Mühlviertler Blut - Eva Reichl - E-Book

Mühlviertler Blut E-Book

Eva Reichl

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Der Liebenauer Priester wird im Gotteshaus tot aufgefunden. An seinem Hals befinden sich zwei Einstichmale. Boden, Altar und Soutane sind mit Blut besudelt. Als Chefinspektor Oskar Stern zum Tatort gerufen wird, hat sich die Kunde über einen Vampirmörder längst verbreitet. Beinahe zeitgleich wird in Linz ein Weinhändler ermordet. Auch seine Leiche ist blutleer. Ist der Täter tatsächlich ein Vampir, so wie die Liebenauer Bevölkerung vermutet? Mit Knoblauch und Weihwasser bewaffnet, macht sich Oskar Stern daran, dem Vampirmörder das Handwerk zu legen.

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Seitenzahl: 378

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Eva Reichl

Mühlviertler Blut

Kriminalroman

Zum Buch

Blut und Aberglaube Der Liebenauer Priester wird im ortseigenen Gotteshaus tot auf dem Altar gefunden. An seinem Hals befinden sich zwei Einstichmale. Boden, Altar und Soutane sind mit Blut besudelt. Als Chefinspektor Oskar Stern zum Tatort gerufen wird, hat sich die Kunde über einen Vampirmörder in Liebenau längst verbreitet. Beinahe zeitgleich wird in Linz ein Weinhändler ermordet. Die Taten tragen dieselbe Handschrift, doch die Kriminalbeamten können keine Verbindung zwischen den beiden Mordfällen erkennen. Erst als die Ermittler im Mund des Linzer Opfers und im Magen des Liebenauer Toten Verszeilen finden, ist klar, dass es einen Zusammenhang geben muss. Auf der Suche nach dem Täter stoßen Stern und seine junge Kollegin, Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht, auf Vampirjäger, Knoblauchzöpfe, Schweinsbraten, Kalbslederschuhe, Beziehungsprobleme und einen vermeintlichen Werwolf im Tannermoor. Mit Knoblauch und Weihwasser bewaffnet, macht sich Oskar Stern daran, dem Vampirmörder das Handwerk zu legen.

Eva Reichl wurde in Kirchdorf an der Krems in Oberösterreich geboren und zog wenige Jahre später mit ihrer Familie ins Mühlviertel, wo sie bis heute lebt. Neben ihrer Beschäftigung als Controllerin schreibt sie überwiegend Kriminalromane und Kindergeschichten. Mit ihrer Mühlviertler Krimiserie verwandelt sie ihre Heimat, das wunderschöne Mühlviertel, in einen Tatort getreu dem Motto: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Böse liegt so nah?

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ernest/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5656-5

1. Kapitel

»Liebenau? Noch nie etwas davon gehört.« Etwas unwillig saß Chefinspektor Oskar Stern auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten am Landeskriminalamt in Linz. Heute begann die Fußballweltmeisterschaft. Da wollte er nicht weg! Er hatte sich schon auf einen gemütlichen Fernsehabend daheim in seiner Wohnung in der Herrenstraße gefreut. Und jetzt? Jetzt teilte ihm sein Chef mit, dass sie einen neuen Fall hatten. »Liebenau«, wiederholte er konsterniert. »Wo liegt das überhaupt?« Er bemühte sich auch gar nicht erst, seinen Unwillen zu verbergen. Ein unauffälliger Blick auf seine Armbanduhr ließ ihn wissen, dass es bereits früher Nachmittag und das fehlende Mittagessen wahrscheinlich mit ein Grund war, warum er so schlechte Laune versprühte. Seine Speiseröhre krochen Laute empor, die dem Brummen eines Bären ähnelten. Reflexartig zog er seinen fülligen Bauch ein, was an den Geräuschen jedoch nichts änderte.

»Liebenau ist eine Marktgemeinde im Bezirk Freistadt, nicht einmal 70 Kilometer von Linz entfernt, und hat im Moment wahrscheinlich mehr Fernsehgeräte als Einwohner«, antwortete Bormann in Hinblick auf die beginnende Fußballweltmeisterschaft. Scheinbar hoffte er, den Chefinspektor mit derartigen Aussichten etwas milder stimmen zu können.

Stern kramte in seinem Gehirn nach Erinnerungen. Er hatte das bestimmte Gefühl, als wenn er über dieses Liebenau schon einmal etwas gelesen hätte, dass es ein beschauliches Erholungsdorf sei oder Ähnliches. Na toll!

»Dort gibt es doch sicher nicht einmal Strom. Wie soll dann ein Fernseher funktionieren?«, nörgelte er weiter. Erinnerungen an einen Urlaub, der bereits mehrere Jahre zurücklag, wurden schlagartig wachgerufen. Damals hatte er mit seiner nunmehr geschiedenen Frau Franziska einen Urlaub auf einer steirischen Almhütte verbracht. Einer Almhütte ohne Strom und jeglichen Luxus für Menschen, die genau das wollten. Wie hätte er wissen sollen, dass er so etwas nicht wollte? Eine Woche lang ohne Strom zu sein hatte anfangs geklungen wie ein Abenteuer, ein Hindernisparcours, eine Herausforderung. Und obwohl er Herausforderungen dieser Art hasste, hatte er sich Franziska zuliebe auf eben diese eingelassen. Hätte er damals schon gewusst, dass dem Urlaub eine Scheidung folgte, wäre er zum Nordpol gefahren und hätte dem Weihnachtsmann beim Stricken der Norweger-Pullis geholfen.

»Sie werden überrascht sein, Stern, was die in Liebenau alles haben«, riss der Leiter des Landeskriminalamtes den Chefinspektor aus dessen Erinnerungen, stand auf und setzte sich vor ihm auf die Schreibtischkante. »Kolanski und Mirscher sind im Krankenstand. Kolanski wegen seines gebrochenen Beines, und Mirscher hat einen Magen-Darm-Infekt. Bis die beiden wieder fit sind, haben Sie den Fall längst aufgeklärt. Und sonst hab ich niemanden, den ich schicken kann. Aber ich habe Ihnen und Grünbrecht bereits im besten Gasthaus des Ortes ein Zimmer reservieren lassen.«

Stern brummte, was so viel hieß, dass Bormann ihn kreuzweise konnte. Dass die beiden Kollegen Mirscher und Kolanski zur selben Zeit ausfielen, war schon Pech. Er stemmte sich aus dem Stuhl und trottete wie einer, der zum Schafott geführt wurde, zur Tür.

»Ach, Stern …«, rief der Dienststellenleiter ihm hinterher.

»Ja?« Der Chefinspektor wandte sich noch einmal um.

»Vergessen Sie nicht, auch etwas Warmes einzupacken. Die Nächte im Mühlviertel können sogar im Juni noch rau sein.« Bormann grinste verhalten.

Stern murmelte etwas Unverständliches. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Eineinhalb Stunden später fuhren er und Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht in Sterns grauem Audi A6 auf der S10 in Richtung Freistadt, oder besser gesagt: sie krochen in Richtung der als Kultur- und Braustadt bekannten Mühlviertler Provinzmetropole. Sterns Fahrgeschwindigkeit glich nach Grünbrechts Dünken einer Schnecke beim Mittagsschlaf. Sie selbst liebte es, ein wenig rasanter durchs Leben zu fahren.

»Wenn Sie nicht ein bisschen aufs Gas steigen, fängt die Leiche noch an zu verwesen, bevor wir dort sind«, stichelte sie schon nach zehn Minuten Fahrzeit.

»Wieso haben Sie es denn so eilig?«, fragte Stern. Beim Autofahren gab es nichts, was ihn aus der Ruhe brachte. Außer Dominik Weber, dem Gerichtsmediziner, der aus jeder Fahrt zu einem Tatort ein Wettrennen veranstaltete. Aber selbst das war Stern heute egal. Er wollte die Fahrt ins Mühlviertel zumindest genießen, wenn er sie schon nicht hatte verhindern können.

»Von Eile kann ja wohl kaum die Rede sein«, antwortete Grünbrecht und blickte sehnsüchtig auf die Wagen, die links an ihnen vorüberzogen. Stern gewann den Eindruck, als wenn sie sogar in den Beifahrersitz sänke, um nicht von einem der vorbeirasenden Lenker erkannt zu werden.

»Dafür kommen wir sicher an unserem Ziel an«, rechtfertigte er sein Tempo und dachte, dass diese jungen Dinger es doch immer so eilig hatten. Mara Grünbrecht war gerade mal 36 Jahre alt. In diesem Alter war man noch ungestüm und wild, und das war auch gut so. Er hingegen war 59 und hatte die Sturm-und-Drang-Zeit längst hinter sich. »Und so schnell fängt eine Leiche nun auch wieder nicht zu verwesen an.«

Recht viel hatte der Dienststellenleiter Stern wegen des provinziellen Mordes nicht gesagt, außer, dass die Spurensicherung bereits zum Tatort unterwegs sei und er sich sputen müsse. Natürlich kannte auch der Dienststellenleiter Sterns Fahrweise, aber der eigentliche Grund, warum er ihn gedrängt hatte, war der hiesige Bestatter, der die Leiche so schnell wie möglich vor den Augen der Neugierigen verschwinden lassen wollte. Irgendetwas von mysteriös und diabolisch hatte er noch gemeint, dann aber gesagt, Stern solle sich am besten selber ein Bild machen.

In Freistadt fuhren sie von der S10 ab und nahmen die Böhmerwald Straße Richtung Sandl. Nach einer Dreiviertelstunde verließen sie die selbige in Schönberg nahe der Grenze zu Niederösterreich und bogen einem Schild folgend auf eine schmale Seitenstraße ab. »Liebenau, 9 Kilometer«, stand auf dem Wegweiser. Die Harrachstaler Bezirksstraße führte die Inspektoren durchs hügelige Mühlviertel. Sattgrün und sanft breiteten sich Wiesen, Felder und jede Menge Wald neben der Straße aus. Stern war von dem Anblick fasziniert, und seine Laune besserte sich von Kilometer zu Kilometer, den sie zurücklegten. Auch wenn er Linz mit allem, was dazugehörte, liebte, die Linzer Landstraße mit ihren unzähligen Geschäften, die Altstadt und ihre Lokalitäten, so wirkte der Anblick der hügeligen Landschaft auf eine bestimmte Art befreiend auf ihn.

»Kaum zu glauben, dass es bei uns so schön ist und alle immer nur im Süden Urlaub machen wollen«, kam auch Grünbrecht zu dem gleichen Ergebnis.

»Ich mach keinen Urlaub im Süden«, erwiderte Stern.

»Sie machen überhaupt keinen Urlaub, Chef. Weder im Süden noch im Norden und schon gar nicht im Westen oder im Osten.«

»Ich hab bald nur noch Urlaub, Grünbrecht.«

»Das nennt man Ruhestand, Chef.«

»Ist doch irgendwie dasselbe.«

»Spüre ich da etwa so etwas Ähnliches wie eine vorzeitige Altersdepression?«, fragte die Gruppeninspektorin.

Stern verdrehte die Augen. »Altersdepression? Wo haben Sie das denn her?«

»Ich meine ja nur«, verteidigte sich Grünbrecht, da sie keinen fundierten Beweis für ihre Behauptung vorweisen konnte. Aber gelesen hatte sie mal etwas darüber.

Stern, dem das Gespräch über seine Altersdepression unangenehm war – ob er nun eine hatte oder nicht –, sah endlich ein Ortsschild in Sichtweite rücken. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, um lesen zu können, was darauf geschrieben stand. Das war auch so eine Sache. Mit zunehmendem Alter wurde seine Sehkraft schwächer. In die Ferne und in der Nähe. Er würde sich eine Brille zulegen müssen. Wahrscheinlich, wenn er im Ruhestand war. Auf gar keinen Fall früher.

»Wir sind da«, offenbarte Grünbrecht ihrem Vorgesetzten. Jetzt war klar, was auf dem Schild stand, also brauchte er gar keine Brille.

»Liebenau«, brummte er zur Bestätigung. Seiner und Grünbrechts.

Rechts am Ortsbeginn stand ein Dreiseithof, der die Ankömmlinge willkommen zu heißen schien. Gerade wurden Rinder auf einen Viehtransporter verladen, und Stern bekam sofort Appetit auf einen saftigen Rinderbraten samt Kartoffeln und Semmelknödel. So ein deftiges Mahl wäre für ihn eine kleine Entschädigung für die Reise hierher ins hügelige Nirgendwo. Es war ja längst Nachmittag, und Stern hatte seit dem Frühstück nur eine Leberkässemmel gegessen. Wie es aussah, würde es aber noch eine Weile dauern, bis er etwas zwischen die Zähne bekam, denn da war ja noch die Leiche. Die stand zwischen ihm und einer deftigen Mahlzeit. Und Grünbrecht, die, ihrer Figur nach zu urteilen, keine Zeit mit Essen vergeudete. Wahrscheinlich aß sie pro Tag nicht mehr als ein paar Salatblätter und eine Tomate.

Stern kramte in der Mittelkonsole nach einer Packung Pfefferminzbonbons und sah gerade noch aus den Augenwinkeln, wie eine schwarze Katze von links aus der Wiese gelaufen kam, die Straße querte und unter dem Wagen verschwand. Erschrocken blickte er in den Rückspiegel.

»Hab ich sie erwischt?«

»Nein«, antwortete Grünbrecht sichtlich gelangweilt. »Dafür fahren Sie nicht schnell genug. Ich hab gesehen, wie die Katze auf der rechten Seite in die Wiese gesprungen ist und sich dort gemütlich ins Gras gelegt hat.«

Erleichtert atmete Stern auf. Nach altem Volksglauben brachte es Unglück, eine schwarze Katze zu überfahren, und auch wenn Stern nicht abergläubisch war, wollte er das Schicksal nicht herausfordern. Er drosselte die Geschwindigkeit auf Tempo 30 und verzichtete auf Blaulicht und Folgetonhorn. Das Opfer war ohnehin längst tot, der Leichenfund lag mehrere Stunden zurück. Da war keine Eile mehr geboten. Leichen liefen nicht weg.

Mit der linken Hand öffnete er den Bonbonbehälter und steckte sich drei der kleinen, weißen Dinger in den Mund. Dann hielt er die Packung Grünbrecht hin.

»Wollen Sie auch?«

»Nein, danke«, lehnte die Gruppeninspektorin ab.

Liebenau erinnerte Stern an eine Geisterstadt. Niemand überquerte die Straße, keiner putzte halsbrecherisch die Fenster, und es fehlten die Kinder, die Bälle über die Fahrbahn schossen, um anschließend anstatt ihres eigenen Lebens jenes des Balls vor dem heranrasenden Wagen zu retten. Der Ort war wie leergefegt. Kein gutes Zeichen, dachte Stern. Die schwarze Katze fiel ihm wieder ein.

»Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte nun auch Grünbrecht.

»Ich bin sicher«, brummte Stern, wenngleich er einen Anruf im Landeskriminalamt für einen Augenblick in Erwägung zog. Doch als sie den Ortsplatz von Liebenau erreichten, wusste er, warum sie zuvor niemanden gesehen hatten. Alles, was gehen oder sich auf andere Weise fortbewegen konnte, hatte sich vor der spätbarocken Kirche versammelt. Das Ganze hätte eine Erntedankprozession sein können, oder eine große Hochzeit, wie sie am Land üblich war und zu der man Gott und die Welt einlud. Dennoch wusste Stern, dass das Erscheinen der Menge und das Belagern des Platzes vorm und der Zugänge zum Gotteshaus einen ganz anderen Grund hatten. Einen weitaus weniger fröhlichen. Hinter einer Menschentraube erspähte er den Kleinbus der Spurensicherung und fragte sich, ob der Gerichtsmediziner auch schon da war? Webers Wagen war aber nirgendwo zu sehen, kein Wunder, bei dem hier stattfindenden Volksfest.

»Halleluja! Was ist denn hier los?«, stieß Grünbrecht aus.

»Nichts zieht die Menschen mehr an als ein Todesopfer.« Es war Stern anzusehen, was er davon hielt.

Im Schritttempo ließ er den Audi durch die Menge rollen. Die wich nur ungern zur Seite und tat ihren Unmut sogleich lautstark kund. Schließlich könnte man etwas verpassen, war man sich einig, während sich dieser Wichtigtuer mit Linzer Autonummer ganz nach vorne auf den besten Platz schob. Einer der Schaulustigen hieb sogar mit der Faust auf die Motorhaube von Sterns Wagen, was diesen das Fenster herunterlassen und ein deftiges Schimpfwort abfeuern ließ. Das wiederum brachte die Menge zum Brodeln. Jener Mann, der den tätlichen Angriff auf Sterns Wagen vollzogen hatte, griff durch das geöffnete Fenster und packte Stern am Hemd. Der zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Mann direkt vor die Nase.

»Landeskriminalamt Oberösterreich, Chefinspektor Oskar Stern«, sagte er ruhig, weil er die Stimmung nicht noch weiter anheizen wollte.

»Es … es tut mir leid«, stotterte der Mann und machte sofort einen Rückzieher. Die Menge teilte sich wie eine mit der Axt gespaltene Melone und ließ Stern und Grünbrecht bis zum Absperrband vor der Kirche vorfahren. Dort stellte Stern den Motor ab. Ein Polizist, der wie eine Bulldogge vor dem Kirchenportal diese vor Schaulustigen gerade noch zu verteidigen versucht hatte, kam schwitzend auf sie zu gerannt.

»He! Da können S’ aber nicht stehen bleiben!«, rief er.

Grünbrecht reckte den Kopf aus dem Fenster und fragte: »Sehen Sie eine andere Parkmöglichkeit?« Dabei wies sie auf die Menschen, die den Platz vor der Kirche bevölkerten wie bei einem Open-Air-Konzert und nach vorne drängten, als gäbe es in dem Gotteshaus den Messwein gratis. Ungeachtet des Protestes des ländlichen Kollegen stieg Stern aus dem Wagen. Grünbrecht tat es ihm gleich.

»Sind Sie schwerhörig?«, fauchte der Polizist. »Da können S’ nicht stehen bleiben, hab ich gesagt!« Er stellte sich Stern in den Weg, der gerade über das Absperrband hatte steigen wollen, und versuchte, ihn mit Körpereinsatz aufzuhalten. Trotz der Kühle an diesem Tag schwitzte der Kollege, und Stern war sich sicher, dass er einem nervlichen Zusammenbruch nahe war. Wahrscheinlich war es sein erster Mord, dachte der Chefinspektor und erinnerte sich, als er seine erste Leiche zu Gesicht bekommen hatte. Eine Wasserleiche war das damals gewesen. Die hatte mehrere Wochen im Pichlingersee mit einem Gewicht an den Füßen im Wasser gelegen und war von einem Hobbytaucher entdeckt worden. Das war kein schöner Anblick gewesen! Sofort verspürte Stern einen säuerlichen Geschmack im Mund. Er trat zurück an die Tür seines Audis, öffnete sie, sodass der ländliche Kollege sich bereits als Sieger wähnte und zurück zur Kirchenpforte eilte, fischte die Pfefferminzbonbons aus der Ablage in der Mittelkonsole und steckte sich gleich fünf davon in den Mund. Dann schlug er die Tür eine Spur zu heftig zu, was den Polizisten auf seinem Weg zur Kirche innehalten ließ, drückte auf die Fernbedienung in seiner Hand, was ein orangefarbenes Blinken am Audi auslöste und diesen absperrte.

»Hey …« Der Polizeibeamte kam mit hochrotem Kopf zurück und deutete auf den Wagen. Wahrscheinlich wollte er seine Forderung, dass Stern woanders parken solle, wiederholen, doch der Chefinspektor ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Er zog den Dienstausweis aus seiner Tasche und sagte: »Chefinspektor Oskar Stern. Das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt in Linz und übernehmen ab jetzt diesen Fall.« Wenn Stern mit einer unterwürfigen Reaktion gerechnet hatte, hatte er sich geirrt.

»Na endlich!«, schwenkte der Polizist von zuvor ungehalten auf jetzt erleichtert und ließ nichts von einer hierarchischen Dienstbeflissenheit erkennen. Viel eher klang sein nächster Satz wie ein Vorwurf. »Ich hab schon gedacht, dass die Leiche zu stinken anfängt, bevor sich die Kripo hier blicken lässt.«

Stern war verblüfft. So etwas Ähnliches hatte er heute schon mal gehört, und zwar von Grünbrecht.

»Na, so schnell geht das nun auch wieder nicht«, relativierte er den Tadel seines ländlichen Kollegen und warf Grünbrecht einen prüfenden Blick zu. Die Gruppeninspektorin trug ihre schulterlangen braunen Locken zu einem Zopf gebunden. Nur hin und wieder standen ein paar widerspenstige Haarsträhnen von ihrem Kopf ab und kräuselten sich in alle Richtungen. Als er merkte, dass sie verhalten grinste, steckte er den Dienstausweis ein, seufzte und sah sich um. Unverkennbar waren sie gleich im Zentrum des Geschehens gelandet. Der Platz vor der Kirche war der Mittelpunkt des hiesigen Lebens. Irgendwo im Ort musste dann der Brücklwirt sein. Dort würden er und Grünbrecht später Quartier beziehen und etwas Anständiges essen, hoffte er. Zuerst galt es aber, nach der Leiche zu sehen. Er wandte sich der Menschenansammlung zu und wusste, wohin er gehen musste, auch ohne dass ihm jemand den Weg wies. Aber dieser jemand ließ es sich nicht nehmen.

»Revierinspektor Josef Plattlbauer«, stellte der sich vor und fügte an: »Da lang, Herr Chefinspektor und Frau Gruppeninspektorin.« Plattlbauer deutete auf den Eingang der Kirche und redete weiter, während er für die Beamten der Kripo das Absperrband nach unten drückte. »Liebenau fällt in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich stamme von hier, wohne auch da, aber arbeiten tue ich in Weitersfelden. Das liegt zehn Kilometer von hier entfernt. Liebenau selbst hat keine Polizeidienststelle mehr, die hat man vor Jahren wegen Sparmaßnahmen geschlossen, deshalb tun die Menschen hier, was sie wollen. Sehen Sie sich das Ganze nur mal an! Wie soll ich bei so einem Fall alleine zurechtkommen?« Plattlbauer schnaubte. Ob vor Entrüstung oder weil er überfordert war, konnte Stern nicht sagen. »Gott sei Dank sind Ihre Kollegen von der Spurensicherung schon da! Die waren ein bisschen schneller als Sie und haben mir geholfen, den Tatort abzuriegeln, dass die ganzen Rindviecher da nicht hineintrampeln und alle Spuren vernichten. Weil wollen täten die schon, wissen S’!« Der Revierinspektor deutete in Richtung der neugierigen Menschen. Er wirkte heilfroh, die sensationslüsterne Menge nun nicht mehr allein unter Kontrolle halten zu müssen. Endlich hatte er Verstärkung an seiner Seite, noch dazu einen Chefinspektor und eine Gruppeninspektorin vom Landeskriminalamt Oberösterreich in Linz. Die hiesige Bevölkerung hatte sich zuvor nämlich die ganze Zeit über keinen Deut darum geschert, was er zu sagen hatte. Das würde sich jetzt aber gravierend ändern!

»Ist das Ihr erster Mord?«, fragte Stern.

»Ja, mein erster«, wiederholte Plattlbauer. Freudig erregt, wie Stern vorkam. Na gut, der erste Mord war immer etwas Besonderes, dachte er dann, also wollte er ein wenig nachsichtig mit dem Kollegen sein.

»Dann lassen Sie uns ans Werk schreiten«, sagte er und ging auf das Portal der Kirche zu. Die neugierigen Blicke der Liebenauer folgten ihm. Sie schienen sich zu fragen, was denn so Entsetzliches in ihrem Gotteshaus geschehen war, dass die Kripo aus Linz anrücken musste. Denn natürlich wusste man, dass jemand dahingeschieden war. So etwas ließ sich in so einem kleinen Ort nicht verheimlichen. Liebenau zählte gerade mal an die 1.600 Einwohner, je nachdem, wie viel gerade geboren und gestorben wurde. Aber wer das Zeitliche gesegnet hatte, und vor allem, warum er es getan hatte, wollte man halt auch erfahren.

»Um wen handelt es sich bei dem Toten?«, fragte Stern den Revierinspektor.

»Um den Pfarrer«, antwortete Plattlbauer diensteifrig.

»Den Pfarrer?« Grünbrecht blieb stehen und starrte den ländlichen Kollegen an. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass sie gleich die Leiche eines Priesters sehen würden.

»Äh … ja, der Pfarrer«, wiederholte Plattlbauer.

»Was kann ein Pfarrer denn schon angestellt haben, dass er Opfer eines Gewaltverbrechens wird?« Es war Grünbrecht anzusehen, dass ihr die Vorstellung, im Fall eines ermordeten Mannes Gottes zu ermitteln, nicht sonderlich behagte.

»Ein Pfarrer ist auch nur ein Mensch, Grünbrecht. Und alle Menschen sündigen. Die einen mehr, die anderen weniger«, erwiderte Stern und übertrat achtlos die Kirchenpforte, während Plattlbauer und Grünbrecht ihre Finger im Weihwasserbecken versenkten und sich bekreuzigten. Ein Blick nach vorne in den Altarraum ließ Stern jedoch wünschen, er hätte es ihnen gleichgetan. Ein Kreuzzeichen war hier mehr als angebracht. Jedoch helfen würde es auch nichts mehr.

»Um Gottes willen!« Dieser Ausruf sprang dem Chefinspektor wie ein Ziegenbock über die Lippen.

»Ich glaube kaum, dass das etwas mit dem Willen Gottes zu tun hat«, sagte Grünbrecht voller Abscheu.

Stern pflichtete ihr stumm bei, während sie das Kirchenschiff durchquerten und näher zum Altarraum vorrückten. Vor dem neuromanischen Hochaltar mit erhöhter Mitte im Rundbogenstil lag auf dem Tisch des Herrn eine Leiche – nach der Aussage des Revierinspektors der hiesige Pfarrer. Stern hatte schon allerlei gesehen, auch auf die brutalste Weise dahingemetzelte Menschen, die oftmals zerstückelt worden waren oder die unterschiedlichsten Verwesungsgrade aufwiesen. Aber eine derartige Inszenierung eines Leichnams war ihm, seit er bei der Kriminalpolizei beschäftigt war, nur selten untergekommen.

Der Mörder hatte den Pfarrer von den Füßen an bis zum Hals mit einem Seil eingewickelt. Stern schoss der Vergleich mit der Beute einer Spinne durch den Kopf, die ihre Opfer mit ihrem seidenen Faden umwickelte und auf diese Weise für später aufbewahrte. Ein absurder Vergleich zwar, der auch aus einem Film wie »Spiderman« oder »Die Mumie« stammen könnte, musste Stern zugeben, dennoch war auch der Pfarrer durch diese Darstellung zu jemandes Beute erklärt worden. Das Priestergewand hatte man der Leiche unter dem Seil um den Leib gewickelt, so als wäre der Mörder bemüht gewesen, den Priester nicht kompromittierend für die Augen Fremder zurückzulassen. Die Augen weit aufgerissen und ebenso den Mund, starrte der Tote ins Leere, dorthin, wo nur noch der Teufel und sein Gefolge zugegen waren. Eingetrocknetes Blut überdeckte Hals und Gesicht. Der Kollar, ansonsten strahlend weiß, war braun und fleckig. Im schwarzen Gewand des Priesters konnte Stern das Blut auf den ersten Blick hin nicht ausmachen, aber er war sich sicher, dass die Spurensicherung eine Menge fände. Die Beine des Priesters hingen auf der rechten Seite des Altars hinunter. Am Boden des Altarraums breitete sich unter dem Haupt eine große Blutlache aus, als hätte man den Priester hier abgelegt, um ihn ausbluten zu lassen. Ein Spritzmuster rund um den Altar ließ den Chefinspektor wissen, dass ihm die Verletzungen am Hals, die wahrscheinlich zum Tod geführt hatten, hier zugefügt worden waren, und die Fesselung dazu gedient hatte, dass sich das Opfer nicht hatte wehren können. Der Fundort war demnach auch der Tatort. Aber das mussten Weber und die Spurensicherung noch bestätigen.

»Schrecklich, nicht wahr?« Revierinspektor Plattl­bauer riss den Chefinspektor aus dessen stillen Bestandsaufnahme.

»Das können Sie laut sagen.« Der, der dies von sich gab, war Dominik Weber, der Gerichtsmediziner, der eben durch das Kirchenschiff auf den Altarraum zusteuerte.

»Grüß dich, Weber«, sagte Stern erfreut, dass er und Grünbrecht vor dem Gerichtsmediziner am Tatort eingelangt waren.

»Grüß dich, Stern. Hast dich auch hierher in die Abgeschiedenheit getraut?« Dominik Weber wusste um Sterns Abneigung dem Ländlichen gegenüber Bescheid. Der Chefinspektor war ein richtiger Stadtmensch. Einer, dem die Betonbauten einer Stadt wie Linz gerade hoch genug waren. Einer, der die Aussicht lieber vom Linzer Power Tower genoss als von einem Berg. Mord und Totschlag waren nachgewiesen in den Städten viel höher als auf dem Land, demnach war er in Linz viel besser aufgehoben, war Sterns Meinung. Ein Blick auf die auf dem Altar liegende Leiche ließ ihn jedoch wissen, dass die Ländler gerade dabei waren, in dieser Statistik aufzuholen.

»Musste ja wohl sein«, brummte er und betrachtete die Wundmale am Hals der Leiche. Zwei Einstichlöcher. Kaum zu sehen, wäre nicht die ganze Sauerei rundum. »Weißt du schon, wann er gestorben ist?«

»Ich bin doch gerade erst gekommen, Stern!«, sagte Weber entrüstet, nahm ein Thermometer und ein Skalpell aus seiner Tasche und rammte ersteres durch einen kleinen Schnitt dem Opfer an jener Stelle in den Rumpf, wo Stern die Leber vermutete.

Im Kirchenschiff war ein Hüsteln zu hören. Revierinspektor Plattlbauer hatte sich abgewandt und blickte nun in Richtung der Brüstungsorgel, in deren Mitte die Figur der heiligen Cäcilia angebracht war. An seiner Haltung war zu erkennen, dass ihm die Behandlung der Leiche durch den Gerichtsmediziner nicht sonderlich gut bekam.

Weber zog das Thermometer aus der Leiche und besah sich das Ergebnis.

»Und? Wann ist er ermordet worden?« Sterns Ungeduld war allen bestens bekannt und auch, dass er und Weber des Öfteren Meinungsverschiedenheiten hatten.

»So gegen Mitternacht, würde ich meinen. Genaueres kann ich dir erst …«

»… nach der Obduktion sagen, ich weiß.« Stern brachte Webers Satz mit einem Schuss Zynismus zu Ende.

»Musst dich halt ein wenig gedulden. Hier ist es doch schön, in Liebenau. Kannst dich ein wenig entspannen oder wandern gehen im Tannermoor«, schlug der Gerichtsmediziner grinsend vor.

»Grünbrecht will so schnell wie möglich von hier weg«, sagte Stern und redete weiter, bevor seine junge Kollegin dagegen protestieren konnte. »Übrigens, was ist das hier?« Er deutete mit dem Finger auf die zwei Einstichwunden am Hals des Opfers.

»Sieht wie Bissmale eines Vampirs aus.«

Weber, Stern und Grünbrecht fuhren herum. Sie starrten den hinter ihnen stehenden Revierinspektor überrascht an. Der hatte bislang alles wortlos mitverfolgt, bis auf die kleine Übelkeitsattacke, als der Gerichtsmediziner dem Opfer das Thermometer in die Leber geschoben hatte.

»Bitte was?«, hakte Grünbrecht nach.

»Ein Vampir!«, wiederholte Plattlbauer. »Ganz klar. Das sieht man doch.«

»So ein Schwachsinn! Sie schauen wohl zu viel fern, Plattlbauer.« Stern schüttelte ob der abstrusen Behauptung des Revierinspektors den Kopf.

»Oh, das glaube ich nicht«, erwiderte der Angesprochene eingeschnappt, machte am Absatz kehrt und setzte sich in die vorderste Bank im Kirchenschiff, wo sonntags die Kirchenbesucher fromm die Hände falteten. Er aber verschränkte schmollend die Arme vor der Brust und stierte auf die Kripobeamten, die neben der verschnürten Leiche standen und ihr auf den Hals starrten, als stünden dort die Antworten auf all ihre Fragen.

Die Aussage des Revierinspektors ignorierend unterhielten sich Stern, Grünbrecht und Weber über eine weitaus realistischere Todesursache. »Diese Male könnten von allem Möglichen verursacht worden sein, das circa zwei bis fünf Millimeter dick ist. Nagel, Stricknadel, halt alles, was in etwa diese Stärke aufweist. Die Schwellung zeigt, dass er noch gelebt hat, als man ihm in den Hals gestochen hat. Das umliegende Gewebe hat sofort reagiert. Während der erste Einstich für die Todesursache nicht relevant ist, hat der Täter mit dem zweiten Stich genau die Halsschlagader getroffen. Deshalb die ganze Sauerei hier.« Weber deutete auf den blutbesudelten Boden und den Altar, der durch das Blut wie ein abstraktes Kunstwerk eines österreichischen Künstlers aussah. »Es muss gespritzt haben. Der Mörder hat sicher ebenso eine Menge Blut abbekommen. Wenn das Herz noch pumpt und jemand diese Schleuse hier öffnet …« Weber wies auf den Hals des Opfers, um zu verdeutlichen, wovon er sprach, als im Kirchenschiff ein Würgen und Poltern zu vernehmen war. Der Gerichtsmediziner hielt inne und wandte sich um. Stern und Grünbrecht taten es ihm gleich. Die Inspektoren sahen gerade noch, wie sich Plattl­bauer in der vordersten Sitzbankreihe übergab. Die Kriminalbeamten tauschten vielsagende Blicke aus.

»Sein erster Mord«, klärte Stern den Gerichtsmediziner auf und ging die zwei Stufen vom Altarraum hinab ins Kirchenschiff zu den Sitzbänken. Dort wartete er, bis der Revierinspektor zum Vorschein kam, sich mit dem Ärmel über den Mund wischte und ihn anschaute, als müsste er sich erneut übergeben. Die Farbe seines Gesichts unterschied sich nicht mehr von dem Weiß der gekalkten Kirchenwände.

»Na, geht’s wieder?« Stern stellte sich vor Plattlbauer und verdeckte ihm mit seinem fülligen Körper die Sicht auf den ausgebluteten Pfarrer.

Der Revierinspektor nickte, zögernd, wie Stern vorkam, und vermied es, an ihm vorbeizuschauen. »Das ist nur, weil der so grausig dahergeredet hat«, versuchte er zu erklären.

»Am besten, Sie sorgen vor der Kirche für Ruhe und Ordnung. Hier brauchen wir Sie nicht. Die Kollegen der Spurensicherung machen das schon, aber draußen, da werden Sie dringend benötigt.« Stern klopfte dem Revierinspektor auf die Schulter. Der wirkte erleichtert und schob seinen Hintern die hölzerne Kirchenbank hinaus. Nicht zu schnell, damit sein Magen nicht noch einmal rebellierte. »Und Plattlbauer …« Stern wollte dem Revierinspektor etwas mit auf den Weg geben. Der blieb stehen und wandte sich langsam um. »Das mit den Vampiren will ich nicht noch einmal von Ihnen hören, verstehen Sie? Da werden die Leute hysterisch, wenn wir so etwas behaupten. Ich verlass mich da auf Sie!« Wie ein Hund, der eben Prügel bezogen hatte, verließ der Revierinspektor die Kirche.

Stern wandte sich seinen Kollegen und dem Opfer zu. Er musste zugeben, es war tatsächlich kein schöner Anblick, dazu noch die ausführlichen Schilderungen Webers – und der Albtraum eines jeden Menschen war fertig.

»Na, Weber, haben Sie noch etwas für uns?«, fragte Grünbrecht. Sie hielt Block und Stift für etwaige Notizen bereit.

»Dass der Pfarrer verblutet ist, brauche ich euch wohl nicht zu sagen. Die Menge des Blutes, die ihr hier seht, spricht für sich. Die Tatzeit – da wiederhole ich mich – ist so um Mitternacht, also die beste Stunde für Vampire.« Weber grinste.

»Fängst du auch noch damit an!«, fuhr Stern ihn an. Er hielt nämlich schlichtweg gar nichts von diesem Vampirhokuspokus. »Sonst noch was? Aber bitte etwas, das wir brauchen können.«

»Derweilen nicht«, antwortete Weber amüsiert, weil er mit seinem Kommentar über die beste Stunde für Vampire Stern auf die Palme gebracht hatte. Über dieses Ergebnis zufrieden, steckte er seine Gerätschaften zurück in die Tasche und schritt in Richtung Kirchenpforte davon. »Wenn ihr mit ihm fertig seid, schickt ihn mir bitte in die Gerichtsmedizin!« Mit diesen Worten an die Spurensicherer verließ Weber das Gotteshaus.

»Warum macht jemand so etwas ausgerechnet mit einem Pfarrer?«, fragte Grünbrecht, die Arme mit dem Notizblock verschränkt und den Blick auf den Leichnam gerichtet.

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten, Grünbrecht. Der Mensch ist von Natur aus böse, das müssten Sie als Inspektorin eigentlich am besten wissen. Und wenn jemand in den eigenen Augen einen Grund zum Töten hat, dann ist es ihm wahrscheinlich egal, ob das Opfer eine Soutane trägt.«

»Ein Eifersuchtsdrama können wir aber ausschließen.«

»Sagen Sie das nicht, Grünbrecht. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Aber fragen Sie bei der Spurensicherung nach, ob die die Tatwaffe gefunden haben. So etwas Ähnliches, wie Weber es beschrieben hat, also Stricknadeln, Nägel oder dergleichen.«

»Hab ich schon. Während Sie mit Weber geredet haben.«

»Natürlich haben Sie das.« Stern wusste um die Dienstbeflissenheit seiner jungen Kollegin Bescheid. »Und? Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

»Sie sagen, dass sie noch nichts gefunden haben, was als Tatwaffe infrage kommt.«

»Gibt es Überwachungskameras?«

»Das hier ist eine Kirche, Chef!« Grünbrecht klang entrüstet und war sich sicher, dass eine Antwort aufgrund dessen, dass sie in einem Gotteshaus standen, überflüssig war.

»Gibt es draußen vor der Kirche vielleicht Kameras? Möglicherweise sehen wir ja, wie der Priester und der Mörder die Kirche betreten haben und nur der Mörder sie verlassen hat.« Stern wusste schon, während er sprach, dass sich sein Wunsch nicht erfüllen würde. Überwachungskameras passten genauso wenig zu einer Kirche wie Pommes frites und Burger zu einer Diät.

»Es würde mich wundern, wenn es in Liebenau auch nur eine einzige Überwachungskamera gibt«, antwortete Grünbrecht. »Ich kann mal nachfragen, aber zu viele Hoffnungen würde ich mir nicht machen.«

Der Chefinspektor brummte als Antwort. Er hatte das volle Ausmaß der Tragödie erkannt. Das hier war kein Fall, den man schnell im Vorbeigehen löste, weil die Fakten ohnehin klar am Tisch lagen und der Täter allen bestens bekannt war. Die Aufklärung dieses Falls nahm bestimmt mehrere Tage in Anspruch, wenn nicht sogar Wochen. Schließlich hatte sich der Täter die Mühe gemacht, den Leichnam theatergerecht zu inszenieren. Da hatte er sicher ebenso genügend Zeit dafür aufgewendet, alle Spuren zu beseitigen. Jetzt wusste Stern, warum der Dienststellenleiter etwas von mysteriös und diabolisch dahergeredet hatte.

»Na, dann«, sagte er und wandte sich von dem Toten ab.

»Dann jagen wir also einen Vampir«, sagte Grünbrecht lapidar, ohne zu ahnen, dass sie sich damit Sterns Unmut zuzog.

»Das ist doch lächerlich!«, fuhr der sie gleich an. Doch lächerlich hin oder her: Sie beide saßen solange in Liebenau fest, bis sie den Mörder überführt hatten. Wie lange das dauern würde, wusste Stern nicht. Er wusste auch nicht, ob es überhaupt einen Vernehmungsraum gab. Außerdem brauchten sie jemanden, der sie in das örtliche Geschehen einweihte, der ihnen verriet, wer es mit wem trieb und wer mit wem Streit hatte. Dinge, die nur ein Liebenauer wissen konnte – Plattlbauer! Der hatte doch eingangs erwähnt, dass er aus Liebenau stamme, demnach alles über die hiesige Bevölkerung wissen müsste oder zumindest in Erfahrung bringen konnte. Städtern, wie Stern und Grünbrecht es waren, würden die Menschen hier nichts erzählen, zumindest nichts, was sie ihnen nicht eigenhändig aus der Nase zogen. Stern hoffte nur, dass die schaurigen Schilderungen Webers keine langfristigen Schäden im Nervengerüst des Revierinspektors hinterlassen hatten.

»Wo zum Kuckuck steckt eigentlich Plattlbauer?«, fragte er Grünbrecht, als er in die leere erste Bankreihe blickte.

»Sie haben ihn doch selber nach draußen geschickt, nachdem er alles vollgekotzt hat«, erinnerte Grünbrecht ihn an den unschönen Abgang des Kollegen.

»Ja, Sie haben recht.«

»Ich habe immer recht«, sagte Grünbrecht selbstbewusst.

Der Chefinspektor wandte sich daraufhin seiner Kollegin zu. »Grünbrecht, wenn Sie das glauben, sind Sie ein Grünschnabel.« Das Wortspiel mit Grünbrechts Namen gefiel ihm und zauberte ein Lächeln in sein Gesicht. Dann wandte er sich ab und verließ die Kirche. Hier waren sie mit ihrer Arbeit fertig. Er deutete den Kollegen der Spurensicherung, dass Kirche und Pfarrer nun gänzlich ihnen gehörten.

Am Kirchenplatz war indessen Volksfeststimmung eingekehrt. Für Revierinspektor Plattlbauer war der zuvor erlittene Exkurs in die Anatomie des Menschen im Augenblick wohl das geringste seiner Probleme. Er war vollends damit beschäftigt, die ständig über die Absperrung tretenden Schaulustigen einzufangen, sie zu verwarnen und auf ihre Plätze zurück zu verfrachten. Er schwitzte, und seine Gesichtsfarbe hatte sich von dem innerkirchlichen Weiß in ein schweißtreibendes Rot gewandelt.

Hier am Land war tatsächlich alles anders, dachte Stern. Die Leute hatten keinerlei Respekt vor einer Uniform, weil deren Träger einer aus ihren Reihen war, mit dem man sich duzte und abends ein Bier trinken ging. Aber er war keiner von ihnen.

»Alles herhören!«, brüllte er, sich seiner Autorität als Chefinspektor der Linzer Kriminalpolizei sicher fühlend.

Niemand reagierte. Nicht ein Einziger nahm Notiz von ihm. Der Lärmpegel stieg sogar weiter an, als wollte man sein Geschrei übertönen. Da steckte Plattlbauer die Finger in den Mund und stieß wie beim Anpfiff des am Abend stattfindenden Eröffnungsspiels der Fußballweltmeisterschaft einen schrillen Pfiff aus. Das ließ ein Raunen wie eine La Ola durch die Menge schwellen, die schlussendlich doch verstummte. Erwartungsvoll richteten sich unzählige Augenpaare auf Stern, der ihnen scheinbar etwas zu sagen hatte. Hoffentlich etwas Spektakuläres über den Todesfall.

»Mein Name ist Oskar Stern. Ich bin Chefinspektor am Landeskriminalamt in Linz. Wie Sie wissen, hat man Ihren Pfarrer tot in der Kirche aufgefunden. Er ist ermordet worden. Wir werden unser Bestes tun, um den Täter so rasch wie möglich zu finden. Wer sachdienliche Hinweise hat, möge sich bitte bei mir melden. Wir werden …« Weiter kam Stern nicht. In einem aufwallenden Getöse aus Rufen und Geschrei gingen seine letzten Worte völlig unter. Plötzlich hatte jeder etwas zur Aufklärung des Falls beizutragen. Die Menschen schrien durcheinander und wussten Dinge, die mit dem Fall zu tun hatten – oder auch nicht. Stern war nicht in der Lage, wichtige Informationen von unwichtigen zu trennen. Er verstand lediglich Wortfetzen und konnte nicht herausfiltern, wer nun als Zeuge vernommen werden sollte und wer bloß Tratsch verbreitete. Na, das kann ja heiter werden, dachte er und verfluchte den Mörder, der sich ausgerechnet das tiefste Mühlviertel zum Töten ausgesucht hatte.

»Wir brauchen einen Vernehmungsraum! Wo können wir uns einquartieren, Plattlbauer?«, fauchte er missgelaunt.

»Bestimmt im Pfarramt«, fiel dem Revierinspektor auf Anhieb ein. »Ich bin mir sicher, dass der Pfarrer nichts mehr dagegen hat.« Plattlbauer grinste und suchte im Gesicht des Chefinspektors nach einer Reaktion, die unweigerlich diesem Scherz folgen müsste, doch die blieb aus. Schlimmer noch! Stern zog missbilligend die Augenbrauen hoch, machte am Absatz kehrt und verschwand in der schwatzenden Menge. Jedoch tauchte er von dort nach nur wenigen Augenblicken wieder auf, bahnte sich mittels Ellbogentechnik den Weg zurück und fragte: »Wo ist das Pfarramt?«

»Dort lang!« Plattlbauer deutete in die entgegengesetzte Richtung.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, marschierte der Chefinspektor an Plattlbauer und Grünbrecht vorbei, alles und jeden verfluchend, und ohne zu bemerken, dass ihm eine Schlange Auskunftswilliger wie bei einer Bierzeltpolonaise folgte.

2. Kapitel

Vor dem Pfarramt holten Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht und Revierinspektor Josef Plattlbauer den Chefinspektor endlich ein. Plattlbauer öffnete die Tür und hielt sie für die Kriminalbeamten auf. Stern schritt wortlos an ihm vorüber, doch Grünbrecht bedankte sich bei ihm mit einem Lächeln, worauf Plattlbauers Gesichtszüge sich freudig erhellten. Um davon abzulenken, wies er die Liebenauer, die ihnen bis hierher gefolgt waren, um eine Aussage zu machen, an, sie mögen doch bitte draußen warten, bis man sie riefe, und schob anschließend aus einer Abstellkammer einen Tisch und zwei Stühle in den Pfarrsaal. Das alles platzierte er in der Mitte im vorderen Bereich und sagte, als er sein Werk begutachtete: »Das muss als Provisorium für die Vernehmungen reichen.« Dabei schielte er zu Grünbrecht hinüber, deren dunkelbraune Locken im Nacken wie junge Kitze hin und her hüpften. Als ihre haselnussbraunen Augen sich mit den seinen trafen, wandte er den Blick ab und rückte noch einmal die Stühle zurecht, was aber völlig überflüssig war.

»Gut, Plattlbauer. Jetzt bringen Sie mir Papier und einen Stift, denn ein Aufnahmegerät wird es ja wohl nicht geben …«, unterbrach Stern, ohne es mitzubekommen, das Balzverhalten des ländlichen Kollegen, und setzte sich an den Tisch.

»Nein, aber auf der Dienststelle in Weitersfelden haben wir eines. Soll ich es herbringen lassen?«

»Ja, machen Sie das! Und dann bitten Sie einen nach dem anderen zu uns herein«, wies Stern ihn weiter an.

Während Plattlbauer der Anweisung Folge leistete, lehnte sich Grünbrecht hinter ihrem Chef nahe dem Fenster an die Wand und murmelte, als die erste Zeugin eintrat: »Jetzt bin ich aber gespannt.«

»Mein Name ist Herta Bachmeier. Ich bin … ich war die Pfarrersköchin«, stellte sich die etwa 1,50 Meter große Frau den Kriminalbeamten vor, die allein durch ihre Erscheinung Sterns Bild von bei der Kirche beschäftigten Personen gehörig durcheinanderwirbelte. Ihre kurzen, rot gefärbten Haare standen wirr vom Kopf ab und bildeten einen starken Kontrast zu ihrem blassen Teint. Ihr grell pink geschminkter Mund biss sich mit dem Orange ihres T-Shirts. Der Rest steckte in einem Jeansrock und rosa geblümten Leggings. Über dem Ganzen trug die Pfarrersköchin eine rote ärmellose Weste mit schwarzen Fransen am Saum. Der Chefinspektor hatte bislang gedacht, Pfarrersköchinnen wären graue alte Jungfern, gekleidet in schwarzen Röcken und beigen Blusen. Dass er mit diesem Vorurteil gewaltig irrte, zeugte die vor ihm sitzende, ungefähr 35 Lenze zählende Frau, die alles andere als langweilig zu sein schien. Zumindest nicht, was ihre Kleidung anbelangte.

»Frau Bachmeier, können Sie sich vorstellen, warum der Pfarrer, also Ihr Chef, ermordet worden ist?«, fragte Stern bemüht, sein Erstaunen wegen des schillernden Aussehens seines Gegenübers nicht durchscheinen zu lassen.

»Nicht im Geringsten. Der Pfarrer ist …« Die Frau brach ab und räusperte sich. »Er war ein herzensguter Mensch. Er hat keiner Fliege etwas zuleide getan, in seinem ganzen Leben nicht. So ein lieber Mensch, wissen S’? Wenn alle so wären, wie unser Herr Pfarrer es g’wesen ist, dann wäre die Welt eine viel bessere. Und glauben S’ mir, die hat das auch dringend nötig bei dem, was man so alles im Fernsehen sieht!« Herta Bachmeier schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, das Fernsehen. Man soll aber nicht alles glauben, was man im Fernsehen sieht, Frau … äh.«

»Bachmeier. Herta Bachmeier.«

»Ja, Frau Bachmeier. Kommen wir zurück zum Pfarrer: Hat er Feinde gehabt?«, versuchte Stern, etwas für den Fall Relevantes aus der Frau herauszubekommen, und fand, dass die Farbkombination Rosa mit Orange und Rot sogar seinen für Mode äußerst unausgeprägten Sinn störte.

»Nein, Herr Inspektor, er hat gewiss keine Feinde gehabt. Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass er ein ganz lieber Mann gewesen ist. So einer hat keine Feinde.«

Für Stern war die Sache klar: Entweder wollte die Frau nichts Schlechtes über ihren toten Chef sagen, oder sie empfand den Dahingeschiedenen als tatsächlich so, wie sie behauptete. Um sich ein Urteil über den Priester bilden zu können, war es aber zu früh. Schließlich standen sie noch ganz am Anfang mit ihren Vernehmungen.

»Gibt es sonst etwas, das Sie uns über den Pfarrer erzählen möchten?«, mischte sich Grünbrecht ein. Die dick mit Kajal umrandeten Augen der Pfarrersköchin wanderten in ihre Richtung und blieben an ihr haften.

»Ich hatte da so ein Gefühl …«, begann sie zu erzählen und tippte sich dabei auf die Brust. Schon allein, wie sie es sagte, verkrampfte sich Sterns Magen. Er hasste Gefühle in Mordfällen, er brauchte Fakten, Fakten und nochmals Fakten.

»Ein Gefühl?«, wiederholte er argwöhnisch.

»Ja, als hätte ich es gespürt, dass etwas Schlimmes passieren wird.«

»Spüren Sie so etwas denn öfter?«, hakte Grünbrecht nach, worauf ihr Stern einen finsteren Blick zuwarf. Die Gruppeninspektorin wusste, was ihr Chef von Äußerungen über Gefühle hielt, und wollte schneller sein als er, bevor er die Vernehmung abbräche und die Zeugin hinausschicken konnte.

»Nun ja …« Die Frau suchte offenbar nach den richtigen Worten. »Ach, vergessen Sie’s!«, sagte sie dann und stand auf.

»Aber bleiben Sie doch …«

»Danke, Frau Bachmeier«, fiel Stern Grünbrecht ins Wort. »Und wenn Sie rausgehen, schicken Sie uns bitte den Nächsten herein.« Stern war erleichtert, dass ihm die Gefühlsduselei der Frau erspart blieb.

»Also ich hätte schon gern gewusst, was sie uns zu sagen versucht hat«, meinte Grünbrecht, als die Frau den Pfarrsaal verlassen hatte.

»Sie haben doch gehört, dass sie selber gesagt hat, dass wir es vergessen sollen. Sie wollte halt nicht mehr darüber reden, warum auch immer.«

»Weil Sie gleich so abwehrend reagiert haben«, warf Grünbrecht ihrem Chef vor.

»Hab ich doch gar nicht! Aber wahrscheinlich hat die gute Frau selber erkannt, dass ihre Aussage für die Aufklärung des Falls nicht relevant ist. Wenn sie über Gefühle reden will, soll sie zu einem Psychiater gehen. Wir haben einen Mord aufzuklären.«

Die Tür ging auf und der nächste Zeuge marschierte herein, streckte dem Chefinspektor die Hand entgegen und tippte sich an Grünbrecht gewandt als Gruß an den Hut. Er trug eine Lederhose, ein rot-weiß kariertes Hemd und brachte mindestens 30 Kilo zu viel auf die Waage, die meisten davon vorne an seinem Bauch. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – war er eine stattliche Erscheinung. Selbstbewusst setzte er sich auf den Stuhl, der unter seinem Gewicht ächzte, was jeder im Raum aber ignorierte.

»Ihr Name?«, fragte Stern.

»Siegfried Bauer.«

»Herr Bauer, was können Sie uns über den Pfarrer sagen?«

»Ja mei, recht viel net«, antwortete der Mann und steckte beide Daumen in den Bund der Lederhose. Die Hände ruhten dabei auf seinem Bauch wie bei einer Schwangeren.

»Aber Sie sind doch extra hergekommen, um auszusagen?« Stern war verwirrt.

»Ja, schon.« Der Mann hingegen war die Ruhe selbst. Sein Blick wanderte zwischen Stern und Grünbrecht hin und her, und es schien, als wartete er auf etwas.

»Und … was bedeutet dann dieses recht viel nicht?« Nun begann dieses Aus-der-Nase-Ziehen, wenn es denn überhaupt etwas aus der Nase zu ziehen gab. Außerdem knurrte Sterns Magen. Die Geduld des Chefinspektors wurde hart auf die Probe gestellt.

»Ja mei, er war halt unser Pfarrer«, sagte der Zeuge gelassen.

»Aber wissen Sie auch, warum er sterben hat müssen, Ihr Herr Pfarrer? Haben Sie irgendeinen Hinweis für uns?«

»Ja mei, keine Ahnung. Dafür seid’s doch ihr da, oder? Das ist ganz klar Aufgabe der Polizei!«

Stern stieß hörbar die Luft aus. Er musste sich zusammenreißen, um dem vor ihm sitzenden Mann nicht gehörig die Meinung zu sagen. Er befürchtete jedoch, dass der erst die Vorhut war und draußen vor der Tür noch viel Schlimmeres auf ihn wartete.

»Und warum sind Sie dann zur Vernehmung gekommen?«, fragte nun Grünbrecht, da sie spürte, dass Stern einen Augenblick benötigte, um sich zu sammeln.

»Ja, mei. Ich wollt mir das halt mal so ansehen, wie ihr das so macht. Sonst kennt man das ja nur aus dem Fernsehen, von den vielen Krimis. Und das mal live zu sehen, ist halt doch ganz etwas anderes.«

»Danke, der Nächste bitte!«, komplimentierte Stern den Mann hinaus. Siegfried Bauer erhob sich, straffte seine Lederhose mit einem gezielten Griff unter die Hosenträger und schlurfte aus dem Pfarrsaal. Stern starrte ihm verärgert hinterher und einer kleinen, alten Frau mit grünem Kopftuch entgegen.

»Rosa Hintersteiner«, stellte die sich vor.

»Sehr schön, Frau Hintersteiner. Was können Sie uns über den Pfarrer alles erzählen?«

»Pst!«, machte die Frau.

Stern war verblüfft. Schon wieder. »Was meinen Sie mit Pst?«, fragte er.

Die Frau lockte ihn mit ihrem knöchrigen Zeigefinger näher zu kommen wie einst die Hexe aus Hänsel und Gretel. Stern beschlich ein mulmiges Gefühl. Er fürchtete zwar nicht, in einen Käfig gesperrt zu werden, schließlich war er derjenige, der andere wegsperrte, aber das Verhalten der Frau war dennoch ein wenig unheimlich. Er beugte sich nach vorne, um zu verstehen, was die Frau gleich sagen würde, und auch Grünbrecht trat näher an den Tisch heran.

»Ich kann doch nicht in Gegenwart unseres Herrn schlecht über unseren Herrn Pfarrer reden«, flüsterte die Frau nahe Sterns Ohr. Anschließend deutete sie hinter Stern und Grünbrechts Rücken, wo an der Wand ein Kruzifix hing.

»Aber … aber das ist doch nur …« Der Chefinspektor brach ab, überlegte kurz und änderte die Taktik. »Sollen wir es abnehmen?«

Die Frau nickte, sagte aber kein Wort.

Grünbrecht ging zur Wand, nahm das Kreuz ab und legte es in die Kammer seitwärts des Pfarrsaals. Bestimmt kamen sie so schneller an ihr Ziel, dachte Stern und auch, dass es keinen Sinn machte, über Dinge wie Aberglaube zu diskutieren. Anschließend war die Frau tatsächlich bereit zu reden, und Stern und Grünbrecht waren überrascht, was sie zu hören bekamen.