Müller voll Basel - Raphael Zehnder - E-Book

Müller voll Basel E-Book

Raphael Zehnder

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Beschreibung

Ein tragischer, lustiger Kriminalroman vom Gewinner des Zürcher Krimipreises. Er hat es getan! Kriminalkommissär Müller Benedikt ist tatsächlich von Zürich nach Basel gezogen. Doch auch hier im Nordwesten schläft das Verbrechen nicht: Der neunzehnjährige Sohn eines Nationalrats liegt erschossen auf dem Asphalt im Dreispitz. Müller begibt sich mit seinem neuen Team zur Lösung des Falls in die Welt der Basler Polit-Elite – bis ihn die Spur schließlich ins Altersheim und in eine Studenten-WG führt und die Ermittlungen auf einmal in eine ganz andere Richtung drängen ...

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Raphael Zehnder wurde 1963 in BadenAG geboren und arbeitete als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, bevor er Französisch und Latein studierte und in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft promovierte. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF, ist Miterfinder und -organisator der Zürcher Kriminalnacht im Theater Rigiblick in Zürich und Autor von sechs Kriminalromanen um den Polizeimann Müller Benedikt. Für «Müller und der Mann mit Schnauz» erhielt er 2015 den Zürcher Krimipreis.

Disclaimer: Alles in diesem Buch ist voll gelogen, erfunden und auch sonst absolut wahr. Nur der Müller ist real und die erwähnten Städte. Folgen Sie @BucherManfred auf Twitter.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Mick Vahlsing, www.fotovia.de Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-367-7 Originalausgabe

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Meinen Eltern Alberto und Therese, immer wieder Annette und Julius und Vinzenz

Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Karl Lagerfeld

Magnum ist kein Eis, sondern ein Kaliber.

D.H. Callahan

There is no substitute for hard work.

Protinus inrupit venae peioris in aevum/omne nefas: fugere pudor verumque fidesque;/in quorum subiere locum fraudesque dolusque/insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.

Sed istorum hominum corruptorum non partem facit:

Müller Benedikt (48), Kriminalkommissär, Basel-Stadt

Alii aliaeque hoc in oppido viventes vel laborantes:

Bataille Noël (24), Product Manager, Rhenania FreightSA, 4057 Basel

Blaser Xerxes (21), Aspirant, Kantonspolizei Basel-Stadt

Bucher Manfred (48), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich

Burri Caro (22), Studentin, 4056 Basel

Cattaneo Roland (38), Kriminaltechniker, Kantonspolizei Basel-Stadt

Cvetinovic Milan (37), Mitarbeiter Senectus Worldwide Inc., 4054 Basel

Dominguez Freddy (25), Detektiv, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Flückiger Paul (19), Gymnasiast, 4059 Basel

Flückiger Ruedi (54), lic. iur., Nationalrat, 4059 Basel

Flückiger-Stadlin Marianne (49), lic. phil., 4059 Basel

Gormann Markus (38), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Haberthür François (62), Pathologe, Institut für Rechtsmedizin der Universität Basel, 4056 Basel

Konrad Jacques (76), dipl. Ing. ETH, 4054 Basel

Krebs Sue (18), Gymnasiastin/Fitness-Instruktorin, 4056 Basel

Müller Doris (44), Schwester von Müller, Gesundheitsfachfrau, 4054 Basel

Panzeri Jessica (35), a.k.a. Jazzica, Abt. Wirtschaftskriminalität, Kantonspolizei Basel-Stadt

Probst Boris (24), Marketing-Student, 4056 Basel

Sermeter Gülay (34), Detektivwachtmeisterin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Spöndlin Agathe (43), Senectus Worldwide Inc., Standortleiterin Schweizergasse, 4054 Basel

Stickelberger Daniel (44), Dr.iur., Erster Staatsanwalt des Kantons Basel-Stadt

Vetter Rolf (61), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Wäckerlin Romina (32), Detektivin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Wagner Noah (10) und Maurice (12), Kinder von Müller Doris, 4054 Basel

Werner Gloria (22), Aspirantin, Kantonspolizei Basel-Stadt

Wirz-Bald Angelika (48), Dr.iur., Anwältin/Kulturunternehmerin, 4059 Basel

Ta-da-da-daaa

Um 03:00Uhr morgens ist es im Weltall draussen sehr dunkel und sehr gross. Wären nicht all die Sonnen und Sterne, die der Mensch von blossem Auge höchstens als kleine Leuchtpunkte wahrnehmen kann, wäre es da draussen stockfinster. Und in all diesem Dunkel fliegen Meteoriten, Planeten, giftige Gasnebel und Satellitenschrott durchs All, dass es einem im Kopf ganz sturm würde. Doch da draussen hält sich ja niemand auf, den das nervös machen könnte. Irgendwo zwischen diesen Himmelskörpern schwebt auf fester Bahn eine herzige kleine Kugel umher. Wenn wir aus dem finsteren All an sie heranzoomen, sehen wir unzweifelhaft: Sie ist blau wegen der Meere, gelb, grün und braun wegen der Kontinente, und oben und unten ist sie noch ein bisschen weiss. Sie ahnen es, ich spreche von der Erde. Wenn wir näher an die nördliche Halbkugel heranschauen, erkennen wir Italien. Einfach zu merken, ist ein Stiefel mit hohem Absatz, fast etwas verwegen in der Form.

Für uns wichtiger: Etwas nördlich vom Stiefel liegen mitten zwischen Jura, Schwarzwald und Vogesen die Koordinaten 47º33’29’’N, 7º35’16’’O, die besiedelt sind von 171’017Personen. Eine Stadt. Sie steht idyllisch da, wo der Rhein nach Norden ins Ausland abbiegt. Im Westen liegt Allschwil und dann Frankreich, im Süden Binningen und die Schweiz, im Osten die Römerstadt und dann der Aargau und die Riesenbrauerei, und im Norden der Tierpark Lange Erlen und das Bässlergut. Das ist ein Gefängnis. Und im Nordosten das Hörnli, der Friedhof. Und ganz im Norden das Euro-Einkaufsparadies Germany. Die Stadt selbst heisst Basel, liegt beidseits des Flusses, ist alt, und jetzt wohnt auch der Müller dort.

Müller Benedikt, Polizeimann, über zwanzig Jahre im Dienst der Polizei Zürich, Abteilung Gewaltverbrechen, von einem Schusswaffentrauma recht passabel genesen– hat im Dienst an der Müllerstrasse in 8004 einen Flüchtigen erschossen, juristisch zwar entlastet, Untersuchung eingestellt, aber hatte arg daran zu kauen, weil er auch ethisch nicht der Schusswaffenfraktion angehört. Und jetzt eben der Müller in Basel. Neue Stadt, neues Glück? Oder besser: neue Stadt→ Glück?

Weil privat glänzt er noch nicht mit Erfolg. Die Liebe hat ihn bisher bloss temporär gestreift. Deshalb hat ihn wenig in Zurigo zurückgehalten und er sich ins Abenteuer hineingestürzt, als sich die Möglichkeit zur Auswanderung ergab.

Weil Auswanderung ist es, obwohl mit demIC nur zweiundfünfzig Minuten Fahrzeit. Aber: durch einen Tunnel! In eine andere Klimazone! In ein anderes Dialektgebiet! In eine andere Wirtschaftswelt! Zu anderen Menschen! Nah an die Landesgrenzen zu den Deutschen und den Französinnen und Franzosen, nah zu seiner Schwester, die mit ihren beiden Söhnen hier lebt.

Vor sich sieht Müller in diesen Minuten die Postleitzahlen 4000 bis 4059. Als neonfarbene Ziffern tanzen sie spiralförmige Muster vor sein geistiges Auge, was auch immer das ist. Rot und grün und gelb und blau sagen sie ihm nicht «ciao, ciao, ciao», sondern «salut», weil er zwar weggegangen ist aus der einen Stadt, aber angekommen ist an seinem neuen Wohnort. Wo sich Tram- und Buslinien in Quartiere hinausbewegen, die er nicht kennt, eine fremde Geografie voller rätselhafter Wörter: Merian-Iselin? Gotthelf? Bachletten? Am Ring? Gundeldingen? Matthäus, Kleinhüningen, St.Johann, Breite, Clara, Klybeck, Wettstein… Diese Wörter hört er jetzt, mit viel Hall und Echo und verzerrt. Und eine Rückkopplung, als sei der Polizeifunk vollkommen hinüber, vernimmt er auch. Allmählich geht das spiralige Zifferngetanze über in ein unregelmässiges Gezucke und das Wortgehalle in ein Pfeifen, ein Pfeifen, ein Pfeifen, das hältst du im Kopf nicht aus.

Der Müller erwacht. Das Kopfkissen ist nass, sein ganzer Körper. Diese Hitze! Und schon hell? Wo ist er? Wo bin ich, denkt er, wo? Er schaut um sich, erkennt das Nachttischchen und das Buch darauf, den Wecker, der 05:12 anzeigt, die Deckenlampe, die er länger schon besitzt. Dort auf dem Horgen-Glarus-Stuhl sein blaues Hemd und die Hose. Verloren kann er also nicht sein, nur sich verloren fühlen. In der neuen Stadt, am neuen Wohnort, von dem er, ehrlich gesagt, gar nichts weiss.

EINS (Mittwoch, 10.Juli)

Die Nacht kann dunkel sein. Vor allem bei Neumond in der Industriezone. Und einsam.

Die Nacht kann knallhellgrell sein. Das Mündungsfeuer macht’s.

PENG.

Aber das siehst du nicht. Und falls doch, bist du tot. Oder, weil nicht alle treffen gut, bist du in Panik. Weg hier, zuckt er durch dich hindurch, der Gedanke, der dir Brücke wäre zurück in Sicherheit, ins problemlose Leben, ins problemärmere. Hey, da will dich jemand fertigmachen, auslöschen, umbringen, töten, killen. E.R.S.C.H.I.E.S.S.E.N. Du wendest dich ab, als du es siehst, auch wenn du es nicht verstehst, dass er eine Waffe zieht, gezogen hat, du weichst zwei, drei, vier Schritte zurück.

Wer könnte schon verstehen, was geschieht in so einer Situation? Da fehlt fast allen die Erfahrung.

Keine Zeit, um nachzudenken: Du rennst mit deinen Sneakers, deinen Markensportschuhen, haha, weit kommst du nicht. Vielleicht hat jemand den Schuss gehört und deine Schritte, als du weggerannt bist, und hoffentlich die117 gerufen? Und den PENG zweiten Schuss? Hört ihn jemand?

Träum schön! Hat nicht, hat niemand, niemand hat etwas gehört: Oslo-Strasse, Dreispitz, Logistikunternehmen, Container, Kräne, verwaiste Bahngeleise, Lagerhallen, teils ungenutzt, ein Schrottplatz, Laderampen, leerer Asphalt, die Speditionsmitarbeiter seit Stunden weg, der Campus der Kunsthochschule, das Ateliergebäude nachts verlassen. Niemand hier.

Nur du und er.

Du rennst. Bist du getroffen? Der Schock, dass der wirklich auf dich geschossen hat, schiesst, nicht lockerlässt. Am Ärmel, nein an der Schulter… ist das Blut? Ja, du bist getroffen.

Hinter dir Schritte, er verfolgt dich. PENG. Ein dritter Schuss. Der dritte Schuss. Der dritte Schuss. Arrivederci, bye-bye.

Wo die Oslo-Strasse in die Florenz-Strasse mündet, rechts beim Poller, an der Ecke des schwarzen neuen Gebäudes mit dem dänischen Konsulat und der Plattform für digitale Geschäftsfelder drin, dort finden sie dich. Aber erst am nächsten Morgen. Du bist längst ausgekühlt.

Lufttemperatur 22Grad Celsius schon frühmorgens.

ZWEI (Donnerstag, 11.Juli)

07:16Uhr. Der Anruf kommt von Daniel Stickelberger persönlich, dem Ersten Staatsanwalt, dem Chef des Chefs. Der Tote ist der Sohn eines Nationalrats, von der Partei, die Lärm macht, viel Lärm und lieber Lärm als Lösungen vorschlägt. Gymnasiast ist er, war er, neunzehn, keine Vorstrafen, keine Vorgänge registriert, «unbeschriebenes Blatt», hiess es vordigital. «Übernehmen Sie das persönlich, Müller», sagt der Erste Staatsanwalt im fünften Stock in seinen Telefonhörer.

Neunzehn. Tot. Der Müller hasst das.

Also nichts mit langsamem Einarbeiten, Heranführen an den neuen Aufgabenbereich, die neuen Abläufe, Eingewöhnen in der fremden Stadt.

Der Müller zehn Tage im Amt.

Wäre er nicht Polizeimann, sondern Künstler, würde man sagen: «lebt und arbeitet inB.», als wäre für einen wie ihn, wie Sie, wie mich das eine ohne das andere überhaupt möglich.

Erst wenige Tage ist er in dieser Stadt, aber es reichte schon, um festzustellen, wie heiss es hier wird: Die Luft steht. Als Glocke hockt Satan Celsius über den Einwohnern. Glutofen.

«Wir fahren sofort hin», antwortet der Müller, legt auf und ruft Sermeter an, ob sie Zeit hat. Sie hat. Runter zum Parkplatz. Dunkelblauer Mondeo. Fahren los.

Blau jetzt ein. Horn höchstens bei Kreuzungen. Waaghof→ rechts hoch→ dann rechtwinklig links→ Markthalle→ Centralbahnplatz→ Post→ Grosspeter→ Brücke über die Geleise. Der Müller hat sich die neue Geografie noch nicht einmal ansatzweise merken können. Das GPS kennt sich aus, die Kolleginnen und Kollegen natürlich auch. Im Müllerkopf ist ein anderer Stadtplan eingebrannt. Die zwölf goldenen Stadtkreise am unteren Seebecken. Die blau-weisse Landkarte wird jetzt, kannst du dir beim Zürimüller zwar nicht richtigrichtigrichtig vorstellen, wird jetzt auf dem Status quo einfrieren, allmählich verblassen und überschrieben werden. Der Müller jetzt voll Basel? Nordwestschweiz? Wirklich? Ja, so ist es. Und der Müller jetzt bei der Staatsanwaltschaft und nicht mehr bei der Polizei? Halt, falsch, stimmt nicht, Erklärung folgt gleich. Wichtiger Schweizergrundsatz: «Das ist von Kanton zu Kanton verschieden», also sechsundzwanzig Kantone, Föderalismus, Autonomie und so weiter. Obwohl fürs ganze Land nur eine Strafprozessordnung und nur ein Strafgesetzbuch. Sobald nämlich das StGB ins Spiel kommt, übernimmt im Kanton Basel-Stadt das Kriminalkommissariat den Fall, und das Kriminalkommissariat, also Müller, gehört zur Staatsanwaltschaft. Okay? Da gab es eine Vakanz, und Oberleutnant Tschudin von der Rekrutierungsstelle hat den ihm von einer Plauderhalbstunde her bekannten Müller informell angerufen. Der Müller hat formell eine Bewerbung geschickt und so weiter et cetera, was verlängere ich’s→ prozedural und formal allesi.O.→ Seit Anfang Monat ist der Müller steuerrechtlich und beruflich ein Basler.

Neuorientierungsmotivation auch: Seine Schwester Doris und ihre Kinder wohnen hier, und dieser Scheissclaudio ist endlich weg aus ihrem Leben, Kinderbesuche nur noch unter Aufsicht, weiss der Teufel, was da war oder sein könnte. Willst du gar nicht alles wissen. Doch! Als Polizeimann und als Bruder und als Mensch musst du, weil Kindeswohl und Kindesschutz! Nicht dass Claudio… texten wir hier nicht aus, sonst ist fertig lustig.

Der Müller also, wiederholen wir es kurz und schmerzlos, ist neu ein Bebbi. Plötzlich lebst du in einem… in einem Halbkanton, der sich anfühlt wie ein ganzer und vollwertiger. Item: Basel. Das bedeutet, denken wir nach, um nichts Falsches zu sagen, weil «Slippery When Wet» (Bon Jovi), die Ortsveränderung bedeutet einen Kulturclash. Zürich und Basel… äh… fangen wir so an: In Zürich heisst es Grossmünster, in Basel lediglich Münster. Da kommst du schon ins Denken, was das als Subtext und im U-Bewussten aussagt, wenn du dir das genauer überlegst. «J’ai jamais rien vu d’aussi haut/Oh! C’est haut, c’est haut», schrieb Serge Gainsbourg, er habe nie so etwas Hohes gesehen, oh, wie hoch das sei! Er gab zwar vor, New York zu meinen, in Wirklichkeit meinte er Zürich und das Grossmünster und den Uetliberg, gestand er mir neulich.

Dort, in Zürich, gibt es zwei kleine Flüsse; hier auch zwei kleine, aber dazu noch einen ganz kleinen am Zoo vorbei und vor allem einen riesigen, der bis ans holländische Meer hinunterfliesst. In Zürich gibt es einen See, zugegeben, da bekommst du als Müller voll Heimweh und Augenwasser, auch wenn du in hässigen Sekunden denkst, das Seeufer sei völlig überfüllt und überbadet und übernutzt, und Geld für ein Schifflein hast du sowieso nicht. In 4000 gibt es ein fett gedrucktes Thema in Rot-Blau, den Fussballclub, der heilig ist für alle. Als Zugezogener lernst du in deiner ersten Woche: Fussball→ «Hundert Jahre Einsamkeit» (G.G. Márquez). Weil Imitation nur blöd tönt. Die Tageszeitung mit dem rot-schwarzen Layout lesen? Willst du das wirklich? Etwas Unbedachtes über Chemie und Pharma sagen?→ Wärst du sofort aussätzig. Witze über Familiennamen mitck unddt undv? Vergiss es einfach.

Hier braucht der Müller ein neues Koordinatensystem. Muss er sich umgewöhnen. Das betrifft auch die Polizei. Der Wissenschaftliche Dienst ist hier nicht derWD. Er heisst hier Kriminaltechnische Abteilung.

Ruhig jetzt! Fokussieren! Konzentration! Strassenverkehr!

Wo waren wir? Mit Müller und Sermeter im Auto. Bahngeleise! Unten fahren die Züge nach Zürich vorbei, auch die nach «Germania» (Tacitus), «Olten» (Lenz), «Bern» (Hofer), Luzern, Lugano, Delémont. Der Zug nach Zürich ist kein Einzelfall, auch andere Linien führen weg von hier. Keine Zeit für Sentimentalitäten.

Also, da capo: Brücke über die Bahngeleise→ «Münchensteinerstrasse» liest der Müller jetzt. Sermeter fährt ruhig, schnell, sicher. Autovertretungen, eine nach der anderen, an dieser Strasse. All diese Marken, zum Beispiel ☐☐☐☐☐☐ und ☐☐☐☐☐, ☐☐ und ☐☐☐☐ sowie ☐☐☐☐ aber auch ☐☐☐☐ und nicht zu vergessen: ☐☐☐☐, obwohl ein ☐☐☐ auch nicht verachtenswert wäre. Gleich hinter der Stadtgrenze biegt Sermeter rechts ab. Biegt sie also, sage ich, rechts in eine kleinere Strasse ab→ «Florenz-Strasse» liest der Müller, wir sind in der weiten Welt. Dann sieht er zwei Patrouillenfahrzeuge, die Uniformierten, die Absperrung. Links die Oslo-Strasse, schmal zwischen einem grossen hellen und einem dunklen Gebäude. Versenkbare Poller verhindern die Durchfahrt. Die Kriminaltechniker. Sermeter fährt rechts ran, sie steigen aus, der Müller sofort vorwärts.

Ein schrankförmiger Uniformierter will ihn aufhalten, Sermeter sofort dazwischen: «Das ist Kriminalkommissär Müller.»

«Ah, pardon, willkommen», sagt der Breitschultrige. Immerhin macht er keinen Zürcherwitz.

Paul Flückiger, auf dem Rücken liegt er, die Schulter blutig. Blutig auch das bedruckte T-Shirt vor dem Bauch. Zwei Kugeln im Körper. Der Asphalt voller Blut, eingetrocknet. Der Tote muss etliche Stunden hier gelegen haben, die halbe Nacht.

Ein schöner junger Mann, denkt der Müller. Das Gesicht entspannt, fast lächelt er. Seine Augen starren nutzlos in den Himmel, die Haare, blond, halblang, Wuschelkopf, haben ihre Spannung nicht verloren, das dunkelblaue T-Shirt mit schwarzem Aufdruck «Stereo», graue Cargohose, blau-weisse Markensportschuhe. Die eine Hand unterhalb des Herzens vor der Brust. Den anderen Arm nach rechts abgespreizt.

Sie haben ihn von hinten erwischt. Wort «sie»

Der Müller schaut. Sermeter schaut. Hart, abgebrüht, abgestumpft vielleicht die Polizisten, weil zu viel gesehen all die Jahre bei ihren Einsätzen? Mag sein, durchaus, vergiss es trotzdem: Maschinen sind die Polizisten nicht. Manch einer betrachtet den toten Menschenkörper, und in seinem Innern formuliert sich wie von Adam Smiths unsichtbarer Hand ein «Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe…». Im heiligen Rhythmus spricht die Seele weiter, gedanklich weit entfernt von diesem erbärmlichen Ort, diesem Pfuhl, wo ein Mensch auf dem Asphalt sein Leben ausgehaucht, wie es poetisch heisst, hat. Besondere Betonung bekommt das Gebet, kalt überläuft es das Rückgrat jetzt bei der Stelle: «und erlöse uns von dem Bösen…»

Der Müller: «Wer hat ihn gefunden?»

Sie kennen das: Die Polizeimaschinerie schaltet von null auf hundert, und wir müssen, bevor Sie sich zu viele Fragen stellen, etwas klären: die Zuständigkeit.

Lagerhäuser, Containerterminal, Eisenbahnschienen, die Asphaltstrassen kreuzen. Da und dort wächst aus Rissen im Pflaster Gras, kleine Blümchen sogar, sie trotzen den Temperaturen. Lkws stossen ihren schwarzen Rauch aus. Langsam kreischen Güterwagen auf den Gleisen, die mitten durch den Dreispitz führen, geschoben oder gezogen von roten Rangierloks. Endstation Laderampe. Ein Gabelstapler surrt, darauf ein rauchender Mann mit Mütze, Oberkörper nackt. Gleich links neben dem Fundort der Leiche der Campus der Kunsthochschule, Atelierlofts, die Cafeteria. Weiter hinten ein Turm mit Hörsälen und Arbeitsräumen. Semesterferien jetzt, kaum Studentinnen und Studenten da. Ein Platz, der Freilager-Platz, bei dessen Überquerung Passanten zu dieser Jahreszeit bereits frühmorgens geröstet und im Winter von der Bise schockgefroren werden. Hoch darüber ragt ein Riegel mit Eigentumswohnungen auf und schiebt zackenförmig Balkone zur Tramlinie hin. «Hoch hinaus ist nie zu tief», behauptet kühn das Diodorische Axiom.

Stehen Müller Benedikt und Sermeter Gülay vom Kriminalkommissariat Basel-Stadt also jenseits der Kantonsgrenze auf basellandschaftlichem Gebiet und schauen zu, wie der Tote daliegt. Gibt das nicht interhalbkantonalen Zwist? «Strafprozessordnung» heisst der Rettungsanker. Wenn sich der Tatort nicht eindeutig feststellen lässt, ist die Behörde des Wohnorts des Opfers zuständig. Und unklaren Tatort haben wir hier: Zwei Patronenhülsen liegen an der Ecke Wien-/Münchensteinerstrasse auf Stadtbasler Gebiet, die Blutspur zieht sich von da tropf tropf über die Stadt- und tropf Kantonsgrenze bis zur tropf Stelle, wo das Opfer zusammengebrochen ist, nachdem zum dritten Mal auf es gefeuert wurde. Auf Münchensteiner Gebiet, Kanton Baselland. Dort, am Beginn der Oslo-Strasse, wo links das Ateliergebäude der Hochschule für Gestaltung und Kunst anfängt und rechts der dunkle Neubau «Oslo Nord», liegt die dritte Hülse.

Hier draussen sehen sich der Müller und Sermeter um. Der Pathologe kommt, Händeschütteln, François Haberthür heisst er. Haberthür, klein, schnell, nicht unfreundlich, erfahren, betrachtet den Toten von allen Seiten, und nach einer Weile nickt er. Auf dem Müller seinen Frageblick hin: «Zwei Treffer, würde ich auf Anhieb sagen. Einer traf vermutlich die Schulter, der andere schlug in den Rücken ein.»

Drei Hülsen→ zwei Trefferethisch-moralisches Dilemma («Thou shalt not kill», sagt das Fifth Commandment von The Holy Bible), b)woher kriegst du eine Waffe? (Das persönliche Sturmgewehr ist für unsere Versuchsanlage höchst ungeeignet.), c)die Schussabgabe selbst ist nicht ohne, weil c1)die Waffe ein Gewicht hat, c2)der Arm aufgrund der physischen Anstrengung die Tendenz hat zu zittern, c3)die Operation innert sehr kurzer Frist abzuwickeln ist, weil die Zielperson vermutlich sofort die Flucht ergreift oder Abwehrhandlungen einleitet, und c4)beim Betätigen des Abzugs noch einmal mechanische Kräfte auf die Waffe einwirken, wodurch die ursprünglich beabsichtigte Flugbahn des Geschosses sich noch einmal zuungunsten des Schützen verschieben dürfte, zumal c5)die Urteils- und Handlungsfähigkeit des Schützen nicht selten durch emotionale Erregung getrübt ist, was der Zielperson c6)zum Heil gereichen oder c7)ein veritables (vor allem bei automatischen und halbautomatischen Waffen) Übermass an gegen sie abgefeuerten Projektilen bescheren kann («Overkill»). Kurz– und ich betone ausdrücklich: rein rhetorisches und theoretisches Gedankenspiel, jede Haftung im Sinne von Art.24 StGB (Anstiftung zu einem Verbrechen) weise ich kategorisch zurück– entweder vermasselst du die Chose und schiesst daneben, oder du durchlöcherst ihn so siebmässig, dass seine Überreste auf dem Asphalt eher flüssig sind denn fest.

Zurück an die Oslo-Strasse zum Pathologen. Haberthür macht seine Arbeit und kann zum Müller schon sagen: «Keine Kontaktwunde. Schussabgabe vermutlich ungefähr vom Fundort der Hülsen.» Als Polizeimann weisst du: Er wird dir den Todeszeitpunkt, die Reihenfolge der beiden Treffer und die genauere Schussdistanz später nennen und die Ballistiker von der Kriminaltechnischen Abteilung das Kaliber, die Schusswinkel, alles.

Ausserdem die Kriminaltechnik am Tatort Fotos und Trallala, Körper abkleben und so weiter, muss ich nicht beschreiben, was die tun, «CSI: Vegas», Sie kennen das vom Fernsehen, wo die Wirklichkeit für den Film adaptiert ist. Und der Müller und Sermeter lesen den traurigen Schauplatz ins Gehirn ein, versuchen sich jede Einzelheit zu merken. Die Berichte des Pathologen und der Kriminaltechnischen Abteilung, die du auf deinem Desktop haben wirst, sind das eine. Die persönlichen Eindrücke, die HD-Auflösung der Wirklichkeit, der Geruch, die Position des toten Körpers im Kopf zu haben sind das andere. Am Tatort spürst du die Not des Opfers. Zu spät.

Den Namen des Toten wissen wir. Die erste Streife, die den Fundort gesichert hat, hat in seiner Tasche den Ausweis gefunden, der Zentrale durchgegeben, die den Staatsanwalt avisiert und der den Müller, et voilà. Manche Dinge sind manchmal einfach.

Nun müssen wir zum Toten recherchieren.→ Telefonieren. Schickst du als Müller deshalb deine Equipe los, weil ein afrikanisches Sprichwort sagt: «Wenn du schnell vorwärtskommen willst, mach es allein. Wenn du weit kommen willst, mach es gemeinsam.» Bedeutet hier: Hintergrundüberprüfung: Persönlichkeit und Umfeld des Opfers. Familie, Schule, Freunde, Sportverein? Jetzt in den Schulferien, Donnerstag, 11.Juli, nicht ganz einfach, weil alle sonst wo in der Welt verstreut. Die Stadt hat sich geleert. Die hiergeblieben sind, sind glücklich, weil sie Platz haben und Ruhe, ausser sie wohnen Wand an Wand mit einem Lärmhaus, wo Kurzzeitgäste Kurzzeitappartements gemietet haben und auf dem Balkon rumgrölen und die Lautsprecher mit Idiotenmusik voll aufdrehen, aber noch nicht zu dieser taghellen Uhrzeit. Die schlafen wohl noch ihren Rausch aus.

Machst du dir womöglich Vorstellungen über den Toten, wenn du die Parteizugehörigkeit und den politischen Ruf seines Vaters kennst («Parteifreunde und politische Gegner bezeichnen Nationalrat Ruedi Flückiger als ‹hart, aber integer›, als ‹umgänglich, aber unnachgiebig›, als ‹konsequent und taktisch geschickt›», schrieb unlängst eine Regionalzeitung, weil sie über eine Bundesratskandidatur spekulierte). Der Müller als Migrant aus Zürich und vorher Aargau ist nach elf Tagen am neuen Dienstort natürlich nicht in die Regionalpresse eingelesen und unbeleckt von der örtlichen Notablenhierarchie, also tendenziell unvoreingenommen. Auf den Namen «Nationalrat Flückiger» hin geht in seinem Kopf kein 30-Sekunden-Ressentiment ab. Aber Vorstellungen haben wir schon, ungefähr so: Wenn einer dieser Partei angehört, gebe es nur drei Möglichkeiten: Der Politiker sei a)fleischig, angefettet, Riesenpranke, laute Stimme, glatt rasiert bis zur Schmerzgrenze und Augen mit der Durchschlagskraft einer Sondereinheit; b)hager, sehnig, marathonfähig, gestählt für den Kampf in Wirtschaft und Parlament, Mischung aus Giftschlange und Pitbull, Rasputin und Sie wissen schon, welche zeitgenössischen Figuren ich meine; c)lustig, jovial, dick, Schnauz, nicht besonders äh gebildet, eher etwas rustikal, manchmal brachial. Allen drei Typen ist gemein: Sie lächeln auf Knopfdruck, sobald Kameras in Sichtweite, ein Blick wie toxische Laserkanonen, Wille zum Rechthaben. Der Sympathiekoeffizient spaltet die Bevölkerung. Sagen wir es «laut und stolz» (J.Brown) und aus dem Müller seinem persönlichen Blickwinkel: eher F.C.U.K. als L.O.V.E. Aber das sagst du als Polizeimann nicht. Weil vor dem Gesetz sind alle gleich. Da hältst du dich dran. Immer. Demokratie und der Rechtsstaat erlauben ausdrücklich alles Mögliche, auch Unsympathisches.

Deshalb wischen wir jetzt über den Bildschirm, schieben die privaten Gedanken beiseite, schauen auf die Armbanduhr– 09:55Uhr– und wählen die Rubrik «Realitycheck» an. Bedeutet: sofort Besuch bei den Eltern des Erschossenen.

Macht der Müller selbst, nimmt Sermeter mit, oder automobiltechnisch eher: Sermeter nimmt ihn mit. Frau in Equipe→ Bruderholz. Wenn Sie die Stadt nicht kennen, erzähle ich es dir jetzt: Auf dem grünen Hügel über der Stadt liegt das Bruderholz, postalisch 4059, landschaftlich schön, weil postglazial sanft geformt, viel Himmel, teuer, grün, ruhig, wenig belebt, Demografiediagramm plusminus Pilzform, vorherrschende Berufsgruppen: Zahnärzte, Anwälte, Ökonomen. Vorherrschende Stimmung: «Seid umschlungen, Millionen!» (Schiller/Beethoven/Duck). Spazierst du durchs Viertel, bewegen sich die Vorhänge. Weil hier geht keiner zu Fuss vorbei, sondern nur per Lexus und aufwärts.

Flückigers besitzen und bewohnen eine hübsche Villa, Sichtbeton, Flachdach, neunziger Jahre, versteckt hinter kugelsicherer Thujahecke. Faidostrasse. Kein Durchgangsverkehr, kurze Sackgasse, maximal fünfzig Meter lang, am Ende schont ein Wendeplatz das Getriebe. Lang gezogene Hecken, einige Garageneinfahrten, Tore. Dahinter vermuten wir Gärten. Verschwiegen. Alles ruft das Wort: «Eigentum!» Vor dem vom Strässchen zurückversetzten Flückigerhaus ein blitzsauberes schwarzes Erzeugnis der Bayerischen Motorenwerke, Ausstattung de luxe. Das kennst du vom Spielquartett und aus der Automobilzeitschrift. Das Wunderding steht auf kleinem Asphaltplatz vor dem Haus, kein Fitzelchen irgendwas darauf. Die Ameisen trippeln auf Zehenspitzen, um die Ruhe nicht zu stören. Diskret versucht ein Vogel, der Welt etwas zu zwitschern. Hinter der Flückigerthujahecke strecken Bäume ihre Krone in den Himmel, merkst du die Grösse des Grundstücks. Alles diskret. Ausser dem Bayerischen Mega-Wagen und der Ordnung ist von den Hausbewohnern nichts sichtbar. In der Ferne brummt ein Rasenmäher, noch entfernter hörst du das rare Bellen eines Rudels von Rassehunden mit Stammbaum. «Mit Geld ist es gut, ohne nicht, das Leben» (Party Marty, Lebemann aus Schindellegi-Feusisberg, circa 2007, bevor er sein Vermögen an der Börse verlor).

Der Müller und Sermeter aus dem Wagen, «voiture banalisée», sagt dazu die französische Sprache, «Zivilfahrzeug», damit keiner sofort merkt: Hier kommt die Polizei. Der Müller das Hemd hinten wieder in die Hose gestopft, vorne zurechtgezupft, sogar ins Jackett geschlüpft und dieses glatt gestrichen, weil der Situation musst du dich anpassen, selbst bei Hitze dem Bürger respektvoll entgegentreten, besonders jetzt. Pietät. Und Sermeter, die dunkle Bluse, anthrazit oder wie das auf der Farbtabelle in den Magazinen heisst, passt auch.

Metallschild mit Initialen «R.+ M.F.».

Darunter der Klingelknopf.

Der Müller klingelt, über die Gegensprechanlage antwortet eine weibliche Stimme, eine Frau in leuchtoranger Sportkleidung, schulterlanges braunes Haar, wohl gegen fünfzig, erscheint in der Tür, die Hausherrin– dasM vom Klingelschild.

«Frau Flückiger?», fragt der Müller.

Sie nickt.

«Guten Tag. Mein Name ist Müller», sagt er zu ihr und hält ihr den Polizeiausweis hin, «das ist meine Kollegin Sermeter. Wir sind vom Kriminalkommissariat.»

Das Wort löst Gedanken aus.

Kri-mi-nal-kom-mis-sa-ri-at?

Ein Gesicht zu sehen, dem du so kommen musst, dem du die Privatsphäre mit einer dunklen Ahnung durcheinanderbringen musst, ist das Zweitschlimmste, was du als Polizeimann machen musst. Das Schlimmste ist, wenn du einen Fall mit Kindern hast. Und den hat Müller jetzt im Grunde schon.

«Dürfen wir hereinkommen?»

Da weisst du als Angesprochene, es geht nicht um die Sachbeschädigung an deinem Zweitwagen, die du vielleicht vorgestern angezeigt hast, oder um die Pflanzen des Nachbarn, die ihre Blätter frech über die Grundstückgrenze recken und herunterfallen und deinen Swimmingpool verdrecken. Und Marianne Flückiger-Stadlin tritt zur Seite, lädt mit knapper Geste zum Eintreten ein. Hinter ihr tritt links durch eine Tür der Nationalrat und stellt sich hinter ihr auf. Mittelgross, wacher Blick, Körperspannung, hellblaues Hemd, auch er in den besten Jahren, will etwas, nehme ich an, sagen.

Entrée, links die weisse Türe, aus der Nationalrat Flückiger gekommen ist, rechts führt eine schmale Treppe ins Obergeschoss, Müller und Sermeter aber hinter Frau und Herrn Flückiger geradeaus ins Wohnzimmer. Grosszügig, Glasfront zum Garten hin, dunkelgraue Sofakombination von ☐☐☐☐☐☐☐, an der Wand ein Anker-Bild, ein kleines nur, weil der Markt ausgetrocknet ist, und der grossformatige Print eines hochaufgelösten Fotos von Eiger, Mönch und Jungfrau. Hyperrealistisch. Da fängt es in dir wie unter Zwang vom Morgenrot an zu singen, vom Alpenglühn, dem Nebelflor und dem Wolkenmeer. Dieses Gefühl überwältigt dich.

Im Wohnzimmer kehrt der Müller die Rollen um. «Setzen Sie sich bitte.»

Frau Flückiger schüttelt den Kopf. Herr Flückiger bleibt hinter ihr stehen.

Aus dem Panoramafenster zum Garten dringt die Sonne in den Raum, grün gefiltert durch die Kronen der Buchen und Eichen.

Weit hinten arbeitet der Rasensprenger. Tröpfchen+ Licht

Schnörkel wirken unehrlich. Das ist kein Höflichkeitsbesuch, die Leute wollen Wahrheit, nicht Barock.

«Ich bringe Ihnen eine schlechte Nachricht», sagt der Müller. «Ihr Sohn Paul ist tot.»

Im Herzen explodiert das wie ein privates Hiroshima.

«Und was haben wir damit zu tun?», fragt der lebendige Vater des toten Paul Flückiger. Der Müller denkt, sein Hirn hat die Schallwellen falsch zusammengesetzt. Der Nationalrat denkt, sein Hirn hat als Reaktion auf eine schockierende Information falsche Wörter gebildet, sein Mund aufgrund einer zerebralen Fehlschaltung einfach irgendetwas gesagt, das keinen Sinn ergibt, keinen Sinn. Frau Flückiger nimmt nun doch Platz, und das Schluchzen bricht aus ihr heraus. Ihr Mann steht hinter dem Sofa, hinter ihr, seiner Frau, und legt die rechte Hand auf ihre Schulter. Nach einer Weile verstummt das Schluchzen.

Sie sprechen kein Wort. Doch! Jetzt! Man versteht kaum, was die Mutter sagt, sie atmet abgehackt, unregelmässig: «Was ist passiert?»

«Das wissen wir noch nicht. Wir stehen am Anfang unserer Ermittlungen.»

Der Vater: «Wie ist er gestorben?»

«Es war kein Unfall», sagt Müller sanft, «er wurde getötet.»

Er verwendet nicht das maximal brutale Wort, aber auch «getötet» ist härter, als man verkraften kann. Was dieses Wort im Kopf und im Herzen auslöst.

«Ermordet?», fragt der Nationalrat.

Sermeter nickt. «Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ja.»

«Können Sie uns–», da versagt die Stimme von Frau Flückiger.

«Leider nicht», sagt Müller, «die Ermittlungen haben erst begonnen. Ich kann Ihnen noch nichts Genaueres sagen.»

Das Gesicht des Nationalrats wird finster, die Augen schmaler, sein Mund zuckt. «Und wofür bezahlen wir der Kantonsregierung haufenweise Steuern?»

«Ruedi», sagt seine Frau, ihre Worte sind kaum zu hören, «darum geht es jetzt nicht.»

Reaktionen auf die Nachricht vom Tod eines Angehörigen unterscheiden sich stark. Der eine reagiert wie ein Roboter, scheinbar ohne Gefühlsregung, eine andere Person bricht vor Weinkrämpfen zusammen. Manchmal schreit dich einer an, wenn du so eine Nachricht überbringst. Manche verfallen in Schockstarre. Emotionen sind Bomben mit langer Lunte, Sprengkörper mit Zeitzünder. Manchmal behandelt dich der Empfänger der schlechten Nachricht, als wärst du selbst der Täter. Als wäre das Verbrechen genau deshalb geschehen, weil du deiner Pflicht, für Ruhe und Ordnung und Sicherheit zu sorgen, nicht nachgekommen bist. Wenn du eine solche Nachricht überbringen musst, bist du auf hauchdünnem Eis. Denn die Nachricht wirkt irreal, unreal, surreal, wie aus einem Film, den du dir nie herunterladen würdest. Und als Empfänger der Todesnachricht brichst du ein und oft zusammen.

Weil Paul ermordet ist. Und tot für immer. Auch wenn du vielleicht für dich selbst und persönlich ans ewige Leben glaubst.

«Entschuldigen Sie bitte», murmelt Herr Flückiger, «ich… wir…»

Und der Müller antwortet: «Ich verstehe Ihren Schmerz.»

«Haben Sie Kinder?», fragt Frau Flückiger. Ihre leuchtorange Sportbekleidung wirkt grotesk, denkt sie, wie sie an sich herunterschaut. Sie wollte gerade joggen gehen.

«Ist Paul Ihr einziges Kind?», antwortet der Müller, weil um ihn selbst geht es nicht. Und Sermeter fragt sie, ob sie ein Glas Wasser will. Marianne Flückiger schüttelt unmerklich den Kopf, noch immer die Hand ihres Gatten auf der Schulter.

Gott, warum nehmen die sich nicht richtig in den Arm und schreien und heulen, dass der Rotz fliesst? Warum verliert in diesem Land kaum jemand je die Fassung, ausser es geht um die Zuwanderung oder den Steuersatz oder eine gewisse Religion?

Die Sekunden vergehen, stundenlang, fühlst du, doch es sind nur Sekunden. Vor dem Fenster hüpft ein Rotkehlchen über den Rasen, pickt zwischen die Halme, sucht etwas, hat einen Wurm gefunden, tötet ihn. Auch der Müller will etwas finden.

«Ja», sagt Frau Flückiger, «wir haben nur diesen einen Sohn.»

Der Müller atmet ein, will…

Dann hakt sie nach: «Wie ist es passiert?»

«Gestern Nacht beim Dreispitz. Mehr können wir noch nicht sagen. Wir stehen–»

«Ja, ich weiss… erst am Anfang der Ermittlungen», schnaubt Herr Flückiger wieder. Hat sein Auge einen Tick? Machen sich seine Gesichtsmuskeln selbstständig? Er scheint sich zu schütteln, als wolle er aus der Haut fahren. Verliert er die Kontrolle? Verliert er endlich die Kontrolle, um seinen Schmerz freizulassen? Den rechten Arm, die rechte Hand lässt er jetzt aufs Rückenpolster des Sofas knallen, die linke nimmt er von der Schulter seiner Frau, beugt sich zu ihr, küsst sie auf den Scheitel und sagt: «Ich muss los.»

Und weg ist er.

Als verstehe sie nicht, wie ihr geschieht, schaut Marianne Flückiger ihrem Mann hinterher, der zur Haustür geht, sie öffnet und schliesslich hinter sich ins Schloss zieht.

«Entschuldigen Sie ihn bitte», sagt sie dann, «es ist nicht einfach für ihn.»

«Und für Sie?», fragt Gülay Sermeter.

Frau Flückiger fuchtelt mit der rechten Hand vor ihrem Gesicht, als wolle sie den Nebel wegwischen, der zwischen ihr und ihrem Bewusstsein aufgezogen ist.

Sie lacht auf.

«Für mich? Wieso für mich? Mein Sohn ist tot. Das kann doch gar nicht sein!»

Da haben Müller und Sermeter ein Problem. Allein lassen kannst du die Zeugin nicht, so völlig allein. Und an eine reguläre Vernehmung ist nicht zu denken.

«Haben Sie jemanden, eine Freundin, jemand, der sich um Sie kümmern kann?», fragt der Müller.

Sie nickt.

«Rufen Sie sie selbst an– oder sollen wir?»

Als Antwort zieht Frau Flückiger ein unpassend pinkes Telefon aus der Tasche ihrer leuchtorangen Sportbekleidung, drückt einige Tasten, wartet einen Moment und sagt dann: «Geli, ich bin’s. Kannst du bitte herkommen? Paul ist tot.» Einen Augenblick später sagt sie: «Bist du im Büro?» Sie hört wieder zu. «Danke.» Und zu den Polizeileuten: «Eine Freundin. Sie kommt gleich.» Müller und Sermeter warten solange. Schweigend.

Draussen der Rasensprenger. Die Sonne durchbohrt die Blätter der Blutbuche. Ein Grashalm knickt unter dem Gewicht eines Laubkäfers ein. In der Finsternis des Erdreichs gräbt blind der Maulwurf.

Nach wenigen Minuten fährt draussen ein Auto vor. Eine Frau, sie klopft nur an die Haustüre, tritt dann ein und ins Wohnzimmer, kurze Haare, noch immer blond, hellgrünes Poloshirt und sandfarbene leichte Baumwollhose, flache Schuhe, goldfarben, der Müller kennt sich mit Designern nicht aus, aber spürt, das ist alles nicht vom Outlet hundert Meter hinter der Grenze.

Sermeter wirft dem Müller einen Blick zu.

«Guten Tag», sagt die Besucherin dunkel und rauchig zur Polizei und «Ach, Marianne» zu Frau Flückiger.

Die Frau nimmt Marianne Flückiger in die Arme.

Sie kommt dem Müller bekannt vor. Das Gesicht, der Stil, die Stimme. Während sich die hellgrün-sandfarbene Frau und die leuchtorange Freundin in den Armen halten, stehst du als Aussenstehender da, als würdest du deine Nase ins Allerpersönlichste der Menschen stecken, was ja stimmt. Aber immerhin geht dich das, was dich persönlich wirklich nichts angeht, beruflich etwas an. Deshalb schaust du nicht diskret weg, sondern möglichst unauffällig genau hin.

Die Routine hilft dir. Du vermittelst den Personen und dir selbst das Gefühl, dass ab sofort alles seinen Lauf nimmt. Dass sich künftig alles nach präzise festgelegten Prozeduren abspielt. Zu technokratisch formuliert. Dass du als Polizei exakt weisst, was zu tun ist, und die Sache im Griff hast. «Im Griff hast»? Klingt blöd. Denn Paul Flückiger ist tot, und seinen Eltern kannst du nicht wirklich helfen. Aber die Aufklärungsquote bei Gewaltdelikten ist hoch. Vermutlich, ja höchstwahrscheinlich wirst du mit deinem Team den oder die mutmasslichen Täter ermitteln. Doch den toten Paul bringen das Strafgesetzbuch und das Strafgericht nicht ins Leben zurück. Der Gedanke an Schuld, Sühne und Gefängnis tröstet die Hinterbliebenen kaum. Das Grunddilemma des Kriminalkommissariats: Du kommst immer erst, wenn es zu spät ist. Du bringst keine Blumen, sondern die Nachricht vom Tod.

«Können wir sein Zimmer sehen?», fragt der Müller in die Umarmung der beiden Frauen hinein.

Marianne Flückiger schaut auf und löst sich aus den Armen ihrer Freundin.

«Kommen Sie», sagt sie zu Müller und Sermeter, steuert auf die Haustür zu, steigt aber links davon die Treppe hoch, die Müller beim Eintreten bemerkt hat. Auch hier an der eisweissen Rauputzwand Farbprints von heimatlichen Viertausendern, Gletscher noch nicht weggeschmolzen. «Hier ist es. Schauen Sie sich um», sagt sie, «ich lasse Sie allein.» Und die Detektivwachtmeisterin und der Kriminalkommissär hören sie die Treppe hinuntergehen.

«Die Besucherin, wer ist sie? Ich habe den Eindruck…», sagt der Müller, aber bevor er den Satz beenden kann, gibt ihm Gülay Sermeter die Antwort: «Angelika Wirz-Bald, Anwältin und Kulturunternehmerin, eine Berühmtheit nicht nur hier in der Nordwestschweiz. Sie war früher einmal Europameisterin im… Elektromountainbiken? Oder etwas in der Art. Sie hat viel Geld verdient. Wie es heisst, lässt sie antike Adonis-Statuen fertigen. Die Neureichen in Fernost reissen sich darum.»

Was Sermeter alles weiss, denkt der Müller, vor allem auch mit dieser kleinen Lücke zwischen dem rechten oberen Schneidezahn und dem spitzen Eckzahn. Sagen tut er jedoch: «Ah!» Dabei kommt er sich etwas dumm vor, und weil diese eine Silbe zu einsilbig ist, fügt er hinzu: «Kulturunternehmerin.»

Pauls Reich in dieser Riesenvilla ist ein menschenrechtskonformes Zwölfquadratmeterzimmer, sicher nicht das geräumigste des Anwesens. Hell schon, das ja. Fenster zum Garten, anders als die Zellenfenster im Waaghof lässt es sich sogar öffnen. Sermeter fotografiert das Zimmer und die Einrichtung mit dem Dienst-iPad. Parkettboden. Ein Bett, bezogen, gemacht. Eine leere helle Schreibtischplatte, ein Eames-Stuhl, aber ein billiger weisser Schrank. Drin Kleider. Ein Bücherregal: Schulmaterial, Computerbücher, eine Che-Guevara-Biografie, Piketty, Klein, Eagleton, Bernie Sanders, Neiman, sogar ein dunkelblauer Marx. Sicher nicht der Geschmack des Vaters, denkt Müller. Das Zimmer voll ordentlich, aufgeräumt und durchgesaugt. Nichts Auffälliges. Nach einer Viertelstunde haben sie fürs Erste genug gesehen und begeben sich wieder nach unten. Dort sitzen die Mutter und ihre Freundin. Die hält sie immer noch im Arm, stellt der Müller fest.

Wirklich, jetzt, wo er’s weiss, beginnt er sich zu erinnern: Die Anwältin und Kulturunternehmerin kennt er aus einem Fernsehbericht, den er einmal nach Feierabend gesehen hat. Er steckte mitten im Fall des toten Ex-Rockstars und war zu aufgewühlt, um sich hinzulegen. In Zürich war das noch. Solche Leute, hat er damals gedacht, wirken auf ihn wie fremde Wesen. Man trifft sie nicht an der Kasse beim Coop oder bei einem Geldautomaten, wo sie das Konto checken. Die lassen die Lebensmittel vom Traiteur liefern und die persönlichen Transaktionen von einem Family Office in einem sanierten Altbau erledigen, der längst einer Privatbank gehört und an dessen Fassade eine Bronzetafel angebracht ist, auf der steht: «In diesem Haus wohnte von 1912–17 der Dichter Soundso und verfasste sein Werk ‹N’importe quoi›.» Und in dem Haus, hat sich der Müller vor dem Bildschirm gedacht, lebt kein Mensch mehr, sondern stapelt sich seit Jahrzehnten ein Büro über dem anderen, Vermögensverwaltungen, Scheidungsanwaltskanzleien, Wirtschaftsanwälte, Investmentfirmen, Unternehmensberater. Ein Dichter könnte sich diese Quadratmeter seit Jahrzehnten nicht mehr leisten.

Das Gesicht von Frau Wirz ist dem Müller geblieben, wenn auch nicht der Name.

«Wir kommen wieder vorbei, wenn es Ihnen etwas besser geht», sagt Polizeimann Müller zu Frau Flückiger, obwohl er weiss, dass die grosse Krise erst kommen wird. Die Todesnachricht ist überbracht. Noch ist sie nicht mit all ihren Konsequenzen ins Bewusstsein der Betroffenen eingedrungen. Da wartet noch manche dunkle Stunde auf die Mutter von Paul. Ein Todesfall in der Familie… bis es den Angehörigen besser geht, können Jahre vergehen. So viel Zeit hat die Polizei nicht, der Müller legt seine Visitenkarte auf das Wohnzimmertischchen und fügt hinzu: «Wohin ist Ihr Mann? Wir müssen mit ihm sprechen.»

Wetter: null Prozent Regen. Temperatur: 30Grad Celsius schon um 11:23Uhr. Wenn ich sterbe, geschieht das im Sommer, denkt der Müller.

Freie Strasse. Geschäftshäuser. Im Parterre all die internationalen Ketten, merkst du nicht, bist du in Edinburgh, Turin oder sogar in «Zaragoza» («Rolandslied», Vers 6). Kleider und Kleider und Schuhe und Kleider, als hätten die Menschen nichts anderes zu tun, als sich anzuziehen und im Spiegel zu betrachten und sich anzuziehen und Selfies zu machen und zu lächeln, wieder Kleider zu wechseln und blingbling. Hier ist Basel wie Bordeaux, Bergen und Recklinghausen und jede andere Stadt der westlichen Hemisphäre. Die Innenstadt, hat der Müller bereits gelernt, heisst hier Innerstadt. Die Einkaufswilligen sind dieselbe Sorte wie in Zürich: kommen von aussen in die Stadt herein, sprechen laut, verstopfen Strassen und Geschäfte und verbreiten das Gefühl, dass es morgen keinen Morgen mehr gibt, sondern jetztjetztjetzt und ichwillichwillichwill und zücken alle Varianten von Plastikgeld.

Silenzio jetzt. Die Hausnummer17, über dem Schuhgeschäft Büroetagen und Arztpraxen. In den zweiten Stock müssen sie, zur «Five Star Premium ConsultingAG». Müller und Sermeter nehmen den Lift.

Blaue Tür, massiv, Firmenschriftzug. Kameraauge. Sie klingeln→ Summer→ Tür geht auf.→ Sie treten in einen kleinen Vorraum, begrenzt von Glaswänden. Panzerglas, stellen sie fest. Luft tief heruntergekühlt. Boden aus Kunstmarmor. Noch eine Kamera. «Sie wünschen?» (Frauenstimme).

«Wir sind vom Kriminalkommissariat, Müller und Sermeter. Wir suchen Herrn Flückiger, er ist hier in einer Besprechung», sagt Sermeter.

Über den Lautsprecher hören sie die Frau sagen: «Das ist richtig: Er ist in einer Besprechung.»

«Ich muss Sie bitten–», sagt der Müller, obwohl dieses «Bitten» so deutlich ein Euphemismus ist wie die «freundlichen Grüsse» unter der «Einladung» zu einer Vernehmung ins Kriminalkommissariat.

«Wir haben keine Zeit, herumzufackeln», sagt Sermeter, «lassen Sie uns herein.»

Natürlich müsstest du ausser in Ausnahmefällen– siehe Strafprozessordnung (StPO Art.244, Abs.2)– einen Durchsuchungsbeschluss haben, um in private Räume einzudringen. Aber in der Regel kannst du auf Kooperation zählen. Auch hier summt es, klickt es, und die beiden erhalten Zutritt. Doch nur um die Ecke und nur zu einem grösseren Vorraum. An den Wänden Kunst. Könnte ich an dieser Stelle beschreiben: so etwas Verwischtes, fast Pastelliges, das Figurative nur knapp angedeutet, ein eleganter Schwung in der Diagonalen, gekontert durch eine Reihe von asymmetrisch angeordneten Punkten in klaren Farben… fast eine Polke-Reverenz und -Referenz… und drei feine vertikale Linien, die vermutlich, ja, die Komposition stören sollen und das Wagnis des Scheiterns eingehen… Der Name des Künstlers oder der Künstlerin lässt sich nicht entziffern. Die Kunst in Wartebereichen und Empfangshallen ist nicht dazu bestimmt, dass man sie anschaut oder sich darüber Gedanken macht. Sie hängt da, damit die Wände nicht leer sind. Ein bisschen Farbe sollen sie ins Warten und Empfangenwerden bringen, aber nichts riskieren, weder formal noch inhaltlich noch finanziell. Aber einen Rothko oder Richter oder Mangold hängst du natürlich nicht in den Empfangsbereich. Obwohl er hier bestens bewacht wäre.

Denn Müller und Sermeter stehen nun leibhaftig der Bürokraft mit Schleusenbefugnis gegenüber.

«Guten Tag», sagt sie, hebt den torfbraunen Blick und wartet ab. Der Müller und Sermeter zeigen ihre Polizeiausweise.

Müssen wir dieser Frau jeden Schritt einzeln vorschlagen, fragt sich der Müller, doch sagen tut er: «Bitte rufen Sie Herrn Flückiger aus seiner Besprechung. Es eilt.»

Sie schaut ihn an, schätzt ihn ab und greift endlich zum Hörer, hält inne, sagt: «Vanessa? Hier sind zwei Leute von der Polizei. Sie wollen zu Herrn Flückiger…» Dann hört sie einige Sekunden zu, legt auf, sagt: «Er ist nicht hier.»

Sermeter: «Vorhin sagten Sie, er sei in einer Besprechung.»

«Ja, das dachte ich. Aber er ist es nicht.»

Müller: «Aber er hält sich in diesen Räumlichkeiten auf?»

Sie: «Ich habe ihn nicht hinausgehen sehen.»

Sermeter: «Das heisst, er ist noch hier?»

Müller: «Herrgott, sagen Sie uns endlich, wo er ist!»

Sie: «Nicht im Besprechungszimmer, wo er eigentlich erwartet wird.»

Sermeter: «Sondern?»

Bevor die junge Frau antworten kann, wirft der Müller ein: «Hinderung einer Amtshandlung… Artikel 286 des Strafgesetzbuches.» Vermutlich kühlt die Klimaanlage auch seine Laune hinunter. Der Wechsel von der Hitze draussen in diese unnatürliche Kühle ist mörderisch. Müller mag dieses Spannungsgefühl auf seiner Kopfhaut nicht, die Schweisstropfen, die erkalten. Bald fallen ihm noch die letzten Haare aus.

Eine Antwort auf das Sondern und den Artikel286 StGB kommt nicht. Durch die Empfangsfrau geht ein Ruck. Sie zeichnet mit beiden Händen Figuren in die Luft, als würde ihr das helfen, eine Antwort zu formulieren. Sie weist nach links, hinter sich, zum Fenster mit Sicht auf das Geschäftshaus gegenüber, zu einer Sitzgruppe– vermutlich der Wartebereich für angemeldete Gäste, wo aber niemand sitzt. Schliesslich schüttelt sie die dunkelbraunen Haare und sagt: «Ich weiss nicht, wo er ist.»

Müller: «Er hat doch hier kein Büro, nicht?»

Ihre Miene sagt nein, auf ihrer Stirn wölben sich plötzlich Falten auf, nein, das Make-up scheint sich zu lösen, und unverhofft weicht sie von ihrem Pflichtenheft ab, steht auf, streicht ihren Rock zurecht und sagt: «Ich habe eine Idee. Kommen Sie mit.»

Und mit Sermeter und dem Müller im Kielwasser klackert sie auf ihren Absätzen den Korridor entlang in die Tiefe des Gebäudes, links und rechts Glastüren zu Büros (Einzel-, Gruppen-), «Sitzungszimmer2», deutet sie auf eine blickdichte Tür, und einige Meter weiter erklärt sie: «Sitzungszimmer1.»

Sie klopft an, wartet einen Augenblick, lauscht, streckt den Kopf durch die Tür: «Herr Flückiger, hier sind ein Herr Meier und eine Frau Mettler vom Kriminalkommissariat.» Tritt zur Seite, lässt Müller und Sermeter passieren und schliesst hinter ihnen die Tür.