Mühlviertler Todesstoß - Eva Reichl - E-Book

Mühlviertler Todesstoß E-Book

Eva Reichl

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Beschreibung

Ein Mord ohne klare Spur, eine Familie voller Geheimnisse, ein Unternehmer mit mächtigen Feinden. Als Jakob Grünwald auf Schloss Weinberg erstochen wird, beginnt für Chefinspektor Oskar Stern die mühsame Suche nach dem Täter. Viele profitieren von Grünwalds Tod. Seine Familie kämpft um die Nachfolge seines Unternehmens, während Konkurrenten auf eine Gelegenheit gewartet haben, ihn aus dem Weg zu räumen. Zudem war er in zweiter Ehe mit einer Frau verheiratet, die so alt ist wie seine Kinder und die ihnen ein Dorn im Auge ist. Oskar Stern folgt den Spuren eines eiskalt geplanten Verbrechens, doch der Täter ist ihm immer einen Schritt voraus.

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Eva Reichl

Mühlviertler Todesstoß

Kriminalroman

Zum Buch

Zugestochen Jakob Grünwald, Geschäftsführer der Grünwald Ofen GmbH, wird auf Schloss Weinberg ermordet. Durch die hohe Anzahl an Besuchern vor Ort gibt es viele Spuren und genauso viele Verdächtige. Aber auch jemand aus der Familie des Toten könnte der Täter sein. Seine beiden Kinder streiten sich um die Übernahme der lukrativen Firma. Zudem war er in zweiter Ehe mit einer Frau verheiratet, die so alt ist wie seine Kinder, und mit seiner Ex war er bis zuletzt eng befreundet. Ist Eifersucht das Mordmotiv? Oder konnten es die Kinder nicht erwarten, endlich das Erbe anzutreten? Außerdem wollte ein Konkurrent Grünwald seine Firma abkaufen, was dieser ablehnte. Hat er dem Firmeninhaber den finalen Todesstoß versetzt, um ihn loszuwerden? Verdächtige verwickeln sich in Widersprüche. Doch wer hatte wirklich ein Motiv? Ging es um Geld, um Eifersucht oder um einen Firmenkrieg? Während Chefinspektor Oskar Stern die komplexen Beziehungen des Opfers durchleuchtet, deckt er Verbindungen auf, die weit über die Landesgrenzen hinausreichen.

Eva Reichl wurde in Oberösterreich geboren und lebt mit ihrer Familie im Mühlviertel. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft für kreative Ausdrucksformen und hat vieles ausprobiert. Glas- und Materialkunst, Malen. Geblieben ist das Schreiben, da Worte kraftvoll sind und eigene Welten erschaffen können. Mit ihrer Mühlviertler Krimiserie mit Chefinspektor Oskar Stern und den Thrillern rund um Diana Heller verwandelt sie ihre Heimat in einen Tatort. Im Jahr 2025 startet Reichl eine neue Krimiserie mit Chefinspektorin Lotta Meinich und ihrem Vater Gustav, einem Chefinspektor im Ruhestand, und weitete damit ihr mörderisches Schaffen auf ganz Oberösterreich aus.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Eva Reichl

ISBN 978-3-7349-3326-4

Widmung

Für meine Familie

1. Kapitel

Die Klänge von »O Tannenbaum« hallten vom Turm des Schlosses Weinberg in Kefermarkt in alle Himmelsrichtungen. Die um 1600 ausgebaute und umgestaltete mittelalterliche Burg zählte mit dem charakteristischen Mittelturm und der Ringmauer zu den beeindruckendsten Renaissanceschlössern in Oberösterreich. Für drei Tage im Advent beherbergten die geschichtsträchtigen Mauern einen der schönsten Kunsthandwerksmärkte von Österreich, der zugleich einer der stimmungsvollsten des ganzen Landes war.

Die Turmbläser gaben ihr Bestes und verbreiteten eine vorweihnachtliche Atmosphäre. Die Gestalt, die zielstrebig den Berg hinaufging, hörte sie schon von Weitem. Den kostenlosen Shuttlebus vom Parkplatz nahe dem Bahnhof zum Weinberger Schloss Advent hatte sie nicht nehmen wollen, um niemandem im Gedächtnis zu bleiben. Keiner sollte sich an sie erinnern. Und zwischen den Wohnhäusern des Weinberges war genügend Platz, um unerkannt zum Schloss zu gelangen. Kein Gedränge, kein Gezerre.

Oben angekommen, begegneten der Person zahlreiche fröhliche Menschen, die von nah und fern angereist waren, um das festliche Treiben zu bestaunen und den Klängen der Musik zu lauschen. Wie Ameisen strömten sie herbei und bildeten auf dem kulinarischen Standlmarkt vor dem Schloss rund um den Teich kleine Grüppchen oder stellten sich an für eine der Köstlichkeiten. Manche genossen das Rehbeuschel von der hiesigen Jägerschaft, andere die Pofesen der Goldhaubengruppe oder die traditionellen Bratwürsteln mit Sauerkraut.

Die Gestalt stahl sich unauffällig an den Essensständen vorbei, obwohl sie gerne einen Happen zu sich genommen hätte. Doch sie wusste nicht, ob sie alles bei sich behalten könnte, wenn es später so weit war. Wenn sie ihre Mission erfüllte. Deshalb verzichtete sie auf Speis und Trank und ging den Teich entlang zu den Einlässen. Dort kaufte sie sich eine Tageskarte für den Kunsthandwerksmarkt und trat auf die Brücke, die wie eine herausgestreckte Zunge in das Renaissanceschloss führte. Dabei achtete sie darauf, dass sie auf keinem der Fotos zu sehen war, die die Besucher von der Brücke in Richtung des Rundbogeneingangs schossen. Auch der Schlitten gleich nach dem Tor war ein beliebtes Fotomotiv. Sobald ein Handy gezückt wurde und sich die Menschen in Pose warfen, kehrte sie ihnen den Rücken zu.

Endlich erreichte sie den inneren Burgring. Ausgelassenes Gerede schwappte an ihr Ohr, und so manche Wortfetzen drangen bis in ihr Bewusstsein vor. »Familienfeier …«, »Geschenke …«, »Weihnachtswünsche …«. Womit sich die Leute zur angeblich besinnlichen Jahreszeit herumplagten, interessierte die Gestalt nicht. Sie hielt Ausschau nach der Zielperson und drängte sich durch die Besuchermenge, die Hände frierend in die Taschen gesteckt. Handschuhe hatte sie nicht mitgenommen, das war unbedacht gewesen. Zu sehr hatte sie sich mit dem beschäftigt, was auf dem Weinberger Schloss Advent passieren sollte. Ein Schal hielt ihren Hals und den Kopf warm. Sie hatte ihn sich tief in die Stirn gezogen, was nicht nur der Kälte geschuldet war. Ihr Gesicht sollte vor den Blicken der Menschen verborgen bleiben.

Der Duft von Bauernkrapfen und ofenfrischen Nuss- und Topfenkipferln wehte durch den gepflasterten Gang, der rund um den Mittelturm verlief, er verführte zum Konsum an den Genussstandln. Je mehr gegessen und getrunken wurde, umso zufriedener waren die Gäste und selbstverständlich die Verkäufer. Gewiss drang der verführerische Geruch auch bis in das Schloss vor, in dessen Räumen mehr als hundert Kunsthandwerker ihre Waren zum Verkauf anboten. Das hatte die Gestalt erfahren, als sie sich auf den heutigen Tag vorbereitet hatte, ebenso dass manche Aussteller in »Lebenden Werkstätten« ihr Können zeigten.

Der Weinberger Schloss Advent war weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, auch das wusste die Person, die wie ein Tiger auf der Jagd durch das Schloss schlich und das Revier erkundete. Die vielen Besucher aus allen Teilen des Landes und dem nahen Ausland waren die perfekte Ablenkung für ihr Vorhaben. Sie alle hatten nur ein Ziel: eine vergnügliche Zeit zu verbringen. Und ein angenehmer Nebeneffekt war, dass es auf einen Schlag viele Verdächtige geben würde. Die Polizei würde der Menschenmenge nicht Herr werden und schlampig agieren. Bevor die verstand, was los war, wäre die Person längst wieder weg.

Langsam stieg sie in den Turm hinauf, um sich dort umzuschauen. Stände mit Schmuck, Kleidung, Kerzen und Christbaumkugeln lockten beidseitig in die hohen Räume, dazwischen schoben sich Marktbesucher hindurch. Bei dem Rundgang im ersten Stock wurde die Gestalt nicht fündig. Keine Spur von dem Mann, den sie suchte. Also folgte sie der Steintreppe in die nächste Etage. Dort erwartete sie das gleiche Schauspiel. Stände mit Kunsthandwerk. Freundliche Blicke, die sie nicht erwiderte. Gut gelaunte Menschen, die ihr den letzten Nerv raubten. Im Rittersaal fand hinter verschlossenen Türen ein volkstümliches Konzert statt, die Klänge von Zither und Ziehharmonika drangen gedämpft durch das dicke Holz der Pforte. Auf einem Plakat wurde darauf hingewiesen, dass Kindern irgendwo im Schloss eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen wurde.

Die Person überfiel Panik. Die vielen Menschen waren ihr ein Gräuel. Von überall kamen sie her. Aus ihren Löchern krochen sie, um sich zu vergnügen. Sie selbst liebte die Einsamkeit, mied Menschenansammlungen dieser Art. Doch für das, was sie zu tun gedachte, waren sie ihr nützlich. Also musste sie sich beruhigen. Sie atmete tief ein und aus. Lockerte den Schal um Hals und Kopf, weil sie Angst hatte, nicht genügend Luft zu bekommen.

Was sie vorhatte, hatte rein gar nichts mit der Glorie und dem Glanz von Weihnachten zu tun, mit der Geburt eines Menschen. Nein, ihr ging es um den Tod.

Das Geld lockte. Verführte sie. Duftete wie die Kekse und das Windgebäck an den Standln. Der Gedanke daran senkte ihren Herzschlag und brachte sie wieder zur Besinnung. Ihr Blick scannte die Umgebung. Auch hier war der Mann nicht. Aber er hielt sich auf dem Schlossgelände auf, da war sie sich sicher.

Jemand rempelte sie an. Ein Kind, und noch eines. Sie scherten sich nicht um die anderen, sondern schlüpften zwischen den Mänteln und Jacken hindurch. Spielten Fangen. Kamen erneut auf die Gestalt zu. Berührten sie an der Seite, umrundeten sie. Lachten.

Schweiß drang aus den Poren der Person. Es kam ihr vor, als bewegten sich die Wände auf sie zu. Sie musste von hier weg. Die Kinder, die vielen Adventmarktbesucher … zu nah kamen sie ihr – Menschen und Wände. Alle!

Die Gestalt lief die Treppe des Turms hinunter und wurde dabei mehrmals von Flanierenden aufgehalten, die ihr wegen ihrer Drängelei ungehaltene Blicke zuwarfen. Ihr Ansinnen, nicht aufzufallen, warf sie für einen Augenblick über Bord. Unten angekommen, trat sie in den Burgring hinaus, wo kalte Luft sie empfing. Und Hunderte Menschen.

Die eisigen Temperaturen trugen dazu bei, dass sie sich beruhigte und bald wieder unter Kontrolle hatte. Die Panikattacke flaute ab. Eine Weile stand sie neben dem Eingang des Turms und blickte zu einem Standl mit Maroni hinüber. Der Geruch weckte Erinnerungen in ihr. Als Kind hatte sie Edelkastanien geliebt, die ihre Mutter im Ofen für sie gebacken hatte.

Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, die Tat in diesem Umfeld auszuführen?

Was, wenn etwas schieflief? Die Menschenansammlung machte der Person zweifelsohne zu schaffen, das hatte sie zu wenig berücksichtigt. Sie hatte geglaubt, sie hätte es im Griff.

Was, wenn sie im letzten Augenblick kniff?

Oder wenn jemandem auffiel, was sie vorhatte?

Die Gestalt streckte den Rücken durch und schaute sich um. Niemand beobachtete sie. Keiner schenkte ihr Beachtung. Sie atmete mehrmals tief durch …

Alles war gut, sie war wieder auf Spur.

Die Suche ging weiter.

Sie richtete ihren Schal und drängte sich bei der nächsten Tür in das Schloss. Beinahe wäre sie über die Schwelle gestolpert. Sie musste besser aufpassen, schalt sie sich selbst und schob sich mit den anderen Adventmarktbesuchern durch die Ausstellungsräume. Dazwischen drang das Trompeten der Turmbläser von draußen an ihr Ohr. »Stille Nacht, heilige Nacht.« Der Höhepunkt aller Weihnachtslieder.

Und auch die Gestalt würde heute einen Höhepunkt erleben. Sie würde töten, etwas Größeres gab es im Leben eines Menschen nicht, war sie überzeugt.

Etwas Vergleichbares, das einem die Macht über Leben und Tod verlieh.

Etwas, das einen selbst unsterblich machte.

Die Person verließ die überfüllten Räume und stieg eine Treppe hinab. Bemühte sich, langsam zu gehen und Interesse an den angebotenen Kunstwerken zu zeigen, damit ihre Ungeduld nicht auffiel. Damit sie eine von vielen blieb. Sie schlenderte vorbei an gedrechselten Christbäumen, Keramikfiguren und mit Lavendel gefüllten Pölsterchen. Schmuck aus Horn und Draht. Kerzen aus Bienenwachs. Figuren aus rostigem Metall.

Ob sie zur Tarnung etwas kaufen sollte?

Viele Besucher hielten Papiersackerl oder Gegenstände, die in den Taschen keinen Platz fanden, in Händen. Eine Frau mit einer Kerze aus Holz, die sie eben an einem Stand erworben hatte, bat die Gestalt, ihr die Tasche aufzuhalten, damit sie die Kerze hineingleiten lassen konnte. Das war nicht gut, weil die Begegnung Nähe herbeiführte und Erinnerungen schaffte. Freundlich, um nicht mehr aufzufallen als notwendig, kam die Person der Bitte nach. Es gelang ihr sogar, die Frau anzulächeln.

Im Schutz der Menge, die die Gestalt wieder mit Anonymität beschenkte, stieg sie die alten Stufen des Schlosses in die nächste Etage hoch. Dort waren noch mehr Verkaufsstände und noch mehr Menschen. Die Holzdielen ächzten unter den Füßen der Menge, doch der von ihr Gesuchte befand sich nicht darunter.

In der barocken Schlosskapelle beruhigte sich das Treiben ein wenig, wurde leiser. Nur wenige Besucher hatten sich in dem im Jahr 1635 errichteten Ort des Glaubens eingefunden. Da das, was die Gestalt plante, vor jedem Gott eine Sünde war, durchschritt sie die Kapelle schneller, wobei sie sich einredete, dass manche Individuen es durchaus verdient hatten, nicht mehr auf der Erde zu wandeln. Recht und Gerechtigkeit waren oftmals nicht dasselbe.

Und spielte sie selbst nicht auch ein wenig Gott, wenn sie jemandem das Leben entriss?

Als die Gestalt aus der Kapelle trat, entdeckte sie die Zielperson.

Endlich!

Vielleicht war das ein göttliches Zeichen …

Die Person verbarg sich hinter einer Gruppe Pärchen. Keine gute Wahl, denn einer der Männer hatte zu viel Glühwein oder Punsch getrunken. Er redete sehr laut, was Aufmerksamkeit auf sich zog. Um dem zu entkommen, schlängelte sie sich durch die Flanierenden, bis sie genügend Distanz zwischen sich und den auffälligen Mann gebracht hatte. Von ihrer neuen Position aus beobachtete sie den Gesuchten, der sich mit einer Verkäuferin von Holzspielzeug und Dekogegenständen für Wohnung und Garten unterhielt. Die Frau lachte übertrieben gekünstelt.

Daneben drechselte ein Mann einen Christbaum aus hellem Holz. Argwöhnisch blinzelte er die miteinander Schäkernden an und wägte wahrscheinlich ab, ob es besser war, den Mund zu halten oder sich einzumischen. Dieses Verhalten verriet ihn als Partner der Frau, dachte die Gestalt und glaubte, in seinen Augen Wut aufblitzen zu sehen.

Das war gut, sehr gut sogar!

Mit etwas Glück würde sich einer der Umstehenden daran erinnern und ihn damit zum ersten Verdächtigen küren.

Die Zielperson zog weiter. Der Jäger folgte seiner Beute. Noch war sie nicht erlegt, aber die Gewissheit, dass es heute passieren musste, verspürte er so stark wie nie zuvor.

An dem Stand mit den Holzfiguren blieb die Person stehen und kaufte einen besonders stark zugespitzten Tannenbaum, der genau in diesem Augenblick zur Tatwaffe bestimmt wurde.

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Gestalt aus, und ein erregter Schauer lief ihren Rücken hinab. Adrenalin schoss pulsierend durch ihre Adern und half ihr, die vielen Menschen um sich herum völlig auszublenden und sich auf das zu konzentrieren, was wichtig war. So fühlte es sich an, wenn man zu den Siegern gehörte.

Sie steckte den hölzernen Tannenbaum in die Jackentasche, das glatte Holz mit den Fingern befühlend, und stellte sich vor, wie der Weihnachtsbaum zwischen den Rippen des Mannes, auf dessen Fährte sie sich wieder heftete, in den Körper eindrang und das Herz durchbohrte. Wie dieses noch ein paarmal schlug und Blut durch das Loch nach draußen pumpte. Der Verletzte würde zusammenbrechen und binnen Augenblicken sterben.

Die Gestalt wartete nur noch auf den richtigen Moment.

2. Kapitel

Die Gläser klirrten. Chefinspektor Oskar Stern saß Silvia Burgstaller im Schlosscafe in Linz gegenüber und schaute ihr in die Augen. »Zum Wohl!«, sagte er und nahm zufrieden einen Schluck Rotwein.

»Cheers!« Silvia prostete ihm zu. »Schön, dass wir einen Tisch bekommen haben. Im Advent ist das gar net so leicht, weil alle ihre Weihnachtsfeiern abhalten.«

Am Nachbartisch feierte eine Gruppe Männer und Frauen, die von einem IT-Unternehmen zu sein schienen – ihre lautstarken Gespräche drehten sich um Programmcodes und Server, um VR und 3D. Sie machten einen betrunkenen Eindruck. Bestimmt war das so eine Weihnachtsfeier, wie Silvia sie gerade angesprochen hatte. Stern hoffte, dass sich die Gruppe, wenn sie mit dem Essen fertig war, in die Linzer Altstadt verziehen würde, um dort die Bars zu überfüllen. Oder dass sie auf einen Punsch zu einem der Stände auf dem Christkindlmarkt auf dem Hauptplatz gehen würde. Dann würde es hier ruhiger werden und er könnte die vorweihnachtliche Stimmung in angenehmer Atmosphäre mit Silvia noch mehr genießen.

»Da hast du recht. Und ich hab dafür nicht einmal meinen Dienstausweis herzeigen müssen.« Stern lächelte Silvia an. Dass ihm mit dieser Frau ein zweites Glück vergönnt war, konnte er immer noch nicht glauben. Manchmal fühlte er sich wie ein verliebter Teenager. So wie jetzt, wo er es kaum erwarten konnte, dass sie zu ihm in die Wohnung in die Herrenstraße gingen. Das Hauptgericht hatten sie bereits zu sich genommen – beide hatten ein gegrilltes Lammkotelett mit reichlich Zuspeisen auf Empfehlung des Hauses gewählt –, nun legten sie eine Pause ein, damit im Magen genügend Platz geschaffen wurde, um den Besuch im Schlosscafe mit etwas Süßem abzurunden. Danach würden sie aufbrechen. Zu Fuß, um noch ein wenig die Adventsstimmung in der Stadt zu genießen. Linz war festlich geschmückt und mit Millionen Lichtern hell erleuchtet.

»Deine Dienstwaffe wäre noch wirkungsvoller g’wesen«, sagte Silvia schmunzelnd und nahm einen weiteren Schluck Zweigelt aus dem Burgenland.

»Und auch damit hast du recht«, pflichtete Stern ihr bei. Er mochte den Humor seiner Begleiterin, immer wieder brachte sie ihn zum Lachen. Bevor er ihr begegnet war – und nach der Scheidung von seiner Ex-Frau Franziska – hatte er gedacht, er würde einmal als einsamer Grantler sterben. Offenbar hatte das Schicksal so ein Ende für ihn nicht vorgesehen. Dafür war er sehr dankbar.

»Bist du schon für die Nachspeise bereit?«, fragte Silvia.

»Ich bin immer für eine Nachspeise bereit«, erwiderte Stern zweideutig.

Silvia lachte. »Ich nehme den hausg’machten Kuchen«, sagte sie, seine Anspielung ignorierend.

»Dem schließe ich mich an.« Stern wusste, dass er damit nichts falsch machen konnte. Seine Begleitung hatte ein gutes Gespür für ausgezeichnete Desserts, die auch ihm schmeckten.

»Wie geht es Melanie und Tobias?«, erkundigte sich Silvia nach Sterns Enkelkindern.

Der Chefinspektor seufzte und ließ sich einen Moment mit einer Antwort Zeit.

»So schlimm?« Silvia ergriff über den Tisch hinweg seine Hand.

Stern nickte theatralisch.

»Was ist passiert?«

»So, wie sich Tobias im Augenblick verhält, ist er nun auch in der Pubertät«, stieß er leidend aus.

Silvia schmunzelte. »So schlimm kann das doch net sein, er ist ja erst elf. Das sind bestimmt nur vorpubertäre Anwandlungen. Außerdem geht diese Zeit vorüber, du wirst schon sehen. Danach sind sie wieder die Alten.«

»Eben nicht! Nach der Pubertät sind sie erwachsen und wollen sich nicht mehr von ihrem Großvater umarmen lassen«, erzählte er, was ihn schmerzte.

»Das wollen sie doch jetzt schon net mehr«, warf Burgstaller ein, die zwei erwachsene Töchter hatte und bestens über diese Entwicklungsphase Bescheid wusste.

»Und genau davon rede ich!«, rief Stern, dämpfte aber sofort seine Stimme, um die anderen Gäste nicht zu stören. »Weil sie nun beide in der Pubertät sind. Melanie und Tobias!«

Der Kellner kam und nahm die Bestellung der Nachspeise auf. Bevor er in der Küche verschwand, schenkte er vom Zweigelt nach.

»Wie verbringst du Weihnachten?«, wechselte Silvia das Thema.

Stern hatte darüber zwar nachgedacht, war allerdings zu keinem Ergebnis gekommen. »Ich weiß es nicht. Du?«

»Bislang hat mich weder die Evelyn noch die Gloria eing’laden, damit ihre Mutter an den Feiertagen net alleine daheim sitzt«, ließ Burgstaller ihn wissen.

»Die werden das doch bestimmt nachholen, oder?«, fragte Stern begriffsstutzig.

»Wenn ich schon etwas anderes vorhätte, bräuchten sie mich net einzuladen …« Silvia spielte mit dem Stiel von ihrem Glas.

»Und? Hast du etwas vor?« Stern beobachtete seine Freundin.

»Für einen Chefinspektor vom Landeskriminalamt hast du eine ziemlich lange Leitung«, erwiderte Silvia und trank einen Schluck Wein.

»Also hast du nichts vor?«

»Nein.«

»Dann könnten wir beide …« Stern ließ den Satz offen. Er hoffte auf ein positives Zeichen seines Gegenübers.

Doch das ließ ihn zappeln und fragte stattdessen: »Was könnten wir?«

»Ja, äh … Wenn du Lust hast, könnten wir beide doch …« Das Läuten seines Handys unterbrach Stern. »Entschuldige.« Er holte das Gerät aus seiner Tasche, kniff die Augen zusammen, weil er seine Brille nicht aufhatte, und fixierte mit ausgestreckter Hand das Display.

»Es ist Bormann«, kam ihm Silvia zu Hilfe, deren Sehkraft viel besser war als seine.

»Da muss ich rangehen. Warte, ich hab’s gleich.« Der Chefinspektor wischte über den Bildschirm und flüsterte: »Ja?«

»Stern? Sind Sie es?«, rief Bormann am anderen Ende der Leitung. Laute Musik drang aus dem Lautsprecher des Smartphones.

»Ja, was ist los?«, fragte Stern genervt, weil er das Gespräch schnell hinter sich bringen wollte. Immerhin hatte er heute frei. Er schaute zu Silvia Burgstaller hinüber, um zu erfahren, wie sie die Störung aufnahm. Sie nippte an ihrem Wein und ließ den Blick durch die Gaststube schweifen. Stern stellte fest, dass sie ihr Glas beinahe leer getrunken hatte, während seines nach wie vor voll war.

»Wir haben einen Toten«, verkündete Bormann. Und mit »wir« meinte er eindeutig Stern. Er selbst hatte sich noch nie an einem Tatort blicken lassen. Zumindest nicht, wenn keine Pressekameras vor Ort gewesen waren.

»Wo?«, fragte der Chefinspektor.

»Im Schloss Weinberg. Mehr weiß ich nicht. Fahren Sie hin und machen Sie sich vor Ort ein Bild. Und informieren Sie mich, ich bin auf der Weihnachtsfeier im Landhaus und kann dem Landeshauptmann dann persönlich Bericht erstatten.« Laute Stimmen und Musik im Hintergrund bestätigten Bormanns Aussage.

»Ja, Chef.« Stern seufzte. Er hatte keine andere Wahl, er musste das Essen für beendet erklären.

»Und Stern …« Der Dienststellenleiter war offenbar noch nicht fertig.

»Ja?«

»Dieses Wochenende findet auf dem Schloss Weinberg der Adventmarkt statt. Gehen Sie also mit größtmöglicher Sorgfalt bei den Ermittlungen vor, damit keine negativen Schlagzeilen entstehen, verstehen Sie? Sie wissen ja, wem …«

»Wir ermitteln immer mit größtmöglicher Sorgfalt«, unterbrach Stern seinen Vorgesetzten und verabschiedete sich. Dass er den Abend nicht mit Silvia Burgstaller verbringen konnte, war schon schlimm genug, da musste er sich nicht auch noch Belehrungen von Bormann anhören. Außerdem hasste er es, wenn sich der Dienststellenleiter in die Polizeiarbeit einmischte. Meistens geschah das, wenn eine wichtige Person aus Politik, Wirtschaft oder Kultur in einen Fall verwickelt war. Dann war Bormann besonders daran gelegen, dass die Polizei eine gute Figur abgab, weil das Medieninteresse groß war.

»Es tut mir leid«, begann er an Silvia gerichtet.

»Schon gut, ich versteh das«, erwiderte sie.

»Wirklich?« Stern wollte es ein weiteres Mal hören, denn seine Ex-Frau hatte kein Verständnis für seine Arbeit aufgebracht. Vielmehr waren seine unregelmäßigen Dienstzeiten der Grund dafür gewesen, warum ihre Ehe nicht funktioniert hatte. Zumindest hatte Franziska ihm das ständig vorgeworfen.

»Natürlich, das ist dein Job. Was ich allerdings net verstehe, ist, warum du mich net einfach fragen kannst, ob ich Weihnachten mit dir verbringen möchte.«

»Das wollte ich gerade tun, als der Anruf reinkam«, verteidigte sich Stern.

»Doch nur, weil ich dich dazu g’drängt hab«, ergänzte Silvia.

»Ja, schon …« Natürlich hatte sie recht. Stern tat sich mit solchen Dingen schwer. Aber wenn er mehr Zeit gehabt und ihn das Läuten des Handys nicht unterbrochen hätte, hätte er das bestimmt irgendwie hingekriegt. »Ich bin in solchen Dingen halt nicht geübt. Es tut mir leid.«

»Ich will net, dass du dich bei mir entschuldigst«, sagte Silvia eindringlich. »Ich will, dass du mich endlich fragst!«

Stern kam sich ein wenig blöd vor, so mit der Nase darauf gestoßen zu werden. Immerhin war er ein erwachsener Mann. Dennoch überwand er sich. »Meine Liebe, mein Herz«, fing er an, was sich geschwollen anhörte. Trotzdem blieb er dran. Wenn Silvia es so haben wollte, dann zog er es jetzt durch. Und an Silvias Blick erkannte er, dass er damit genau richtiglag. »Willst du Weihnachten mit mir gemeinsam feiern?«

Burgstaller genoss den Augenblick offenkundig und lächelte Stern an. »Ja, ich will!«, sagte sie just in dem Moment, als der Kellner an ihren Tisch herantrat und die georderte Mehlspeise abstellte.

Das Gesicht des jungen Mannes hellte sich auf und ein Lächeln breitete sich darauf aus. »Gratuliere herzlichst!«, rief er und machte in Richtung seines Kollegen kryptische Gesten, gefolgt von einem Daumen-hoch-Zeichen. Der zweite Kellner verschwand aus der Gaststube, während der ihre neben dem Tisch stehen blieb, weiterhin breit grinsend. Die übrigen Gäste schauten zu ihnen herüber und fragten sich gewiss, was los war. Das fragte sich auch Stern, denn dass Burgstaller und er gemeinsam Weihnachten feiern würden, empfand er nicht als so große Sache. Zumindest nicht für die Leute hier, die sie gar nicht kannten. Für ihn selbst war es natürlich schon aufregend, und er würde sich überlegen müssen, wie er es Barbara und seinen Enkelkindern beibringen wollte. Aber dass darum so ein Aufstand veranstaltet wurde …

Das Rufen der ITler-Gruppe am Nebentisch holte Stern aus seinen Überlegungen zurück. Die Leute prosteten ihnen zu. Der Alkoholgehalt in ihrem Blut war inzwischen weiter angewachsen und mehrere nicht klar verständliche Glückwünsche schwappten zu Sterns und Burgstallers Tisch herüber.

»Äh …« Stern wollte den Kellner gerade um die Rechnung bitten, als die Tür zur Gaststube aufging und der zweite Kellner mit Spritzkerzen auf Kuchenstücken hereinkam, diese vor Burgstaller und ihm abstellte und die unverzierten Tortenstücke wieder mitnahm.

»Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung!«, verkündete er so laut, dass alle es hörten. Daraufhin stimmten auch die Gäste, die weiter entfernt saßen, in das Gegröle der IT-Firmengruppe ein und klatschten begeistert.

Sterns Herzschlag setzte mindestens einmal aus.

Hatte er tatsächlich eben um Silvias Hand angehalten?

Er bemerkte ihren amüsierten Gesichtsausdruck. Sie zwinkerte ihm zu, ein Signal, den Irrtum nicht aufzuklären.

Aber wäre es so falsch, diese Frau zu heiraten? Er entdeckte nichts, was ihn daran stören würde. Doch war es dafür nicht zu früh?

»Danke«, sagte Silvia zu den Kellnern und nickte den anderen Gästen zu, was ihren Dank für die Gratulationen ausdrücken sollte.

Stern folgte ihrem Beispiel, wenn auch ein wenig peinlich berührt. Nach und nach wurde das Geklatsche leiser, bis es gänzlich verstummte.

»Das hätt ich dem alten Sack gar net zug’traut«, vernahm Stern eine Stimme vom Nebentisch und dachte, dass ihm die jungen Leute wahrscheinlich noch so einiges mehr nicht zutrauten, nämlich, dass er Chefinspektor am Landeskriminalamt war und im Einsatz mit einer Glock bewaffnet herumlief. Doch er beschloss, den Kommentar nicht persönlich zu nehmen. Vielleicht war es sogar ein Kompliment gewesen. Für die Restaurantbesucher war die Angelegenheit jedenfalls erledigt. Nicht aber für ihn.

»Du bist ja richtig rot g’worden«, sagte Silvia.

»Du auch«, gab er zurück.

»Ich finde, dafür ist es zu früh, oder?« Silvia schaute auf ihren feuerspeienden Kuchen hinab.

»Kann sein«, erwiderte Stern erleichtert.

»Trotzdem hat es mir g’fallen«, gab sie zu.

»Mir auch.« Stern ergriff ihre Hand und sah ihr tief in die Augen. Was hätte er jetzt dafür gegeben, um hierbleiben zu können.

»Du musst weg. Los, lass uns diese süße Verführung schnell essen.« Die Spritzkerze auf Silvias Kuchenstück war erloschen, ebenso jene auf Sterns. Silvia entzog ihm die Hand und stach mit der Gabel in das Schokoküchlein.

Diese Zeit wollte sich Stern noch nehmen. Denn wenn er schon auf den richtigen Nachtisch verzichten musste, der für ihn Silvia Burgstaller hieß, dann wollte er zumindest etwas Schokoladiges auf seinem Gaumen spüren.

»Darf ich bei dir in der Wohnung schlafen? Ich hab zu viel Wein g’trunken, um nach Bad Kreuzen zu fahren. Und wer weiß, vielleicht ist das, was deine Anwesenheit so dringend erfordert, ja schneller aufg’klärt als erwartet …« Silvia lächelte den Chefinspektor an.

»Das ist eine gute Idee«, erwiderte Stern. Er selbst würde sich von Grünbrecht abholen lassen. So konnte er noch ein paar Minuten bei Silvia Burgstaller verweilen und zusehen, wie sie sinnlich den Schokokuchen verzehrte.

3. Kapitel

Der BMW jagte über die A7 ins Mühlviertel. Auf Höhe von Unterweitersdorf ging die Autobahn in eine Schnellstraße über, was aber nichts an der überhöhten Geschwindigkeit des Wagens änderte. Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht schien der Meinung zu sein, dass sie die verlorene Zeit unbedingt aufholen mussten. Der Verzehr des Schokokuchens hatte länger gedauert, als Stern geplant hatte, aber die Stimmung zwischen Silvia und ihm war durch die vermeintliche Verlobung so innig gewesen, so warmherzig, dass er jede Sekunde hatte auskosten wollen. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie rasend schnell die Minuten verstrichen waren. Währenddessen hatte Grünbrecht vor dem Schlosscafe auf ihn gewartet und ihm nach einer Weile eine Nachricht geschickt, die er allerdings nicht gelesen hatte. Erst nach ihrem Anruf hatte er hastig bezahlt und das Restaurant unter den verwunderten Blicken der anderen Gäste fluchtartig verlassen. Nun saß er auf dem Beifahrersitz des viel zu schnellen BMW und hielt sich rechts am Griff über der Tür und links am Sitz fest.

»Muss das sein?«, japste er leidend, da er befürchtete, sein Magen könnte rebellieren. Das wäre wirklich schade, denn sowohl die Haupt- als auch die Nachspeise hatten ihm vorzüglich geschmeckt.

»Was?«, fragte Grünbrecht, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»Dass du so schnell fährst«, erläuterte Stern.

»Wir sind im Einsatz«, antwortete Grünbrecht knapp.

»Schon … aber …«

»Außerdem sind wir eh gleich da«, unterbrach ihn die Gruppeninspektorin.

Was Grünbrecht als »gleich« bezeichnet hatte, dauerte noch zehn Minuten, in denen sich Sterns Finger verkrampften. Erst als der Wagen in Kefermarkt auf den Weinberg abbog und sich durch die engen Straßen den typischen Mühlviertler Höhenrücken hinaufschraubte, nahm die Gruppeninspektorin den Fuß ein wenig vom Gaspedal. Oben auf dem Parkplatz, der von den Uniformierten bereits zum Großteil geräumt und abgesperrt worden war, stellte sie den BMW hinter jenen der Kollegen ab und seufzte: »Wir sind wieder einmal die Letzten.«

»Das ist doch kein Problem«, meinte Stern und stieg aus. »Sag einfach, dass ich gefahren bin.«

»Geht nicht, man riecht, dass du Wein getrunken hast.« Schnellen Schrittes querte Grünbrecht den Platz vor dem Schloss. Ihre Eile war nicht allein der Verspätung geschuldet, sondern auch dem Wind, der eisig den Hang heraufpfiff, was so manchen im Land gewiss hoffen ließ, dass die Temperaturen bis Weihnachten noch unter null sanken und rechtzeitig vor dem Heiligen Abend Schnee vom Himmel fiel.

Normalerweise labten sich um diese Zeit die letzten Adventmarktbesucher auf dem Vorplatz des Schlosses an den regionalen Schmankerln im schummrigen Licht der Weihnachtsbeleuchtung. Jetzt war das Areal rund um den Teich beinahe menschenleer, und Polizisten passten auf, dass kein Unbefugter das Schloss betrat. Auf dem Teich schwammen stimmungsvolle Lichterkugeln.

»Hast du ein Pfefferminzbonbon?«, rief Stern seiner Kollegin hinterher, um damit seinen Weinatem zu übertünchen. Er zog den Kopf ein, um sich vor dem Wind zu schützen, und steckte die Hände in die Taschen seiner Winterjacke.

»Nein. Die sind in deinem Wagen, ich hab so etwas nicht.« Grünbrecht schritt ungerührt weiter auf die Brücke zu, die über einen tiefen Graben führte.

Stern folgte ihr und warf einen Blick über das Geländer. Aufgrund der Dunkelheit konnte er nicht sehen, wie weit es da in die Tiefe hinabging. Bestimmt weit genug, um sich das Genick zu brechen. Aber dort unten lag die Leiche nicht, sonst wäre hier weitaus mehr Polizeiaufgebot. Er wandte sich ab und eilte Grünbrecht hinterher durch das Tor in der Ringmauer, die beidseitig in zwei Rundtürmen endete. Die vielen Lichter des Ad­ventmarktes sorgten für eine indirekte Beleuchtung, in der die mächtigen Mauern wie Schattenfiguren in den beinahe schwarzen Himmel hinaufragten.

Im Hof wurde ihnen von einem ortskundigen Kollegen der Weg gezeigt. Geradeaus, die Stiege hinauf, links, dann noch ein paar Stufen und oben angelangt so lange weiter, bis sie die Burgkapelle erreichten. Sie könnten es gar nicht verfehlen, ergänzte der Uniformierte, es seien eh schon so viele von der Tatortsicherung und vom Landeskriminalamt da. Stern fragte noch rasch, ob der Gerichtsmediziner auch bereits anwesend sei, aber das wusste der Kollege nicht.

Und tatsächlich erreichten Stern und Grünbrecht der Wegbeschreibung folgend mühelos die Burgkapelle. Von dem vorweihnachtlichen Flair war hier nichts übrig. Männer und Frauen in Schutzanzügen sicherten Spuren. Ein Polizeifotograf machte Fotos vom Tatort und der Leiche. Dominik Weber, der Gerichtsmediziner, untersuchte Letztere gerade in der ersten Sitzreihe vor dem Altar, was Sterns Frage nach dessen Ankunft beantwortete und ihm einen Seufzer entriss. Stern wäre gerne vor Weber da gewesen. Dieses Rittern, wer von ihnen beiden als Erster am Tatort einlangte, war zwar kindisch, über die Jahre jedoch zur festen Gewohnheit geworden. Die Gruppeninspektoren Martin Heinze und Hermann Kolanski beobachteten Weber bei seiner Arbeit und hofften auf erste Ergebnisse. Eine Gestalt saß seitlich an die Wand gelehnt. Von Sterns Position aus hätte man meinen können, dass sie andächtig bete. Aufgrund ihrer Kleidung und Statur nahm er an, dass es sich um einen Mann handelte.

»Grüß euch!«, warf Stern in die Runde.

»Hast du es auch endlich hergeschafft? Ich hab schon geglaubt, du kommst heute nicht«, erwiderte Weber, ohne aufzublicken.

Klar, wäre Stern vor ihm da gewesen, hätte es keinen Anlass für die Stichelei gegeben. »Hat etwas gedauert, immerhin hatte ich heute frei«, brummte er, schlüpfte in einen Schutzoverall und streifte Plastikhüllen über seine Schuhe.

Grünbrecht hielt sich mit einem Kommentar zurück und begrüßte ihrerseits die Kollegen.

»Da bekommt ›O Tannenbaum‹ gleich eine ganz andere Bedeutung«, sagte Weber. Er richtete sich auf und zog seine Handschuhe aus. Ein Zeichen dafür, dass er mit der Vorort-Beschau der Leiche fertig war.

»Was meinst du?«, fragte Stern im Näherkommen. Dabei fiel ihm ein Hut auf, der auf dem Boden lag und wahrscheinlich dem Opfer gehört hatte. Er stieg darüber hinweg.

»Schau selber!« Der Gerichtsmediziner deutete auf die leblose Gestalt.

Stern trat heran. Es war tatsächlich ein Mann. In seinem Hals steckte etwas Hölzernes. Der herausragende Teil wirkte wie ein runder Sockel, über dem sich mehrere seitlich abstehende, sich verjüngende Ringe befanden. Mindestens einer dieser Ringe war im Hals des Toten verborgen. Stern beugte sich nach vorne, um das Ganze genauer zu betrachten. »Ist es das, für was ich es halte?«

»Ich weiß nicht, für was du es hältst, Oskar. Auch wenn ich gut im Raten bin. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du zu viel Wein oder Punsch getrunken hast und dass das der Grund für deine Verspätung ist.« Weber grinste.

»Wie gesagt, ich hatte heute frei«, wiederholte Stern die Begründung für sein spätes Erscheinen, die ebenso beinhaltete, warum er nach Alkohol roch, auch wenn er sich deshalb nicht erklären musste. Immerhin war Weber nicht sein Vorgesetzter. Außerdem fühlte er sich nicht betrunken, nicht einmal beschwipst war er.

»Das ist ein Tannenbaum«, erkannte Grünbrecht. Sie stand hinter Stern und schaute ihm über die Schulter.

»O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie scharf ist deine Spitze …«, sang Heinze schief. Dass er nicht jeden Ton traf, schien ihm egal zu sein.

»Ich gehe davon aus, dass die Tatwaffe tatsächlich die Form eines Tannenbaums hat. Der Täter hat sie dem Opfer mit Wucht in den Hals gerammt und dabei die Luftröhre erwischt, wahrscheinlich ist der Mann erstickt oder an dem Blut, das sich in der Lunge angesammelt hat, ertrunken. Aber Ertrinken ist nur eine andere Form des Erstickens. Die Halsschlagadern hat der Täter nicht getroffen, denn sonst müsste hier viel mehr Blut sein.« Weber machte sich zum Abfahren bereit und räumte seine Utensilien in den Koffer.

»Dann stammt die Tatwaffe vom Markt hier, oder?« Stern deutete auf das Holzstück.

»Wenn du mir einen Asservatenbeutel reichst, holen wir das Ding heraus. Eigentlich wollte ich das erst in der Gerichtsmedizin machen, aber ich bin eh schon neugierig.« Weber streifte sich frische Handschuhe über, um keine Spuren auf dem Holz zu vernichten oder gar selber welche zu hinterlassen, und Heinze besorgte von den Kollegen der Tatortsicherung einen Beweismittelbeutel. Als er damit zurückkehrte, fragte Weber in die Runde: »Bereit?«

»Mach es nicht so spannend, Dominik!«, trieb Stern den Gerichtsmediziner zur Eile.

»Wer sagt, dass es ein Tannenbaum ist?«, wollte der jedoch vorher wissen.

Stern verdrehte die Augen. »Echt jetzt?«

»Ach, tut mir den Gefallen«, bettelte Weber.

»Ich«, antwortete Stern und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich«, echote Kolanski.

Heinze und Grünbrecht schlossen sich ihnen an.

»Na dann!« Weber wandte sich der Leiche zu und zog das Holz aus deren Hals, was nicht ohne schmatzende Geräusche vonstattenging.

Die Kriminalbeamten verzogen angewidert ihre Gesichter, beobachteten aber dennoch gespannt, wie das Holzteil immer größer und schmaler wurde. Am Ende hielt Weber es ihnen entgegen.

»Ein Tannenbaum«, stellte Stern trotz der theatralischen Inszenierung nüchtern fest. Der runde, gezackte Gegenstand verjüngte sich zu einer markanten Spitze. Stern hatte derartige Dekobäume schon öfter gesehen, in weihnachtlich gestalteten Auslagen, an Verkaufsständen oder in Prospekten, doch er hätte nie gedacht, dass man damit einen Mord begehen könnte. Das einst helle Holz des Baumes hatte sich mit dem Blut des Opfers vollgesogen, und Teile von menschlichem Gewebe hingen wie rotes Lametta daran. Dadurch schaute der Weihnachtsbaum ziemlich unappetitlich aus.

»Es dürfte für den Täter gar nicht so schwer gewesen sein, dem Opfer den Tannenbaum in den Hals zu rammen. Recht viel Kraft hat er dafür nicht gebraucht. Das Jugulum oder auch die Drosselgrube genannt ist weich und beinahe wie eine Zielscheibe für so ein Ding.« Weber hielt den Holzbaum wie einen Dolch in der Hand und zielte damit auf Sterns Hals. Dann machte er mit der Tatwaffe eine Vorwärtsbewegung und stoppte wenige Zentimeter vor dem Chefinspektor. »Das Eindringen des Holzes in den Körper ist wahrscheinlich geräuschlos vonstattengegangen. Es hat sicher nicht lange gedauert, bis das Opfer keine Luft mehr bekommen hat und schlussendlich gestorben ist. Ob es das bewusst miterlebt hat, kann ich euch nicht sagen.«

»Wie lange ist das her?«, fragte Stern und trat einen Schritt zurück. Dass ihm der Gerichtsmediziner mit dem grauslichen Ding derart auf die Pelle rückte, fand er unangenehm. Er schaute auf sein Handgelenk und kniff die Augen zusammen, weil er wieder einmal seine Brille nicht aufhatte.

Grünbrecht kam ihm zu Hilfe. »Es ist jetzt 22:10 Uhr.«

Stern nickte und erinnerte sich schmerzlich daran, dass er jetzt neben Silvia Burgstaller im Bett liegen könnte.

»Vielleicht zwei bis vier Stunden«, meinte der Gerichtsmediziner. »Länger nicht. Die Körpertemperatur fällt pro Stunde je nach Außentemperatur um 0,8 Grad Celsius. Hier drinnen ist es zwar nicht besonders warm, aber auch nicht so kalt wie draußen. Außerdem hat die Totenstarre bei den Augenlidern schon eingesetzt, was nach etwa ein bis zwei Stunden passiert. Die Kaumuskeln sind ebenfalls betroffen, das wiederum geschieht bis zu vier Stunden nach dem Tod. Und die kleinen Gelenke sind teilweise erstarrt. Ich denke, innerhalb der letzten zwei bis vier Stunden ist er gestorben.« Der Gerichtsmediziner ließ den blutigen Tannenbaum in den Asservatenbeutel gleiten, den Heinze aufhielt und anschließend verschloss.

»Also zwischen 18 und 20 Uhr«, stellte Stern fest.

»Kennen wir seine Identität?«, fragte Grünbrecht. Da sie gemeinsam mit Stern als Letzte am Tatort erschienen war, hatten Kolanski und Heinze die Anwesenden schon ohne sie befragt.

»Der Hausmeister, der den Toten gefunden hat, sagt, dass das Jakob Grünwald ist«, erwiderte Heinze.

»Grünwald … Der Name kommt mir bekannt vor.« Stern grübelte.

»Ich kenne nur die Grünwald-Öfen«, warf Weber ein. »In meinem Keller steht einer, ein Grünwald-Pelletskessel. Holzöfen macht die Firma auch, soviel ich weiß. Aber keine Öl- oder Gaskessel.« Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf. »Die sind ganz auf Grün und umweltfreundlich eingestellt.«

Heinze deutete auf die Leiche. »Angeblich war er der Firmenchef von der Grünwald Ofen GmbH.«

»Mit so einem Namen musst du ja auf Öko machen.« Kolanski grinste.

»Der Name ist Verpflichtung, meinst du?« Stern dachte darüber nach.

Kolanski zuckte mit den Schultern. »Irgendwie schon, oder?«

»Die Firma ist ziemlich erfolgreich und hat ihren Umsatz im letzten Jahr um 30 Prozent gesteigert«, las Heinze von seinem Handy ab. Es war wie immer das modernste Smartphone, das es auf dem Markt gab. »Das steht auf deren Homepage.«

»Viele haben in den letzten Jahren ihre Öl- und Gasheizungen gegen Pelletöfen oder Wärmepumpen ausgetauscht, so wie ich. Das hat Firmen wie der Grünwald Ofen GmbH in die Hände gespielt. Die mussten sich nicht einmal anstrengen, die Kunden haben ihnen regelrecht die Tür eingerannt. Die sind mit dem Produzieren gar nicht hinterhergekommen«, ergänzte Weber. »Ich habe ewig auf einen Termin gewartet.«

»Ja, wegen dem Russlandkrieg und der Energiekrise«, warf Grünbrecht ein. »Ist ja kein Wunder.«

»Und weil der Einbau von Ölheizungen in Neubauten seit 2020 in Österreich verboten ist«, führte Heinze als weiteres Argument für den Boom dieser Heizungen an.

»Es gibt immer Gewinner und Verlierer«, sagte Stern. »Egal wegen was. Die einen freuen sich, während andere leiden. Sogar im Krieg gibt es Gewinner, mehr, als man denkt. Und Firmen wie die Grünwald Ofen GmbH profitieren eben von der Energiewende.«

»So philosophisch heute?«, zog Weber den Chefinspektor auf.

»Das ist keine Philosophie, das ist das Leben«, erwiderte Stern und fragte: »Wann hat der Hausmeister die Leiche gefunden?«

»Als er seine Runde gemacht hat, um nachzuschauen, ob eh niemand mehr hier ist. Der Adventmarkt schließt um 18 Uhr, danach sind nur mehr die Standln vor dem Schloss geöffnet. Und bevor alles abgesperrt wird, überprüft der Hausmeister, ob sich niemand versteckt oder verlaufen hat oder gar noch auf dem Klo sitzt. Wie er ihn entdeckt hat, hat er zuerst gedacht, der Typ macht ein Nickerchen, und wollte ihn aufwecken. Als der Mann auf seine Rufe nicht reagiert hat, ist er zu ihm gegangen. Da erst hat er gemerkt, dass er tot ist, und hat sofort den Notruf gewählt«, erzählte Kolanski.

»Wann ist der Notruf in der Zentrale eingegangen?«, wollte Stern erfahren.

»Ich frage mal nach«, bot Heinze an.

»Danke, Martin.«

»Wissen wir sonst noch etwas?« Sterns Blick fiel auf den Toten, in dessen Hals ein unschönes Loch klaffte. Der Tannenbaum hatte wie ein Stöpsel gewirkt, sodass kaum Blut ausgetreten war. Und als Weber ihn aus dem Hals entfernt hatte, war das Blut bereits zum Teil geronnen gewesen, sodass lediglich eine schmale Kruste um die Öffnung zu sehen war. Was Sterns Aufmerksamkeit erregte, war die Wahl der Tatwaffe. Ein Gegenstand, den es auf dem Adventmarkt zu kaufen gab. Demnach war es wahrscheinlich eine Affekthandlung gewesen und kein geplanter Mord, denn da hätte der Täter die Mordwaffe mitgebracht. Ein Messer vielleicht, das viel leichter in das Fleisch eingedrungen wäre.

Weber, der Sterns Gedanken zu erraten schien, sagte: »Die Tat könnte auch von einer Frau ausgeführt worden sein. Der Tannenbaum ist recht spitz, und wenn du mit der Hand ausholst und ihn mit Wucht in dein Opfer rammst, wenn es dir gegenübersteht, dann klappt das schon. Vielleicht hat es auch schon hier gesessen und der Täter ist gestanden, dann wäre das Ganze noch einfacher.«

»Es ist also alles möglich«, fasste Stern zusammen.

»Wie im Lotto!« Weber grinste.

»War der Mann verheiratet?«, fragte Stern und ignorierte den Kommentar mit dem Glücksspiel.

»Ja, war er. Er bewohnte eine Villa ein wenig außerhalb von Kefermarkt. Ich hab die Adresse«, verkündete Grünbrecht.

Im selben Moment kehrte Heinze zurück und teilte ihnen mit, was er von den Kollegen der Zentrale erfahren hatte. »Der Notruf ist um 20:17 Uhr eingegangen.«

»Der Beginn der Primetime«, witzelte Weber, der heute besonders gut drauf zu sein schien. »Zumindest im Fernsehen.«

»So wie es ausschaut, fand der Höhepunkt des Abends auch hier um diese Uhrzeit statt«, meinte Kolanski.

»Nur dass das hier kein Film ist, sondern die Realität«, gab Stern zu bedenken.

»Ich frage mich, wenn der Kunsthandwerksmarkt im Schloss um 18 Uhr schließt, warum hat der Hausmeister erst um 20 Uhr seine Runde gemacht? Zwei Stunden benötigt der doch nicht, um zu kontrollieren, ob noch wer herinnen ist, oder?«, überlegte Grünbrecht.

»Das ist eine gute Frage«, meinte Stern.

»Die wir dem Hausmeister stellen sollten.«