr mit ihm redete, hatte er natürlich nicht gewollt. Aber eigentlich hatte er nicht darüber nachgedacht. Vielleicht hätte er nicht so harsch reagieren sollen, allein schon deswegen, weil Edwin Mirscher nicht mehr bei der Aufklärung ihrer Fälle mithelfen würde, was jeder im Team verkraften musste, auch Weber.

Doch der Gerichtsmediziner ging ohne zu reagieren weiter, sperrte seinen Wagen auf, setzte sich hinein und ließ sämtliche Fenster nach unten gleiten, damit die aufgeheizte Luft entweichen konnte. Danach legte er den Rückwärtsgang ein, fuhr ein Stück zurück und entschwand aus Sterns Sichtfeld. Ihre Männerfreundschaft wurde wohl gerade auf die erste Probe gestellt.

»Der ist mächtig sauer auf dich«, fasste es Grünbrecht zusammen.

Stern brummte und nahm sich vor, sich später bei Weber zu entschuldigen. Er hätte ihn nicht wie einen dummen Schuljungen zurechtweisen sollen, das tat ihm jetzt leid.

»Kolanski ist gleich hier. Er war joggen, als die Nachricht über den Fall einging«, erklärte Grünbrecht ihrem Chef, warum der Kollege bislang nicht am Tatort erschienen war.

»Noch einer, der bei der Hitze freiwillig Sport macht«, erwiderte Stern, dem der Schweiß literweise aus den Poren schoss, wenn er nur daran dachte. Extrabewegung bei solchen Temperaturen kam für ihn nicht infrage. Viel lieber saß er in einem Gastgarten und trank ein kühles Bier. Das war seine Vorstellung von Aktivität bei einer derart unerträglichen Hitze.

»So ist Kolanski eben«, meinte Grünbrecht.

»Ja, so ist er.« Stern fragte sich, wie sich Kolanski mit dem neuen Kollegen wohl verstehen würde. Martin Heinze hieß dieser, und Stern hatte ihm, obwohl er offiziell erst morgen seinen Dienst antrat, wegen des Toten in Bad Kreuzen vor ihrer Abfahrt in Linz eine Nachricht geschickt. Er hatte gedacht, dass es nicht schaden konnte, wenn Heinze vorgewarnt war, dass ihn bereits an seinem ersten Arbeitstag im Landeskriminalamt Oberösterreich ein Mordfall erwartete.