Müller und der Schwarze Freitag - Raphael Zehnder - E-Book

Müller und der Schwarze Freitag E-Book

Raphael Zehnder

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Beschreibung

Geld riecht eben doch: eine schwarzhumorige Gesellschaftskritik. Inmitten von Kaufrausch und Rabattschlacht wird in der Basler Innerstadt ein Toter gefunden – und zwar kein geringerer als der TV-Philosoph Wohlhauser-McLuhan. Kriminalkommissär Müller Benedikt und seine Equipe ermitteln unter Neidern, Feinden und Freunden des Opfers und stellen fest, dass sich womöglich alles anders verhält, als die ersten Indizien vermuten liessen.

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Raphael Zehnder wurde 1963 in Baden AG (Schweiz) geboren und arbeitete als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, bevor er Französisch und Latein studierte und in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft promovierte. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF, ist Miterfinder und -organisator der Zürcher Kriminalnacht im Theater Rigiblick in Zürich und Autor von sieben Kriminalromanen um den Polizeimann Müller Benedikt. Für «Müller und der Mann mit Schnauz» erhielt er 2015 den Zürcher Krimipreis. Er lebt mit seiner Familie in Basel.

Folgen Sie @MllerBenedikt1 auf Twitter. Und @BucherManfred äussert sich dort auch.

In diesem Buch sind alle Personen und Begebenheiten erfunden. Auch die hier genannten Firmen haben mit den in diesem Text erzählten Vorgängen nichts zu tun. Wahrheit existiert nicht in diesem Roman.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: iStockphoto.com/FocusEye

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-572-5

Originalausgabe

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«Everlasting love» – für Annette und die Boys

Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch.

Ezechiel 36,26

O sleep, it is a gentle thing / Belov’d from pole to pole.

Samuel Taylor Coleridge, «The Rime of the Ancient Mariner»

Das Leben lebt sich, ohne dass man es versteht.

Dagobert, «Hochzeit»

Ac per hoc non voluptas ulla non gratia non lepos, sed incompta et agrestia et horrida cuncta sint, non nuptiae coniugales non amicitiae sociales non liberum caritates, sed enormis colluvies et squalentium foederum insuave fastidium.

Hic sunt poliziotti:

Müller Benedikt (49), Kriminalkommissär, Basel-Stadt

Blaser Xerxes (22), Aspirant, Kantonspolizei Basel-Stadt

Cattaneo Roland (39), Kriminaltechniker, Kantonspolizei Basel-Stadt

Dominguez Freddy (26), Detektiv, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Gormann Markus (39), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Jonovic Mladen (32), IT-Forensiker/Cybercrime, Kantonspolizei Basel-Stadt

Panzeri Jessica (36), Abt. Wirtschaftskriminalität, Kantonspolizei Basel-Stadt

Sermeter Gülay (35), Detektivwachtmeisterin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Vetter Rolf (62), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Wäckerlin Romina (33), Detektiv, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Werner Gloria (23), Aspirantin, Kantonspolizei Basel-Stadt

Aliique viri feminaeque regionem Basiliensis incolentes:

Belloumi Rachid (27), Kurier auf Abruf, F-68330 Huningue

Bezakova Jarmila (47), Key Account Manager, 4103 Bottmingen

Braun Jeremy (35), TV-Produzent, 8008 Zürich

Calonder Carl (32), Geschäftsmann, 7503 Samedan

Carreras Tony (eigentlich: Beat Borer) (48), V.I.P., 4053 Basel

Démare Marylou (22), Kellnerin, F-68300 Saint Louis

Füglistaller Ramon (26), Messerstecher und Gelegenheitskrimineller im Nebenberuf, 4103 Bottmingen

Garcia Rosa (14), Klepto-Teenie, 4053 Basel

Hächler Melanie (15), Klepto-Teenie, 4053 Basel

Haueter Sven (25), Gelegenheitskrimineller im Nebenberuf, 4102 Binningen

Hauri Peter (43), lic. iur., Rechtsanwalt, Pflichtverteidiger, 4123 Allschwil

Ka$h Kerri (eigentlich: Salomé Hug) (39), V.I.P., 4053 Basel

Krähenmann Thomas (45), Leitender Staatsanwalt, Basel-Stadt, privat: 4102 Binningen

Kurt Azra (25), Callcenter-Mitarbeiterin, F-68300 Saint Louis

Like Mike → Streuli Michael

Loosli Martin (34), IT-Mitarbeiter, 4450 Sissach

Loosli Melissa (32), Fachangestellte Gesundheit, 4450 Sissach

McLuhan Wohlhauser Bettina (34), MA, 4059 Basel/7554 Sent GR

Meier Astrid (52), Controllerin, 4142 Münchenstein

Müller Doris (45), Schwester von Müller, Gesundheitsfachfrau, 4054 Basel

Russo Jasmin (53), kaufmännische Angestellte, 4402 Frenkendorf

Schib Christian (43), Sales Manager, 4052 Basel

Schneider Mario (24), ehemals Detailhandelsangestellter, F-68300 Saint Louis

Sermeter Céline (9) und Murat (10), Kinder von Sermeter Gülay, 4057 Basel

Stickelberger Daniel (46), Erster Staatsanwalt, Basel-Stadt, 4059 Basel

Stojkovic Jack (24), Gelegenheitskrimineller im Nebenberuf, 4053 Basel

Streuli Michael (36) a.k.a. Like Mike, Privatradiostar, Radio 4000, 4056 Basel

Voegelin Sebastian J. (43), Dr. iur., Rechtsanwalt, Stingelin Voegelin Law, 4052 Basel

Wagner Noah (11) und Maurice (12), Kinder von Müller Doris, 4054 Basel

Wohlhauser-McLuhan Raetus B. (38), Philosoph und TV-Persönlichkeit, 4059 Basel/7554 Sent GR

Zanger Virgil Herrmann (40), Philosoph/CEO, 4053 Basel

Zürcher Shanaya (15), Klepto-Teenie, Basel

Et aliorum cuiuscumque sexus plures.

EINS

Logistik.

Das Containerschiff «Svanemøllen» fährt unter dänischer Flagge. Nach 33-tägiger Fahrt läuft es in den Hafen von Rotterdam ein. Genauer: Es legt an der Maasvlakte an, einer künstlichen Insel südlich der Maasmündung. Die «Svanemøllen» kommt aus Shanghai und hat 6’600 TEU geladen, «Twenty-foot Equivalent Units», Container mit einer Länge von 6.1 Metern, einer Breite von 2.44 und einer Höhe von 2.6. Zwischenstopps in Yantian, Port Kelang und Jeddah. Erfreulicherweise keine Komplikationen mit Piraten am Horn von Afrika. Suezkanal. Das Mittelmeer ruhig, schwere See dagegen vor der französischen Atlantikküste. 324 Meter lang ist die «Svanemøllen», 74’000 PS stark sind ihre Motoren, beladen liegt sie 13.3 Meter tief im Salzwasser. Über 110’000 Tonnen Gewicht vermag sie zu tragen.

6’600 Container. Was ist die Fracht?

Wir werden es bald sehen.

Im Hafen von Rotterdam hieven Kräne die Container vom Schiff, sie verteilen sie auf Lkws, Bahnwaggons und Binnenschiffe.

Zwei gekoppelte Schiffe mit 150 Containern: Rund 850 Kilometer rheinaufwärts transportiert die «Volendam» für die Schweiz bestimmte Container flussaufwärts. Moerdijk → Nijmegen → Strassburg → Neuf-Brisach → Ottmarsheim → Weil → Basel/Birsfelden. Eine Woche Fahrt.

Kühl, ein Nebeltag, Dienstag, Ende Oktober. Im Rheinhafen Birsfelden fertigt der Zoll die Container ab. Logistikfirmen übernehmen die Feinverteilung an die Kunden.

Was ist drin in den Behältern aus Stahlblech?

Denken Sie sich etwas aus. Es ist dabei. Alles, was die Menschen kaufen wollen. Besonders in den nächsten Wochen und Tagen, besonders am Black Friday.

ZWEI

Feinverteilung.

Die Ware wird angeliefert. Die Stadt wird gestopft wie eine Gans. Nein: wie ein Truthahn, denn in anderen Ländern wird bald ausgiebig Thanksgiving gefeiert.

Logistik.

Beim Warenhaus «Manor» in der Utengasse – Postleitzahlenbereich 4058 – fährt Lastwagen nach Lastwagen vor. Ran an die Rampe, dann wird die Ladebordwand abgesenkt. Die Mitarbeiter der Warenannahme holen die Kisten mit Rollhebern aus dem Laderaum. Kubikmeter um Kubikmeter Glücksverheissungen. Palett um Palett. Auf dem geriffelten Blech rumpelt es, auf dem Beton der Rampe gleiten die Räder ruhiger. Hinein ins Gebäude und dort auf die Flächen und Fächer, die zu den einzelnen Abteilungen gehören. Ausser den Frischprodukten für die Lebensmittelabteilung im Untergeschoss bestehen die Lieferungen heute hauptsächlich aus Non-Food. Kleider, Taschen, Accessoires, Spielwaren, Unterhaltungselektronik: Flachbildschirme, Playstations. Alles, alles, alles. Und noch mehr. Stellen Sie sich etwas vor, irgendein Produkt. Der Chauffeur liefert es in diesem Moment an, die Chauffeuse bringt es in Ihre Nähe, die Lagermitarbeiter holen es für Sie aus dem Lkw und schieben es im Schweisse ihres Angesichts ins Innere des Gebäudes. Wo Sie es in Kürze werden ansehen, betasten, prüfen, kaufen können. Laufend sortieren Mitarbeiter die Kisten, rot flackern Scanner auf, sie piepen, das Gerät zeigt an, wohin die Ware soll. Sie entfernen Styropor und anderes Verpackungsmaterial, falten die Kartonkisten zusammen und verschieben die Produkte in den Warenlift und hinauf in die Abteilungen.

Untergeschoss: Lebensmittel.

Parterre: Uhren, Schmuck, Parfümerie, Uhrenservice, Damen-Accessoires, Strümpfe, Drogerie, Café.

Erster Stock: DAMEN: Fashion, Lingerie, Schuhe und Sneakers, Nähservice.

Zweiter Stock: HERREN: Fashion, Wäsche, Schuhe und Sneakers, Accessoires.

Dritter Stock: Kindermode, Spielwaren, Papeterie, Souvenirs, Kundenservice, Ticketservice.

Vierter Stock: Wohnen und Haushalt, Elektrogeräte, Badshop, Mercerie, Vorhangservice.

Fünfter Stock: Multimedia, Bücher, Restaurant.

Sechster Stock: Restaurant, Terrasse.

Das Warenhaus ist von oben bis unten prall gefüllt.

DREI

Vorbereitungshandlungen.

Ein graues Auto fährt an den rechten Rand der Rue Barbanègre in F-68330 Huningue, gleich hinter dem Novartis-Campus jenseits der Landesgrenze. Mittelklassewagen, besonderes Kennzeichen: Blechschaden vorne rechts, sichtbar angerostet. Der Motor erstirbt. Ein Mann und eine Frau steigen aus, schliessen klopp! die Autotüren, Blick nach links, Blick nach rechts. Sie verschwinden in einem Haus. Mietshaus, drei Stockwerke, der Glaseinsatz der Eingangstür zersplittert und mit Klebeband geflickt.

Als er die beiden eintreffen sieht, entfernt sich in der dritten Etage ein grosser Blonder sofort vom Fenster. Als sie die Treppe hochkommen und ohne anzuklopfen in die Wohnung treten, zischt er sie an: «Nicht direkt vor das Haus! Stellt das Auto anderswo ab.»

Es ist Donnerstag, der 25. November.

Der Autolenker, er trägt eine gefütterte dunkelblaue Jacke, macht wortlos rechtsumkehrt und verschwindet im Treppenhaus. Die junge Frau bleibt in der Wohnung und begrüsst eine weitere Frau ihres Alters, die vor wenigen Minuten eingetroffen ist.

***

Vorbereitungshandlungen.

4102 Binningen. Hauptstrasse. Älteres Mietshaus. Wohnung im zweiten Stock. Sitzgruppe im Wohnzimmer. Welke Topfpflanze. Drinks in Dosen. Drei junge Männer.

«Wir sind also zu fünft», sagt der junge Mann mit dem Bart.

«Ja, Sven», sagt Jack, ein kleiner Blonder, der seinen Mangel an Vertikalwachstum proteinpräparatgestützt durch erhöhte Muskelmasse ausgleicht, und er wiederholt: «Wir sind zu fünft.»

«Gut», sagt Sven, «und nun zur konkreten Planung. Euch zeige ich das zuerst.» Er zieht einen Stadtplan hervor, auf dem mehrere Objekte eingekreist sind. «Unser Schwerpunkt ist der ‹Interdiscount› am Marktplatz», sagt er. «Ich lasse mir das aber nochmals durch den Kopf gehen. Vielleicht, äh, nehmen wir noch den ‹Mediamarkt› dazu …»

Jack Stojkovic mault: «Ach, Sven, also so richtig fett sind doch die ver Bijouterien, die ver Uhrengeschäfte. Es wäre besser, wenn wir –»

«Fang nicht wieder damit an», pfeift ihn Sven Haueter an, «du siehst zu viel fern. Wir haben das längst besprochen, Mann. Am Grundkonzept ändern wir nichts mehr, verstanden?»

Jack schneidet eine Grimasse, doch er lenkt ein. «Okay … ich meine ja nur …»

Sven klopft auf den Stadtplan, den er auf den Beistelltisch gelegt hat. Im Hintergrund läuft ohne Ton der Fernseher, ein Film mit Waffen und Explosionen, für den sich in diesem Moment keiner interessiert.

«Noch einmal von vorn: Wir definieren jetzt unsere Zielobjekte im Detail.»

Grundkonzept, definieren, Zielobjekte … woher Sven nur diese Wörter hat, fragt sich Jack, während jener weiterspricht: «Und dann legen wir unseren Modus operandi fest. Damit jeder von uns weiss, was er zu tun hat. Moritz und Carlos helfen beim Tragen. Die sollten auch gleich hier sein.»

Modus operandi, hey! Jack nickt.

«Und wenn wir drei das festgelegt haben, wiederholt jeder, was er zu tun hat. Damit jeder weiss, was sein Job ist. Klar?»

Beim Wort «Job» überkommt Sven ein wohliger Schauer. Hätte er sogar «Auftrag» sagen können oder – wow! – «Mission»?

Jack wiederholt: «Damit jeder weiss, was sein Job ist.»

Und Ramon Füglistaller, der Dritte, der bis dahin kein Wort gesagt hat und vor allem durch seinen Unterbiss und seine Undercut-Frisur auffällt, sagt: «Ja, Sven, so machen wir’s. Aber zu lange darf das nicht dauern. Nachher will ich mit Natasha eine Runde durch die Läden drehen, gell. Sie mag Shopping.»

Er erntet zwei mitleidige Blicke.

Da klingelt es an der Tür. Sie reagieren nicht. Sven, der Hausherr, hält den Zeigefinger vor den Mund, zeigt in Richtung Wohnungstür und schneidet eine Grimasse.

Jack formt mit den Lippen lautlos das Wort «Bullen», und seine geweiteten Augen bilden dazu ein Fragezeichen.

Sven schüttelt den Kopf. Nach einigen Sekunden Stille sagt er leise: «Vermutlich die Nachbarin. Sicher ist heute wieder ihr Waschtag. Und sie stört sich garantiert an meiner Wäsche in der Maschine. Die anderen zwei kommen erst …», er schaut auf sein Handy, «… in einer Viertelstunde oder so.»

***

Vorbereitungshandlungen.

Aus dem dunkelroten Kunstledersofa in Rachids Wohnung in der Rue Barbanègre schaut die Füllung raus. Mario Schneider zupft an dem weissen Zeug und fragt sich, was das für ein Material sein könnte. Brennt so was?

«Mach Rachids Sofa nicht noch mehr kaputt», sagt Azra und lacht.

Er stopft das Zeug ins Loch zurück und langt nach der Kaffeetasse. Alle sind versammelt: Mario und Azra, Rachid und Marylou. Sie haben Zeit. Marylou Démare arbeitet erst abends, als Kellnerin im Café an der Place Abbatucci, Rachid Belloumi als Kurier auf Abruf wahrscheinlich erst übermorgen wieder, wenn nichts dazwischenkommt. Azra Kurt in einem Callcenter, wo sie drei Tage die Woche Versicherungen verkauft, Krankenkassenpolicen, Hausrat, Haftpflicht, Auto. Mario hat noch mehr Zeit, weil er keine Arbeit hat.

Und wer Zeit hat, hat Ideen.

Wer nichts zu tun hat, hat noch mehr Ideen.

Und wer kein Geld und viel Zeit hat, dem kommen Ideen, damit er etwas zu tun hat, das vielleicht Geld bringt. Vermutlich Geld bringt, höchstwahrscheinlich welches bringt. Sicher welches bringen sollte. Geld.

Es ist nicht einfach, selbst mit einem Bac im Lebenslauf. Fast alle haben eines. Aber das bringt nichts, weil es kaum Jobs gibt. Und nach der Schule ist man nicht immer so zielstrebig unterwegs, dass man eine Stelle in einer guten Firma fände. Und «gute Firmen» gibt es hier im hintersten Winkel von Frankreich eh nur wenige.

Drei der vier, die sich in Rachids kleiner Wohnung in der Rue Barbanègre versammelt haben, weil irgendwer von ihnen, genau lässt sich das nicht mehr eruieren, diese Idee für morgen hatte, kennen sich seit der Schule. Nur Mario ist nicht in der Gegend aufgewachsen, er kam eines Tages aus Mulhouse. Er hatte diese Stelle im «Match», dem Supermarkt an der Rue de Saint Louis, bis dort über Wochen immer wieder Kisten mit Alkoholika und mit Meeresfrüchten verschwanden. Er hatte damit, beteuerte er, nichts zu tun. Sein Chef sah das anders, stellte ihn zur Rede … nun ja, Mario hat ihn … ja, beschimpft und ihm böse Augen gemacht, sodass der Chef Angst vor ihm bekam und ihn feuerte. Fristlos.

Jetzt sitzt Mario auf Rachids durchgesessenem Sofa neben Azra, die er eben an jenem Tag kennengelernt hat, als er diese verfluchte Arbeit verlor.

«Du fährst also den Wagen», sagt Mario zu Rachid, «ist dir klar, wie du fahren musst?»

«Klar», sagt Rachid, «das kriegen wir hin.»

***

Polizeiarbeit.

Die Kollegen von der SBB-Transportpolizei haben vier Jugendliche festgenommen. Die Sicherheitspolizei bringt sie in den Waaghof. Die vier haben einen Zug verwüstet und das Bahnpersonal angepöbelt. Sie brauchen Wörter, die wollen Sie nicht hören. Sie sind aggressiv und aufgebracht. Im Vernehmungsraum S 311 versucht sie der Müller mit dem Kollegen einzeln nacheinander zu befragen. Er denkt: Saufen und Kiffen tun keinem gut. Ach, Welt, geht es ihm durch den Kopf, als er sie ansieht. Sechzehn, siebzehn, achtzehn sind sie, liest er in ihren Ausweisen, ihr Ton ist rüde, sie sind geladen, als wären sie elektrisch. Eine Aussage? Verweigern sie. Nach wenigen Minuten schickt sie der Müller zur Abkühlung in die Zelle. Damit sie Heimweh bekommen nach was auch immer; Fernweh, wohin auch immer; und hoffentlich den Koller. Eine, zwei Stunden hinter der abgeschlossenen Zellentür. Durch den Stahl hindurch hören sie ab und zu Schritte im Korridor. In der Wand knackt das Rohr der Heisswasserleitung. Sonst herrscht Stille. Der Geruch aus Reinigungsmitteln, Schweiss und Langeweile wird sie zur Besinnung bringen.

Hofft Müller Benedikt, der Kriminalkommissär. Weil er hofft noch. Trotz eines Vierteljahrhunderts Polizeidienst zuerst in Zürich und seit einiger Zeit in Basel glaubt er manchmal daran, dass der Mensch nicht das miserable Wesen ist, als das er in Erscheinung tritt. Falsch, ich korrigiere: nicht alle Menschen, sondern einige. Und die kann der Müller nicht einfach auf den Mond schiessen. Einfach ausblenden kann er diese sechzehn-, siebzehn-, achtzehnjährigen Rüpel und all die anderen, die schwereren Delinquenten allerdings auch nicht. Weil Strafgesetzbuch, berufliche Pflichten und gesellschaftliches Interesse. Ja, gesellschaftliches Interesse: Dem Müller ist die Welt nicht egal. Allen Polizistinnen und Polizisten darf sie nicht egal sein. Sonst hätten sie einen anderen Beruf ergreifen müssen. Denn lustig ist es selten, ein Bulle zu sein. Du erlebst zu viel. Und du wirst von manchen Leuten beschimpft, angegriffen, verachtet. Doch wenn denselben Personen etwas widerfährt, erwarten sie selbstverständlich, dass du wie der Blitz vor Ort bist und dich für sie einsetzt.

Ach, Welt, denkt der Müller in seinem Einzelbüro im Waaghof.

Im Korridor hört er Freddy Dominguez und Romina Wäckerlin sprechen. Über einen Fall, den sie gerade abgeschlossen haben. Häusliche Gewalt. Ein Akademiker, der seine Lebenspartnerin verprügelt und nachher behauptet hat, sie sei die Treppe hinuntergefallen. Wer’s glaubt, ehrlich, so dumm dürfte keiner sein zu denken, er käme mit so einer Geschichte durch. Denn – Plausibilitätskontrolle – wie oft haben Sie im realen Leben erfahren, dass jemand tatsächlich eine Treppe hinuntergefallen ist?

Die Unterlagen zu diesem Fall liegen in Müllers Computer. Er klickt sie an und liest sie durch. Der Anlass des «Streits», wie die Täter das oft nennen, als bräuchte es zwei Schuldige, damit es zu einer Gewalttat kommt, der «Anlass» war angeblich mangelndes Lob der Frau für den gekränkten Akademiker. Ihm riss die Hutschnur, weil sie ihn «immer herabsetzt», «nie genug wertschätzt», «ihn, seine Arbeit, seine Ideen immer scheisse findet», sodass es «ihm einfach reichte» und er «die Kontrolle verloren» hat. Was er – so gab er zu Protokoll – bedauert, aber «er wollte ihr keineswegs wehtun». Und er fragte Freddy Dominguez bei der Vernehmung von Mann zu Mann: «Haben Sie sich immer im Griff?»

Passt alles, denkt der Müller, versieht die Datei im vorgesehenen Feld mit seinem Kürzel, speichert sie und leitet sie an den Staatsanwalt weiter. Der wird Anklage wegen Körperverletzung erheben.

Der Müller ahnt einen Grund für all das Zerlegen von Menschen und Mobiliar. Der Grund existiert im Plural: der Pluralis idiotiae.

Manchmal schon ein Problem: die Konzentration. Weil du auf dem Rechner schon den nächsten Vorgang anklickst.

«Bisschen das Quartier verpinkeln?»

Dieser Satz eines Anwohners gegenüber einem Hundebesitzer (Personalien beider im Anhang) ist verbürgt. Wer hierauf welche Schimpfwörter (Art. 177 StGB) gezückt hat und wer zuerst handgreiflich wurde (Art. 123 oder 126 StGB), ist Gegenstand der Ermittlungen.

Solches landet auch beim Müller. Bei aller Tragik und manchmal Absurdität der Vorfälle ist er froh, nicht in einem Tötungsdelikt ermitteln zu müssen.

Den Tod hat er satt.

Was morgen nach 18:00 Uhr auf ihn zukommt, ahnt er nicht. Kristallkugel und Tarotkarten zählen nicht zu den Präventionswerkzeugen des Kriminalkommissariats Basel-Stadt.

***

Vorbereitungshandlungen.

Melanie, Rosa und Shanaya haben trotz ihres Alters einiges an Erfahrung. Nie wurden sie bisher geschnappt. Und die Taschen, der Modeschmuck, die Kleider machen ihnen wirklich Freude. Bei ihren Freundinnen und Freunden beim De-Wette-Schulhaus kommen sie gut an. Sie sind immer gut angezogen, lieben es, alle paar Wochen ihren Look wieder zu wechseln, und sind lustig und cool. Sie bedauern nur, dass sie das Schuhproblem noch nicht lösen konnten. Nur ein Schuh pro Grösse ist jeweils ausgestellt, der zweite liegt in einer Schachtel im Lager. Dort haben sie als Kundinnen keinen Zutritt. Als Kundinnen! So treten sie nämlich auf. In den letzten Monaten haben sie ihre Technik verfeinert. Sie betreten das Geschäft einzeln, schauen sich um, prüfen das Angebot, probieren auch einmal in der Umkleidekabine ein Kleidungsstück an. Unterwäsche ist oft nicht elektronisch gesichert und trägt nicht auf. Die kannst du problemlos unter die Kleider stopfen. Auch kleinere Artikel – Ohrringe, Halsbänder, sogar einmal ein Paar Sandalen, die ausnahmsweise zusammen ausgestellt waren. Erst einmal das Angebot abchecken. Dann, so ein Drehbuch, das sie erfolgreich getestet haben, treffen sie sich !zufällig! !ausgerechnet! !heute! zur selben Zeit in !diesem! Laden als zwei !Freundinnen!, die sich so mega !freuen!, sich ausgerechnet heute hier in diesem Laden über den Weg zu laufen. So ein Zufall!

Warum zwei und nicht drei Freundinnen? Haha, spezial, spezial. Lesen Sie bitte weiter:

Rosa und Shanaya sprechen sich natürlich nicht mit Namen an, sondern mit «oh, wow!» und «hey, du» und Küsschen, Küsschen, beobachten durch die Fransen im Gesicht den Verkaufsraum. Sie zeigen, wenn eine Verkäuferin auf sie aufmerksam wird, auch ein bisschen mehr von ihren geringelt und dunkel bestrumpften Beinen oder schütteln mit kühnem Kopfschwung eine Strähne aus dem Gesicht und werfen der mutmasslichen Spassverderberin zwischen den Haaren hindurch Blicke zu, dass der ganz seltsam wird, weswegen sie sich gegenüber der Chefin garantiert genieren würde einzugestehen, dass sie verdächtige Wahrnehmungen gemacht hat. Ohnehin ist es viel einfacher, wenn einmal ein männlicher Verkäufer im Laden steht. Der verrät der Chefin erst recht nicht, dass ihm zwei Girls den Kopf verdreht haben, weil die Chefin die Turbulenzen seines Hormonhaushalts sofort erkennen und ihn künftig strenger an die Kandare nehmen, womöglich sogar entdecken würde, dass er selbst – «erst einmal, ich schwöre es» – eine Hose mitgenommen und seinen Freundinnen oder Freunden mal einen Drei-für-zwei-Rabatt eingeräumt hat, der nirgends vorgesehen ist.

Während so die zwei blutjungen alten Freundinnen Rosa und Shanaya sich über ihr unverhofftes Wiedersehen freuen, was das Verkaufspersonal emotional ablenkend involviert, tritt der Plan in die Phase O wie Omega, weil die Operation folgendermassen endet: Einsatz der unsichtbaren Dritten des Klepto-Teenie-Kleeblatts: Melanie. Mit ihrer Streberbrille und der dunkelblauen Outdoorjacke, die sie bei diesen Gelegenheiten anzieht, wirkt sie überhaupt nicht verdächtig. Sie gibt das Mädchen aus der Agglomeration, das ein bisschen Blingbling-Stadtluft schnuppern will. Sie steckt die Waren ein und verschwindet aus dem Laden, während Rosa und Shanaya ihre Aufgeregte-Freundinnen-Nummer abziehen.

Hinterher teilen sie immer. Zerstritten haben sie sich dabei nie. Sie teilen fair. Und sie freuen sich auf den morgigen Tag.

Aber hallo, werden Sie einwenden, es gibt doch elektronische Diebstahlsicherungen und Trallala! So einfach geht das Stehlen gar nicht, sonst würden die Läden tagtäglich ausgeräumt. Einerseits haben Sie recht: Kameras, technische Diebstahlsicherungen, Detektive. Andererseits liegen Sie falsch: Videoüberwachung existiert nicht in allen Geschäften, das Personal kann seine Augen nicht überall haben, und der Mensch ist erfinderisch. Er präpariert seine Jacke, indem er eine Jackentasche aufschneidet und kleinere Gegenstände ins Futter versenkt. Er bringt im Futter eine Metallfolie an, um das elektromagnetische Signal von der Diebstahlsicherung am Produkt zum Metallbügel beim Ausgang zu verhindern. Er entfernt die Ware aus der Verpackung, die gesichert wäre, oder schneidet mit einer Schere das magnetische Etikett des Produkts ab. Er haut geschickt mit einem Japanmesser die elektronische Sicherung aus dem Karton heraus und zieht in der Umkleidekabine mehrere Kleiderschichten übereinander. Die übrigen Tricks darf ich hier nicht erwähnen. Und nicht immer ist es ein Er.

***

Logistik.

Plastikbauklötze, Plastikklotzbausätze, Plastikfiguren, Plastiktiere, Häuser und Gehege und Zäune und Tankstelle und Burg und Wildhüterstation und Polizeistation und Rosalyns heilendes Versteck, wo du das Drachenbaby heilen sollst und den bösen Kobold in einen guten verwandeln kannst; und der Bausatz für Kais Feuer-Mech (Bestellnummer 70615). Das Cockpit ist aufklappbar, und ein Flammenwerfer steht auch zur Verfügung und sechs Minifiguren und deren Ausrüstung. Plastikfiguren, sieben Zentimeter hoch, die Arme und Beine und Köpfe drehbar. Warzenschweine, Elche, Dinosaurier, Kühe aus Hartgummi, Plüschtintenfische, die Ghostbusters Feuerwache ohne Bindestrich, aber mit viel Zubehör; das Plüschflusspferd Hippopotamus, circa fünfunddreissig Zentimeter, schon die ganz Kleinen können damit, weil ohne verschluckbare Kleinteile. Hatchimals Surprise, Hatchimals Glitter Burtle, Draggle und Penguala, exklusiv bei uns, da drücken die Eltern gerne Fr. 69.90 und Fr. 79.90 ab, und – hosianna halleluja alhamdulillah – Beanie Boos und Glubschi’s mit dem Apostroph sind auch zu haben. Gogo, mein Hündchen, steht im Dutzend bereit, dieses interaktive Tier mit so vielen Funktionen, und das niedliche Zoomer Pony, das tanzen kann und dir brav nachläuft; wenn du es jedoch mit zu viel Zucker verwöhnst, ist es total von der Rolle, genau wie dein Patenonkel, der Fr. 89.90 dafür ausgibt, weil er nicht mehr weiterweiss. Oder soll es lieber Benni sein, der sprechende Beagle? Der ist zehn Franken günstiger. Oder lieber die WowWee Chippies, interaktive Welpen des bereits – wem eigentlich? – bekannten Hundes Chip.

Yeah, yeah, yeah. Chip, Chip, Chip!

Yeah, yeah, yeah.

Yeah, yeah, yeah. Chip, Chip, Chip!

Dr. Drone Pick-up mit doppelter Bewaffnung.

Polizei-Kommandozentrale mit Gefängnis.

Drago mit Donnerklaue.

Yeah, yeah, yeah.

Das Brautmodengeschäft mit Salon, ca. 55 x 19 x 17 cm.

Und der grosse Reiterhof, ca. 69 x 41 x 24 cm.

All das wird auf speziellen Gestellen besonders präsentiert.

Yeah, yeah, yeah. Wowowowowow.

Das Prinzessinnenschloss zum Hitpreis von einhundertneunundvierzig.

Oh, einhundertneunundvierzig. Oh, einhundertneueueueunundviiiierzig! One-four-nine, one-fourty-nine. Cent-quarante-neuf. Singt alle mit, chantons, everybody sing: «Cent-quarante-neuf! Cent-quarante-neuf! Oh, one-forty-nine! One-forty-nine!»

Verkaufsberaterinnen und Verkaufsberater stapeln die Waren in Regale, drapieren sie nach allen Regeln der Verkaufsdisplaykunst, die Rayonchefin, ein Klemmbrett mit Listen in der Hand, überwacht die Vorgänge und lässt Platz freiräumen für die Produkte, die der Renner sind. Die Augen von Kindern glänzen lassen.

Die Liebe der Göttis, der Gotten, der Grossmütter und Grossväter, der Mamas und Papas ist grenzenlos.

Kauf günstig, weil ding-dong bald ist X-mas-Zeit.

Schlag zu, jetzt, weil das Christkind ruft «ho, ho!» glockenhell, während es die Socke stopft, die im Kamin hängt, und Rudi, das rotnasige Rentier, allen Kindern Glück und Freude bringt.

Profitier! Profitier! Profitier!

Der profitorische Imperativ!

Die Polydesignerin richtet den Scheinwerfer so aus, dass die lebensgrosse Darth-Vader-Figur und die lebensgrosse Stormtrooper-Figur in übernatürlichem Glanz erstrahlen. Über diesen Lizenzprodukten, die einem Cinemascopemilliardär ständig neues irdisches Manna einflössen, dreht sich langsam ein übergrosses Modell eines schwimmfähigen Piratenkampfschiffs, ausgerüstet mit einem internen Lautsprecher, der Kanonendonner und Gefechtsgetümmel, Degenklirren, Schmerzensschreie und dazwischen das Geplapper eines Papageis verbreitet. Der sitzt auf der Schulter von Kapitän Rotbart, dem Einäugigen mit dem Holzbein, der grimmig und raublustig in den Luftraum blickt, den man sich leicht als die aufgewühlten Gewässer der Karibik vorstellen kann.

Würde das Elysium Kartenzahlungen akzeptieren, genau so sähe es aus.

Zwei Stockwerke tiefer: Tops, Basics, Hemden und Blusen, Cardigans und Pullover, Strickwaren, Blazer und Gilets, Jacken und Mäntel, Hosen. Zum Beispiel die Superstretchhose High Waste, die Slacks (grau/Hahnentritt) aus Stretchstoff, Modell mit Seitentaschen, schmal zulaufendem Bein und normaler Bundhöhe, vorn ein verdeckter Häkchenverschluss. Oder die Hose in 7/8-Länge in Dunkelgrün mit Riegel und D-Ringen aus Metall am Bund und Zierpaspeln hinten, schmal zulaufenden Beinen mit Ziernaht und vorn geschlitzten Abschlüssen, vorn ein Reissverschluss. Jeans, Shorts, Jupes, Kleider, Overalls, Schuhe. Wie wär’s mit den Ankle Boots, silberfarben und glitzernd mit knöchelhohem Schaft, bezogenem Absatz und Reissverschluss hinten, Futter aus Satin und Innensohle aus Lederimitat, Laufsohle aus Gummi, Absatzhöhe ca. 5.5 cm? Na? Accessoires, Bademode, Unterwäsche, Nachtwäsche, Socken und Strumpfhosen, Sportmode, die dunkelgrau melierten Yoga Tights etwa und die Hardshell-Skijacke aus winddichtem, atmungsaktivem Funktionsmaterial mit versiegelten Nähten und wasserdichten Reissverschlüssen. Kapuze mit verstärktem Schild und elastischem Kordelzug. Frontreissverschluss und Seitentaschen mit Zipper. Seitliche Reissverschlüsse zum Öffnen sorgen für Belüftung. Ja, seitliche Reissverschlüsse zum Öffnen sorgen für Belüftung. Schneefang mit verstärktem Gummizug und Druckknöpfe zum Verstellen in der Taille, verstellbare Klettriegel an den Ärmeln und ein verlängertes Rückenteil, ungefüttert, die Jacke hat eine wasserabweisende Oberflächenbehandlung ohne umweltschädliche Fluorcarbone. Kostet lediglich CHF 199. Und Schwangerschaftsmode.

Alles, alles, alles. Und noch mehr.

Appretur in der Luft, und aus unsichtbaren Düsen wird Wohlgeruch fein zwischen die Regale gesprüht. Oder spielt uns die Phantasie einen Streich, und die Düfte stammen in Wahrheit von den Körpern der Kundinnen und Kunden, die heute schon die Lage erkunden, um morgen gezielt zugreifen zu können?

Hosen, zum Verkauf so richtig kaputt gemacht, damit das Fleisch der Oberschenkel zwischen den verbleibenden Querfäden hervorquellen kann.

Stapelweise, regalweise, alles vollgeräumt, alles vollgepackt, alles aufgetürmt und mit elektronischen Diebstahlsicherungen versehen. Sonnenbrillen, Haarspangen, Haarreifen, Halsketten, Ohrhänger, Ohrstecker, Ohrringe, Armreifen, Kettchen.

Alles, alles, alles. Und viel mehr.

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Personaldisposition.

Abteilungsleiter Mirko Vulevic schaut die Liste an, die ihm die Kollegin von den Human Resources gerade aufs Handy geschickt hat. Er wird morgen tatsächlich das Personal bekommen, um das er ersucht hat. Letztes Jahr hatten sie zu knapp disponiert, sie meinten, das koste zu viel. Die Folge: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verkauf rannten und rannten; ein Marathon, der gegen Mittag begann und bis Ladenschluss dauerte. Pausenlos. Beraten, auffüllen, dirigieren, lächeln, beraten, auffüllen, kassieren, kassieren, auffüllen. Je später der Tag, desto schwerer fiel ihnen das Lächeln. Mit mehr Manpower wäre mehr möglich gewesen. Den Ertrag pro Quadratmeter, den Vulevics Team vor einem Jahr erzielte, wollen sie morgen übertreffen. Er hat Ambitionen. «Ein Leben ohne Ziel ist keines» (Waldemar von Strunz, Unternehmensberater). Das Ziel lautet: den Rekord vom vergangenen Jahr knacken, überbieten, pulverisieren. Das wird Mirko morgen, noch bevor unten die Eingänge öffnen, allen erneut einhämmern, ihnen einbläuen, eintrichtern, sie motivieren, sie top aufstellen.

«Hey, ihr schafft das!»

Sie sind ein eingespieltes Team.

Die neuen Aushilfen braucht es vor allem zum Auffüllen und zum Einpacken der verkauften Waren.

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Sicherheit.

Die Kantonspolizei hat für morgen 24 zusätzliche Sicherheitsassistentinnen und Sicherheitsassistenten aufgeboten. Sie werden in der Innerstadt den Verkehr kontrollieren, das Verkehrskonzept durchsetzen und darauf achten, dass die Lieferanten dem öffentlichen Verkehr nicht in die Quere kommen. In den Aussenquartieren und den zentrumsnahen blauen Zonen sind zusätzliche Kontrollen parkierter Fahrzeuge vorgesehen. Politischer Zwist im Grossen Rat ist garantiert. Die Sicherheitspolizei wird insbesondere nach bandenmässig organisierten Taschendieben Ausschau halten, bei Ladendiebstählen eingreifen und sich grundsätzlich bereithalten, um alle Facetten des Strafgesetzbuchs durchzusetzen. Das bedeutet erfahrungsgemäss vor allem, bei Konflikten zwischen Kaufwilligen einzuschreiten. In internationalen Freundlichkeitsrankings schneidet das Schweizervolk nicht zufällig unterirdisch schlecht ab. Die Kriminalpolizei wird in Zivil patrouillieren. Gesichert wird unter anderem der Nahbereich um Geldautomaten, etwa bei der Poststelle 4001 Basel 1 Rüdengasse, dem Postfinance-Kundencenter an der Greifengasse, bei den BKB-Filialen in der Aeschenvorstadt und beim Spiegelhof, bei der CS am Spalenberg und in der Unteren Rebgasse, bei der UBS. Die Kantonspolizei, die Transportpolizei und die Grenzwache werden in den Bahnhöfen SBB und SNCF sowie im Badischen Bahnhof die Sicherheit gewährleisten. Kräne und Tieflader haben bereits am Dienstag rot-weiss gestreifte Metallelemente herangefahren beziehungsweise platziert, um die Haupteinkaufsstrassen zu schützen. Die Elemente können hinterher für den Weihnachtsmarkt auf Münster- und Barfüsserplatz stehen bleiben.

Das Polizeikommando hat zuerst aus psychologischen Gründen erwogen, darauf zu verzichten, an Knotenpunkten mit ausserordentlich hohem Personenaufkommen und entsprechendem Risikopotenzial Einsatzkräfte mit Maschinenpistolen zu postieren oder in den Einkaufsstrassen patrouillieren zu lassen. Aufgrund der Erfahrungen der französischen und deutschen Kollegen beschloss das Kommando jedoch den Verzicht auf den Verzicht. Bei Bedarf stehen ausserdem im Spiegelhof, auf der Clarawache und im Polizeiposten Kannenfeld weitere geeignet ausgerüstete Mannschaften bereit, die innert Minuten an einen beliebigen Einsatzort in der Innerstadt verschoben werden können. Auch die Sondereinheit Basilisk. Weil Terrorismus. Auch damit musst du rechnen.

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Vorfreude.

Laura Glauser (43), Sachbearbeiterin beim kantonalen Personalamt, wohnhaft in 4123 Allschwil: «Ich möchte mein Wohnzimmer … sagt man ‹aufwerten›, ja? Es kommt mir ein bisschen trist vor, zu wenig speziell, zu wenig schöne Gegenstände, das gewisse Etwas fehlt mir. Das will ich nun angehen und die Gelegenheit nutzen. Eine klare Idee, was ich kaufen will? Habe ich nicht, nein, noch nicht. Ich will eine Runde durch die Läden drehen und die Inneneinrichtungsideen anschauen, die Dekosachen. Ob ich mir wirklich etwas kaufe, weiss ich nicht. Ich muss mir erst einen Überblick verschaffen. Wenn ich ein Accessoire sehe, das mich anspricht … vielleicht einen schönen Teppich, eine Vase oder warum nicht eine Skulptur? Letzthin habe ich in einem Laden einen weissen Porzellanhund gesehen, so fünfzig, sechzig Zentimeter hoch, der würde farblich zum Sofa passen, ein schwarzes Ledersofa ist es, das wäre ein guter Kontrast. Oder soll ich eher fröhliche Farben hineinbringen? Textilien, Gewobenes? Marokkanisch? Inka-Stil? Panasiatisch? Eine Decke fürs Sofa? Fände ich gemütlich, gerade jetzt, wo bald der Winter kommt. Es muss nichts Teures sein. Wenn ich ehrlich bin, darf es gar nichts sein, das viel kostet. Ich habe gerade die Krankenkasse und den Rest der Steuern bezahlt. Doch ich liebe es, durch die Läden zu streifen. Ich komme so immer auf neue Ideen. Das inspiriert mich.»

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Vorfreude.

Das Auto im Elisabethen-Parkhaus unter dem Heuwaage-Viadukt abstellen, die paar hundert Meter zu Fuss zum Barfüsserplatz. Im Tram, da fühlt er sich immer so … und Kleingeld hat er ohnehin meist nicht dabei … und links am Café Huguenin vorbei in die Freie Strasse. Während er in der Firma eine Festplatte aus einem Computer ausbaut, plant IT-Mitarbeiter Martin Loosli (34) aus 4450 Sissach in Gedanken seine Shopping-Route durch die Innerstadt. Morgen wird er mal nicht im Internet einkaufen, sondern so richtig physisch und real life. Die Stadt wird voll sein. Gegen 15 Uhr soll seine Einkaufstour starten. Er will die Gelegenheit nutzen und Weihnachtsgeschenke einkaufen. Eine Carrera-Bahn für Baschi, seinen Jüngsten? Eine nicht zu teure Uhr für seine Frau Melissa, das neue «FIFA»-Spiel für Jan … und für die 15-jährige Patentochter Leonie … was schenkt man bloss Teenagern? Einen Einkaufsgutschein für ein Kleidergeschäft? So kann sie sich selbst aussuchen, was sie will.

Und für seine Eltern? Haben die nicht alles? Eine Kiste Bordeaux nähmen sie sicher mit Freuden. Lohnt sich das? Nein, es wird, es muss etwas Kleineres werden. Die Geste zählt, nicht der Betrag, denkt er. Ein Bildband über die Region? Gefällt ihnen bestimmt. Solches findet sich häufig extrem vergünstigt, Mängelexemplare, denen man keinen Mangel ansieht, Aussortiertes. Und für die Mutter zusätzlich ein weiteres Buch? Sie liest, glaubt sich Martin Loosli zu erinnern, gerne Biografien. Nicht Churchill oder sonst etwas Politisches, lieber ein Buch über Menschen, normale Leute, die ihr Leben erzählen, gerne Frauen, die im Alter Bilanz ziehen und berichten, wie sich die Welt seit ihrer Kindheit verändert hat. Ehrlich gesagt, Loosli weiss nicht recht, welche Bücher seine Mutter schon hat. Er hält sich zu selten lange genug bei ihnen in der Wohnung auf, als dass er wüsste, was in ihrem Bücherregal steht. Eigentlich traurig, dass sein Kontakt so lose ist. Doch jetzt ist nicht der Moment für Gedanken über Vergänglichkeit und die Tiefe menschlicher Oberflächlichkeit und Beziehungen.

Sein Miniwallet böte bequem zwölf Kreditkarten Platz plus Banknoten und Münzen. Und es ist, versichert der Hersteller, gefeit gegen RFID-Attacken, gegen digitalen Taschendiebstahl. Als IT-Mann hat Loosli eine Schwäche für Sicherheit.

Loosli wird den Kassenzettel für das Geschenk an seine Eltern aufbewahren, um es bei Bedarf umzutauschen. Seinem besten Kumpel Stefan wird er einen «Talisker Dark Storm» oder einen «Glenfiddich 18» kaufen, falls er das in den Warenhäusern findet. Ob Fachgeschäfte morgen bei der Preisschlacht mitmachen, weiss er nicht. Er wird sich umsehen. Es wäre dumm, diese Rabatte morgen nicht zu nutzen.

Vielleicht findet er auch etwas für sich? Beim stylishen Computerladen in der Freien Strasse wird er auf alle Fälle vorbeischauen. Ein neues Smartphone wäre toll. Seines ist vom Vorjahr, und gerade in seinem Beruf, mit den Kollegen … Wer prähistorisch ausgestattet ist, erntet ebenso viel Spott wie ein Schwalbenkönig an der Fussballweltmeisterschaft.

Wenn sie nicht im Internet kaufen, fahren die Looslis über die Grenze, um die teuren Dinge und einmal im Monat einen Kofferraum voll Lebensmittel zu beschaffen, auf Vorrat. Das lohnt sich schon. Mit dem grünen Formular holen sie sich die deutsche Mehrwertsteuer zurück. Ein bisschen lästig ist es ja: der Stau bei den Grenzübergängen, die schlechte Laune der anderen Autofahrer, deren aggressive Fahrweise, die Suche nach einem Parkplatz in Weil-Friedlingen oder das Warten vor dem Parkhaus bei diesem Frischecenter in Lörrach, bis sich die Schranke endlich hebt, das Gedränge in den Läden, der Stress, das Anstehen beim deutschen Zollschalter, eben um sich die Ausfuhrbescheinigung abstempeln zu lassen. Einmal hat ihn ein Schweizer Zöllner herausgewinkt. Martin Loosli musste die ganze Ware auspacken, lückenlos alle Quittungen vorlegen. Alles wurde abgeglichen. Die Zollabfertigung hat gedauert. Eigentlich war von vornherein klar, dass er mit seinen Einkäufen deutlich über der Zollfrei-Grenze lag. Waren die pingelig, diese … Von wegen «freier Warenverkehr», von dem alle reden.

Morgen wird er diesen Ärger nicht erleben, hofft er. Er wird nicht nach Weil oder nach Lörrach fahren. Morgen lenkt er den Hyundai in die Stadt und kauft dort. Einen halben Tag für sich allein wird er haben: einen halben Tag.

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Vorfreude.

Jasmin Russo (53), kaufmännische Angestellte aus 4402 Frenkendorf, gross, dunkelhaarig, sportlich, hat morgen Nachmittag extra freigenommen. Der Chef war einverstanden. Sie wird mit ihren Freundinnen Jarmila Bezakova (47), klein, lockig, und Astrid Meier (52), ohne besondere Kennzeichen, aber sehr lustig, «um die Häuser ziehen», wie sie scherzhaft sagt. Shopping mit Freundinnen, das hat sie ewig nicht mehr gemacht. Ehrlich gesagt, brauchen tut sie nichts. Sie werden sich durch die Innerstadt treiben lassen, hier hineinschauen, dort vorbeigehen. Kleiderläden, ja. Vielleicht eine neue Hose, möglicherweise eine Winterjacke. Ein Paar Handschuhe? Einen Kaschmirschal? Es geht um den Spass. Sie werden sicher viel lachen und andere Leute beobachten. Eventuell treffen sie auf Bekannte? Zum Auftakt einen Prosecco, zwischendurch einen Cappuccino, etwas Süsses oder ein Canapé bei der Confiserie Schiesser. Sie sitzt gerne an einem Tisch im Obergeschoss und schaut auf den Marktplatz hinaus. Die Menschen dort draussen, die Trams, grün. Gegenüber das Rathaus, rot. Die Dunkelheit, Nieselregen. Die Lichter, die angehen, sobald die Dämmerung beginnt, und Ende November beginnt sie früh.

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Öffentlicher Verkehr.

«Die Basler Verkehrsbetriebe erwarten ein Passagieraufkommen wie in der Vorweihnachtszeit. Erschwert wird der morgige Tag einerseits durch Gleisarbeiten im Bereich Elisabethenstrasse, Aeschenplatz, Messeplatz und … was war das noch?»

«Badischer Bahnhof und Centralbahnplatz.»

«… und Centralbahnplatz … danke … und andererseits durch den vermehrten Autoverkehr zu zentrumsnahen Parkhäusern. Von 11 bis 20 Uhr verkehren die Trams und Busse im Fünfminutentakt. Damit die Fahrgäste möglichst ohne Verzögerungen in die Innerstadt und zurück in die Quartiere und in die Gemeinden des Tarifverbunds Nordwestschweiz gelangen. Trotz aller Vorkehrungen ist punktuell mit Engpässen und Verspätungen zu rechnen, insbesondere während der auch bei Normalbetrieb erhöhten Fahrgastfrequenz am Feierabend. Auf Billetkontrollen, diese Information bleibt intern, verzichten wir in Anbetracht der zu erwartenden besonderen Situation. Für allfällige Wartezeiten bitten wir auf den Anzeigetafeln und über Mikrofon um Verständnis. An Knotenpunkten und Umsteigehaltestellen kommen zusätzliche Kundenberaterinnen und Kundenberater zum Einsatz, erkennbar an ihren gelben Leuchtwesten. Fasst das unsere Herausforderungen für morgen ungefähr zusammen?»

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Sicherheit.

«Wissen alle, was sie morgen zu tun haben? Wann und wo sie antreten müssen? Die exakten Aufgaben? Wie lange ihr Einsatz dauert? Haben alle die Nummer des direkten Vorgesetzten vor Ort gespeichert? Und die Nummer der Zentrale?»

Sie sind zu zahlreich, als dass alle sitzen könnten. Dicht drängen sie sich zwischen den Bürotischen. Im Geschäftslokal, das beim St. Jakob-Park im Gewerbegebiet «Auf dem Wolf» liegt, informiert Frank Bigler, Disponent der Sicherheitsfirma Total Control AG (Niederlassung Basel), vierundvierzig Männer und zwölf Frauen über ihren Tätigkeitsbereich am folgenden Tag. Er verteilt jedem und jeder ein Blatt mit den auftragsspezifischen Einzelheiten. Die meisten Hauptberuflichen werden um 09:00, die Nebenberuflichen gegen 17:00 Uhr auf Posten gehen.

Zustimmendes Murmeln. Sie kennen die Aufgaben. Der Auftrag ist Routine. Ein langer Tag, sicher, doch gegen 20:30 Uhr, in einigen grossen Läden nach 22:00 Uhr, wenn alle Kundinnen und Kunden die Geschäfte verlassen haben und die Einnahmen sicher verwahrt sind, werden sie Feierabend haben. Wie im Vorjahr.

«Einen sicheren Dienst morgen», schliesst Bigler. Die Sicherheitsleute antworten «danke» oder nicken bloss.

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Sicherheit.

Gepanzerte Lieferwagen fahren bei den Geldautomaten vor. Die Post und die Banken sorgen vor. Bargeld, Bargeld, Bargeld. Cash. Bündelweise stapeln die Mitarbeiter Banknoten in die Schächte der Automaten. Zweihunderter, Hunderter, Fünfziger, Zwanziger. Randvoll. Hinter ihnen bewaffnetes Sicherheitspersonal.

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Vorbereitungshandlungen.

«Bewaffnet? Wo denkst du hin? Hast du noch immer nicht kapiert, worum es geht?» Sven fährt Jack an.

«Unauffällig wollen wir sein, un-auf-fäl-lig, verstehst du?»

Jack murmelt ein «Ja» und «War bloss eine Idee, ich meine ja nur». Sven krault seinen kurzen Bart und verdreht die Augen. Womit hat er das verdient? Warum hat er sich ausgerechnet mit diesem Idioten zusammengetan? Immerhin, die anderen sind weniger beschränkt. Die sind schnell und können anpacken. Jack, der blonde Muskelmann, das muss er ihm allerdings zugutehalten, kennt ein paar nützliche Leute. Um die Ware schnell zu Geld zu machen. Alles behalten kannst du ja nicht. Was willst du mit einem zweiten und dritten Flachbildfernseher? Bei diesem Gedanken lächelt er.

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Es ist November. Ende November. Der Freitag nach Thanksgiving. Alles ist bereit. Alles.

VIER

Freude.

Gnadenlose Rabattschlacht. Ein dunkler Tag für hohe Preise. Er beginnt gemächlich. Morgens um 09:00 Uhr, wenn die Geschäfte im Stadtzentrum öffnen, erledigen die, die in der Stadt leben und arbeiten, schnell ihre Einkäufe, vor allem Lebensmittel in den Kaufhäusern der Innerstadt. Sie kommen früh, um nicht ins Gedränge zu geraten. Sie sind weg, bevor es losgeht.

Freitag, schwarzer Freitag, 26. November.

Ab 10:00 Uhr schwillt die Menge an. Aus den Vororten und aus dem grenznahen Ausland sind sie in die Stadt hereingefahren, haben geflucht über fehlende Parkplätze, aufs Lenkrad getrommelt und gewettert über den Autoverkehr, der sich mehr und mehr verzähflüssigt, das Auto ins kostenpflichtige Parkhaus gestellt, sich aufgeregt über die Gebühren, über die Wartezeit aufs Tram und dass der Automat den Fünfliber erst beim zweiten, nein, beim dritten Mal schluckt, sich aufgeregt über die zahlreichen Menschen, die aus dem Bahnhof quellen und die Trams Nummer 1, 2, 8, 10 und 11, die Richtung Innerstadt fahren, allmählich vollstopfen, als wär’s hier Tokyo light.

Überall stehen die anderen herum und versperren den Weg.

Überall ein Brummen und Surren, Autotüren, die ins Schloss fallen, Menschen, die aussteigen, Väter, die den Autoschlüssel wegstecken und sich vergewissern, dass das Portemonnaie in der einen Gesässtasche steckt und das Handy in der anderen. Heute werden Überstunden abgebummelt und Jokertage eingezogen.

«Ich muss noch kurz Geld ziehen», sagen die Väter und stampfen zum Automaten davon. Frau und Kinder hinterher. Dabei könnten sie elektronisch zahlen, aber es geht ums Prinzip: Die Familie soll sehen, woher das Geld kommt: Vati hebt’s von seinem Konto ab, Vati holt’s eigenhändig aus dem Geldautomaten, steckt es ein, und Vati zieht es später wieder aus seiner Tasche.

«Ihr bekommt nachher Marroni», sagt Mommy, weil sich die beiden Kinder erwartungsgemäss in die Haare geraten, «sofern ihr sofort aufhört zu streiten.»

Blutdruck, Vorsicht.

Die Leute strömen in die Läden, haben sich, wenn sie versierte Konsumpaarungen sind, bereits zu Hause proaktiv verständigt, was sie wo holen wollen, wo sie was kaufen wollen, welche Route sinnvoll ist. Und einfach mal sehen, was im Angebot ist.

10 Prozent auf alles, 20 Prozent auf alles, 30 Prozent auf alles und bei Schleuderware, die extra für heute herangekarrt wurde, noch mehr Rabatt. Die Preise rumpeln heute ins Tal. Das ist versprochen, das wird so sein.

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Sicherheit.

Waaghof, 1995 erbaut, Untersuchungsgefängnis, Sitz der Staatsanwaltschaft mit dem Kriminalkommissariat. Wir sagen oft «Kriko». Sie wissen es, wir haben ihn gestern bereits an der Arbeit beobachtet: Kriminalkommissär Müller Benedikt (49) und seine Equipe arbeiten hier.

Freitagmorgen, ist etwas passiert? Womit beschäftigt sich die Kriminalpolizei an einem solchen Tag? Rapport um 07:30 Uhr, Verteilung der Aufgaben, weiterarbeiten.

Zum Beispiel: Klärung einer Tätlichkeit vom Vorabend im Büro eines international tätigen Konzerns. Mitarbeiter Serge Menotti (59) hat seinen Kollegen Gabriel Jones (42) mit einem Faustschlag k. o. geschlagen und nennt als Grund, dieser habe ihn durch die wiederholte Nennung des Wortes «benchmark» derart provoziert, dass ihm die Sicherungen durchgebrannt seien. Der Beschuldigte ist bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und geständig.

Ein weiterer aktueller Fall: In den letzten Tagen hat die Müllermannschaft vier Personen festgenommen, die das «kontaktlose Bezahlen» zu ihren Gunsten ausgenutzt haben. O technischer Fortschritt, o Heil der Digitalisierung, du segnest uns damit, dass es an immer mehr Kassen nicht mehr notwendig ist, die Chipkarte in ein Lesegerät einzuführen, um durch Eingabe des PIN-Codes eine Identifikation zu ermöglichen und danach den Zahlungsvorgang auszulösen. Nein, «It’s enough» (Depeche Mode), es genügt, die Plastikkarte an das Lesegerät zu halten – und das Geld ist weg, per WLAN, WiFi oder sonst ein heilig Dingeling direkt und elektronisch an ein Datenverarbeitungszentrum verschickt, das die Abrechnung vornimmt. Wie bequem, könnte man meinen, gedacht für den schnellen Einkauf von kleinen Dingen, da limitiert auf 40 Franken.

Die vier festgenommenen Personen verschiedener Nationalität haben nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen ein Gerät entwickelt oder zumindest eingesetzt, das RFID-Chipkarten auf eine grössere Entfernung erfassen und lesen kann – und Beträge ohne dein Zutun und Wissen von den betreffenden Konten abbuchen. Fr. 34.90 da, 19.65 dort, an einem stark frequentierten Ort wie dem Centralbahnplatz kommt schon einiges zusammen.

Die Tests, bis zu welcher Entfernung das fragliche Gerät Abbuchungen vornehmen kann, hat die Kriminaltechnische Abteilung unter der Leitung von Roland Cattaneo noch nicht abgeschlossen. Eines dieser Lesegeräte konnte das Kriminalkommissariat Basel-Stadt unter der Leitung von Kriminalkommissär Müller Benedikt – und unter höherer Leitung des Leitenden Staatsanwalts Thomas Krähenmann und unter noch höherer Leitung des Ersten Staatsanwalts Daniel Stickelberger – sicherstellen. Präzis gesagt: Sichergestellt haben es zwei Sicherheitspolizisten, die von einer Passantin darauf hingewiesen wurden, dass unbekannte Personen sich an einem öffentlichen Abfalleimer auf einem Perron der Tramhaltestelle Centralbahnplatz zu schaffen machten. Personen, die nicht aussahen, als hätten sie es nötig, sich an einem Abfalleimer Typ «Hai» zu schaffen zu machen. Weisst du nie, ob sie dort eine Bombe platzieren wollen oder was. Ergo → Untersuchung Abfalleimer → Fund: Gerät.

Und dieses unbekannte Lesegerät, das mit elektromagnetischen Wellen operiert, das die Kriminaltechnische Abteilung nun intensiv untersucht, haben der Müller und sein Team – der Einfall kam von Detektivwachtmeisterin Gülay Sermeter – in Verbindung gebracht mit zwei Anzeigen über unerklärliche Abbuchungen kleinerer Beträge von einem Post- und einem Bankkonto. Die zwei Geschädigten stellten den Müllerteammitgliedern Romina Wäckerlin und Markus Gormann ihre Kontoauszüge zur Verfügung und sagten aus, sie hätten sich zunächst geniert, wegen dieser Beträge – insgesamt acht verdächtige Abbuchungen über total Fr. 283.60 – überhaupt die Polizei zu bemühen, doch es gehe ums Prinzip, und es sei ihnen ein Rätsel, wie und wohin diese Beträge von ihren Konten verschwunden seien. Eine minutiöse Rekonstruktion der Laufwege der Geschädigten im Zeitraum der Abbuchungen durch Rolf Vetter, Freddy Dominguez und Romina Wäckerlin ergab Überschneidungen im Bereich Centralbahnplatz. Zudem, eben, Hinweis auf Manipulation am «Hai» beim Bahnhof → Observation → Zugriff → Untersuchungshaft → Beweisaufnahme und Befragungen.

Wie ging das genau? Wer an jenem Abfalleimer vorbeispazierte oder in seiner Nähe aufs Tram wartete, dem las das Lesegerät automatisch die Daten von der Chipkarte, stellte die Verbindung zum Datenverarbeitungszentrum her und zog ihm kontaktlos das Geld aus der Tasche.

Und warum nur kleine Beträge? a) die Limite von Fr. 40.-; b) damit die elektronisch und kontaktlos Bestohlenen nicht gleich stutzig würden. Damit das kriminelle Lesegerät möglichst lange im Einsatz stehen könnte. Und Kleinvieh macht auch Mist, mathematisch ausgedrückt … nur als Beispiel … 230 x Fr. 38.- > 2 x Fr. 1’000.-

Und die Frage nach allfälligen Hintermännern.

Die beiden Anzeigeerstatterinnen irritierte nach Kontrolle ihrer Kontoauszüge besonders: Warum ging ihr Geld an eine ihnen unbekannte Firma auf diesen britischen inseln, which cannot be named for legal reasons?

Der Leitende Staatsanwalt Thomas Krähenmann regte an, die Medien summarisch über diesen Fall zu informieren und die Bürgerinnen und Bürger dazu aufzurufen, ihre Kontoauszüge besonders kritisch zu überprüfen beziehungsweise verdächtige Abbuchungen zur Anzeige zu bringen. Worauf sich bis dato dreiundzwanzig weitere Geschädigte gemeldet haben. «Oh Yeah» (Yello): Für das Müllerteam bedeutet das: jeden einzelnen Deliktbetrag abzuklären, die Wege der Opfer zu den betreffenden Zeitpunkten zu rekonstruieren, um die Transaktionen zweifelsfrei diesem Gerät respektive den Personen, die es installiert haben, zuordnen zu können.

Um die internationale Rechtshilfe kümmert sich Krähenmann, der Leitende Staatsanwalt, der der Chef vom Müller ist, der der Chef von Sermeter, Wäckerlin, Gormann, Vetter und Dominguez ist, die in den letzten Tagen wirklich so was von Arbeitsstunden in diesen Fall investiert haben. Unterstützt werden sie von Aspirantin Werner und Aspirant Blaser.

Wenn sich in der Stadt, die du schützt und der du dienst, der Courant normal vom Wahnsinn nicht mehr allzu deutlich unterscheidet, musst du dich ab und zu in dein Einzelbüro zurückziehen. Das denkt und tut der Müller: die Arbeit hinterfragen und strukturieren, Übersicht gewinnen, dem Chef berichten, Befragungen planen, Fakten ordnen, Anweisungen geben, Ermittlungsansätze prüfen, die Ideen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reflektieren.

Das Team, ja, das Team:

Gülay Sermeter (35), die schwarzäugige und -haarige Detektivwachtmeisterin mit der kleinen Zahnlücke rechts oben zwischen Schneide- und Eckzahn, engste Mitarbeiterin des Kriminalkommissärs, aufgewachsen in Pratteln. Sermeters ausserkantonale Vorortsherkunft versucht der glatzköpfige, leicht übergewichtige Rolf Vetter (62), «lieber kahl als tätowiert» (Selbstbeschreibung), Detektivkorporal und Berufsstadtbasler, gelegentlich argumentativ einzusetzen, um sich im sozialen Gefüge des Müllerteams zu behaupten. Dabei unterstützt ihn gerne Detektivin Romina Wäckerlin (33), deren Walkürenwesen in der Standardformel gipfelt: «So, machen Sie Ordnung in Ihrem Leben, erzählen Sie uns alles, sofort!» Ausserdem in der Müllermannschaft: Markus Gormann (39), Detektivkorporal, klein, dunkelhaarig, griechische Nase, ursprünglich aus Schaffhausen. Er ist der Stille des Müllerteams, kennt aber die Musikclubs und frisch eröffneten Lokale der Stadt Basel bestens, ohne dass man dies seiner Leber ansähe. Diese vier hat der Müller im Amt vorgefunden, als er im Juli seine Stelle in der neuen Stadt antrat.