Müller und der Himmel über Basel - Raphael Zehnder - E-Book

Müller und der Himmel über Basel E-Book

Raphael Zehnder

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Beschreibung

Kult-Satire aus Basel. Eine Reihe von Anschlägen auf Wirtschaftsmänner und libertäre Politiker beunruhigt Basel. Gleichzeitig häufen sich Zwischenfälle an Supermarkt- und Imbissstand-Kassen, mit Enkeltrickbetrügern und falschen Polizisten. Kriminalkommissär Müller Benedikt ermittelt bei der Ultraliberalen Partei, in besetzten Häusern, Seniorenheimen und in Wohngemeinschaften. Doch bevor die Kripo Ergebnisse erzielt, stirbt eine alte Frau – und Müller muss Festnahmen durchführen, die ihm sehr widerstreben.

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Seitenzahl: 424

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Raphael Zehnder wurde 1963 in Baden AG (Schweiz) geboren, wuchs in Birmenstorf (Aargau) auf, lebte 26Jahre in der Stadt Zürich und wohnt mit seiner Familie seit 2008 in Basel. Er verdiente sein Geld als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, studierte Französisch und Latein und promovierte in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF, ist Miterfinder der Zürcher Kriminalnacht im Theater Rigiblick in Zürich und Autor von neun Kriminalromanen um den Polizeimann Müller Benedikt. Bei Emons ebenfalls erschienen: der Fotoband «Zürich in den 1970er Jahren».

Folgen Sie @MllerBenedikt1 auf Twitter. Und @BucherManfred äussert sich dort auch. www.raphaelzehnder.ch

Alles in diesem Buch ist Fiktion. Allfällige Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Parteien und sonstigen Gegebenheiten sind zufällig. Alle Namen und Ereignisse sind erfunden. Bloss Müller und Sermeter existieren.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Daniel Schoenen/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-977-8

Originalausgabe

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Ich musste erst in der Wüste leben,

bevor ich den vollen Wert von Gras verstehen konnte.

Ella Maillart

You wake up in the night, with a fear so real.

Bruce Springsteen: «Badlands»

Dummheit ist kein Schutz vor Unglück.

Ac per hoc non voluptas ulla non gratia non lepos, sed incompta et agrestia et horrida cuncta sint, non nuptiae coniugales non amicitiae sociales non liberum caritates, sed enormis colluvies et squalentium foederum insuave fastidium. Ut scripsit L. Apuleius Thesus in libro quinto de Asino Aureo.

Primus inter pares, vir a nobis valde amatus:

Müller Benedikt (51), Kriminalkommissär Basel-Stadt, privat: 4054 Basel

Milites legis:

Allmendinger Valérie (27), Detektivin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, 4052 Basel

Cattaneo Roland (41), Kriminaltechniker, Kantonspolizei Basel-Stadt

Dominguez Freddie (28), Detektiv, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, privat: 4123 Allschwil

Gormann Markus (41), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Gruber Cordelia (48), Dr. iur., Vorsteherin des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons Basel-Stadt, privat: 4059 Basel

Hug Paul* (35), V-Mann, Staatsschutz, Kantonspolizei Basel-Stadt

 (), Fachgruppe 9 (Staatsschutz), Kantonspolizei Basel-Stadt

Jonovic Mladen (34), IT-Forensiker, Cybercrime, Kantonspolizei Basel-Stadt

Krähenmann Thomas (47), Dr. iur., Leitender Staatsanwalt, Basel-Stadt, privat: 4102 Binningen

Odermatt Amber (20), Aspirantin, Kantonspolizei Basel-Stadt

Panzeri Jessica (38), Abt. Wirtschaftskriminalität, Kantonspolizei Basel-Stadt

Sermeter Gülay (37), Detektivwachtmeisterin, Abt. Wirtschaftskriminalität, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, privat: 4057 Basel

Stickelberger Daniel (48), Dr. iur., Erster Staatsanwalt, Basel-Stadt, privat: 4059 Basel

Vakulic Vlado (21), Aspirant, Kantonspolizei Basel-Stadt

Wäckerlin Romina (35), Detektivin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Togati:

Affentranger Kayleigh (31), FinTech-Unternehmerin, Investorin, 8807 Freienbach und 4102 Binningen

Bangerter Alois (78), pens. Kaufmann, 4054 Basel

Gassmann Marky (44), Freiberufler, 4053 Basel

Heinz Dietmar von (42), Dichter/Vorsitzender der Stiftung Nichts, 4052 Basel

Loacker Heiko G. (42), Leiter Kommunikation des Pharmaunternehmens , Kommunikationsverantwortlicher Ultraliberale Partei (ULP), 4125 Riehen

Lütolf Marianne (74), pens. Schneiderin, 4051 Basel

Mägerle Katrin G. (35), MLaw (Harvard), Strategieexpertin Ultraliberale Partei (ULP), 4059 Basel

Markwalder Rosa (92), Rentnerin, 4051 Basel

Mayer Rinaldo (30), CEO und Owner BMetrix, Vorstandsmitglied Ultraliberale Partei (ULP), Mitglied des Grossen Rats des Kantons Basel-Stadt, Business: 4123 Allschwil

Ott Josia (19), Schreiner in Ausbildung, 4053 Basel

Schoch Albert (78), pens. Schlossermeister, 4051 Basel

Sermeter Céline (11) und Murat (12), Kinder von Sermeter Gülay, 4057 Basel

Spoerri Sebastian J. (31), M.A. HSG, Chief Agile People Coach, Vorstandsmitglied mbA Ultraliberale Partei (ULP), 4148 Pfeffingen

Thüring Alfons (72), pens. Monteur, Artilleriefeldweibel a.D., 4051 Basel

Trauffer Mary-Anne (36), lic. oec. HSG, Präsidentin Ultraliberale Partei (ULP), Kommunikationsspezialistin, 4153 Reinach

Ulrich Balz (42), Dr. iur. et oec., Unternehmer, Mitglied des Grossen Rats des Kantons Basel-Stadt, Schaffhauserrheinweg, 4058 Basel

Wagner Noah (13) und Maurice (14), Kinder von Müller Doris, 4054 Basel

Wyss Melvin (44), Unternehmer, CEO Wyss Logistics, Business: 4051 Basel

Zvetkovic Goran M. (33), Dr. iur., Rechtsanwalt und Vizepräsident Ultraliberale Partei (ULP), 4103 Bottmingen

et aliorum nonnullos.

EINS

Neujahrsvorsatz.

ZWEI

«Breaking The Law» (Judas Priest).

Vom Jäger und Sammler zum Schläger und Rammler – der Mensch hat durch die Jahrtausende immerhin technologische Fortschritte durchlaufen. Was die Wunde und die Bewusstlosigkeit von Rinaldo Mayer verursacht hat, war kein Fred-Feuerstein-Knüppel, sondern ein Korea Universum SX90 Pro+, das Smartphonemodell vom vorvorigen Jahr. Vermutlich hat es jemandem nicht mehr genügt. Der Täterschaft jedoch schon: Das Metallgehäuse ist handwerklich einwandfrei angeschliffen worden, um auf dem Zielmaterial einen möglichst glatten und tiefen Schschschnitt zu hinterlasssssen. Yes, success, das ist gelungen: Von Rinaldo Mayers linker Schläfe tropft Blut. F = m x a. Kraft gleich Masse mal Beschleunigung. Glück für ihn, dass der Wurf des Kommunikationsgeräts mit relativ geringer Kraft erfolgt ist. Sonst würde das Ding wie ein Wurfstern in «Kung Fu» in Rinaldo Mayers Schädel stecken. Obwohl nicht maximal, reicht der Aufprallimpuls, um den 30-jährigen Unternehmer und Jungpolitiker auszuknocken und ihm einen Kopfschwartenriss zuzufügen. Deshalb ist er vorübergehend verstummt und kann seine disruptiven Standpunkte nicht mehr kundtun. Er liegt bewusstlos am Boden.

Gefunden wird er an diesem Freitag, 5. Januar, gegen 17:45Uhr beim Bundesplatz, wo neben vier anderen Strassen die Birsig- und die Arnold-Böcklin-Strasse in den Verkehrskreisel einmünden. 4054 Basel-Bachletten. Meteorologische Rahmenbedingungen: Nieselregen, 2Grad Celsius, 15km/h Wind aus NWN, Januar halt. Der Himmel so schwarzgrau, dass er die Welt verschluckt. «Scheisswetter» nennt das der Volksmund.

Zwischen den sechs Asphaltbändern, die sich hier treffen, finden sich begrünte Kleinstflächen. In einer davon liegt der verletzte Rinaldo Mayer. Zwanzig Quadratmeter Gründreieck vielleicht – pflegeleichtes Eibenheckenbuschzeug, wo du nicht weisst, ist es biologisch tot oder aus Plastik – gleich neben dem runden bleichgrünen eisernen Elektroverteilkasten mit flachkonischer Grünspanhaube, der an eine Litfasssäule erinnert. Mayers Körper ist erst kurze Zeit in die Horizontale niedergestreckt, sonst wäre er ausgekühlt und hätte mehr Blut verloren. Die sekundäre Hämostase hat längst eingesetzt, als ihn der Anwohner Gregor Staub (72) entdeckt, anspricht und, da er keine Antwort erhält, die 144 avisiert.

«Bust!», steht auf einem zerfetzten Schwarz-Weiss-Plakat auf dem grünen Elektroverteilkasten, ein Imperativ: «Geht kaputt!» Da könnte man ins Sinnen kommen.

Gesehen hat niemand etwas, weil dunkel, dieses Schundwetter eben, Freitag und Feierabend, alle wollen schnellstmöglich → heim zum Bezahlprivatfernsehen. Roland Cattaneo und Lukas Hurni von der Kriminaltechnischen Abteilung sind hergekommen, haben den Fundort aufgenommen, die Tatwaffe sichergestellt, den Grünstreifen ausgeleuchtet und quadratzentimeterweise abgesucht. Eine vergammelte Bananenschale, eine eingedellte Energydrink-Dose, halb zersetzte Zigarettenstummel, Fragmente polymerer Kalorienbombenverpackungen, ein Wattestäbchen, ein benutztes Kontrazeptivum für den Mann, vor Hunger aus der Winterstarre aufgeschreckte Nacktschnecken. Vom Waaghof her sind Romina Wäckerlin und Markus Gormann von der Kriminalpolizei eingetroffen. Augenschein et cetera. Weil hier ist Basel-Stadt, Basel, Schweiz, das ist nicht Inferno genug, als dass du einfacher Körperverletzung nach Art. 123StGB nicht nachgingest.

«Wehre den Anfängen.» (Ovid, Rem. Am. 91)

Weil diese Buschzeugheckenecke, dieses Zeugnis städtebaulicher Verlegenheit, das den nackten Boden notdürftig und nutzlos besetzt, von keinem Wohnhaus her einsehbar ist, und welche trübe Tasse wollte aus der fossilen Wohnungswärme in dieses trübkalte Dauertropfparadies hinausäugen, und finster wird’s im Januar halt früh, ist kaum wer zu Fuss unterwegs. Ausser Gregor Staub kein einziger Hündeler, weil Regenwolken aus dem Westen und die Bise aus dem Norden sich ein hartes Duell liefern. Der Luftdruck, boah, Mensch. Die meteorologischen Phänomene ringen gnadenlos miteinander und setzen faktisch eine taktische Ausgangssperre durch.

Weiss und rot kreisen die Lichter der Autos um den Bundesplatz, ihr Schein reflektiert sich im Vorbeifahren auf der Birsig- und der Böcklinstrasse in den Pfützen. Die Reifen singen auf dem nassen Asphalt ihre Individualmobilitätsmelodie.

Keinen einzigen Augenzeugen können Detektivin Romina Wäckerlin und Detektivkorporal Markus Gormann auftreiben. Nichts in den Häusern der Nachbarschaft. Nicht ein anonymer Anruf wird beim Kriminalkommissariat Basel-Stadt eingehen. Ein Zeugenaufruf der Staatsanwaltschaft wird zero, null und niente ergeben.

Der Verletzte Rinaldo Mayer wird bereits in der Ambulanz auf dem Transport ins Universitätsspital das Bewusstsein wiedererlangen. Nach dem Nähen der Schläfenwunde wird er nach Hause entlassen werden. Er wird sich nicht an den Vorfall erinnern. Die Frage, warum er sich zu dieser Tageszeit und bei diesem Wetter an der Stelle aufhielt, wo die Birsigstrasse und die Arnold-Böcklin-Strasse in spitzem Winkel aufeinander zulaufen, um sich am Kreisel zu berühren, wird er mit «dort Auto parkiert» beantworten. Einen BMWX4, schwarz, hat er an der Neubadstrasse abgestellt. Nach der «Physiotherapie in der Cross-Klinik» wollte er zurück zu seinem Wagen.

Hoffentlich, denkt der Müller, als er die Rapporte liest, werden Kriminaltechniker Cattaneo und seine Leute die Tatwaffe, das frisierte Handy, jemandem zuordnen können.

DREI

Sonntag.

Ein Riesenbüro macht der Müller wegen dieser Mayersache nicht auf. Parce que darum: Die vom alten Jahr überhängenden Zeitsalden der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Kommissariats stehen derart weit im Plus, dass er schon vom Controlling alpträumt. Budgetunpässlichkeiten sind nicht lustig. Eine Einzelabreibung im Büro des direkten Vorgesetzten Krähenmann ginge ja noch. Weil sich jedoch dessen Chef, der Erste Staatsanwalt Stickelberger, auch gerne nach Lust und Laune ins Operative einmischt, droht vielleicht sogar ein Vieraugengespräch mit ihm, dem Chefchef.

Ich sagte es: Rinaldo Mayers Fall könnte eine einfache Körperverletzung nach Art. 123StGB darstellen. Als Kommissär riskierst du deswegen laufbahnbedingt keinen Casus belli und budgettechnisch keinen Konflikt mit dem … gopfertori, es geht mir und dem Müller nicht aus dem Sinn! … mit dem Controlling, den Kostenstellenhyänen. Die elektronischen Tools dafür sind schon eine Qual.

Die «MAs», irgendwann hat der Müller als Mikrocheflein gelernt, dass man die Mitarbeiter und -innen so nennt, die MAs befinden sich also, wenn es nur geht, im Wochenende, im Privatleben. Budgettechnisch nur so zu planen. Zwei davon sind auf Pikett, falls etwas Strubes vorfallen sollte. Ein Nulldispositiv wäre fahrlässig, schliesslich fällt in der Hauptstadt des Kantons Basel-Stadt immer wieder das eine und andere vor. Aber seien wir ehrlich: Hier ist Basel, Schweiz, Suisse, Svizzera, Svizra. Die Situation in der weltweit schönsten Stadt mit einer radikalen Rheinbiegung gen Norden hat wenig zu tun mit den turmhoch dahergelogenen dystopisch-skandinavischen Serienmörderlandschaften. Darum gestattet Kriminalkommissär Müller Benedikt am heutigen Sonntag den Kolleginnen und Kollegen, für einmal die vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit einzuhalten.

Beim Sonntagsfrühstück, 09:12 Uhr, Zopf, Butter, Honig, Kaffee mit Gülay in deren Wohnung an der 4057 Hammerstrasse. «Liebe ist wie Sauerstoff» (The Sweet). Céline und Murat beschäftigen sich in ihren Zimmern nicht elektronisch, hoffen wir, der Müller liest auf dem Handy von einem Attentat auf Rinaldo Mayer (30), den streitbaren Geist und innovativen Life-Sciences-Unternehmer. Auf der Website der grössten Regionalzeitung liest er das. Weil das Blatt seit einiger Zeit zu einem Zürcher Medienkonzern gehört, findet sich der Artikel auch auf den Websiten von deren Stammhaus und Berner Ableger.

«Attentat», sagt der Müller zu Gülay, die sich gerade eine Strähne ihres schwarzen Haars hinters Ohr streicht, damit sie nicht in die Kaffeetasse hineinbaumelt. «Ein grosses Wort», sagt er und liest ihr vor, wie die Online-Redaktion das Geschehen vom Freitag zusammenfasst.

Der dreissigjährige Rinaldo Mayer, Inhaber eines Life-Sciences-Start-ups in Allschwil und Vorstandsmitglied der Ultraliberalen Partei,ULP, wurde am frühen Freitagabend beim Kreisel am Bundesplatz bei einem Attentat verletzt und musste in Spitalpflege verbracht werden. Die Polizei hat noch keine Anhaltspunkte, wer als Täter in Betracht kommt. Beat Schwarz von der Medienstelle der Staatsanwaltschaft sagt: «Wir gehen zahlreichen Hinweisen nach und ermitteln in alle Richtungen. Für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an unsere Nummer …»

Offenbar haben Mayer, die PR-Stelle seiner Firma oder seine Partei die Redaktion mit Informationen versorgt, denn nun folgt ein Abschnitt über dessen geschäftliche Tätigkeit (Pionierarbeit auf dem Gebiet der Nukleotid-Gammacarotin-Plasma-Rezeptoren … die nächste Passage lasse ich weg, weil ich sie nicht verstehe … die kurz vor der Zulassung für den nordamerikanischen und europäischen Markt steht und starkes Argument beim bevorstehenden Börsengang). Auch seine politischen Ambitionen werden erwähnt (nicht unrealistische Absicht, die Basler Parteienlandschaft aufzumischen und spielt eine wichtige gesellschaftliche Rolle: unbequeme freiheitliche Positionen konsequent und unmissverständlich zum Ausdruck zu …) … nun, hm, wo war ich? Ja, bei den geschäftlichen und politischen Leistungen des Opfers vom Bundesplatz. «Gaudete et exsultate» (Franziskus I.), eine Jubelhymne auf das Opfer des feigen Anschlags, wie ein Freund des Opfers zitiert wird, ULP-Vizepräsident Goran M. Zvetkovic.

«Mach doch mal Pause, Beni.» Gülay schaut Müller besorgt an. «Heute ist Sonntag. Du kannst dich morgen wieder um solches Zeug kümmern.»

Recht hat sie. «Recht hast du», räumt der Müller ein, doch seine Augen lesen weiter:

Soll ein aufrechter Kämpfer für das freie Wort mundtot gemacht werden?, gibt der Artikel den ULP-Vorstandskollegen Zvetkovic wieder. Gilt dieses Attentat dem freien Unternehmertum?, fragt lic. oec. HSG Mary-Anne Trauffer, die Präsidentin der Ultraliberalen Partei. Angesichts des Überfalls auf Rinaldo Mayer stellt der Journalist die Frage, wie sicher Basel noch sei und welche Massnahmen das Justiz- und Sicherheitsdepartement ergreifen wird, um das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nach diesem verstörenden Vorfall wieder ins Lot zu bringen. Müller schüttelt den Kopf. Denen kannst du ewig die Kriminalstatistik entgegenhalten, in der die meisten Zahlen sinken

sinken

sinken.

Fakten sind leiser und haben gegen den Adrenalin- und Aufregungswahn eh keine Chance. Regierungsrätin Cordelia Gruber war für die Redaktion nicht erreichbar, endet der Text. Lapidarer Satz, der besagen soll: Die kürzlich gewählte politische Entscheidungsträgerin, Vorsteherin des baselstädtischen Justiz- und Sicherheitsdepartements, halte es nicht für nötig, dieser beunruhigenden gesellschaftlichen Entwicklung zu Gewalttaten im Plural entschieden den Riegel vorzuschieben und den Medien Antworten auf legitime Fragen zu liefern.

«Was die wieder übertreiben.» Müller legt die Zeitung beiseite. «Aber das gibt noch einen Salat.»

Dann trinkt er den Kaffee aus, isst das Stück Zopf auf, holt im Badezimmer das Thermometer, misst 37.2 ºC am Morgen, entdeckt auf seiner Zunge eine aktive, zahlreiche und vielfarbige Fauna, teilt dies Gülay mit, entschuldigt sich fürs Platzen aller geplanten gemeinsamen Sonntagspläne und legt sich ins Bett. Regime Lindenblütentee.

VIER

«Fever» (Shirley Bassey).

Draussen ist’s grau, neblig, nass, typisch Januar. Und drinnen, im menschlichen Organismus? Während der Müller an diesem Montagmorgen, 8. Januar, weiterhin sein Fieber aus dem Körper schläft, gestern Abend stieg es auf 39.4 ºC … währenddessen greift auch das wichtigste regionale Konkurrenzmedium den Fall Rinaldo Mayer auf, dreht an der Schraube und kocht das Attentat weiter hoch.

Das Blatt berichtet ausführlich, wie sich die ULP-Präsidentin Mary-Anne Trauffer geäussert hat: Wir sind tief betroffen über den feigen Überfall auf unseren Vorstandskollegen. Die Ultraliberale Partei verurteilt dieses Attentat aufs Entschiedenste und fordert Polizei und Justiz zu einer radikalen und lückenlosen Aufklärung auf. Schonungslos und ohne falsche Tabus. Sie verlangt, den oder die Täter mit der vollen Härte des Gesetzes zu bestrafen, und nennt den Vorfall auch einen Angriff auf den Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt. Sie weist darauf hin, dass sich gewisse Kreise mit Intoleranz und Sprech- und Denkverboten profilieren und dass die ganze Region von Rinaldo Mayers unkonventionellen Inputs enorm profitieren könne.

Sogar der versehrte Rinaldo Mayer – genähte Schnittwunde auf dem Foto gut ausgeleuchtet – kommt zu Wort: Ich vermute, dass radikale Elemente es auf mich abgesehen haben. Die Strafverfolgungsbehörden rufe ich auf, ihre Arbeit schnell und rücksichtslos durchzuführen. Es ist einer Demokratie nicht würdig, dass Menschen, die unbequem Stellung beziehen, mit Gewalt daran gehindert werden sollen. Mayer stellt ferner die Grundsatzfrage nach der Toleranz der Gesellschaft für dissidente, disruptive Positionen, nach dem Grad der Kontrolle über die Meinungsfreiheit durch Mainstream-Fetischisten, der ein gefährliches Mass erreicht hat, nach der Notwendigkeit, die Selbstreinigungskräfte der Gesellschaft zu stimulieren, um Angriffe auf andersdenkende Menschen zu verhindern, damit am Ende des Tages die Freiheit wiederhergestellt wird.

Gegen Schluss des Artikels wird wieder Beat Schwarz von der Medienstelle der Staatsanwaltschaft zitiert: Wir gehen zahlreichen Spuren nach und ermitteln in alle Richtungen.

Körpertemperaturbedingt bekommt der Müller nichts mit. Wie der Swiss Performance Index an hektischen Tagen zuckt seine Kurve hoch, noch höher und zackig wieder abwärts. Der Müller ist ausser Gefecht. In seinen Blutbahnen fechten Divisionen von Leukozyten ihren fatalen Kampf gegen eine Invasionsarmee fremder Mikroorganismen. Darum liegt er unter dem Duvet, strampelt sich frei, zieht das Deckbett wieder über sich, wendet das Kissen auf die trockene Seite, schwitzt sich die Poren gründlich durch, starrt die weisse Zimmerdecke über Gülays Bett an, auf der sich interessante Muster bilden und wieder verflüchtigen. Das Spektakel erinnert ihn an die Leinwand des Kinos Le Paris am Stadelhofen in Zürich vor Vorstellungsbeginn, nur dort in Farbe. Ob die dieses Farbenspiel noch immer zeigen? O Zurigo.

Zwischendurch stellt ihm Murat eine Tasse Tee ins Zimmer. Céline legt ihm einen kühlen, feuchten Waschlappen auf die Stirn. Es muss späterer Nachmittag sein, Gülays Kinder sind von der Schule zurückgekehrt und kümmern sich um den Kommissär. Hey, der Müller voll im Familienleben, könnten wir rufen, tun es aber nicht, um ihn nicht zu stören. Er soll ruhig wieder ein- und weiterschlafen.

Gülay Sermeter ist bei der Arbeit. Eine Geldwäschereisache, hat sie dem Müller erklärt, via Imbissbuden, mutmasslich gefälschte Einnahmenbelege und Warenrechnungen. Für Müller klingt all das bizarr. Er ist wirklich krank.

«Blue Monday» (New Order): Montag.

Nach den Entsagungen des Wochenendes darf die Bevölkerung in der Innerstadt wieder leben: einkaufen, eineinkaukaufenfen, eineineinkaukaukaufenfenfen, buy or die. Die Läden bieten Vielfalt und Aktionen. Wochenknaller, Rabattblitze, Rappenspalter, Süperpreise. Gegenstände, du hättest nie gedacht, dass sie existieren, doch jemand erwirbt sie und erhält dafür zusätzlich Treuepunkte. «Alles auf Kurs, Urs?», fragt die Filialleiterin den Rayonchef, und der antwortet: «Voll in Ekstase, die Hasen», und meint die Kundinnen und Kunden. Bargeld oder kontaktlos? Egal, wir nehmen’s, her damit.

4051, Aeschenvorstadt. Für Ortsunkundige: Auf Strassenniveau finden sich hier Läden, kreative Bio-Imbisse, das skandinavische Möbelhaus mit dem Elchkopf, ein Zigarrenparadies, ein italienisches Emporio-Elysium, Privat- und andere Banken, das Babyhaus, Repräsentatives, das sich den Quadratmeterpreis leisten kann. Und Trams … ach, bitte, schauen Sie bei Interesse eigenverantwortlich den BVB-Netzplan an, falls Sie wissen wollen, welche Tramlinien ausser der 8, der 15 und der 16 hier durchrumpeln. In den oberen Stockwerken der Aeschenvorstadt Büros, Praxen, Kanzleien, ein Röntgeninstitut. Aeschenvorstadt also … Zoom → auf das → Drachencenter. Ah, dieser Name! Bis in die 1950er Jahre standen an dieser Stelle dunkle Gebäude, auch das Haus «zum Drachen». Nach dem Abbruch wuchs hier 1958 die erste Tiefgarage der Stadt in den Boden und das erste Shoppingcenter der Schweiz in die Höhe. Drachencenter. Der Name veredelt das Kauferlebnis mit einer mystischen Note. O Avalon der Warenwelt, o Camelot, du Drachencenter, du, führst im Sortiment unzählige Produkte, derer Sie und ich (dringendst nicht oder doch) bedürfen.

In diesem Moment begeben sich unsere Augen ins Drachencenter hinein und nehmen die Rolltreppe ins Untergeschoss. Kommen Sie mit, sehen Sie selbst die Grossaufnahme: An der Kasse des Lebensmittelsupermarkts versucht ein geschniegelter junger Mann – Anzug, gegelte Strubbelhaare, blöder Bart – einige Wartepositionen zu überspringen und sich im Eilschritt an zwei grauhaarigen Einwohnerinnen vorbeizuschlängeln, die sich gerade in die Schlange einreihen.

«Sorryyyy, ich muss hier durch», murmelt er halblaut.

Die Wartenden in der Schlange vertreten einen anderen Standpunkt. Die eine zeigt dem forschen Schnösel ihren Gehstock und ruft: «He!» Die andere greift, ohne nachzudenken, in den Einkaufswagen und streckt dem jungen Mann ein Brotmesser entgegen, das ihr in wenigen Minuten weitere Treuepunkte einbringen soll. Die potenzielle Tatwaffe ist rechtlich gesehen noch nicht ihr Eigentum, faktisch jedoch bereits in ihrem Besitz.

Alice Quadranti (66), die mit dem Messer, lässt sich seit ihrer Pensionierung nichts mehr gefallen. Vor der Supermarktkasse sind alle gleich, ohne Ansehen von Alter, Geschlecht, steuerbarem Einkommen und Ego. Das ist ihre Überzeugung. Dafür steht sie ein. Natürlich nicht mit Gewalt. Sie berührt Philipp Kunert (29) mit ihrer linken Hand, der unbewaffneten, am Anzugsärmel.

Doch das ist zu viel. Unternehmenskommunikationsspezialist Kunert wischt Frau Quadrantis Pfote von seinem Ärmel, als wäre die Hand der Frischpensionierten eine Taube, die ihn vollkackeln will. Die abschätzige Bewegung des dynamischen Fachspezialisten löst unter den Mitgliedern der Warteschlange vor der Kasse im Untergeschoss des Drachencenters einen Igelreflex aus. Alice Quadranti und Olga Schürmann (78), die mit dem Gehstock, schalten auf Angriffsmodus, verstärkt von Ruedi Wolf (77), einem entfernten Bekannten von Frau Quadranti, der als pensionierter Landmaschinenmechaniker über eine gewisse Erfahrung mit Handfestem verfügt.

Kurz: Eskalation → Kettenreaktion. Die Kassierin ruft die Filialleiterin → ruft die Polizei → schickt eine Patrouille → nimmt die Aussagen der Zeuginnen und Zeugen auf, und Philipp Kunert verpasst seinen Termin. Hätte er doch vor dem Vordrängeln an Konfuzius’ Worte gedacht: «Das Leben ist einfach, aber wir bestehen darauf, es kompliziert zu machen.»

***

«Fever» (Eddie Cooley/John Davenport).

Der Müller schleudert auf seiner Fieberkurve herum. Die Stimme hat ihn verlassen. Im Zwei- oder Dreistundentakt wechselt er das Pyjama. Bis dann ist das durchgeschwitzte auf dem Radiator getrocknet. Ebenso tauscht er regelmässig das Frottiertuch auf dem Kopfkissen aus, mit dem er es vermeiden will, die Entendaunen durchzuweichen. Den ganzen Tag dämmert der Kommissär vor sich hin. Wolken wähnt er zu sehen. Ihre Form erinnert an das Gerippe eines Fisches oder einer Schlange, die St. Petrus an den Himmel geheftet hat, Cirrus fibratus vertebratus. Hoch oben ziehen sie langsam von Ost nach West. Was ist über ihnen? Was verbirgt sich dort? Die Zukunft? «Auch der Verstand hat seine Wolken» (Prudentius) – und seinen Fiebernebel. Die Viren zeigen Müller seine Grenzen auf. Öffnet er die Augen, ist’s ihm zu hell. Schliesst er sie, zu dunkel. Kampfer, Eukalyptusöl, Menthol. Rausschwitzen, alles. Bevor sie am Morgen zur Arbeit gegangen ist, hat ihm Gülay eine Thermoskanne Lindenblütentee hingestellt. «Viele Türen hat das Herz» (Emily Dickinson). Bananen und Knäckebrot stehen auf einem Teller vor dem Bett. Appetit hat er keinen. Céline und Murat schauen ins Zimmer, als er schläft. Er wacht erst auf, als wieder ein Schlafanzug an seinem Körper klebt. Als Gülay am Abend aus dem Waaghof zurückkommt, schläft er erneut.

***

Neues Ungemach.

Früh dunkelt es ein am Montag, dem 8. Januar. Um 16:55 Uhr schleicht sich unser Zentralgestirn, die liebe Sonne, bereits über dem Elsass unter den Horizont und verkrümelt sich für lange Stunden über den Ozean hinüber. Dämmrig war’s den ganzen Tag, weil Wolken und Regen und Temperatur  … lassen wir das. Trotzdem und dennoch: Ein Mensch hält sich im Freien auf. Im Schützenmattpark, Seite Weiherweg, 4054. Ein Mann wirft ein leeres Zigarettenpäckchen auf den Asphaltweg und rotzt mit Genuss darüber, mit Hingabe, einen richtig dicken Grünen nimmt er an. Die Angreifer (wie viele mögen es sein?) hat er nicht gesehen. Sie kommen von der Seite, von den Bäumen und Büschen her. Ohne Vorwarnung bewerfen sie ihn mit Steinen, was wehtut, weil die Steine (Kalk, Jura, Trias) verflucht genau auf seinen Kopf zusausen, was er nur teils – teils – teils wahrnimmt, weil er, kann man ruhig offen aussprechen, nicht vollumfänglich nüchtern ist. Genauer: Er ist völlig breit und erinnert sich unter Aufbietung seines ganzen IQs knapp an den Heimweg. Zack, ping, bong … Drei Volltreffer an der Birne innert einer Sekunde plus mehrstimmiges Hohngelächter aus dem Gebüsch hinter dem Sandkasten veranlassen ihn, davonzurennen, in Richtung Bundesplatzkreisel, vorbei am Pavillon, der zu dieser Uhrzeit geschlossen und unbeleuchtet ist. Unterwegs begegnet er niemandem.

Aktenkundig wird dieser Angriff nicht. Der Geschädigte denkt nicht daran, ihn bei der Polizei zu melden. Hat er ein schlechtes Gewissen, weil er den öffentlichen Raum vollgerotzt hat? Ist er in Verwicklungen verstrickt, sodass ihn die Steinwürfe nicht erstaunen? Ein Denkzettel? Verbirgt der Kerl etwas und will deshalb nichts mit den Bullen zu schaffen haben? Sicher ist, dass er Substanzen im Blut hat und mehr Scherereien befürchtet als Gewinn durch eine Anzeige gegen unbekannt.

Im Buschwerk hinter dem Sandkasten hat jemand gelacht, das hat er unzweifelhaft gehört … gelacht! … mehrere Personen. Sofern seine Hazullinationen ihn nicht verbe… trügen. Durcheinander ist er, ja, durcheinander.

FÜNF

Vor der Morgendämmerung. 4051.

Beim Altersheim Hasenbrunnen an der Ecke Holbein-/Feierabendstrasse wird am Dienstag, 9. Januar, gegen halb acht Melvin Wyss (44) von hinten überwältigt. Eine unbekannte Täterschaft zieht ihm eine Stofftüte über den Kopf, um sein Gesichtsfeld auf null zu beschränken. Wyss landet im Brunnen, wobei er die Stirn an der Stange in der Mitte des Trogs anschlägt. Schmerz. Auf dem Brunnenstock sitzt farbig der Hase und schreitet nicht ein.

Tatorte im Freien … ja, ermittlungstechnischer Vorteil: vielleicht Zeugen, vielleicht Überwachungskameras?

Tatorte im Freien … ach, ermittlungstechnischer Nachteil: Spuren verwischen leicht, die Situation am Tatort verschlechtert sich rasant durch Regen, Wind, Menschen, Fahrzeuge, Vögel und andere Tiere.

Da die Attacke auf Melvin Wyss rücklings und hinterrücks erfolgt ist, wird er keine sachdienlichen Angaben machen können. Etwas benommen stemmt er sich tropfnass aus dem Brunnentrog. Er schlottert bereits, streift die Textilhaube – also keine Tötungsabsicht – vom Kopf und würde fluchen, wäre er nicht verdattert. Ausser dem Klappern seiner neunundzwanzig Zähne hört Wyss einzig das Tram, das in der Ferne beim Abbremsen auf dem Steinenring kreischt, und den Gesang des Haussperlings Passer domesticus. Um sich nicht den Erkältungstod zu holen, steigt er in seinen Wagen, den er gleich zuvor wie jeden Morgen an der Ecke in der Holbeinstrasse abgestellt hat. Also vor dem Gebäude, in dem sich seine Firma befindet. Ruiniert er mit den durchnässten Kleidern halt das Lederpolster der Jaguar-F-Type-Sitze. Wie er ist, kann er no way ins Büro. Sähen ihn seine Mitarbeiter derart eingeweicht, würde er diese Anekdote nie mehr los. Im «Jaggy», so nennt er ihn bei sich, die Heizung voll aufgedreht, nach Hause → Kleider wechseln. Unterwegs schon → 117 → Strafanzeige. Die Kollegin in der Einsatzzentrale seufzt innerlich: Das Opfer entfernt sich vom Tatort, und bis eine Streife vor Ort ist, um die Situation aufzunehmen, Novak und Croci-Torti sind es, zwitschern dort bloss noch die paar frierenden Singvögel, denen die Evolution die Reise in den Süden gar nicht erst angewöhnt hat. Ermittlungen gegen unbekannt.

***

Aktion = Risiko.

Risiko = Aufmerksamkeit.

Aktion = Aufmerksamkeit.

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Aufwärts.

Müller Benedikt fühlt sich beim Aufwachen fast wieder wie ein Mensch. Die Leukozyten haben gesiegt, der tote Feind im Körper wird abgebaut und ausgeschieden. Gegen 09:00Uhr ruft der Kommissär im Waaghof an und teilt Markus Gormann mit, dass er am nächsten Tag höchstwahrscheinlich wieder ins Büro komme. Einen Tag braucht er noch. Duschen, schlafen, essen, trinken, schlafen. Merken, dass er von Menschen umgeben ist, die ihn lieben. Gülay, Murat, Céline. Schlafen, lesen.

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Nachtschwarz.

19:14Uhr. Wetter können Sie sich vorstellen. Es riecht nach nassem Hund und am Boden modernden Blättern. Im Benkenpark stösst eine Streife der Kapo auf einen Verletzten. Jemand dürfte ihm eins über die Rübe gezogen haben, sodass sein Hirn erschüttert wurde, wodurch er so neben der Spur ist, dass er sich auf eine Bank beim Pingpongtisch setzen musste. Der dunkelgrüne Basilisk des gusseisernen Brunnens starrt ihn, findet er, hinterlistig an und das weisse Wappen mit dem schwarzen Baselstab bösartig-herrisch. Nun, sicher, in der Dunkelheit in 4054 auf einer Parkbank zu sitzen stellt kein ungesetzliches, aufgrund der meteorologischen Bedingungen jedoch ein auffälliges Verhalten dar. Jeanneret Simone und Petracca Marco vom Patrouillenfahrzeug Basilea 12 reagieren mit einer Personenkontrolle. Diese lässt drei Feststellungen in den Rapport eingehen: a) wie oben: Der Mann ist am Kopf leicht verletzt und scheint etwas konfus, b) der Identifikationsversuch verläuft vor Ort ergebnislos, c) der Angehaltene beklagt sich auf Hochdeutsch, er sei angegriffen worden. → Jeanneret und Petracca nehmen ihn mit auf die Clarawache, um weitere Abklärungen zu treffen.

Kapiert der vorläufig Festgenommene seine Pflichten nicht, oder bockt er? Denn auch auf der Clarawache weigert er sich, seine Personalien offenzulegen. Ausweispapiere trägt er keine auf sich. Einen Grund für seinen Aufenthalt im Benkenpark nennt er nicht, nicht einmal zu einer Ausrede lässt er sich verleiten. Ausser dass er attackiert worden sei, sagt er nichts.

Achtundvierzig Stunden kannst du ihn ohne Haftbefehl drinbehalten. Das machen Jeanneret und Petracca nach Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten, dem Postenchef Randegger René. Der erfasst den Vorgang im polizeilichen Informationssystem.

SECHS

Der Chefchef spricht.

Waaghof, Binningerstrasse, 1995 eröffnet, Sitz der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei. Reinigungsmittelduft (Zitrone). Mittwochmorgen, 10. Januar, 07:08Uhr. In Müllers Einzelbüro klingelt das Telefon und macht Stress. Der Erste Staatsanwalt Dr. iur. Daniel Stickelberger lässt Müllers unmittelbaren Vorgesetzten, den Leitenden Staatsanwalt Thomas Krähenmann, aus und erkundigt sich nach der Gesundheit des Kriminalkommissärs. «Danke, es geht», antwortet der und achtet darauf, angemessen dezent kratzig und eine Spur fahrig zu klingen, auf keinen Fall zu forsch, «ich bin wieder einigermassen hergestellt.»

Wenn der Chefchef ihn anruft, geht es nicht um Small Talk, das weiss der Müller, sondern meist um eine Missachtung des Dienstwegs oder um …

«… Rinaldo Mayer», sagt Stickelberger. «Der aufsteigende Stern am Unternehmerhimmel im Dreiland, wenn ich so sagen darf, und auch politisch …» Er lässt den Ton in der Schwebe, damit der Kommissär antworten könnte «ja, ist mir ein Begriff». Doch Müller Benedikt reagiert nicht auf Stickelbergers Panegyrik, sondern schweigt kunstvoll ins Telefon hinein. «Vielleicht haben Sie die Medienberichte gelesen», fährt der Erste fort, «der Fall Mayer … das sieht mir nach einer politischen Straftat aus. Sorgen Sie für eine gründliche Untersuchung, Müller.»

«Immer, Herr Stickelberger, wie immer», muss Müller nun doch aufmucken. Weil Müller immer … aber das wissen Sie. Pflegt der Chefchef mittlerweile Verbindungen zu den Ultraliberalen? Bisher waren’s eher die Liberalkonservativen. Oder tut Stickelberger jemandem einen Gefallen? «Manus manum lavat» (Seneca): Die eine Hand wäscht die andere.

«Willkommen zurück im Dienst, Kommissär», besänftigt Stickelberger, um gleich schneidig nachzudoppeln, «auf dass es mit der Aufklärung dieses Attentats so schnell vorangehe wie mit Ihrer Gesundung.»

Als Müller Benedikt nochmals «danke» sagt, ist der Chefchef innerlich längst bei seiner nächsten Aufgabe. Der Kriminalkommissär ist von seiner fiebrigen Erkältung zu circa drei Viertel reinkarniert und erstmals seit Freitagfeierabend – sicher zu früh – wieder im Büro. Um sich à jour zu bringen, liest er im internen Informationssystem die Aktenvorgänge der Tage nach, die er auf Kostenstelle 0400 (Krankheit) verbuchen wird.

a) Den prioritären Stickelbergerauftrag: Rinaldo Mayer (30), Freitag, 5. Januar, Ecke Böcklin-/Birsigstrasse, mit zugeschliffenem Smartphone niedergestreckt und leicht verletzt. Gleichentags von Gormann und Wäckerlin befragt.

b) Den in den Brunnen geworfenen Melvin Wyss (44), Hasenbrunnen, gestern Dienstag, 9. Januar. Eine Streife – Novak und Croci-Torti – hat den Rapport erstellt, den Geschädigten befragt, der nichts Sachdienliches zu Protokoll geben konnte. Bisher keine Zeugen ermittelt.

c) Ebenfalls gestern: den unbekannten Hochdeutschen vom Benkenpark.

Natürlich findet sich im System etliches mehr an systematisierter Information, inner- und ausserkantonal, in- und ausländisch. Das Verbrechen ist polyvalent und multimorph. Um alle mutmasslich strafrechtlich relevanten Vorfälle aufzuzählen, fehlt mir die Tinte, und Ihnen gebräche es an der Geduld, derer es bedürfte, die vollständige Liste aller Konflikte mit den Laufmetern und Laufmetern von Gesetzen durchzuackern. Die baselstädtischen Einträge der letzten Tage, die Müller auf seinem Bildschirm liest, beinhalten Gröberes und Bagatellen, Rätselhaftes und Klares, sehr Tragisches, voll Tragisches und Blödsinniges. Lustiges eigentlich nie. Verzweifeln könntest du darüber, wie das hinzukriegen und wie das eine und andere vielleicht sogar wieder einzurenken wäre. Verrückt werden könntest du über den Gedanken, was im Fall X genau vorgefallen ist, wer dafür verantwortlich ist, ob überhaupt, und wenn ja, welcher Straftatbestand vorliegt.

Nun, der Müller hat zum Glück ein Vierteljahrhundert Polizeierfahrung, ein gutes Filtersystem und in sich drin auch die Begabung namens Intuition. Das ist Latein und bedeutet … nun, ähm, also … er findet Dinge heraus, da käme ich hm nie drauf. Er legt den psychischen Finger einfach so auf die … ja, die Wunde der Faktizität …

Intuition eben. Müller: Falls Sie sich mit ihm noch nicht auskennen, hier kurz erzählt: Müller Benedikt, seit drei Jahren Kommissär der Kriminalpolizei in Basel-Stadt, 51 Jahre in den Knochen, stammt aus dem Blauburgunderdorf fast ganz unten im Reusstal, über 20Jahre stand er im Dienst der Polizei Zürich, eines Tages hat er im Dienst mit der Dienstwaffe einen Flüchtigen erschossen, juristisch voll ent-, psychisch aber krass belastet, weil er mag Dirty Harry Callahan nur als Filmfigur. Zuerst Kostenstelle 0400 Krankheit und über die Monate allmählich wieder in den Dienst integriert. Was hätte er auch tun sollen, statt sich piano, piano per Psychotherapie allmählich der Normaltemperatur anzunähern. Rhetorisch gemeint, deshalb kein Fragezeichen. Eines Tages auf Stadtwanderung in Basel ist der Müller bei der Rekrutierung der Kapo Basel-Stadt, damals beim Stadion an der General-Guisan-Strasse, hineinspaziert, hat dort mit dem Kollegen Balz Tschudin geplaudert und sich mit ihm gut verstanden. Einige Wochen später hat ihm Tschudin den Tipp gegeben, dass im Kriko in Basel eine Stelle frei ist. Beworben, besprochen, Assessment, angenommen, unterschrieben. Seither lebt und arbeitet der Müller in Basel, und – das kann man so sagen – er ist, was er nie angestrebt hat, ein kleiner Chef.

Auch privat ist er recht glücklich: Detektivwachtmeisterin Gülay Sermeter, seit Monatsbeginn bei der Abteilung Wirtschaftskriminalität, und er haben eine grosse Verbundenheit entwickelt, die sich Liebe nennt. «Schönheit ist bedeutungslos, bis sie geteilt wird» (George Orwell).

Weil die Müllergeschichten aber keine ♥♥♥-Romane sind, sondern die Melodie Cis-gis-cis-gis-cis-gis spielen, weise ich ausdrücklich auf sein berufliches Nichtalleinsein hin. Doppelpunkt und gross weiter: Am Morgenrapport im Besprechungszimmer S 207 im zweiten Stock des Waaghofs trifft der Müller an diesem Mittwochmorgen um 07:30Uhr auf sein Team. Das will ich kurz vorstellen, weil es Mutationen gegeben hat, epidemiologisch unbedenklich ausgedrückt: Fluktuationen.

Weiterhin in der Müllerequipe: Detektivkorporal (Det Kpl) Gormann Markus (41), Herkunft: Schaffhausen. Manche sagen, er könne allein vierhändig Klavier spielen. Er kennt Jazzlokale und Ähnliches, schreckt nicht vor Kunstmuseen zurück, liest sogar Romane und ist eher ein stiller, analytischer Typ. Privat liiert mit Frank, Lehrer am Gymnasium am Münsterplatz.

Detektivin Wäckerlin Romina (35), gross, blond, resolut, hat Ansichten, die der Müller … drücken wir’s so aus … eher selten teilt. Sie vermag jedoch unseres Wissens Beruf und privates Weltbild zu trennen. Ihr Lieblingsprinzip ist die Ordnung. Dafür sorgt sie gerne, weil sie ihr am Herzen liegt. Ihre Vorliebe für Hausdurchsuchungen kennen alle bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt und bei der Kantonspolizei. Über ihrem Privatleben liegt der Schleier des Mysteriums, sie scheint darin zurzeit nur mässig vom Glück begünstigt.

Detektiv Dominguez Freddie (28) ist neben dem Müller der zweite Zürcher in der Equipe, genauer: ein Schlieremer Chind. Geboren als Alfred Mauchle, zum Spanier geworden durch Heirat mit Rosa Dominguez, Krankenpflegefachfrau, die er eines Nachts bei einem Blaulichteinsatz im Stadtspital 8063 Triemli kennengelernt hat. Sie Nachtdienst, er Nachtdienst, Messerverletzten eingeliefert → plaudern → Kaffee → et cetera → ♥. Übersiedelung nach 4123 Allschwil in die Nähe von Rosas Eltern, hinter dem Lindenplatz. Freddie verbringt seine Freizeit im Fitnessstudio und widmet sich dem Aufbau seines Körpers. Der Bizeps ist sein besonderes Fachgebiet. Schwarzenegger Arnie reimt sich fast auf Dominguez Freddie. Sein Lebensmotto: «Fitness isch Wellness für de Body.» Beim jährlichen Mitarbeitergespräch schneidet Freddie hinsichtlich Tatkraft, Einsatzbereitschaft und physischer Fähigkeiten hervorragend ab, etwas weniger hinsichtlich psychologischen Geschicks und kognitiver Fähigkeiten. Dass er als Aspirant in Zürich den gefrorenen Tank des Wasserwerfers auftauen wollte, indem er unter dem Fahrzeug ein Feuer zu entfachen plante, diese Anekdote ist ihm über den Jura bis nach Basel gefolgt. Allen Unkenrufen – rufen Unken wirklich? Und sind die noch nicht alle wegasphaltiert? – zum Trotz, seien wir ehrlich: Freddie D. ist eine Endorphin-Schleuder, ein Glücks-Spreader.

Anstelle von Detektivwachtmeisterin (Det Wm) Gülay Sermeter neu im Team, von der Fahndung übernommen: Detektivin Valérie Allmendinger (27), 1.80 m, drahtig, braune Locken. Nach der Polizeischule fünf Jahre bei der Sicherheitspolizei. Erst seit einigen Tagen im Team und deshalb bisher wenig gesprächig, mathematisch ausgedrückt: entspricht noch der Variable x.

Statt Gloria Werner und Xerxes Blaser, die nach bestandener Polizeiprüfung seit Anfang Jahr auf der Wache Kannenfeld arbeiten, sind dem Kriko nun Aspirantin Amber Odermatt (20) und Aspirant Vlado Vakulic (21) zugeteilt. Frischlinge.

Vollzählig haben sich tutti zu diesem Morgenrapport hingesetzt. Besprechungszimmer S 207 im Waaghof, Binningerstrasse.

Wir sind die Polizei – Ihr Sicherheitspartner.

Diese Mannschaft unterstützt den Müller, sie arbeitet mit ihm, sie hilft ihm, und er hilft ihnen allen. Polizeiarbeit heisst Zusammenarbeit. «Smells Like Team Spirit» (Nirvana). Bei der Polizei ist kein Platz für Superegoermittler, Megabrainexzentriker, Geheimniskrämer und Illuminaten. Dies, damit wir uns nicht missverstehen, Sie, die Öffentlichkeit und ich.

Bei Automatenkaffee und Mineral mit oder ohne geht der Müller mit seinen Leuten die Berichte durch und verteilt die Aufgaben, um die nicht vorliegenden Tatsachen zu ergründen.

Als Ranghöchster während Müllers Fieberabsenz rekapituliert Det Kpl Markus Gormann die wichtigsten Ereignisse der letzten Tage.

Wäckerlin und Gormann waren am Freitag gegen 18:00Uhr beim Bundesplatzkreisel und haben den Fall des per Handywurfstern niedergestreckten Rinaldo Mayer aufgenommen. Als er im Kopf wieder klarer war, übers Wochenende, haben sie ihn zu Hause befragt. «Stickelberger hat mich deswegen gerade angerufen», schaltet sich Müller ein, «der Mann ist offenbar prominent. Was habt ihr?»

«Er leitet ein Life-Sciences-Start-up namens BMetrix in Allschwil, an dem er massgebliche Anteile besitzt. Er sitzt im Vorstand der ULP und –», beginnt Romina Wäckerlin.

«ULP?», fragt Freddie Dominguez, der darunter vielleicht den Unit in the last place versteht, was der kleinste Abstand zweier Gleitkommazahlen ist, die eine gegebene reelle Zahl einschliessen. Denkt er wirklich daran?

«Die ULP ist die Ultraliberale Partei», erklärt Wäckerlin etwas genervt. «Für die sitzt Mayer im Grossen Rat. Er wohnt im neuen grauen Hochhaus beim Bahnhof, hat eine Superaussicht über die Stadt, wenn die Gitter an der Fassade nicht gerade automatisch zuklappen. Ausser dem schwarzen BMWX4, den er am Tatnachmittag in der Neubadstrasse parkiert hatte, besitzt er einen Maserati-Sportwagen und einen Jaguar-Oldtimer, einen E-Type», fügt sie hinzu und schnalzt mit den Augen, weil das wirklich ein schönes Auto ist, vor allem in Silber, kostet sicher 100‘000, obwohl im Verbrauch … Halt, stopp Benzinnarrativ, wir sind beim Morgenrapport: «Er ist liiert mit einer Frau namens Kayleigh Affentranger.» Hier lacht Wäckerlin unkontrolliert, was Freddie anstachelt, sich ihr anzuschliessen. Gormann und Müller, der immer sagt «Keine Witze mit Namen, ich kannte mal einen Fritz Frosch, und das war ein patenter Kerl», und Valérie Allmendinger, die Neue, bleiben Pokerface und sachlich. Die beiden Frischlinge, Amber Odermatt und Vlado Vakulic, halten sich ebenfalls zurück, wie es sich gehört, kämpfen aber mit den fast dreihundert Gesichtsmuskeln, die am Lachvorgang beteiligt sind.

«Ein einigermassen wichtiger Mann also.» Romina Wäckerlin hat sich wieder im Griff und schaut in die Runde.

«So einer hat garantiert Feinde», ruft Freddie Dominguez.

Müller geht darauf nicht ein. «Was sagt er selbst dazu?»

«Er sagt, er sei für die Linksextremen das ideale Feindbild: freiheitlich und erfolgreich. Die Linksextremen hätten ihn niedergestreckt, vermutet er. Aber das ist reine Spekulation», fasst Gormann die Befragung von Rinaldo Mayer in dessen Hochhauswohnung zusammen. Ergänzung zur Wohnung und damit zum Wesen von Herrn Mayer: funktionalkaltes, formschönes Design, anthrazitfarbene Sitzgruppe mit Büroflair rundherum und – wahrscheinlich als ironische Brechung – eine Lavalampe. Gormann hat ein Auge für so was.

Gormann weiter: «Zur Tatwaffe, dem Handy-Wurfgeschoss, wusste Mayer nichts zu sagen. Dazu hatte er keine Theorie.»

«Woher stammt dieses Handy?», will der Müller wissen.

Romina Wäckerlin antwortet: «Haben wir abgeklärt, Chef. Laut Jonovic gehörte es bis vor etwa einem Jahr einem gewissen Urs Aegerter, Mitarbeiter auf dem Steueramt in Oberwil. Der hat es damals als gestohlen oder verloren gemeldet. Die Versicherung hat ihm den Schaden ersetzt.»

«Ein geklautes Handy, das ein Jahr später als Wurfgeschoss wiederauftaucht», fasst Gormann zusammen. Dieser Aegerter sei «mit an Sicherheit grenzender …» – Sie kennen die Formel – «… sauber», ergänzt er. Über ihn liege nichts vor, unbescholten, keine Vermerke im polizeilichen Informationssystem, keine Vorstrafen, und bei der Versicherung sei er nicht durch eine Häufung von Schadensmeldungen aufgefallen.

Freddie denkt mit. «Diese ULP, was ist das für ein ähm Verein?»

«Das ist die Vermutung, die Rinaldo Mayer geäussert hat. Dass ihn jemand auf dem Kieker hat, weil er sich politisch engagiert. Also die ‹Linksextremen›, wie er sagt», sagt Gormann.

«Die ULP … die sind ultraliberal», ereifert sich Romina Wäckerlin, «also völlig für die Freiheit, nicht so weichsinnig, sozialistisch und grünlastig, sondern eben, ja, superliberal.»

Freddie murmelt, darunter könne er sich nicht so recht etwas vorstellen, und Wäckerlin ergänzt, sie wisse nicht, ob sich die ULP tatsächlich konsequent für Ruhe und Ordnung einsetzt, «sonst wäre das vielleicht eine gute Sache, nicht so Mainstream wie –»

Gormanns Protest unterbricht sie. «Solche ‹Weisheiten› bitte erst am Feierabend, wenn wir nicht im selben Raum sind, Romina.»

Der Müller fährt dazwischen. «Zur Sache bitte. Politische Diskussionen in der Pause oder noch besser, wie Markus sagt, nach Dienstschluss.»

Wäckerlin, etwas kleinlaut: «Sorry.» Freddie, etwas irritiert: «Aber …» Valérie Allmendinger sieht sich die Positionskämpflein in ihrem neuen Wirkungsbereich an. Der Chef scheint wirklich der Chef zu sein, der dunkelhaarige Gormann mit der griechischen Nase gehört zu seiner Fraktion. Kollegin Wäckerlin steht politisch anderswo, und Muskelmann Freddie fürchtet den Chef. Die beiden Aspis Odermatt und Vakulic versuchen die Gedanken des Kommissärs von dessen Miene abzulesen, weil der figuriert im Organigramm schliesslich ein bisschen arriba muchachos.

Müller → Auftragsausgabe: «Romina und Markus, ihr bleibt am Fall Mayer dran. Findet heraus, ob Mayer politisch oder geschäftlich jemandem auf den Fuss getreten ist. Oder hat seine Partnerin etwas damit zu tun?»

«Kayleigh Affentranger», kichert Freddie Dominguez.

«Alfred Mauchle aus Schlieren», bellt ihn der Müller an und überschreitet eine Grenze, die er respektieren wollte, «so geht das nicht.»

Stille allerseits. Hässig ist der Müller selten, aber wenn, dann, weil, ehrlich.

Wir sind zum Arbeiten hier, nicht zum Rumkaspern. Müller wird kaum je laut. Meist beruhigt er sich schnell, kann ich sagen, ich kenne ihn seit Jahren. Er kriegt sich wieder ein, aber es gibt Dinge, die mag er nicht, zum Beispiel Witze mit Namen. «Wenn ich’s vor allem lustig haben will, brauche ich nicht arbeiten zu gehen», sagt dazu jeweils Bucher Manfred, Müllers Freund und jahrzehntelanger Mitpolizist in 8000 Zürich.

«Gestern Morgen dann …», fährt Gormann ungerührt fort, «der Unternehmer Melvin Wyss im Hasenbrunnen. Noch ein Unternehmer. Die beiden Kollegen von der Sicherheitspolizei», er sieht auf dem iPad nach, «Croci-Torti und Novak … sie haben nichts herausgefunden, weil es anscheinend keine Zeugen gibt.»

Müller schaut sich um wie der Bussard, der nach Beute späht, dann sticht er hinunter. «Freddie … Dominguez. Das ist etwas für dich. Dir wird Aspirantin Odermatt zur Hand gehen.»

Gormann reicht Freddie einen Zettel mit Wyss’ Geschäftsadresse, Ecke Feierabend-/Holbeinstrasse, 2. Stock. Weil selbstständige Geschäftsleute ausser Business wenig umtreibt, trifft man sie erfahrungsgemäss am ehesten im Büro.

Abgang Dominguez und Odermatt. Gormann und Wäckerlin ab ins Gemeinschaftsbüro. RIPOL-Einträge lesen, die Sach- und Personenfahndungsdatenbank, zu Mayer und seiner Firma recherchieren.

Den Hochdeutschen, der seit gestern Abend auf der Clarawache einsitzt und schweigt (gemäss StPO darf er das), den werden sich der Kommissär, Valérie Allmendinger und Aspirant Vlado Vakulic vornehmen. Mit einem grauen Zivilfahrzeug fahren sie durch die innerstädtische Fahrverbotszone, beim Theater vorbei, am Barfüsserplatz, vor dem Marktplatz rechts rein, am Rathaus vorbei und durch die Eisengasse, über die Mittlere Brücke und über den Rhein. Das Käppelijoch auf der Mittleren Brücke, denkt der Müller jedes Mal, wenn er die Brücke überquert, war einst eine Hinrichtungsstätte. Verurteilte in einen Sack einnähen und ins Wasser werfen. Gehen sie unter, ist die Strafe gerecht. Bleiben sie oben, hat Gott sie gerettet. Der Müller ist froh, dass diese Strafmethoden der Vergangenheit angehören.

Das Auto mit Müller, Allmendinger und Vakulic also → ins 4058 Kleinbasel hinüber. Vor dem Seiteneingang parkiert und in die Clarawache.

Der Diensthabende, Dupont oder Dupond, ich kann’s mir nie merken, legt ihnen das Ergebnis der erkennungsdienstlichen Behandlung vom Vorabend vor. Die Kolleginnen haben Fingerabdrücke und Bild des Schweigsamen vom Benkenpark durch den Computer gejagt. Das Bundeskriminalamt im Deutschen drüben hat einen Treffer gemeldet. Der Mann ist wegen Vermögensdelikten vorbestraft. Genauer: Betrug. Noch genauer: wegen «Enkeltrickbetrug». Klingt halbwegs niedlich, ist aber ernst. Also Vorsicht! Solche Leute sind organisiert und nutzen die Gutgläubigkeit und Freundlichkeit der Menschen aus, erzählen das Graue vom Himmel herunter und trachten nach Brutalstkapitalismus. Wenn sich diese Straftäter am Telefon überdies als «Polizisten» ausgeben, macht uns das teufelsfuchsig. Wir als Polizei werden Sie nie auffordern, uns Geld und Wertsachen anzuvertrauen, geschweige denn Ihre Sachwerte im Milchkasten oder in einem hm ja Abfalleimer zu deponieren. Wir nehmen nie Wertgegenstände in Verwahrung, weil angeblich «in Ihrem Quartier» gerade massiv Einbrecher unterwegs sind. Die Telefonnummer und der Name, die Ihr Apparat anzeigt, sind keine Garantie, dass wir es sind, die anrufen. Behauptet die Anzeige «Polizei», und die Ziffernfolge entspricht der der Kannenfeldwache, kann das irgendwer, ich wiederhole: irgendwer, sein. Weder der freundliche Fake-Polizist noch der Ihnen bis vor zwei Minuten unbekannte Grossneffe Jürgen, der Sie anruft, weil er gerade in der Klemme steckt, sind echt. Herzerweichend sind die Geschichten: Zwanzigtausend Franken braucht Jürgen sofort, um eine Busse zu bezahlen, sonst kann er sein Auto nicht auslösen und nicht zurück zur Familie mit dem todkranken Kind. Natürlich lässt Sie, also «dich», er ist ja dein Grossneffe, die ganze Familie übrigens ganz, ganz herzlich grüssen, wirklich schade, dass der Kontakt in den letzten Jahren praktisch eingeschlafen ist …

Irgendwas erzählen die. Einen Chabis. Lüge ist ein menschliches Prinzip, materieller Vorteil beständig ein Antrieb, Skrupel eine Utopie. Der Mensch bisweilen ein Irrtum der Schöpfung.

Müller, Allmendinger und Vakulic also in die Zelle hinein, wo Helmut Rösler (37), so heisst er laut den deutschen Kollegen, auf der Pritsche sitzt.

«Guten Morgen …», ruft der Kommissär so laut, dass vor Schreck in den Poren der Betonwände die Zementwürmer erbeben, «… Herr Rösler.»

Das Verweigern der Aussage, das Verschweigen der Personalien hat also nichts genützt.

«Wir wissen, wer Sie sind. Wir kennen Ihre Vorstrafen, und wir würden gerne von Ihnen erfahren, was sich gestern Abend zugetragen hat.»

Rösler protestiert, er sei das Opfer einer Gewalttat geworden. Er deutet auf seinen Kopf. Es sei komplett absurd, dass ihn die Polizei festhalte und einsperre. Die Schweiz sei ein Polizeistaat, verdammte Freiheitsberaubung, was dazu der Europäische Gerichtshof wohl sagen würde, entrüstet er sich.

Manchmal fühlt sich der Müller sehr müde.

«Warum haben Sie sich gestern Abend um 19Uhr im Benkenpark aufgehalten?», fragt ihn der Kommissär.

Rösler rutscht auf der Pritsche herum. «Ich will einen Anwalt», sagt er.

Bis lic. iur. Peter Hauri eintrifft, der Pflichtverteidiger, dessen Dienste der Staat dem mutmasslich Beschuldigten unentgeltlich zur Verfügung stellt, wird Müllers Armbanduhr «10:10» sagen. Bis dahin Müller, Allmendinger und Vakulic in der Küche der Clarawache zuerst Kaffee holen, dann Computerarbeit, um der Steuerzahlerin und ihrem Mann nicht unnötig das Geld zu stehlen.

Dann erneut → in die Zelle.

«Was werfen Sie meinem Mandanten vor?», fragt RA Hauri.

«Betrug», sagt Müller aufgrund der Vorstrafen von Herrn Rösler, «Artikel 146 des Strafgesetzbuchs.» Er fügt hinzu: «Und Artikel 260ter: Beteiligung an einer kriminellen Organisation.»

Wacklig das, räume ich als Ombudsstelle ein, weil der Müller ausser den deutschen Strafregistereinträgen und der Tatsache, dass der Mann benommen und mit einer Quetschwunde am Kopf im Benkenpark angetroffen wurde, nichts in der Hand hat.

Jedoch Gefühl, Intuition, Erfahrung … das steht natürlich nicht in der Strafprozessordnung. Reicht nicht aus, dass wir den Mutmasslichen länger als 48Stunden festhalten dürften. Spätestens dann müssten wir ihn einem Haftrichter vorführen. Der kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft anordnen. Doch als Haftgrund braucht der Müller Fakten, weil Rechtsstaat. Das ist gut so, findet er, wenn auch im Fall von Rösler gerade ziemlich ärgerlich.

Also bohren in Richtung Betrug. Ansatzpunkt: Zweck des Aufenthalts in Basel. «Verwandtenbesuch» kann der Mann nicht sagen, sonst müsste er deren Identität offenlegen. «Ferienreise» glaubt im Januar, ausser in den Halligalli-Après-Ski-Bergen, niemand. «Geschäftsreise» bedürfte zur Plausibilisierung der Namen von Kontakten.

«Dass Sie meinen Mandanten, der gestern Abend von unbekannt im Benkenpark verletzt worden ist, ohne konkreten Vorwurf festhalten, wird für Sie Folgen haben», interveniert lic. iur. Hauri. «Ich verlange, dass Sie Herrn Rösler sofort freilassen.»

Das muss der Müller wohl akzeptieren. Kein Paradestück, das er der neuen Kollegin und dem neuen Aspiranten vorgeführt hat. Ausser es wäre seine Absicht gewesen, ihnen zu zeigen, wie der Rechtsstaat funktioniert: Ohne dringenden Tatverdacht, ohne materielle Beweise, ohne Zeugenaussagen hast du als Polizeimann keine Handhabe.

«Auf Wiedersehen, Herr Rösler», sagt der Müller, ohne die Miene zu verziehen. Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: «Eine Streife wird Sie zur Grenze bringen.»

«Personenfreizügigkeit», protestiert RA Hauri.

«Rayonverbot aufgrund der Gefahr, dass Herr Rösler weitere Verbrechen oder Vergehen begehen wird … Artikel 67b StGB», kontert der Müller. «Sonst beantragen wir Untersuchungshaft wegen Wiederholungs- und Fluchtgefahr.»

Immerhin das Gesicht gewahrt.

***

Das freie Unternehmertum.

Wir wollen keine Klischees dreschen, aber um in Sachen Rinaldo Mayer voranzukommen, dürfen wir nicht verschweigen, dass der dreissigjährige Unternehmer privat im grauen Hochhaus beim Bahnhof ansässig ist und eine Miete im mittleren vierstelligen Bereich bezahlt. Gerne ist er auch in einer neu erstellten Eigentumswohnung in 4102 Binningen zu Gast, am Hügel oberhalb des Dorenbachs. Diese dient seiner Partnerin, der FinTech-Spezialistin Kayleigh Affentranger, als Zweitdomizil. Terrasse mit freiem Blick auf die nicht mehr ganz rot-grün regierte Stadt Basel hinunter, hinüber auf das schwarz-grün regierte Bundesland Baden-Württemberg und nach Nordwesten ins politisch und ideologisch wenig fassbare Nachbarland Frankreich. Hinauf zu Kayleigh zieht sich Mayer gelegentlich gerne zurück, um ungestört nachzudenken, für seine BMetrix neue Projekte zu erarbeiten, dank Digitaltechnologie ortsunabhängig und worldwide. Nach Feierabend oder im Zeitfenster zwischen dem elektronischen Meeting mit Toshihiro in Tokyo und dem Conference Call mit Brian K. und Chuck S., die in Los Angeles und Florida sitzen, trinkt er gerne mit seiner Partnerin einen Prosecco, um das Leben zu feiern. «Celebration!» (Kool & The Gang). Für Erfolg braucht es das richtige Ambiente. Bescheidenheit ist nicht für Siegertypen wie sie. «Fabrum esse suae quemque fortunae», jeder ist seines Glückes Schmied (Appius Claudius Caecus, wie Sallust «Ep. Ad Caes.» I, 1, 2 überliefert).

Affentrangers Hauptwohnsitz liegt nicht am Binninger Hügel, sondern im Kanton Schwyz, in Nachbarschaft von alt Tennisstars und anderen Steuerflüchtlingen. Wir erwähnen das nicht aus Sozialneid. Doch Tatsache ist, dass sich allein mit Arbeit und ohne Erbschaft kaum jemand mit dreissig eine solche Mietwohnung im Hochhaus beim Bahnhof und erst recht nicht Eigentum am Hügel leisten kann. Arbeit führt nicht zwingend zu Wohlstand. Deshalb zählen Supermarktkassiererinnen, Logistiker, Gesundheitsfachleute, Dentalhygienikerinnen, Tramfahrerinnen und Polizisten kaum zur Nachbarschaft von Affentranger und Mayer.

Wovon sie lebt, die Frau mit dem keltischen Vornamen, fragen Sie? Finanzen und Investment sind ihr Geschäft und ihre Leidenschaft. Sie verbringt gleich viel Zeit mit elektronischen Kommunikationssystemen wie ihr ultraliberaler Gespiele und ebenso lange mit der Pflege ihrer Schuhsammlung wie er mit dem Trimmen seines gut definierten Vollbarts, der auch im Businessalltag bestehen kann. Mayer hat es sich zum Markenzeichen gemacht, seine Wangen ratzekahl zu rasieren und es bloss um den Mund und am Kinn konturscharf eingedämmt spriessen zu lassen. Seine Freunde halten ihn für schneidig und energiegeladen. Das finden Markus Gormann und Romina Wäckerlin bei ihren Nachforschungen vom Waaghof her heraus. Kritische Geister erwähnen dagegen mehrfach seine hellgrauen Augen, die stechend scharf alles und jeden scannen, und halten seine Erscheinung für tauglich, einen Satan-Lookalike-Contest zu gewinnen.

Nun, vorerst brauchen Wäckerlin und Gormann den verletzten Geschäftsmann und Politiker Mayer kein weiteres Mal persönlich aufzusuchen. Seine Aussage vom Freitagabend, 5. Januar, in der Notaufnahme des Universitätsspitals und vom Samstag in seiner Hochhauswohnung haben sie schwarz auf weiss und von ihm unterschrieben. Er hat keine Ahnung, wer ihn nach Einbruch der Dämmerung am Bundesplatz mit einem angeschliffenen Handy beworfen hat, auch wenn er «die Linksextremen» verdächtigt.