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„Mir bleibt aber auch nichts erspart“, ächzt Chefinspektor Oskar Stern, während er in das Wolfsgehege des Tierparks Altenfelden hinabsteigt, um die dort liegende Leiche zu begutachten. Wie kam der Mann dort überhaupt hin? Ein Unfall war es jedenfalls nicht, denn bei der Autopsie stellt sich heraus, dass er erschossen wurde. Stern und sein Team ermitteln zwischen Bauwirtschaft und Erbstreitigkeiten, zeitgleich werden in den sozialen Medien immer skurrilere Theorien über die Todesursache des Opfers gesponnen. Sogar der bereits vor fünf Jahren verstorbene Vater des Toten spielt plötzlich eine Rolle …
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Seitenzahl: 357
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Eva Reichl
Mühlviertler Leichenschmaus
Kriminalroman
Dunkler Tod »Mir bleibt aber auch nichts erspart«, ächzt Chefinspektor Oskar Stern, während er in das Wolfsgehege des Tierparks Altenfelden hinabsteigt, um die dort liegende Leiche zu begutachten. Doch nicht die Wölfe haben den Mann getötet, wie es zunächst scheint, sondern er wurde erschossen. Mehrere Schrotkugeln stecken in seiner Brust. Unklar bleibt, wie der Mann überhaupt in das Wolfsgehege kam. War er da noch am Leben? Stern und sein Team ermitteln zwischen Bauwirtschaft, zerrütteten Ehen, dunklen Familiengeheimnissen und Erbstreitigkeiten, während in den sozialen Medien immer skurrilere Theorien über die Todesursache des Opfers gesponnen werden. Als der Dienststellenleiter vom Landeskriminalamt erkrankt, muss Stern ihn neben den Mordermittlungen auf einer Pressekonferenz vertreten, was ihn mächtig ins Schwitzen bringt. Und als wäre das nicht schon genug, lässt sich zudem Sterns Enkelin von einem Freund zum Stehlen verleiten. Stern ist nicht nur als Ermittler, sondern ebenso als Großvater geforderter denn je.
Eva Reichl wurde in Oberösterreich geboren und lebt mit ihrer Familie im unteren Mühlviertel. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft für kreative Ausdrucksformen und hat vieles ausprobiert. Glas- und Materialkunst, Malen. Geblieben ist das Schreiben, da Worte kraftvoll sind und eigene Welten erschaffen können. Mit ihrer Mühlviertler Krimiserie mit Chefinspektor Oskar Stern und den Thrillern rund um Diana Heller verwandelt sie ihre Heimat, das wunderschöne Mühlviertel, in einen Tatort getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Böse liegt so nah?
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Eva Reichl
ISBN 978-3-7349-3026-3
Für Mama!
*
Eine Mutter ist der einzige Mensch auf der Welt, der dich schon liebt, bevor er dich kennt.
Johann Heinrich Pestalozzi
»Jetzt schaust du wie ein richtiger Opa aus«, sagte Tobias und deutete auf die Brille, die auf Sterns Nase thronte.
Der Chefinspektor wusste nicht, ob er beleidigt sein sollte, denn immerhin war er ja tatsächlich der Großvater des Jungen, wenngleich er sich dafür nicht alt genug fühlte. Aber es war nun mal, wie es war. Stern ging auf die 60 zu und haderte mit dem Älterwerden, das sich vorwiegend körperlich bemerkbar machte. Nicht alles funktionierte mehr, wie es sollte. Die nachlassende Sehkraft seiner Augen war nur eines dieser untrüglichen Zeichen. Und dass der Sehbehelf auf seiner Nase ihn sich älter fühlen lassen würde, hatte er bereits befürchtet, bevor er den Gang zum Augenarzt angetreten war. Doch dass sein Enkel dieses Gefühl nun auch noch in Worte kleidete, schmerzte ihn. Wie sagte der Volksmund so passend? Kindermund tut Wahrheit kund. Stern seufzte, zog mit seinem Läufer über das Schachbrett und schlug Tobias’ Turm.
»Autsch!«, kommentierte sein Enkel den Zug, was Stern ein Schmunzeln entlockte.
»Jetzt schaust du aber, was der Opa so alles draufhat, gell?« So schnell ließ er sich nicht zum alten Eisen zählen, auch wenn es bei ihm hin und wieder schon mal wo zwickte und zwackte und sich die Kilos um seinen Bauch ansammelten wie die Erinnerungen an vergangene Sommer in seinem Gedächtnis. Jedes Jahr schien ein Kilo dazuzukommen. Ein gelegentlich auftauchendes Stechen im Knie und erhöhte Cholesterinwerte beschäftigten lediglich seinen Arzt bei seinen seltenen Besuchen, Stern ignorierte beides. Nur das mit der Brille war nicht länger aufschiebbar gewesen. Seine Armlänge hatte nicht mehr ausgereicht, um zu lesen, und bei manchen Texten hatte er deren Inhalt fast schon erraten müssen. Das war bei Obduktionsberichten, die die Todesursachen von Mordopfern beinhalteten, äußerst unvorteilhaft. Natürlich konnte Stern selbst mit seinem Sehdefizit eine Schusswunde von einem zertrümmerten Schädel unterscheiden, aber die Feinheiten blieben ihm dann doch verborgen. Und oftmals waren es genau die, die zur Aufklärung eines Mordfalls führten.
»Nimm du das!« Tobias holte zum Gegenschlag aus, sprang mit dem Pferd über einen gegnerischen Bauern und bedrohte Sterns König. »Schach!« Der Elfjährige rieb sich die Hände und ließ das Spielbrett nicht aus den Augen. Er war aufgeregt, das sah Stern ihm an. Doch diese Aufregung, ausgelöst durch die Chance, seinen Großvater zu besiegen, ließ ihn unaufmerksam werden.
Mit dem Läufer könnte Stern Tobias’ Pferd schlagen. Der Chefinspektor überlegte sich die nächsten Züge. Nicht lange, und der König seines Enkels wäre schachmatt.
Aber wollte er das?
Damit wäre das Spiel vorbei und Tobias wahrscheinlich nicht mehr so gut gelaunt. Wenn er ihn jedoch gewinnen ließe, würde der Junge nie lernen, mit Niederlagen fertigzuwerden. Das Leben war nicht rosig, und schon gar nicht war es einfach. Enttäuschungen warteten an jeder Ecke, da war es nicht verkehrt, wenn Kinder rechtzeitig darauf vorbereitet wurden.
Stern hatte sich entschieden, griff nach seinem Läufer und …
Sein Diensthandy läutete.
»Opa! Du hast gesagt, du schaltest es aus«, maulte Tobias.
»Äh … Ich schau nur rasch, wer anruft.« Stern ließ den Läufer los und schnappte sich sein Smartphone, das neben ihm auf dem Tisch lag. Auf dem Display stand der Name seiner Kollegin Mara Grünbrecht. »Ich rede nur rasch mit Mara und danach spielen wir weiter.«
»Opa!«, protestierte Tobias gegen die Unterbrechung und verschränkte schmollend die Arme vor der Brust.
»Ja, Mara?« Stern drehte sich zur Seite, um sich besser auf das Telefonat konzentrieren zu können und nicht das traurige Gesicht seines Enkels sehen zu müssen, der bereits siegessicher gewesen war. Nun aber war ungewiss, ob sie das Spiel überhaupt zu Ende bringen konnten.
»Grüß dich, Oskar. Wir haben einen Toten in Altenfelden. Angeblich wurde er von Wölfen angefallen«, erklärte Grünbrecht.
»Dann ist es kein Fall für uns. Wir verhaften keine Tiere«, erwiderte Stern in der Hoffnung, dass seine Befürchtung nicht wahr werden würde. Doch wegen eines Unfalls würde Grünbrecht ihn nicht an seinem freien Tag anrufen.
»Die Beamten, die hingefahren sind, nachdem ein Tierpfleger den Notruf gewählt hat, meinen, dass der Tote ermordet worden sein könnte und die Wölfe ihn erst hernach ein wenig … na ja, sagen wir mal angeknabbert haben.«
»Wo?«, fragte Stern und lugte zu Tobias hinüber, der ihn finster anstarrte.
»Im Tierpark. Angeblich liegt er im Wolfsgehege. Mehr weiß ich nicht. Ich mach mich jetzt auf den Weg dorthin. Soll ich dich abholen?«
»Nein, fahr du schon mal los, ich muss noch etwas erledigen. Gibst du bitte Kolanski und Heinze Bescheid?«
»Natürlich, Chef!«
Selbstverständlich. Es war überflüssig gewesen, Grünbrecht darum zu bitten, aber so hatte er noch ein klein wenig Zeit gewonnen, denn er scheute das bevorstehende Gespräch mit seinem Enkel.
»Bis nachher!« Mara Grünbrecht verabschiedete sich.
Stern sah die Enttäuschung in Tobias’ Gesicht. Innerlich verfluchte er den Toten in Altenfelden, dass er sich ausgerechnet heute von Wölfen hatte anfressen lassen. »Tobi, es …«
»Es tut dir nicht leid!«, schrie der Junge ihn an. »Sonst wäre es nicht jedes Mal so! Wenn ich mal alleine bei dir bin, ohne dass Meli auch da ist, und nur wir beide etwas unternehmen könnten, läutet irgendwann dein Handy und du musst weg!«
»Das stimmt doch …«
»Sicher stimmt das!«, ließ Tobias ihn nicht ausreden. Tränen kullerten über seine Wangen.
Stern fühlte sich wie ein schlechter Großvater. Er war schon kein guter Vater gewesen und hatte viele Geburtstage und Schulveranstaltungen seiner Tochter versäumt, weil er im Einsatz gewesen war, und nun machte er den gleichen Fehler bei seinen Enkeln.
Das durfte er nicht zulassen!
Aber wie sollte er sich entscheiden?
Immerhin hatte er heute frei, obwohl das bei einem Mord nur bedingt galt. Als Chefinspektor der Mordgruppe war er quasi dauernd im Dienst, wenn jemand umgebracht wurde. Auf der anderen Seite war Tobias heute bei ihm, weil seine Tochter Barbara mit Melanie einkaufen ging, um ihre Beziehung zu stärken, die durch Melanies pubertäres Verhalten belastet war. Wenn er Barbara jetzt anriefe und ihr mitteilte, dass er sich nicht mehr länger um Tobias kümmern könne, zerstörte er auch diese Bemühungen. »Willst du mitfahren?«, fragte er.
Augenblicklich hörte Tobias auf zu weinen und starrte seinen Großvater ungläubig an. »Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst«, erwiderte Stern, wenngleich er noch nicht wusste, wie er das anstellen sollte. Den Mord aufzuklären und gleichzeitig auf seinen Enkel aufzupassen, erschien ihm unmöglich. Schon einmal hatte er das versucht und war kläglich gescheitert. Tobias hatte bei den Gleisen der Summerauer Bahnstrecke den abgetrennten Kopf eines Opfers gefunden, und Barbara war wochenlang sauer auf ihn gewesen, was Stern natürlich verstehen konnte.
»Wohin fahren wir?« Tobias wischte sich mit den Ärmeln seines Shirts, auf dem vorne ein Rennwagen aufgedruckt war, die Wangen trocken.
»In den Tierpark«, antwortete Stern.
»In den Tierpark?«, wiederholte Tobias misstrauisch. »Wieso denn in den Tierpark? Ich dachte, du musst zu einem Fall.«
»Und der ist im Tierpark. Beeil dich, es geht gleich los.«
»Nice!« Tobias sprang auf, wodurch der Tisch wackelte und einige Figuren auf dem Schachbrett umfielen. Doch das schien dem Jungen egal zu sein.
»Es ist jemand gestorben, so etwas ist nie nice«, rügte Stern ihn, wenn auch nur halbherzig, denn er freute sich, dass der Tag für seinen Enkel nun doch besser verlief als erwartet. Über die aktuelle Jugendsprache wunderte er sich jedoch. Was früher cool gewesen war, wurde heute als nice bezeichnet.
»Klar«, antwortete Tobias, lächelte aber trotzdem weiter. Schnell zog er seine Sneakers an und streichelte Miro, die zuvor auf der Couch gelegen hatte und nun nachschauen kam, weshalb plötzlich so ein Tumult in Sterns Wohnung herrschte. Der Chefinspektor füllte rasch den Napf der Katze mit reichlich Futter. Er war sich sicher, dass er heute erst spät nach Hause kommen würde.
Während der Fahrt nach Altenfelden, die dank eines jüngst von Stern absolvierten Fahrtrainings nun etwas zügiger vonstattenging, fiel dem Chefinspektor auf, dass sich der Herbst bereits bemerkbar machte. Die Blätter der Bäume verfärbten sich in Gold- und Rottöne, und die meisten Getreidefelder neben der Rohrbacher Straße waren abgeerntet. Der Kukuruz, wie der Mais hierzulande genannt wurde, reifte jedoch weiter, ebenso die Zuckerrüben. Ihre Köpfe steckten noch tief in der Erde.
»Wenn wir im Zoo sind, schaust du dir die Tiere an, während ich … Na, du weißt schon«, sagte Stern zu seinem Enkel, als sie an der Abzweigung nach St. Martin im Mühlkreis vorbeifuhren, wo Oberösterreichs größte Diskothek für ausgelassene Stimmung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sorgte. Sterns Enkelin lag ihrer Mutter ständig in den Ohren, dass sie mit ihren Freundinnen unbedingt dort hingehen wolle und diese es ihr doch endlich erlauben solle. Aber dafür war die 14-Jährige eindeutig noch zu jung.
»Während du dir die Leiche anschaust, Opa. Ich bin kein Baby mehr, das kannst du ruhig sagen. Ich bin schon fast jugendlich und darf bald ohne Kindersitz vorne im Auto sitzen«, behauptete Tobias.
»Jugendlich ist man ab 14«, korrigierte der Chefinspektor seinen Enkel. »Und solange du einen Kindersitz brauchst, reden wir nicht über Mordfälle, verstanden? Deine Mutter reißt mir sonst den Kopf ab.«
»Du musst es ihr ja nicht erzählen«, meinte Tobias altklug.
»So etwas kommt immer raus. Wenn nicht heute, irgendwann bestimmt.«
Tobias schüttelte genervt den Kopf, das sah Stern im Rückspiegel. Er entschied sich, nicht darauf einzugehen und das Thema zu wechseln. »Die haben dort Wildschweine und Affen.«
»Und Wölfe«, ergänzte Tobias die Aufzählung. »Die schaue ich mir als Erstes an.«
»Äh …«
»Was? Darf ich das nicht?«
»Ich … ich hab doch gar nichts gesagt«, verteidigte sich Stern.
»Aber du wolltest es mir verbieten, stimmt’s?« Tobias schien sich da ganz sicher zu sein.
»Du musst verstehen, dass das nicht geht, weil genau dort der Tote liegt«, erklärte Stern endlich.
»Was? Hat ihn etwa ein Wolf gefressen?« Tobias lockerte seinen Gurt, rutschte nach vorne und quetschte sich zwischen den Vordersitzen hindurch, um seinem Großvater ganz nah zu sein und alles genau zu hören.
»Das weiß ich noch nicht, wir fahren ja erst hin und machen uns ein Bild von der Sache.«
»Klasse!«
»Mit ›wir‹ meine ich meine Kollegen und …«
»Wenn ihn ein Wolf gefressen hat, muss ich das sehen, Opa! Dem hängen sicher die Eingeweide heraus«, rief Tobias aufgedreht.
Stern war entsetzt. »Und das willst du dir anschauen?«
»Klar, du nicht?«
»Nein!« Stern setzte den Blinker und bog in die Straße ab, die zum Tierpark führte. In wenigen Augenblicken erreichten sie ihr Ziel, aber er hatte immer noch keine Lösung parat, wie er das hinkriegen sollte, dass Tobias nicht zu viel von dem Todesfall mitbekam und keinesfalls einen Blick auf die Leiche mit den heraushängenden Därmen erhaschen konnte. Denn wenn der Tote tatsächlich von Wölfen übel zugerichtet worden war, würden den Jungen gewiss bald nachts Albträume plagen, und dann brauchte er seiner Tochter gar nicht mehr gegenüberzutreten.
Stern lenkte den Audi A6 zuerst an dem Gasthaus Wildparkwirt und anschließend an Tierparkbesuchern vorbei, die den Zoo nun nicht besuchen durften. Vor dem Eingang hatte sich eine ansehnliche Schlange gebildet, die bis auf den Parkplatz zurückreichte. Ein Uniformierter teilte Stern mit, wohin er fahren musste, ließ den Schranken hochgehen und den Audi passieren.
»Dort sind Hirsche, Opa!« Tobias deutete nach rechts, wo besagte Tiere in einem riesigen, eingezäunten Areal ästen. Sie schienen sich nicht darum zu scheren, was im Gehege der Wölfe los war. Unaufgeregt kauten sie ihre Nahrung wieder.
Stern, der sich aufs Fahren konzentrierte und nicht auf die Tiere, verringerte das Tempo und schlug vor: »Soll ich dich aussteigen lassen? Dann kannst du dir die Hirsche in Ruhe anschauen. Du hast eh dein Handy …«
»Und dort sind Eulen, Opa!« Tobias wies nach vorne, wo rechts neben der Straße Voliere und Einzäunungen aufgestellt waren, die diesen Schluss zuließen. Ein Schild mit entsprechender Aufschrift bestätigte die Annahme.
Stern brummte, da Tobias ihm ohnehin nicht mehr zuhörte.
»Da gibt es etwas zu essen, Opa, ich hab Hunger!« Tobias starrte auf das Besucherzentrum in dem alten Bauernhof, an dem sie gerade vorbeifuhren und wo an normalen Tagen Speisen und Getränke an Tierparkgäste verkauft wurden, während nebenan die Vögel ihre Rufe und Lieder hören ließen.
»Ich geb dir Geld, Tobi. Vielleicht ist das Buffet trotzdem offen, dann kannst du …«
»Nachher, Opa. Zuerst schauen wir uns die Leiche an, deswegen sind wir schließlich hergefahren.« Tobias drückte seine Nase an der Scheibe des Seitenfensters platt.
Stern verdrehte die Augen. Er wusste nicht genau, wie der Tag heute enden würde, nur eines war klar: nicht gut für ihn. Barbara würde stocksauer sein, dass er Tobias hierher mitgenommen hatte, doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Er seufzte und bemerkte gleichzeitig, dass die Straße in ein Wäldchen mündete. Am Fahrbahnrand standen mehrere Einsatzfahrzeuge mit blau blinkenden Lichtern. Stern stellte den Audi als Letztes in die Reihe. Rechts davon erstreckte sich ein Gehege in den abschüssigen Wald hinein, davor war eine überdachte hölzerne Tribüne, auf der mehrere Polizeibeamte versammelt standen und in die Tiefe schauten. Unter ihnen machte er die Gruppeninspektoren Mara Grünbrecht und Martin Heinze aus.
»Du wartest bitte im Wagen«, sagte er zu seinem Enkel.
»Sicher nicht, Opa!« Tobias löste den Gurt, stieß die Autotür auf und sprang hinaus, bevor Stern auch nur nach Luft schnappen konnte. Dann lief der Junge geradewegs auf die Aussichtsplattform zu.
Stern dachte, wie gut es war, dass die Kollegen nicht mitbekamen, wie wenig Autorität er gegenüber seinem Enkel besaß, und stieg aus. Er beobachtete, wie sich Tobias auf der Plattform zwischen die Beamten hindurchdrängte, über das Geländer beugte und ebenfalls nach unten schaute. Anschließend drehte er sich um und deutete seinem Großvater, er möge sich beeilen.
Das tat Stern, wenngleich genervt, weil er die Sache nicht unter Kontrolle hatte.
»Grüß dich, Oskar!« Heinze und Grünbrecht warteten nicht nur auf ihren Chef, sondern ebenso auf eine Erklärung, warum dieser seinen Enkel zum Tatort mitgebracht hatte. Das erkannte Stern an ihren Blicken.
»Grüß euch«, sagte er, ging an ihnen vorbei und auf Tobias zu.
»Da unten liegt er, Opa. Er schaut ziemlich grauslich aus. Ganz anders als die Toten in dem Computerspiel. Das viele Blut, und wie das riecht …«
»Welches Computerspiel?«, hakte Stern nach und zog Tobias von dem Geländer weg, um ihm die Sicht auf den Leichnam zu nehmen.
»Das ich mit Fredi game. Er hat mir die Zugangsdaten von seinem Bruder gegeben und dann haben wir miteinander gegen die Bösen gefightet …« Tobias ahmte die Bewegungen nach, die die Figuren in dem Spiel offenbar machten, wenn es darum ging, den Gegner zu besiegen. Und wie Stern annahm, musste man ihn töten, um in dem Spiel vorwärtszukommen. Also kindgerecht war das gewiss nicht. Genauso wenig wie der Anblick des Opfers in dem Wolfsgehege.
»Wie heißt dieser Fredi weiter?«, fragte er und notierte sich im Geiste, mit diesem ein ernstes Wörtchen zu reden. Oder mit seinen Eltern, je nachdem, wie alt Fredi war.
»Kruger. Er ist in meiner Klasse … Und was machen wir jetzt?« Tobias konnte kaum stillstehen.
»Du gehst zu Mara und wartest dort!«
»Aber …«
»Kein Aber, Tobias!«, sagte Stern laut. Er durfte sich vor den Kollegen nicht von seinem Enkel vorführen lassen. Wie sähe das denn aus, wenn er sich nicht gegen ihn durchsetzen konnte? Vor allem bei einer Sache, die nicht gut für den Jungen war. Der Anblick einer Leiche konnte Angststörungen, Albträume und weiß Gott was noch alles auslösen!
»Aber …«, versuchte Tobias erneut, Einspruch zu erheben.
»Tu, was ich dir sage!«, verlangte Stern streng und sah sich verstohlen um. Die Kollegen beobachteten die Szene auf der Aussichtsplattform. Nun war es wichtig, dass er die Oberhand behielt. Deshalb beugte er sich zu dem Jungen hinab und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn du sofort zu Mara gehst, bekommst du 20 Euro.«
»100«, verlangte Tobias und schaute seinen Großvater kampfbereit an.
»50«, bot Stern an.
»100.« Tobias streckte ihm die Hand entgegen.
Stern stieß die Luft aus und schlug ein.
Tobias wandte sich ab und lief zu der Gruppeninspektorin, die ihn von der Aussichtsplattform wegführte. Stern wusste, dass der Junge bei ihr in guten Händen war, während er sich einen ersten Überblick über den Todesfall verschaffte. Das schätzte er an Grünbrecht, dass er sogar mit Dingen, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten, zu ihr kommen konnte und sie ihm half, ohne zu zögern.
Der Chefinspektor wandte sich dem Toten zu, der in dem Gehege der Wölfe lag. Ein paar Personen bildeten in dem eingezäunten Areal eine menschliche Barriere, indem sie sich unterhalb der Aussichtsplattform und mehrere Meter von dem Toten entfernt mit Schaufeln und Stöcken in den Händen im Halbkreis aufgestellt hatten. Dadurch wurden die Tiere von dem Leichnam ferngehalten und die Spurensicherer konnten mit ihrer Arbeit beginnen. Es war ganz klar zu erkennen, dass sich die Wölfe nicht von der potenziellen Beute weglocken ließen und auf diese Weise auf Distanz gehalten werden mussten. Die leeren Augen des Opfers starrten in den Himmel. In seiner Brust klaffte ein Krater. Das Fleisch war ihm an manchen Stellen herausgerissen worden, sodass die darunterliegenden hellen Knochen sichtbar waren. Rund um den Leichnam hatte das Blut das Gras und den Boden dunkel gefärbt. Das Fell der Wölfe, die hinter der menschlichen Barriere patrouillierten und alles genau beobachteten, war rund ums Maul blutrot.
Auf den ersten Blick sah es aus, als hätten die Wölfe versucht, den Toten aufzufressen. Sie mussten entweder dabei gestört worden sein oder sie hatten aus irgendeinem anderen Grund von ihm abgelassen. Zuvor hatten sie aus dem Körper Fleischstücke gerissen.
Doch wie war der Mann in das Gehege gelangt?
Freiwillig wäre er wohl kaum von der Aussichtsplattform in den eingezäunten Bereich gesprungen, wenn er gewusst hatte, dass sich darin Wölfe befanden, und Letzteres stand für Stern außer Zweifel. Die hölzerne Konstruktion, auf der sie sich befanden, war mit zahlreichen Informationstafeln rund um das Raubtier bestückt. Der Text war in einer Größe geschrieben, dass selbst er ihn ohne Brille lesen konnte. Auch ließen die Bilder keine Zweifel aufkommen, was sich in dem Gehege befand.
Also, was war hier passiert?
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte er Gruppeninspektor Martin Heinze, der neben ihm mit den Händen in den Hosentaschen wartete, bis sein Chef mit der Begutachtung fertig war. Der Ex-Wiener wusste, dass für Stern der erste Eindruck, den der Tatort und die Leiche auf ihn machten, besonders wichtig war, deshalb ließ er ihm dafür ausreichend Zeit. Jede Kleinigkeit war von Bedeutung, die Stern oftmals nur unbewusst wahrnahm.
»Ein Tierpfleger. Er steht dort drüben bei den Affen.« Heinze deutete auf einen Mann, der eine auffällige Erscheinung bot. Die Arme, die aus den T-Shirt-Ärmeln ragten, und die Schienbeine, die unterhalb der kurzen Hose zu sehen waren, waren mit Tätowierungen überzogen.
»Kennen wir die Identität des Toten?«, fragte der Chefinspektor weiter.
»Noch nicht. Er war kein Mitarbeiter vom Zoo, so viel steht fest. Die Kollegen hätten ihn sicher erkannt, auch wenn er ziemlich übel zugerichtet ist. Das Gesicht ist noch einigermaßen intakt, aber der Bauch … na ja.«
»Und wer sind die Leute, die dort unten die Wölfe in Schach halten?« Stern schaute auf die Frauen und Männer, die sich den Wölfen entgegenstellten, die tatsächlich Abstand hielten. Durch ihre Anwesenheit wurden zwar vermutlich Spuren vernichtet, aber zumindest konnte die Tatortgruppe ihre Arbeit verrichten.
»Die sind vom Tierpark und mit so etwas vertraut. Von uns wäre da niemand reingegangen. Wir wissen ja nicht, wie die Wölfe reagieren, immerhin haben sie bereits Blut geleckt. Vielleicht wollen sie ja einen Nachschlag«, scherzte Heinze. »Und die Wölfe betäuben kommt für die Tierparkmitarbeiter nicht infrage. Ich hab das vorgeschlagen, bin aber abgeblitzt. Sie meinen, sie hätten die Lage im Griff, sie müssten ja auch sonst immer wieder ins Gehege, um Wartungsarbeiten durchzuführen und nach dem Rechten zu sehen.«
»Ich hab mal gelesen, dass ein Wolf unter normalen Umständen keinen Menschen anfällt. Wir Zweibeiner passen nicht in sein Beuteschema«, glaubte Stern, sich zu erinnern. »Was ist da unten also passiert?«
»Das werden wir herausfinden.« Mara Grünbrecht tauchte unerwartet neben Stern und Heinze auf. Ihre schulterlangen dunkelbraunen Locken trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Wo ist Tobias?« Stern hielt nach seinem Enkel Ausschau. Eigentlich hatte er erwartet, dass sich die Kollegin um den Jungen kümmern würde, solange er hier zu tun hatte.
»Ich hab eine nette Polizistin gebeten, auf ihn aufzupassen. Die beiden erkunden den Tierpark. Keine Sorge, er wird nichts mehr von dem hier mitkriegen.« Grünbrecht deutete hinab auf die Leiche. »Aber wieso hast du ihn überhaupt mitgenommen?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Das ist kein Anblick für einen Elfjährigen.«
»Was hätte ich denn tun sollen? Er war heute bei mir, weil Barbara und Melanie shoppen gegangen sind, um ihr Mutter-Tochter-Verhältnis zu verbessern. Die beiden streiten in letzter Zeit nur noch. Melanies pubertäre Ausbrüche sind ziemlich heftig. Und wenn ich das jetzt zunichtegemacht hätte, weil ich nicht auf Tobias aufpassen kann, dann … dann …« Stern rang nach den passenden Worten, die seine Zwangslage erklärten. Denn natürlich hatte er ein schlechtes Gewissen.
»Dann wirst du nicht zum Großvater des Jahres gewählt«, beendete die Gruppeninspektorin den Satz.
Stern seufzte. »So in etwa.«
»Wer will zum Großvater des Jahres gewählt werden?«, fragte eine Stimme hinter den Kriminalbeamten, die sich allesamt umwandten. Dominik Weber betrat die hölzerne Aussichtsplattform und grinste Stern schelmisch an. »Doch nicht etwa du?«
Begleitet wurde der Gerichtsmediziner von Hermann Kolanski, der mit verwaschener Jeans und schwarzer Lederjacke eher wie ein Rocker wirkte als ein Gruppeninspektor vom Landeskriminalamt. Außerdem verstärkten seine nach Sterns Geschmack zu langen, an den Schläfen ergrauten Haare diesen Eindruck. »Von Tobias bekämst du sicher eine Eins«, sagte Kolanski. »Als wir gerade an ihm vorbeigegangen sind, hab ich gehört, wie aufgeregt er ist, dass du ihn hierher mitgenommen hast. Ich will gar nicht wissen, was du dir dabei gedacht hast. Er wird in der Schule allen davon erzählen und der Star sein, auch das hat er gesagt. Von deiner Tochter gibt es dafür allerdings einen glatten Fünfer. Tut mir leid, Großvater des Jahres wirst du nicht.« Mitleidig klopfte er Stern auf die Schulter und trat an das Geländer heran, um einen Blick in die Tiefe zu werfen. »Geh leck!«, stieß er ob des Anblicks, der sich ihm bot, aus.
Der Chefinspektor verzog leidend das Gesicht. Dass sich nun alles um Tobias und ihn drehte, hatte er nicht gewollt. Deshalb antwortete er spitz: »Schön, dass ihr auch endlich da seid.« Und an Weber gewandt fügte er hinzu: »Dein Patient wartet dort unten auf dich.«
»Dass Tote warten, höre ich zum ersten Mal«, konterte Weber.
»Aber die Wölfe tun es.« Stern machte den Gerichtsmediziner auf die Tiere aufmerksam, die das Geschehen in ihrem Revier beobachteten. Auch wenn die Leute vom Tierpark sie fernhielten, würde er sich hüten, dort hinabzusteigen und sich den Toten aus der Nähe anzusehen. Doch Weber musste da jetzt runter. Darum beneidete er ihn keinesfalls.
»Mir bleibt auch nichts erspart«, murmelte der Gerichtsmediziner und verließ die Plattform, um in das Gehege durch eine Gittertür im Zaun ein Stück unterhalb zu gelangen.
Stern wandte sich ab und bat Grünbrecht, den Tierpfleger herzuholen, der den Toten entdeckt hatte. Ihn wollte er als Erstes befragen, die anderen Mitarbeiter des Parks sollten Kolanski und Heinze übernehmen.
»Wie heißen Sie?«, fragte er den Mann, als dieser in Begleitung der Gruppeninspektorin auf ihn zukam.
»Eduard Grückel«, antwortete der Tierpfleger, der nicht nur tätowiert, sondern dessen Körper ein Gesamtkunstwerk war. Die Haare waren auf der einen Seite kurz geschoren und auf der anderen zu kleinen Zöpfen geflochten, die wiederum zu einem großen zusammengebunden waren. Wahrscheinlich, damit sie ihm bei der Arbeit nicht ins mehrfach gepiercte Gesicht fielen.
»Erzählen Sie uns, wie Sie die Leiche entdeckt haben«, forderte Stern den Mann auf, bemüht, ihn nicht anzustarren. Auch wenn viele Leute Vorurteile gegenüber Menschen mit derartigem Aussehen hatten und sich vor ihnen fürchteten, wusste er, dass der Großteil der Verbrechen von unauffällig wirkenden Individuen verübt wurde. Oftmals waren es die lieben, netten Nachbarn, die ein Doppelleben führten.
»Wie ich in der Früh meine Runde g’macht hab, um nachz’schauen, ob eh alles in Ordnung ist und wir den Tierpark aufsperren können, hab ich ihn da unten liegen sehen.« Mit dem Kopf deutete der Tierpfleger in die entsprechende Richtung.
»Kennen Sie den Toten?«
»Ich weiß es ehrlich g’sagt net, so genau hab ich mich net hinschaun g’traut. Aber von uns ist das keiner, da bin ich mir sicher. Die Kollegen sind nämlich alle da, und der Chef ist gerade bei einem Termin. Aber ob das einer von den Nachbarn ist, kann ich net sagen, weil der hat lebend sicher anders ausg’schaut als jetzt.« Grückel fuhr sich mit der Hand über die Seite mit den kurz geschorenen Haaren, was sein Unwohlsein verriet.
Kein Wunder, dachte Stern, ein schöner Anblick war der Tote freilich nicht, doch das Unbehagen seines Gegenübers könnte genauso gut davon herrühren, dass der Mann etwas mit der Sache zu tun hatte. Durch die Geste mit der Hand entdeckte der Chefinspektor in der Fülle der Tätowierungen einen Wolf. Die Wahl des Motivs lag gewiss daran, dass der Mann hier arbeitete. Stern vermutete keinen Hinweis auf die Todesursache des Opfers darin, denn er machte noch andere Tiere auf der Haut des Befragten aus. »Können Sie sich vorstellen, wie er in das Gehege gelangt ist?«
»Der ist sicher von da runterg’stürzt, anders kann ich mir das net erklären.« Eduard Grückel deutete auf das Geländer.
»Und die Wölfe? Wie reagieren die, wenn plötzlich ein Mensch in ihr Revier fällt?«
»So genau kann man des net sagen. Unsere Wölfe sind zwar in einem Tierpark geboren, trotzdem sind es wilde Tiere. Ich vermute, dass der arme Kerl was g’habt hat, ich meine, eine offene Wunde, aus der Blut g’flossen ist. Entweder hat er sich die bei dem Sturz zu’zogen, oder er war vorher schon verletzt und ist deshalb überhaupt erst da runterg’fallen. Und dann sind die Wölfe auf ihn los’gangen. Die kennen uns Menschen ja, die wissen, dass wir das Futter bringen und net das Futter sind. Wölfe sind intelligente Tiere. Aber wenn da Blut ist, kann ihr Instinkt angesprochen werden und sich ihr Verhalten ändern.«
»Mit was werden die Tiere bei Ihnen gefüttert?«
»Vor allem mit Rindfleisch, aber auch mit verunfalltem Wild. Am meisten mögen’s den Pansen von den Wiederkäuern, wenn er noch warm ist.«
»Hat einer von Ihren Wölfen schon einmal einen Menschen angefallen?«
»Sicher net! Aber wie gesagt, wenn der Mann bereits verletzt war, wie er da reing’fallen ist, und sie das Blut g’rochen haben, kann es sein, dass sie g’schaut haben, ob das ein verwundetes Beutetier ist, und wollten wissen, wie das schmeckt. Sind halt auch neugierig. Und wenn der dann vor ihnen davonlaufen wollt, hat das vielleicht ihren Jagdtrieb g’weckt.«
»Gut, danke«, sagte Stern.
»Ich glaub net, dass unsere Wölfe einfach so über ihn herg’fallen sind. Das machen die net, verstehen S’? Da muss vorher schon was passiert sein«, wiederholte der Tierpfleger seine Einschätzung.
»Wir schauen uns das an, seien Sie unbesorgt. Und wenn es so abgelaufen ist, wie Sie sagen, finden wir das heraus«, versuchte Stern, den Mann zu beruhigen.
»Wissen S’, negative Publicity können wir net g’brauchen. Der Wolf hat eh schon ein schlechtes Image, was allerdings gar net g’rechtfertigt ist. Natürlich gibt es Wölfe, die Probleme bereiten, aber das sind einzelne Exemplare, und sofort werden alle verteufelt. Das ist wie bei den Menschen: Manche Ausländer tun schlimme Dinge und schon wird gegen sämtliche Asylwerber gewettert. Gleichzeitig gibt es kaum ein Tier, das uns ähnlicher ist als der Wolf«, erzählte der Mann. »Diese Tiere leben wie wir in Familienverbänden, kümmern sich um Familienmitglieder und kranke Artgenossen und verteidigen sie gegenüber anderen. Wölfe sind sehr soziale und intelligente Wesen.« Die tätowierten Oberarme des Mannes spannten sich an, offensichtlich regte ihn das Thema auf, wie das auch bei einem Großteil der Bevölkerung im Land der Fall war. Stern kannte die Diskussionen aus den Medien, die teilweise hitzig geführt wurden. Während die einen für die Neuansiedelung des Wolfes plädierten, wollten andere die Tiere abschießen. Vor allem nach Schaf- oder Ziegenrissen wurden Stimmen laut, die Letzteres forderten.
»Gibt es in der Gegend freilaufende Wölfe?«, fragte Stern.
»Klar. Die Wälder im Mühl- und Waldviertel sind wie g’schaffen für sie. Gelegentlich besuchen uns sogar welche aus Tschechien, aber meistens kriegen wir das gar net mit. So ein Wolf legt pro Tag schon mal 200 Kilometer zurück. Wenn es in der Nähe eine Wolfssichtung gibt, rufen die Leute bei uns an und fragen, ob unsere Wölfe eh noch alle eing’sperrt sind, weil’s glauben, einer von denen läuft da draußen herum. Dann wäre die Sache schnell erledigt, wenn wir den wieder einfangen täten. Das war allerdings noch nie der Fall«, erzählte Eduard Grückel.
»Ist in Altenfelden schon mal ein Schaf oder ein anderes Nutztier von einem Wolf gerissen worden?«, hakte Stern nach. Vielleicht hatte es deshalb Streit gegeben und der Tote war daran beteiligt gewesen. Möglicherweise hatte ihn sein Kontrahent über das Geländer gestoßen. Dann wäre es Mord, auch wenn die Wölfe den Rest erledigt hatten. Es war aber auch denkbar, dass einer das Sprichwort »Jemanden den Wölfen zum Fraß vorwerfen« zu wörtlich genommen hatte, ohne dass es überhaupt einen Vorfall mit einem Wolf gegeben hatte.
»Vor zwei Monaten hat einer einen Wolf g’sehen. Soviel ich weiß, hat er kein Nutztier g’rissen. Ich will gar net sagen, dass so etwas net vorkommt, es ist jedoch die Ausnahme. Entgegen dem Bild, das häufig in den Medien von den Wölfen gezeichnet wird, sind sie keine blindwütigen Killer. Wenn sie jagen, dann meist alte oder kranke Tiere. Der Wolf hat einen ausgezeichneten Geruchssinn, er riecht es, wenn Wildtiere krank sind, bevor ein menschlicher Jäger überhaupt Symptome bemerkt. Er würde den heimischen Wildbestand g’sund halten, und Seuchenausbrüche wie etwa bei der Afrikanischen Schweinepest, der Gamsräude oder auch bei Tuberkulose würden sich erheblich verringern – aber leider lässt man das net zu.«
»Was ist nach dieser Wolfssichtung passiert?« Stern witterte eine mögliche Spur.
»Nix.« Der Tierpfleger zuckte mit den Schultern. »Der Wolf ist weiterg’zogen und seither net mehr aufg’taucht.«
»Und wie war hernach die Stimmung im Ort?«
»Die Leute haben sich kurz darüber aufg’regt, dann war wieder alles beim Alten. Das ist auch gut so, weil …«
Das Aufheulen eines Motors zog die Aufmerksamkeit von Stern auf sich. Ein weißer Wagen mit der Aufschrift des Zoos fuhr auf der schmalen Straße durch den Tierpark heran, bremste hinter den Fahrzeugen der Polizei und blieb stehen. Die Fahrertür ging auf und ein schlanker Mann mit schütterem Haar stieg aus. Seine Gesichtsfarbe war unnatürlich rot, als hätte er zu lange in der Sonne gelegen. Zweifelsohne hatte er es eilig. Mit athletischem Gang näherte er sich der Aussichtsplattform und rief den Beamten zu: »Was ist hier los?«
Gruppeninspektor Hermann Kolanski stellte sich ihm in den Weg und stoppte ihn mit den Worten: »Sie können nicht weiter. Das ist ein Tatort. Ich muss Sie bitten, dort hinten zu warten und …«
»Das heißt, jemand hat den Wölfen etwas ang’tan, stimmt’s? Waren es militante Wolfsgegner? Wenn ja, sind sie dieses Mal zu weit gegangen! Oder haben Tierschützer das Gehege aufg’macht und die Wölfe freig’lassen? Dann können die was erleben!« Es war dem Mann anzusehen, dass ihm das Wohl der Tiere sehr am Herzen lag und ihm das Großaufgebot an Einsatzkräften Sorgen bereitete.
Kolanski zog seinen Dienstausweis aus der Tasche seiner Lederjacke und hielt ihn dem Echauffierten unter die Nase. »Hermann Kolanski. Gruppeninspektor im Landeskriminalamt Oberösterreich, Mordgruppe …«
»Wieso Mordgruppe?« Der Mann wirkte irritiert.
Stern beugte sich zu dem Tierpfleger hinüber und fragte: »Wer ist dieser Herr?«
»Harald Koman, mein Chef«, erwiderte Eduard Grückel.
Stern machte ein paar Schritte auf den Mann zu. »Herr Koman, ich bin Chefinspektor Oskar Stern und leite die Ermittlungen.«
»Was ist denn passiert? Niemand will mir etwas sagen, Ihre Kollegen beim Eingang wollten mich erst gar net reinlassen. Und von meinen Mitarbeitern geht keiner ans Telefon …«
»Von woher kommen Sie jetzt?«, fragte Stern.
»Ich bin in Wien g’wesen und sofort herg’fahren, als mich die Laura ang’rufen hat, dass etwas mit den Wölfen passiert ist. Dass da überall Blut ist. Die hat rumg’stottert und g’heult, ich hab nix verstanden und mich direkt ins Auto g’setzt«, antwortete Koman. »Später auf der Autobahn hab ich noch mal ang’rufen, weil ich mehr wissen wollt, aber es ging keiner ran.«
»Weswegen waren Sie in Wien?«, hakte Stern nach.
»Ich hab mich mit dem Direktor vom Schönbrunner Tiergarten g’troffen. Wir tauschen uns regelmäßig aus, um uns weiterzuentwickeln. Um die Haltung der Tiere zu verbessern und die Artenvielfalt, die wir präsentieren, zu erhöhen. Solche Dinge«, erklärte Koman. »Aber was ist denn nun passiert? Ist mit den Wölfen alles in Ordnung?«
»Waren denn schon mal Tierschützer hier und haben etwas getan, was sie nicht sollten?«, fragte Mara Grünbrecht, die bislang zugehört hatte.
»Die haben einige Gatter aufg’macht und leider gar keine Ahnung g’habt, was sie damit anstellen. Die glauben, unsere Tiere freilassen zu müssen, weil es gegen die Natur ist, dass die eing’sperrt sind, wissen aber net, dass fast alle unsere Tiere bei uns geboren oder aus anderen Parks zu uns g’kommen sind. Die finden sich in der freien Natur gar net zurecht und kehren nach ein paar Stunden zurück, wenn ihre Neugierde befriedigt ist oder sie der Hunger heimtreibt. Damals sind sie vor dem Zaun g’standen und haben darauf g’wartet, dass wir sie reinlassen.«
»Waren darunter auch Raubtiere?«, fragte Stern beunruhigt.
»Gott sei Dank net. Aber es ist blöd genug, wenn in der Gegend Tiere herumlaufen, die bei uns im Mühlviertel net heimisch sind wie zum Beispiel Kängurus oder Steinböcke.« Koman schaute an den Inspektoren vorbei in Richtung Wolfsgehege und versuchte, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.
Stern verstand, warum der Tierparkleiter so aufgeregt war. Die Sorge um das Wohlbefinden der Tiere trieb ihn um. »Den Wölfen geht es gut, nicht aber dem Mann, der in dem Gehege liegt«, sagte er und beobachtete sein Gegenüber genau.
»Ein Mann?« Koman schluckte. »Ist es einer von uns?«
»Davon gehen wir nicht aus. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, die Identifizierung steht noch aus.«
»Da kann ich vielleicht helfen«, unterbrach Gruppeninspektor Martin Heinze das Gespräch und trat heran. In der Hand hielt er einen Beweismittelbeutel mit einer Geldbörse. »Wir wissen jetzt, wer der Tote ist.«
»Bist du etwa im Wolfsgehege gewesen?« Stern musterte den Kollegen, als prüfte er, ob er unversehrt war. Doch außer dass Heinzes lockige blonde Haare zerzaust vom Kopf abstanden, schien alles in Ordnung zu sein.
»War halb so wild. Der Fundort der Leiche ist ja gut bewacht, da kann einem nichts passieren. Außerdem ist Weber auch unten. Wenn ein Wolf Appetit bekommen hätte, hätte ich ihn nach vorne geschubst.« Heinze grinste und blickte amüsiert in die Runde.
»Nicht lustig, gar nicht lustig«, erwiderte Grünbrecht und machte ihren Kollegen auf das entsetzte Gesicht des Tierparkleiters aufmerksam.
Heinze räusperte sich. »Also, der Tote heißt Walter Zechner. Laut seiner E-Card war er 49 Jahre alt, und einer Visitenkarte nach zu urteilen, gehörte ihm eine Baufirma in Ottensheim. Bau-Newtech GmbH. Er war Inhaber und Geschäftsführer. Hier steht die Firmenadresse.«
»Kennen Sie ihn?«, fragte Stern den Tierparkleiter.
»Nicht persönlich, aber ich weiß, wo das Unternehmen seinen Sitz hat. Wenn Sie von Altenfelden nach Linz fahren, sehen Sie von der Straße aus ein riesiges Firmenschild mit diesem Namen.«
»Danke, das war es vorerst. Wir werden sicher noch Fragen an Sie und Ihre Leute haben, also bleiben Sie bitte auf dem Tierparkgelände«, entließ Stern den Mann, der sich daraufhin zu einer Gruppe von Tiergartenmitarbeitern gesellte. Gewiss würde Eduard Grückel, der den Toten entdeckt hatte, seine Geschichte nun noch einmal erzählen müssen.
»Hast du auch die Privatadresse von Walter Zechner?«, wandte sich Stern an Heinze. »Wir müssen die Familie über seinen Tod informieren.«
»Warte, ich google mal.« Der Ex-Wiener tippte auf seinem Smartphone herum.
»Hostauerstraße in Ottensheim«, warf Grünbrecht ein und steckte zufrieden lächelnd ihr Handy weg.
»Dann fahren Mara und ich dorthin, nachdem wir mit Weber geredet haben. Hoffentlich hat er schon erste Ergebnisse. Und ihr beide«, Stern deutete auf Heinze und Kolanski, »befragt die restlichen Leute vom Tierpark.«
»Und was ist mit Tobias?«, rief Grünbrecht ihrem Chef seinen Enkel in Erinnerung.
Stern schloss die Augen. Den Jungen hatte er völlig vergessen. »Ich … ja … klar. Ich rufe Barbara an und frage, ob sie ihn abholen kann.« Es half nichts, er konnte nicht länger die Dienste der Polizistin in Anspruch nehmen, die ganz andere Aufgaben wahrzunehmen hatte, als auf seinen Enkel aufzupassen.
Stern wählte die Nummer seiner Tochter und schaute von der Plattform in das Wolfsgehege hinab. Der Gerichtsmediziner zog gerade die blutigen Handschuhe aus und klappte den Koffer zu. Nicht eine Sekunde beneidete Stern ihn und die Kollegen von der Tatortgruppe um ihren Job so nahe bei den Wölfen.
Am anderen Ende der Leitung läutete es. Stern hoffte, dass Barbara ihr Handy während des Shoppens nicht auf lautlos gestellt hatte. Als er schon damit rechnete, dass gleich die Mailbox anspringen würde, vernahm er schließlich ihre Stimme. »Ja, Papa?«
»Schatz, es tut mir leid, aber ich muss dich bitten, Tobias abzuholen. Wir haben einen neuen Mordfall, und ich kann nicht mehr länger …«
»Schon gut«, unterbrach Barbara ihren Vater. »Wo seid ihr denn?«
Stern war überrascht, dass ihn seine Tochter nicht mit Vorwürfen überhäufte. »Alles in Ordnung bei euch?«, fragte er deshalb.
Barbara schluchzte. »Nichts ist in Ordnung.«
»Was ist passiert?«
»Das heute war eine totale Schnapsidee! Wir haben uns gestritten, und Melanie ist einfach im Shoppingcenter davongelaufen. Ich hab über eine Stunde auf sie gewartet, doch sie ist nicht zurückgekommen. Ich bin dann nach Hause gefahren. Melanie kann eh die Straßenbahn nehmen.«
»Das tut mir leid.« Stern würde seine Tochter jetzt gerne in den Arm nehmen. Und Melanie hätte er am liebsten ordentlich die Leviten gelesen und sie danach ebenfalls in den Arm genommen – wenn die 14-Jährige es zugelassen hätte.
Stattdessen beobachtete er, wie Weber das Gehege durch die Gittertür unter der Plattform verließ. Grünbrecht deutete ihm mit der Hand, dass sie sich dort hinbegeben sollten, um die Einschätzungen des Gerichtsmediziners zu der Todesursache und dem Todeszeitpunkt zu erfahren.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Papa! Es wird jeden Tag schlimmer. Sie hasst mich …« Barbara weinte.
»Sie hasst dich nicht, Schatz! Sie macht gerade eine schwierige Phase durch. Deine Mutter hat sich ständig über dich beklagt, als du in dem Alter gewesen bist. Ihr habt euch andauernd gestritten, und wenn es einmal keinen Grund gab, hast du einfach einen erfunden, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Die Pubertät ist nicht umsonst so gefürchtet«, versuchte Stern, seine Tochter zu trösten.
»War ich wirklich so schlimm?«
»Wenn ich deiner Mutter Glauben schenke – und das tue ich –, dann sogar noch schlimmer, als Melanie es heute ist.«
»Es tut mir leid, jetzt, wo ich weiß, wie sich das für Eltern anfühlt.«
»Bei mir musst du dich nicht entschuldigen, das meiste hat Mama abbekommen. Ich war dafür viel zu selten zu Hause.«
»Ich erinnere mich. Reden wir nicht darüber …«
Weber gab Stern nun ebenfalls mit Handzeichen zu verstehen, dass er beabsichtigte, alsbald zu fahren, und der Chefinspektor sich sputen müsse, wenn er von ihm noch etwas erfahren wolle.
»Ich muss Schluss machen, Schatz. Kannst du Tobias vom Tierpark in Altenfelden abholen?«
»Ihr seid im Tiergarten? Ich dachte, ihr wolltet Schach spielen.«
»Das haben wir auch getan, aber dann kam eine Leiche dazwischen. Tobias wird dir alles erzählen …«
»Er hat die Leiche gesehen?« Entsetzen schwang in Barbaras Stimme mit.
»Das ließ sich leider nicht vermeiden.« Dass Tobias den Anblick als gar nicht so grausig empfunden hatte, verschwieg Stern.
»Ich fahr gleich los.«
»Danke, Schatz, ich hab dich lieb!«
»Wenigstens jemand, der mich mag«, antwortete Barbara.
»Jeder mag dich, auch Melanie. Sie weiß es im Augenblick nur nicht.«
»Danke, Papa.«
Stern beendete das Telefonat.
»Schwierigkeiten?«, fragte Grünbrecht.
»Die Pubertät hat wieder einmal heimtückisch zugeschlagen.« Stern erzählte seiner Kollegin stichwortartig, was er von seiner Tochter erfahren hatte.
»Bis heute Abend ist Melanie wieder zu Hause«, sagte Grünbrecht zuversichtlich.
»Wenn nicht, kann die junge Dame etwas erleben«, brummte Stern. »Aber jetzt lass uns hören, was Weber über die Todesursache und den Todeszeitpunkt schon sagen kann.«
»Opa! Opa!«, rief Tobias und entfernte sich von der Polizistin, die ihn durch den Tierpark begleitete. Aufgeregt rannte der Junge auf Stern zu. »Du musst dir unbedingt die Wildschweine anschauen! Die haben gerade Junge, und Waltraud sagt, dass man die vielleicht als Haustier halten kann und die gar nicht so wild sind und dass das Wilde nur in ihrem Namen drinsteckt. Krieg ich so eines? Biiiiitte, Opa!«
»Wer ist Waltraud?«, hakte Stern nach und vermutete die junge Frau in Uniform, die ebenfalls näher kam.
»Die nette Polizistin.« Tobias deutete auf seine Begleitung.
Aus den Augenwinkeln sah Stern, dass Dominik Weber ungeduldig auf seine Armbanduhr aufmerksam machte. »Darüber reden wir später. Ich kläre noch schnell ein paar Sachen mit meinem Kollegen«, sagte er zu seinem Enkel.
»Waltraud und ich schauen uns so lange die Geparden an, Opa. Die sind vorhin nur faul herumgelegen, aber jetzt wandern sie durch das Gehege. Wahrscheinlich ist bald Fütterungszeit.« Tobias nahm die Polizistin an der Hand und zog sie hinter sich her.