Müller und die Schützenmatte - Raphael Zehnder - E-Book

Müller und die Schützenmatte E-Book

Raphael Zehnder

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Beschreibung

Die Fußballstadt Basel in Aufruhr. Mit einem kläglichen Rückstand geht der Sportclub Basel in die Winterpause – ohne Trainer Andersen, denn von dem fehlt jede Spur. Müller und sein Team übernehmen den Fall. Haben Fanatiker Andersen aus dem Verkehr gezogen? Was hat es mit der unbekannten Frau auf sich, mit der er zuletzt gesehen wurde? Und wie passt der namlose Tote aus dem Kembser Wasserkraftwerk ins Spiel? Müller Benedikt muss am Ball bleiben, um nicht ins Abseits zu geraten.

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Raphael Zehnder wurde 1963 in BadenAG (Schweiz) geboren, lebte achtzehn Jahre im Aargau, sechsundzwanzig Jahre in der Stadt Zürich und wohnt mit seiner Familie seit 2008 in Basel. Er verdiente sein Geld als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, studierte Französisch und Latein und promovierte in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF, ist Miterfinder der Zürcher Kriminalnacht im Theater Rigiblick in Zürich und Autor von acht Kriminalromanen um den Polizeimann Müller Benedikt. Bei Emons ebenfalls erschienen: der Fotoband «Zürich in den 1970er Jahren».   Folgen Sie @MllerBenedikt1 auf Twitter. Und @BucherManfred

Alles in diesem Buch ist ganz und gar erfunden. Keine Person oder Institution, deren Name in diesem Text dem Namen einer realen juristischen oder natürlichen Person ähnelt oder entspricht, hat mit dieser auch nur das Geringste gemein. Insbesondere entspricht der hier beschriebene fiktive Sportclub Basel nicht dem FCBasel 1893. Dass der Autor den Sportclub Basel im Stadion Schützenmatte angesiedelt hat, bedeutet keinesfalls einen unfreundlichen Akt gegenüber dem BSC

©2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Fotosr52

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-750-7

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmässig über Neues von emons:

Für Annette, Julius und Vinzenz:

Zum Schluss bleibt die Polizei immer Sieger,

wussten Sie das nicht?

Spirou+ Fantasio: «Aktion Nashorn»

Ich? Wir!

Muhammad Ali

Nimm den goldenen Ring von mir,

dam-dam, dam-dam

Bist du traurig, dann sagt er dir,

dam-dam, dam-dam

Lorem ipsum dolor sit amet, considitur sadipiscing elitur, sed diam nonnumquam eiusmodi temporibus invidunt… Ignoscite mihi, quaeso, ea facete dicta mea. Dici quod risum subrisumque quasi semper in mente habeo. Libenter adiungam quod Jeremias scripsit: «State super vias et videte et interrogate de viis antiquis quae sit bona et ambulate in ea et invenietis refrigerium animabus vestris.»

Dramatis personae sunt:

Müller Benedikt(50), Kriminalkommissär, Basel-Stadt, privat: 4054 Basel

Ut ille legis causam defendunt:

Blaser Xerxes(23), Aspirant, Kantonspolizei Basel-Stadt

Cattaneo Roland(40), Kriminaltechniker, Kantonspolizei Basel-Stadt

Dominguez Freddie(27), Detektiv, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, privat: 4123 Allschwil

Gormann Markus(40), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt

Krähenmann Thomas(46), Leitender Staatsanwalt, Basel-Stadt, privat: 4102 Binningen

Metzger Adrian(37), Wachtmeister mbA, Kantonspolizei Basel-Stadt

Sermeter Gülay(36), Detektivwachtmeisterin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, privat: 4057 Basel

Stickelberger Daniel(46), Dr.iur., Erster Staatsanwalt, Basel-Stadt, privat: 4411 Seltisberg

Wäckerlin Romina(34), Detektivin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, privat: 4402 Frenkendorf

Werner Gloria(24), Aspirantin, Kantonspolizei Basel-Stadt

Audiatur et altera pars:

Andersen Torben(49), Trainer des Sportclubs Basel, Super League, 4051 Basel

Augsburger Robert «Robi»(42), Dr.iur. et oec., Vorsteher des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons Basel-Stadt, privat: 40 Basel

Baumann Holger(42), Assistenztrainer SCBasel, D-79540 Lörrach-Stetten

Bürgin Ruedi(53), Unternehmer, Vizepräsident des SCBasel, privat: 4148 Pfeffingen

Dupovac Vlado(36), Assistenztrainer SCBasel, 4053 Basel

Gassmann Marky(43), Freiberufler, 4053 Basel

Gattiker HugoJ.(53), Unternehmer, Postfach, 6301 Zug, privat: 6403 KüssnachtSZ

Henggeler Benno(45), Dr.iur., Rechtsanwalt, privat: Postfach, 6301 Zug

Jornod Samuel(47), lic.iur., Präsident des SCBasel, Unternehmer, privat: 4103 Bottmingen

Jüngling Paulina(38), Consultant, 4052 Basel

Meierhofer Alwin(45), Schreinermeister, 4142 Münchenstein

Müller Doris(46), Schwester von Müller, Gesundheitsfachfrau, 4054 Basel

Oberholzer Marcel(33), Marketing Import/Export, 4053 Basel

Putzi Désirée(42), lic.iur., Rechtsanwältin, Stingelin Voegelin Law, 4052 Basel

Rossi Francesca(34), Sachbearbeiterin, 4053 Basel

Sermeter Céline(11) und Murat

EINS

Ärger.

«Das war jetzt aber wirklich gar nichts… gestern Nachmittag», seufzt Freddie Dominguez an diesem Montagmorgen, 7.Dezember, bei Arbeitsantritt im Waaghof. Sitzungszimmer S207. Er tritt zu Müller und Gormann, fast grusslos, und lässt seinen Frust galoppieren.

«Wissen die nicht, wo das Tor steht, oder? Angsthasenfussball! Kein Pass kommt an, von der Offsideregel haben die keine Ahnung, im Mittelfeld stehen sie einander auf den Füssen rum… und die Aufstellung: Welcher Trainer… ich frage euch: Welcher Trainer stellt bei einem Heimspiel gegen einen Mittelfeldclub bloss einen einzigen Stürmer auf? Hä? Die wollen vorne mitspielen? Einen Europa-League-Platz erreichen? Und dann dieser Südamerikaner! Der trifft keinen Ball, keinen! Kein Wunder, dass…»

Eine Tirade ist es, die Freddie Dominguez loslässt. Freddie, getauft auf Alfred Mauchle, der seit der Heirat mit Rosa aus 4123 Allschwil Dominguez heisst, ist genetisch ein überzeugter Zürcher. Doch allmählich scheint Polizeidetektiv Dominguez zum Superbasler zu werden. Vielleicht, um seinen Dialekt– Schlieren, ich sage nur: 8952 Schlieren– zu kompensieren. Und das-ie in Freddie hat er sich von Schwarzenegger Arnie abgeschaut.

Im Stadion war die Leistung des SCBasel gestern tatsächlich suboptimal. 0:1 verloren… gegen dieses Lugano, das bisher eine Grottensaison spielt. Während der Stadtrivale FCBasel 1893, quasi der grosse Bruder, souverän 4:0 gespielt hat gegen einen Gegner, dessen Namen ich nicht nenne, um dessen Anhängern nicht Pulver in die Wunde zu streuen.

Der SC also hyperunterirdisch. Egal. Bei einem Ausbruch wie dem eben von Freddie Dominguez denkst du dir nichts weiter, als Arbeitskollege, als Kriminalkommissär Müller, als Chef. Weil das Allerbeste am Fussball ist, dass jeder es besser weiss und könnte als die zweiundzwanzig schlappen Nüsse unten auf dem Rasen und die sechs oder neuerdings zehn Möchtegerne, die erst später eingewechselt werden können, weil ihre Puste für ein ganzes Spiel nicht reicht. Weicheier. Motorisch beschränkt sind sie ohnehin, hüftsteif und pomadig und solche Wörter. Klar, wer ausser für den Sport bloss für Tätowierungen, Frisuren, SUVs, Spielkonsolen, Wellnesszonen und Blondinen brennt, kann ja nichts auf die Reihe kriegen, sagt Freddie Dominguez, selbst ein heftig kräftiger Fitnessstudiostammgast.

«Einfach asymptotisch», ereifert sich Freddie Dominguez.

«Aber voll», stimmt ihm Romina Wäckerlin zu, die beim Eintreten den Schluss von Freddies Suada gehört und sich an den Tisch im Sitzungszimmer gesetzt hat. «In der 88.Minute so eine faule Kiste kassieren. Bei einem Heimspiel!»

Kurzer Einschub, mit Verlaub: Fussball kann im Stadion unter Umständen durchaus viel Spass machen und auf dem Kunstrasen der Schützenmatte beim Selberkicken mit den beiden Neffen– der Müller gelegentlich mit Noah(12) und Maurice(13)– erst recht. Gäbe es nicht all die Männer, die den Fussball und sich so ernst nehmen und ansonsten ein eher inhaltloses Leben haben, dass ihnen dieser Sport zur Religion wird und zum Vorwand, Unbeteiligte anzugreifen oder sich, bis zur Unempfindlichkeit mit Schmerzmitteln vollgepumpt, mit Gesinnungsgenossen anderer Vereinsfarben zu klopfen. Dienstlich haben wir bis zum Abwinken mit dieser Klientel zu tun. Unsere Familien sehen uns am Wochenende selten, weil– eben– Heimspiele, Auswärtsspiele, Durchsetzung von Sondermassnahmen, aber auch Kulturanlässe und Demonstrationen plus die übliche Kriminalität. Summa summarum: das Einerseits-Andererseits von Sinn, Schwachsinn, Unsinn und Wahnsinn. Und als Krone des Ganzen eben noch der Fussball.

Auch diese Stadt lebt nach der müllerschen Drei-i-Regel: «Irgendwas ist immer.»

Freddie drosselt den Motor nicht. «Saumässig!», fügt er bei, «für so einen Grottenkick friert man sich den Ranzen ab. Zum Glück ist jetzt Winterpause.» Dann Vollbremsung, geistige, er setzt sich an den Tisch in S207, weil Kriminalkommissär Müller Benedikt schon so schaut. Wie schaut? Erwartungsvoll in die Runde. Runde ist es, weil sich ausser dem Chef selbst, Romina Wäckerlin, Freddie und Markus Gormann unterdessen Gülay Sermeter, Aspirantin Werner und Aspirant Blaser ebenfalls auf den Stahlrohrstühlen niedergelassen haben.

«Guten Morgen miteinander», beginnt der Müller, «dass nicht alle von euch ein ruhiges Wochenende hatten, weiss ich…», er blickt zu Wäckerlin und Gormann, die am Sonntagmorgen mit einer Messerstecherei im Bahnhof SBB beschäftigt waren, «…nun zu den Aufgaben, die heute anstehen.»

Wenn du nichts Kapitales, Grosses, Letales hast als Polizist– beide sahen Grün, behaupten sie– gingen physisch aufeinander los. Art.123 StGB (einfache Körperverletzung) oder Art.126 (Tätlichkeit)? Sie haben sich geklopft wie Trickfilmfiguren. Festgehalten und Identität abgeklärt durch die Sicherheitspolizei, vor Ort befragt durch Detektivwachtmeisterin Gülay Sermeter und Detektiv Freddie Dominguez. Protokoll des Vorfalls von beiden Beteiligten und sogar einem Zeugen unterschrieben.

Unweit davon, im Bachlettenquartier– Ecke Oberwilerstrasse/Schweizergasse– hat in der Nacht mutmasslich ein Wildschwein mehrere Fahrzeuge beschädigt. Ein Anwohner hat das Eindringen der Wildnis in die Ordnung der Zivilisation beobachtet und verschwommen fotografiert. Befragung und Schadenaufnahme durch Detektivin Romina Wäckerlin, die Sie sich, falls Sie sie noch nie getroffen haben, vorstellen können wie eine athletischere und jüngere Ausgabe einer nicht gewählten französischen Präsidentschaftskandidatin, deren Gesinnung sich nicht mit der vom Müller deckt. Mit auf Wildschweinfahndung: Markus Gormann, Detektivkorporal mit Herkunftsort Schaffhausen, an seiner griechischen Nase erkennbar und intern bekannt dafür, dass er allein vierhändig Klavier spielen kann.

Gleich anschliessend müssen die Kollegin und der Kollege weiter, im Langen Loh die Sicherheitspolizei bei einer Reihe von Einbrüchen unterstützen. Die niedrigen Häuserreihen dort sind beidseits der schnurgeraden Strasse so hübsch aufgereiht und werktags tagsüber so beschaulich und verlassen, dass eine handwerklich begabte, tatkräftige und ortskundige Equipe gleich serienmässig abräumen kann. Leider triffst du meist erst hinterher ein. Du kannst die Anwohnerinnen und Anwohner beruhigen und leider etwas frustrieren, weil die Aufklärungsquote von Einbrüchen… die Aufklärungsqu… die willst du in der Kriminalstatistik nicht nachschlagen, weil sie dich persönlich kränkt.

Zwischendurch Handreichung zugunsten der Abteilung Cybercrime und Wirtschaftsdelikte: Sicherstellung sämtlicher elektronischer Speichermedien einer Finanzberatungsfirma an der Schützenmattstrasse. Plus: Vom Neuweilerplatz in 4054 meldet die Leiterin der Filiale eines grossen Lebensmittelhändlers Taschendiebstahlaktivität, was intensivere Präventions- und Observationstätigkeit erfordert. Dazu sind Aspirantin Gloria Werner und Aspirant Xerxes Blaser abkommandiert, in Zivil, wie es dem Zweck des Auftrags entspricht. Als Kollateralbenefiz fangen sie sogar einen herrenlosen Hund ein, einen niedlichen Labrador namens Topsy, mit schwarz glänzendem Fell und treuen Augen. Er leckt Gloria die Hand ab, war entlaufen und kann der überglücklichen Besitzerin in den Ziegelhöfen zurückgegeben werden. So kommen Gloria und Xerxes sogar zu einem Kaffee, offeriert von dieser erfreuten Einwohnerin des Neubad-Quartiers.

Ja, solches machen wir auch: Wir helfen.

Und Rolf Vetter? Der Dicke mit der Glatze und Lebensweisheiten wie «Lieber dick als tätowiert» oder «Lieber dick als vorbestraft» oder «Lieber dick als ein Zürcher»? Was ist mit ihm, werden Sie fragen, wenn Sie die zwei bisherigen Müllerbaselbücher gelesen haben, das vom ermordeten 19-jährigen Nationalratssohn Paul Flückiger und das vom Rabattwahnsinn nebst Philosophentragödie in der Freien Strasse. Vetter? Ja, der Kollege hat sich frühpensionieren lassen. Ermittlungstechnisch fehlt er, klar. Mit einem Mann weniger dieselbe Arbeit zu erledigen, das bringt das Müllerteam gelegentlich ans Limit. Zwei Gründe, laut Dr.iur. Daniel Stickelberger, dem Ersten Staatsanwalt, führen dazu, dass Vetter «vorerst» (sagt Stickelberger, der Chef des Chefs von Müller) nicht ersetzt wird: a)Polizeibudget im Grossen Rat unter Druck; b)sinkende Fallzahlen, rückläufige Zahlen in der Kriminalstatistik. Kannst du gut und gerne mit Grenznähe und Kriminaltourismus und kurzen Fluchtwegen und dann bye-bye argumentieren. Davon verstehen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, «die… Mehrheit von ihnen» (Stickelberger), so viel wie von Imkerei oder Entyomologie oder wie das mit den Insekten heisst. Detektivkorporal i.R. Rolf Vetter dürfte nun in seinem Quartier– 4058 Hirzbrunnen– seinem Parteikollegen ohne disziplinarisch unangebrachte Gegenleistung beim Pneuwechseln oder Kettenmontieren helfen, statt ihm irgendeinen Gefallen abzuverlangen, der in die Polizeiarbeit hineinfunkt. Im Waaghof schwebt als Rolf Vetters Vermächtnis noch immer ein Flachwitz: «Was ist das Gegenteil von ‹Erdteil›?»– «Inkontinent.»

Ja, Vetter hat’s gut, der ist vorzeitig in Rente gegangen.

Wobei, denkt der Müller, wenn du am Tropf der 3.Säule hängst, nur eine reduzierte Rente ausbezahlt bekommst, deine Ersparnisse verzehrst und auf die AHV wartest, bist du raus aus der Arbeitswelt. Was machst du dann, wenn du mitten in der Nacht aufwachst und dich der Schlaf nicht mehr findet? Was tust du tagein, tagaus überhaupt, wenn du den Polizeiausweis abgegeben hast? Kannst du etwas anderes sein als ein Ex-Bulle, der nicht aus seiner Haut kann: beobachten, schauen, abschätzen, eingreifen? Was für ein Leben ist ein Leben ohne Funktion? Etwas ins Sinnieren gerät der Müller wegen seiner eigenen Work-Work-Balance und rutscht unruhig in seiner Psyche umher. Weil Müller§,§ und nochmals§ und StGB und StPO und zwischendurch, immerhin, in halb erschöpftem Zustand eine Prise Privatleben.

Das alte Polizistenproblem. Fortuna dreht an ihrem Rad, mal dreht sie’s hoch, mal hinunter, bald schneller, bald rückwärts, bald unrund. Für dich und dein Leben bedeutet das: Du wirst a)arbeitssüchtig, b)alkoholsüchtig, c)zynisch, d)depressiv oder e)ein bisschen ein Grübler.

Auf den Müller treffen a)und e)zu. Kann ich Ihnen versichern, ich kenne ihn einige Jahre.

«Um zu ertragen, was anderen zustösst, sind wir allemal stark genug.» (La Rochefoucauld).

Diese Minute, während der Müller Benedikt in seinem Einzelbüro im dritten Stock des Waaghofs nur dasitzt, ist führungstechnisch zwiespältig: Einerseits sollst du als Kriminalkommissär, also Chef, als Mensch erscheinen, authentisch, mit äh Gefühlen und offenem Ohr; andererseits immer, jawoll, Führungsstärke zeigen, der Boss sein und alles im Griff haben. Ähm ja, «alles im Griff» kannst du sowieso voll vergessen, weil schau einmal zum Fenster hinaus und hör die Nachrichten an. Dann weisst du, was es geschlagen hat: rund um die Uhr Arbeit für die Polizei.

Zum Beispiel das:

Hinter dem Kunstmuseum liegt der Picassoplatz. Dessen Namen kennt niemand, weil niemand je jemanden besuchen könnte, der dort wohnt. Weil dort keiner wohnt, der sagen könnte «gleich am Picassoplatz». Einzig Bürohäuser und Bürohäuser. Okay, ein Pub steht dort auch, aber eben vor allem Bürogebäude, eines neben dem anderen, und ein ästhetisches… nun… Urteil darüber will ich nicht brechen. Schwamm drüber, einatmen, sooo, stellen wir uns einfach vor, auch in dieser Gegend wäre es marvellous, malenswert oder zumindest lebendig und inspiriert durch das Gefühl, das der japanische Zauberer Itoh Kata, Shotaro Ishinomori zitierend, in Band 20 der Reihe «Spirou+ Fantasio» («Zauberei in der Abtei») beschreibt: «Wenn du auf deinem Wege stets Lachen und Freude verbreitet hast, so hast du richtig gelebt.» Imagine, es wäre wirklich so.

Aber… hier setzen verzerrte elektrische Gitarren ein, du denkst, Godzilla schleicht sich an und bespritzt dich, sein «taedium vitae» ausspeiend, mit gallig ätzender Magensäure… in der Realität steht vor einer Geschäftsliegenschaft, die unter anderem die Räumlichkeiten der Immobilienverwaltungsgesellschaft AG beherbergt, ein Mann Mitte vierzig und ruft etwas. Er deklamiert und gestikuliert wie der Vogel Gryff, wenn ihm Ameisen den Buckel hinunterkrabbeln. Auf Zürichdeutsch motzt und mosert er drauflos, nennt die Immobilienwirtschafter und -innen «verlogeni Sieche, wo no nie gschaffet händ», «fuuli Tuble» und «gäldgierigi Parasite». Er erinnert den Müller an etwas… nicht an die weltweit einzigartigste Stadt mit zwölf Stadtkreisen am Fuss des Uetlibergs, sondern an die Praxis von Andreas Borowski, seinem Psychotherapeuten beim Rigiplatz in Zurigo, den er nach jener Geschichte, der unglücklichen, mit der Schusswaffe, dem «Vorfall», wie er ihn bei sich nennt, regelmässig aufgesucht hat, um das Erlebnis zu verarbei… dort! Ja, dort, im Hauseingang von Borowski hat er den Mann gekreuzt, der beim Picassoplatz die Wolken vom Himmel herunterkratzt. Der kam bestimmt von Borowski. Ein armer Teufel wie… ich… damals, denkt der Müller.

Avisiert hat die Polizei ein Mitarbeiter der genannten Immobilienverwaltungsfirma, die einer Pensionskasse gehört, die zur Deckung der Verwaltungskosten und zur Anlage des Vorsorgekapitals der Versicherten Häuser aufkauft, dann die Bewohner rauswirft, die Liegenschaften renoviert und die Wohnungszinsen gegenüber vorher um den Faktorx erhöht und neu vermietet. Die bisherigen Mieter dürften wieder einziehen, keine Frage, sie kriegen von der AG ein Angebot. Das aber gopfertori nicht zum Haushaltsbudget passt, also kommen doppelverdienende Expats rein, denen das egal ist, weil sie in den Konzernhäuserklötzen genug verdienen.

Tendenziöse Aussagen das alles? Antihausbesitzerpolemik? Klassenkampf? Vollsozialistischer Kommunismus gar? Hä?

Wir fassen lediglich sinngemäss zusammen, was der Mann vor dem Bürohaus beim Picassoplatz ruft und schreit. Der erwähnte Mitarbeiter der Firma hat deswegen die Polizei gerufen und den gerade vom Neuweilerplatz und dem Labradorhund Topsy zurückgekehrten Aspiranten Xerxes Blaser am Apparat gehabt. Als der Müller davon hört, fährt er selbst mit Blaser hin, um aus dem Büro rauszukommen. Die Luft im Waaghof, ehrlich, im Sommer heiss und stickig, im Winter staubtrocken oder zugig, je nach aktueller Störung des Heizungssystems.

Nicht mal so absurd, findet der Müller, als er dem Mann zwei, drei Minuten zugehört hat, wie er salbadert, wenn auch störend für die Autos, die hier durchfahren, um sich am Aeschenplatz zu verknoten.

Musst du ihn mitnehmen oder zumindest zur Ruhe ermahnen und von diesem Ort entfernen. Minimalprozedere: Du führst eine Personenkontrolle durch: Haag Oswin(46). Seltener Vorname, aber nicht vorbestraft. Überprüfst du mittels Anruf in der Zentrale. Wohnt an der Wettsteinallee, fast schon beim Landhof hinten. Keinerlei Vorgänge registriert. Gibt an, als kaufmännischer Mitarbeiter eines mittelständischen Unternehmens zu arbeiten. Überprüfst du, indem du dort anrufst, dich bloss als «Müller» meldest, nach ihm fragst und die Auskunft erhältst, dass Herr Haag erst tags darauf, sehr wahrscheinlich, wieder im Büro erscheinen werde, worum es denn gehe?

Haag ist ausser sich, erzählt dem Müller davon, dass früher in der Schweiz gearbeitet worden sei, gearbeitet, ja: gearbeitet, exakt und zuverlässig, aber dass heute Leute wie die von dieser «ssverwaltung» nur noch ich weiss nicht was sie täten, jedenfalls nie zurückrufen und nur mit drei Tagen Verzögerung auf Mitteilungen reagieren, die er ihnen über «diese App» (voller Ekel ausgesprochen) habe zukommen lassen, etwa, dass die Zentralheizung wieder einen Schwächeanfall erlitten hat. Du frierst dir den hmhmhm ab, bis die endlich den Monteur bestellen. Vor lauter Nägelfeilen und Autoschlüsselpolieren… keine Zeit zum Arbeiten, die faulen… diese… ernst nehmen? Vergiss es. Im Haus… eine Sauerei wegen der Mieter, die in den letzten zwei, drei Jahren eingezogen sind.

Der hat eine Energie drauf, dieser Haag, könnte glatt in die Kommunikation wechseln.

Wem vermieten die diese Wohnungen? Idioten, die kein Licht löschen können, in der Waschmaschine, «das glauben Sie nicht», Speisereste hinterlassen, vermutlich ein beschmutztes Tischtuch einfach reingeschmissen, ohne es zuvor im Lavabo auszuspülen, den Waschplan nicht kapieren, weil voll und ganz strunz. Und Getränkedosen und Kaugummipapierchen, ja Kaugummis, schwarze Klebemasse selbst im Hauseingang, auf dem Trottoir vor dem Haus. Aus dem Abfallsack rinnt eine braune Sauce, die stinkt. Oswin Haag bezweifelt, dass es Kaffee war. Der Verursacher, dieser Schweineigel, putzt seinen verdammten Dreck nicht weg. Gab’s alles vorher nicht.

Was kommt jetzt noch als Gegenwartsdiagnose?

Keiner wechselt heutzutage im Lift die kaputte Glühbirne. Ausser er, Oswin Haag. Die vom zweiten Stock grölen morgens 00:40Uhr lauthals und kakofonisch Lieder, eine Männer-WG in einem Haus mit Familien! Und wenn er hinuntergeht, um zu reklamieren, muss er dreimal klingeln, weil die so zugedröhnt und besoffen sind, die vier Mieter, dass sie das Schellen durch den Cannabisqualm und die Promille hindurch nicht kapieren. Als einer doch endlich die Tür öffnet, faselt der, er sei «da nicht involviert», während die anderen im Nebenraum weiter jeglicher Harmonielehre beide Ohren abgrölen. Glaubst du ja selbst nicht. Hast im Zimmer nebenan geschlafen, während die Hippopotamusse Lieder und Bierdosen und Bongs massakrieren? Warum bist du denn angezogen? Genau solchen Leuten vermietet die Verwaltung die Wohnungen. Vielleicht, weil sie die anderen Mieter vergraulen wollen, bis diese kündigen? Dann renovieren, Miete rauf, voilà. Die… faulen Kerlinnen der Verwaltung: tun nichts, hueresiech, kassieren nur und sind frech.

O-Ton mitten aus der Bevölkerung. Den erzählt Oswin Haag am Picassoplatz dem Kriminalkommissär und dem Aspiranten Xerxes Blaser. Die Schilderung hat Tempo. Sie brauchen nicht zu befürchten, hier würden per Arbeitszeitvernichtung fruchtlos Steuergelder verbrannt. Denn a)deeskalieren Müller und Blaser, b)dauert die Erzählung 10Minuten max., c)ist diese Taktik erfolgreich, denn der Klient beruhigt sich und gibt an, sich nun ins Café des Kunstmuseums begeben zu wollen, «um eine Latte zu trinken, wie die Leute das heute tun», und d)verplempert der Müller das Geld des Steuerzahlers nicht mit kumpelhaftem Wir-beide-bei-Borowski-erinnerst-du-dich-auch?, sondern verschweigt das absichtlich, weil Arztgeheimnis, Persönlichkeitsschutz→ und deshalb→ geradeaus zum Ziel, und e)ich sagte es bereits: Inhaltlich hat die Schilderung von Herrn Haag Hand und Bein, da könntest du einen Wahlflyer draus machen, falls du ein Politiker bist, dem die Menschen mehr am Herzen liegen als die Verwaltungsratsmandate und -entschädigungen und sonstigen Prinzipal- und Kollateralbenefize, die du als parlamentarischer Lobbyist einstreichen kannst.

Haag also davon→ Café Kunstmuseum. Müller und Blaser→nächster Job.

Wir sagten es: Irgendwas ist immer. Anders gesagt: analysieren– strukturieren– abstrahieren– disponieren.

***

Kälte.

Wird es dunkel, wird es Nacht, wird es in manchen Seelen und Gemütern erst recht finster. Nachts packt sie das Elend, würgt die Finsternis die verlorenen Existenzen, beuteln manche die unerfüllten Träume. Verschwundene oder «never» (Metallica; Shakespeare: «RichardII», Akt1, 2.Szene, Vers40) auch nur halbwegs mögliche Möglichkeiten drängen nach oben, und die brutale Einsamkeit schwillt auf.

20:26Uhr: Anruf einer Anwohnerin → Eine Streife fährt ins Kleinbasel, Offenburgerstrasse: «in einem Hauseingang ein halb nackter Mann, ich habe ihm ein Handtuch gegeben». So treffen ihn die Polizisten Novak und Petracca an. Der Mann sitzt am Boden, einigermassen windgeschützt, kalt ist es trotzdem.

«Guten Abend. Wie heissen Sie?», fragt Novak.

Keine Antwort.

«Wohnen Sie hier?», versucht er’s erneut.

Keine Antwort. Der Mann stiert sie nur an, rote Augen in tiefen Höhlen, das Handtuch einigermassen um den Körper geschlungen. Gegen vierzig, vielleicht auch jünger, aber von Promillen und Substanzen gezeichnet. Er schlottert.

Nochmals: «Wohnen Sie hier?»

Eine Kopfbewegung. War das ein Nicken?

Nochmals: «Wie heissen Sie?»

Der Mann greift mit der rechten Hand in seine Haare, halblang, vor nicht allzu langer Zeit geschnitten, und murmelt etwas.

«Ich verstehe Sie nicht», sagt Novak und wiederholt: «Wie ist Ihr Name?»

Die Antwort könnte Bracher, Becker, Bucher, Bacher, Pichler lauten, jedenfalls ein labialer Plosivlaut wie/b/ oder/p/ und ein gutturaler Frikativ wie– eben/ch/, was sich in phonetischer Schrift auch/x/ notieren lässt. Petracca vergleicht das Gehörte mit den Namen auf den acht, zwölf, sechzehn Klingelschildern. «Becher», liest er, greift zum Handy und ruft die Zentrale an: «Basilea 23 hier, Sven, hallo. Eine Personenüberprüfung: Becher ist der Name… Ja, Becher… Wir haben ihn halb nackt im Hauseingang Offenburgerstrasse angetroffen… Ja, ich warte…»

«Wo haben Sie Ihren Schlüssel?», fragt Novak– und nach einer Weile Nullreaktion: «Don’t you have akey? Do you understand me?»

Petracca hört unterdessen im Handy, dass strafrechtlich gegen den Mann nichts vorliegt, er aber schon wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit aufgefallen ist und zweimal eine Patrouille wegen Ruhestörung an diese Adresse ausrücken musste. «Danke», sagt Petracca zur Zentrale, «wir gehen jetzt ins Haus, um zu sehen, wie dort die Lage ist.»

Sie helfen dem Mann auf, dessen Vorname laut Zentrale Max ist. Petracca stützt ihn. Novak folgt ihnen. Alle drei langsam die Treppe in den ersten Stock hoch. Die mit «Becher» beschriftete Wohnungstür steht einen Spalt offen. Drin brennt Licht, Zigarettenrauch hängt im Treppenhaus, und drin brabbelt und jingelt halblaut ein Fernseher.

«Ist jemand in der Wohnung?», fragt Novak den Mann.

Keine Reaktion.

Novak klopft an die angelehnte Tür und assistiert Max Becher über die Schwelle. Im Eingangsbereich der Boden übersät mit Kleidungsstücken, Papierfetzen, Zigarettenstummeln und Asche. Petracca betritt die Wohnung ebenfalls und sieht sich um: Garderobe mit Jacken, nicht die billigste Ware, sauber aufgehängt, ein Familienfoto (älteres Paar in Schwarz-Weiss, gerahmt), links in der Küche am Kühlschrank Marienkäfermagnete mit Zetteln drunter, auf dem Spülbrett Lebensmittelverpackungen, teils aufgerissen und leer, im Spültrog schmutzige Teller, Besteck, drei, vier ausgetrunkene Flaschen, Bier, Wodka. Der Vorhang am Küchenfenster auf einer Seite aus der Aufhängung gerissen. Blick zurück in den Korridor: auf dem Boden Schuhe, ein Zigarettenstummel, Blätter einer Gratiszeitung, ein T-Shirt, ein Pullover. Kleines Badezimmer mit Dusche undWC, in der Kloschüssel ebenfalls Zigarettenasche und -kippen. Kein alter Siff, keine Kakerlakenlegionen unter den Gegenständen, die Novak mit dem Fuss wegschiebt. Sieht aus nach «Normalbetrieb trifft Quartalsabsturz». Rechts wohl das Wohnzimmer. Von hier schwafelt und dudelt der Fernseher: Gelächter, Stimmen, jemand ruft «Richtig!», Applaus, eine Show, und der Geruch nach Rauch verdichtet sich. Auf einem durchgesessenen Sofa mit Blumenmuster glimmt eine Zigarette vor sich hin. Novak und Petracca, den betrunkenen Becher stets fest im Blick, sehen: Auf dem Sofa sitzt eine Frau, etwa Mitte dreissig, Jeans, T-Shirt, derangierte Frisur, glasige Augen. Als sie die Uniformen sieht, lallt und schimpft sie los. Schwer verständlich, kaum verständlich, unverständlich. Tonfall und Körpersprache verraten: Über den Besuch der Polizeifamilie ist sie mässig begeistert.

Die Sicherheitspolizisten führen bei beiden einen Alkohol-Schnelltest durch. Ergebnis: 2.9Promille bei ihm, 3.1 bei ihr. Bei dieser Dosis, ich äh wäre absolut tot.

«So können wir Sie nicht lassen», sagt Novak.

Petracca fordert über die Zentrale eine weitere Patrouille an, «mit mindestens einer Frau», wie er präzisiert.

Dem betrunkenen Max Becher dämmert nun, dass… in der Wohnung, die er mit Marietta Niederlechner (identifiziert durch Ausweiskontrolle) teilt, tatsächlich zwei Polizisten stehen, die… irgend… was… Was wollen, was machen… die Bullen, he, die Bullen sind hier, was machen… die hier in der… Wohnung?

«He…», ruft er deshalb, syntaktisch etwas reduziert, «…was?» Er greift dem einen Uniformierten an den Oberarm, um ihn zu…

«Nehmen Sie Ihre Hand da weg», interveniert Novak sofort, hat sie aber bereits abgeschüttelt, und weiter mit solidem Bass: «Bleiben Sie ruhig.»

Becher hebt die Hände als Waffenstillstandsangebot.

«Setzen Sie sich dorthin», weist ihn Novak an, weil der Mann gefährlich schwankt, und zeigt ihm mit dem Arm die Richtung. Das Schwerkraftgesetz gemäss Polizeipraxis: Sitzt der Kunde, so fällt er nicht.

«Ich… was…», lautet Bechers Antwort.

Die Beine versuchen immerhin, den mit Gratiszeitungen und– potenzielle Gefahr für die Polizisten– einer Schere– Petracca behändigt sie– überhäuften Sessel anzusteuern, der in rechtem Winkel zum Sofa steht. Novak hilft mit sanftem Druck auf den Arm des Betrunkenen, dass dieser den Sessel ansteuern kann. Hat er weitere Substanzen im Organismus? Und seine Partnerin, die offensichtlich in bewusstseinsverengtem Zustand vor sich hinqualmt?

Novak und Petracca hören Schritte im Treppenhaus. Die Besatzung des zweiten Streifenwagens trifft ein. Kurzer Informationsaustausch. Dann stützen, wanken→ ins Erdgeschoss→ Plan: die beiden Angehaltenen zur Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung– par exemple akute Brandgefahr– auf die Wache. Vorher aber ins Universitätsspital zur Hafterstehungsfähigkeitsprüfung. In diesem Zustand erst recht nicht einfach auszusprechen. Auf der Notaufnahme muss eine Ärztin oder ein Arzt abklären, ob die Personen gesundheitlich imstande sind, den Rest der Nacht in einer Zelle auf der Clarawache zu verbringen. Dr.med. Gunhild Makowski wird dies bejahen, gibt jedoch den Kollegen ein krampflösendes Medikament mit, falls das Absinken des Alkoholpegels zu gar argen Entzugsschmerzen führen sollte. Der Spitalcomputer verzeichnet nämlich bereits Befunde von Max Becher und Marietta Niederlechner.

Notaufnahme Universitätsspital, ich sagte es. Während die Ärztin, Novak und Petracca plus die Kollegin und der Kollege der zweiten Patrouille dieses Prozedere durchführen, wollen wir, es ist mittlerweile 23:10Uhr, kurz in die Kojen mit den Patientinnen und Patienten schauen. Ist es hier wie in den Katastrophenfilmen? Blut? Chaos? Maschinenpiepsen? Stimmengewirr der Pflegekräfte und der Ärztinnen und Ärzte? Hektisches Treiben?

In den Notfallkojen, wer liegt da, mitten in der Nacht? Eine junge Frau. Seit vier Tagen quälen sie Kopfschmerzen so heftig, als bohrte ihr jemand mit dem Black& Decker in den Schädel. Sie heult nur noch. Eine Freundin ist bei ihr. Der Arzt kommt und stellt Fragen. Vermutlich injiziert er intravenös ein starkes Medikament, denn nach einigen Minuten flaut das Weinen der jungen Frau ab zu einem Wimmern. Im Abteil gegenüber hören wir Personal, Zurufe, das Klappern von Geräten, Schnaufen, Röcheln und, das war klar zu hören, das Wort «Herzanfall». Eine Koje weiter liegt ein Mann mit wässrigen Augen, vermutlich vom Alkohol gerötetem Gesicht, das Blut einigermassen abgewischt. Gebrochene Nase, erkennst du sofort. Sturz? Kneipenprügelei? Über den Korridor, gegenüber, hinter dem Vorhang auf der Liege: ein Sportler Anfang zwanzig, Trainingsanzug mit Aufschrift «Suisse». Wir spitzen die Ohren und erfahren aus dem Gespräch mit der Ärztin: Mitglied des Fecht-Nationalteams, Trainingsverletzung, Achillessehne, den Wettkampf in drei Tagen in Heidelberg muss er vergessen.

Wenige Meter weiter, hinter dem übernächsten weisslichen Vorhang: einer mit Schwächeanfall. Ist Ende vierzig, gross, drahtig, Marathonläuferstatur, mit dem Taxi zum Notfall gefahren. An seinem Arm hängt eine NaCl-Infusion. Pfleger Betim Shala, einer von vielen Mitarbeitenden mit diesem «Migrationshintergrund», von dem manche gerne sprechen, kontrolliert mit Blick auf das Überwachungssystem «IntelliVue» Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung. Der Patient liegt auf dem Rücken, die Arme und Hände über der dünnen, aber warmen Decke, sein Kopf bewegt sich nicht, wohl aber seine Augen. Sie tasten die Umgebung ab: Wand, Decke, Chromstahlständer mit Infusionsbeutel, offener Vorhang zum Korridor hin, drei unbenutzte Kleiderhaken rechts an der Wand. Der Mann wirkt, als nehme er alles auf, was sich auf der Notfallstation des Universitätsspitals ereignet. Vielleicht wirkt auch das Sedativum. Seine Lider senken sich. Schläft er ein?

Das alles sehen wir und würden wir Ihnen in diesem Buch erzählen, würde uns nicht das Amtsgeheimnis– Art.320 StGB– daran hindern.

Hut ab, Ihr Damen und Herren vom Krankenhauspersonal. Fachwissen braucht Ihr, Nerven, stabile Mägen und körperliche Kondition. Danke für Euren Einsatz Tag für Tag, Nacht für Nacht.

Während ich Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, das erzähle, sind Novak, Petracca und die zweite Patrouille schon auf dem Weg, um das volltrunkene Paar aus der Wohnung «Becher» auf die Clarawache zu überführen. Sie werden die Nacht getrennt in zwei Einzelzellen verbringen. Das Wort «Ausnüchterungszelle» passt nicht. Denn die Polizei nüchtert niemanden aus, sondern versucht, Schaden von den Menschen fernzuhalten, also Eigen- und Fremdgefährdung zu minimieren. Allen steht es frei, sich ins Koma zu trinken, zu rauchen und zu schnupfen, sich das Gehirn wegzusaufen, sich kaputtvollzudröhnen– natürlich unter Berücksichtigung des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG). «Eigenverantwortung» nennt das der Liberalismus. «Der freie Wille schützt vor Torheit nicht.» So drückte es Müllers Lieblingsgrieche Diodoros aus, in einer pessimistischen Spätphase seines Lebens, als ihn die Arthrose plagte und sein Lebensmut aaarghhh zu versiegen drohte.

***

Raunen.

Schauen wir auf die, die in diesen Stunden in Basel unbeschwert der Freizeit frönen, in diesen Stunden, meint: präzis kurz vor 22:00Uhr MEZ, Anfang Dezember. Viele trifft man in einer Beiz an. Weihnachtsfeier des Betriebs, ein Bier nach dem Training, auf einen Absacker mit ein paar Kolleginnen oder Kollegen. Die Kneipe, in die wir selbst uns nun begeben, werden wir nicht benennen, weil der Ort des folgenden Gesprächs nicht relevant ist, sollte dessen Wortlaut je als Beweis für allfällige vorsätzliche Handlungen eingestuft werden. Wir betonen: Der Wirt des Lokals hat mit den Ereignissen nichts zu tun. Weder wollen wir eine Schadenersatzforderung riskieren noch umgekehrt einen gastronomischen Betrieb bevorzugen und hier Werbung machen.

Wir betreten also diese Wirtschaft, ziehen den Mantel aus, setzen uns an einen Tisch und hören vier Männern bei je einer, der zweiten und der dritten Stange hell und einer Schale Erdnüssen beim Diskutieren zu. Temperament kann man ihnen attestieren, Interesse am Ballsport und eine kernige Wortwahl ebenfalls.

«Ich hab’s von Anfang an gesagt, nicht, Alwin?»

«Was denn?»

«Sag bloss, du erinnerst dich nicht. Dass das nichts wird. Im Juni habe ich das schon gesagt: Es wird eine Scheisssaison.»

«Stimmt, das hast du gesagt. ‹Der Preusse versteht doch unsere Mentalität nicht›, das hast du gesagt.»

«Mein Wort. Genau das. Ich frage mich, wie lange sie den noch behalten. Eine Fehlverpflichtung. Wer hatte bloss diese– !– saudumme Idee? Der hat bisher noch nirgends auch nur etwas geleistet.»

«Gar nichts, nirgends, genau.»

«Wenn dieser bleibt, gehe ich da nicht mehr hin–»

«Hahaha! Urs, das glaubst du ja selbst nicht–»

«Ich meine es ernst, todernst, noch mal!»

«Ein kompletter Schafseckel ist das… total arrogant. Marcel, hast du gehört, was…?»

Ad libitum. Mezzoforte. Beim Fussball laufen die Emotionen heiss, und es ist nicht einfach, leise zu sein. Aber das wäre auch nicht nötig, wir sind in einem freien Land, Meinungsfreiheit Art.16BV. Aufpassen musst du nur, wenn du am falschen Ort zum falschen Zeitpunkt in Gesellschaft der falschen Leute politisch wirst oder auf Hass stösst. Damit du keins auf die Nuss bekommst. Im analogen Leben geschieht das nicht oft, im Internet dagegen sehr wohl. Dort gibt’s Shitstormfallen mit Garantie: Religion, Migration, Veganismus, #MeToo, Klimawandel, Israel, G5-Strahlung, Gesichtsmasken, Schweinekoteletts, Schokosüssigkeiten mit Eierschaum drin. Dann geht’s ab, aber hoppla.

Zurück in die Beiz: Bevor Sie sich über die vier Männer, denen wir gerade zugehört haben, gar turboschnell eine Meinung bilden: Sie sind zwischen 35 und 45Jahre alt, zwei sind Akademiker, einer Marketingplaner, einer Schreiner, und zwei tragen gelegentlich bei der Arbeit eine Krawatte.

«Sollten wir nicht irgendwie aktiv werden?», fragt der eine, der vorhin als Urs angesprochen worden ist, «zum Beispiel…»

***

Schlafstörung.

Müller nachts, längst ist’s Dienstag, der 8.Dezember, und ausser Haus weiterhin kühl und feucht. Die Notrufzentrale klingelt ihn aus knapp zwei Stunden Schlaf. Kriminalkommissär Müller Benedikt wohnt noch immer oberhalb des Lebensmittelladens an der Ecke Birsig-/Oberwilerstrasse, 4054 olé. Er ist müde und abgespannt, klar, das Hirn auf Energiesparbetrieb, als sich das Telefon meldet, aber zack→ «Wohin du auch gehst, geh mit deinem ganzen Herzen» (Konfuzius). Also Volldampf, weil «Verhandlungseinsatz», hat ihn die Zentrale vorbereitet. Nämlich so: Zwei Patrouillen fordern Verstärkung an, weil Eskalationsgefahr in einem Wohnhaus Güterstrasse, 270er Nummer, Nähe Heiliggeistkirche, fast bei der Delsbergerallee.

Hergang: 01:40Uhr→ Anruf an die 117 wegen bedrohlichen Lärms und wütender Stimmen. Eintreffen einer Zweierpatrouille, Korporal Jeanneret Simone und Polizist Gugerli Kelvin. Eindringen ins Treppenhaus (Altbau, einigermassen gepflegt, Altpapierbündel unterhalb der Briefkästen ordnungsgemäss verschnürt vorbereitet). Requirierender Nachbar, wohnhaft zweiter Stock, nennt als Quelle der Unruhe die vierte Etage. Dort zwei Wohnungen. Kollegin Jeanneret und Kollege Gugerli vernehmen aus der Wohnung rechts Streit, hauptsächlich laute Männerstimme und Rumpeln und Klirren, vermutlich Teller, Schüsseln. Auf dem Türschild zwei Namen: M.Oberholzer und F.Rossi. Sie klingeln. Geht wohl im Geschrei und Getöse unter. Erneutes Klingeln. Drinnen Gepolter, der Mann verstummt. Wieder Jeannerets Finger auf der Schelle. Schritte stampfen von innen zur Tür.

«Wer ist da?»

Jeanneret: «Polizei. Öffnen Sie bitte die Tür.»

Drinnen lacht hämisch ein Mann.

«Öffnen Sie die Tür!»

Der Türspion wird kurz hell, dann dunkel. Er späht offenbar ins Treppenhaus. Doch er sieht niemanden. Sie stehen nicht vor, sondern beidseits der Tür, Jeanneret hier und Gugerli drüben. Lernst du in der Polizeischule in Hitzkirch: Vorsicht bei Türen. Dahinter kann sich so was an Situationen und Konstellationen und Kalibern verbergen. Diese furnierten Spanplatten sind für Kugeln kein Problem.

«Machen Sie die Tür auf», sagt Jeanneret draussen.

Von innen hämmert der Mann mit Fäusten an die Wohnungstür. Semantisch ein negatives Signal. «Was tun?», fragte W.I. Lenin. Zu zweit die Tür aufbrechen? Machbar wäre das, die Schultern sind stark, Jeanneret und Gugerli gut trainiert. Doch anatomische Limiten: Du hast zu wenig Hände frei: rechts die Waffe, links der Arm vorerst taub wegen des Aufpralls auf das Holz beim Rammvorgang. Zweitens Dienstvorschrift, Verstärkung anzufordern, weil eigene Sicherheit und Fremdgefährdung, allenfalls Risiko für Drittpersonen. Du weisst nie, wie viele Personen sich in der Wohnung aufhalten, ob bewaffnet oder nicht, ob auf Kokain, Amphetamin oder sonst einem Dreck. Hat der Mann in der Wohnung eine Schusswaffe? Eine Stichwaffe? Einen abgehackten Flaschenhals? Ein Messer in der Faust? Ist eine Familie in der Gewalt eines Desäquilibrierten?

Die Lage in der Wohnung eine Blackbox.

Das Licht im Treppenhaus geht aus. Automatik.

Gugerli drückt auf den flackernden orangen Schalter, die Funzel leuchtet wieder. Kpl Jeanneret und Pol Gugerli ziehen sich in den dritten Stock zurück, rufen die Zentrale an, fragen nach den Namen von der Türklingel, Oberholzer und Rossi, ob da etwas vorliegt. Und sie fordern, reglementskonform, Verstärkung an. Die Einsatzzentrale bietet das Alarmpikett– ein Fahrzeug, drei Mann beiden Geschlechts– und eben den Kriminalkommissär auf.

«Die Eichhörnchen und Stinktiere fliehen auf die Bäume, wenn sich ihnen ein Feind naht. Der Mann aber soll kämpfen.» (Wort des Winnetou, «WinnetouI», S.76).

Deshalb Müller Benedikt um 02:07Uhr an der Güterstrasse, 270er Nummer, dritter Stock, mit zwei Kolleginnen und drei Kollegen der Sicherheitspolizei. Der unterbrochene Schlaf nagt an ihm, aber wenn Gefahr im Verzug ist, kann dir der Sandmann den Buckel hinunter.

Nach kurzer Besprechung leise in die vierte Etage zur Wohnungstür hoch. Die Ohren spitzen.

Ist das ein Weinen, was sie aus der Wohnung hören? Ja. Es klingt nach einer Frau. Ein Stuhl wird grob über den Boden geschleift. Eine Tür, vielleicht von einem Schrank, knallt zu. Scherben klirren, die wohl auf dem Boden liegen. Jemand tritt darauf, weil er in der Wohnung umhergeht.

Eine Kollegin sichert im dritten Stock das Treppenhaus.

Jeanneret, Gugerli und zwei Kollegen vom Alarmpikett wieder links und rechts der Tür. Der Müller direkt davor. Klopft an. Energisch, kalt: «Kriminalkommissariat, mein Name ist Müller, öffnen Sie die Tür.»

Drin rumpelt es.

Dann röhrt die Männerstimme von eben: «Hau ab, bevor ich rauskomme.»

«Wer ist bei Ihnen in der Wohnung?»

«Geht Sie nichts an, das.»

Durchs Schlüsselloch, fühlst du, dringt grün der Geruch von Aggression aus der Wohnung. Wie’s wohl dort drin aussieht? Hinter unauffälligen Eingängen triffst du manchmal auf Situationen und Menschen in Zuständen… Wollen Sie gar nicht so genau wissen. Muss jemand in Ordnung bringen. Ja, schützen und dienen. Machen wir.

«Ich1 bin hier, um Ihnen zu helfen», sagt der Müller, bestimmt, aber nicht pitbullig. Ihn ins Gespräch ziehen, dann drinbehalten, ihn ablenken, damit er zur Ruhe kommt. Und niemandem etwas antut.

«Helfen!», höhnt der Mann durch die geschlossene Tür. Ja, Pressspanplatte mit Holzimitatfurnier. Billige Sache. Kein Widerstand.

«Die Bullen!… Grnz!… Wer sagt denn, dass ich… ‹Hilfe›», er spricht’s aus, als spucke er gleichzeitig aus, «brauche?… Ich komme selbst zurecht.»

«Dann machen Sie die Tür auf, damit wir2 sehen können, ob es allen Personen in der Wohnung gut geht.»

Ein Seitenblick von Müller, Jeanneret hält den Taser bereit, sie zielt auf die Tür.

Tatsächlich hören der Kriminalkommissär und die Sicherheitspolizei-Patrouillen nun, wie sich jemand von innen am Schloss zu schaffen macht. Im Zylinder dreht sich der Schlüssel. Die Tür öffnet sich 0.7Handbreit. Bleibt aber mit einer Kette gesichert. Ein Gesicht erscheint: starrer Blick, Pupillen wie Bierdeckel, käsige Haut, spärlicher Stoppelbart, bürotauglicher Kurzhaarschnitt. Darunter Sweatshirt und Jeans. Müller schätzt ihn auf35.

«Ich warne dich!», bellt der Mann, der nur den Kommissär sieht. «Bleib, wo du bist, sonst passiert etwas.»

In der Türöffnung blitzt ein Messer auf. Küchenmesser. Müller zeigt dem Mann seine leeren Handflächen.

«Ich will nur mit Ihnen reden», sagt er ruhig. «Self Control» (Laura Branigan). Obwohl er den Kerl gern nudelweich abwatschen würde. Weil er das Weinen der Frau noch im Ohr hat. Weil er die Not und Gewalt satthat. Weil er zu dieser Stunde lieber zu Hause schliefe oder neben Gülay Sermeter. Selbst Schlaflosigkeit ist besser als das hier. Aber jetzt fokussieren: Alle Sinne muss er beisammenhaben, die richtige Antwort finden, den Ton treffen.

Die Lichtautomatik geht wieder aus. Jemand betätigt erneut den Schalter.

«Worüber mit mir reden?», sagt der Messermann hinter der Sicherheitskette hervor. Die bewaffnete Hand ist hinter der Tür verschwunden.

«Über die Personen, die bei Ihnen in der Wohnung sind. Darüber, wie es denen geht… Herr Oberholzer.»

Der Müller weiss es, weil der Kollege mit der Zentrale telefoniert und diese die Namen der Mieter bestätigt hat.

«Der bin ich», antwortet der Mann, «etwas dagegen?»

«Und jetzt hängen Sie die Kette aus und lassen mich in die Wohnung», sagt der Müller und nähert sich der Tür, einen Schritt nur. Marcel Oberholzer(33) schreit auf, entsichert die Kette, reisst die Tür auf, springt auf den Müller los, das Küchenmesser voran– und bricht, von den zwei→ Projektilen aus dem Taser→ getroffen, zusammen. 50’000Volt Spannung sind durch die beiden feinen Drähte aus der Elektroschockpistole in Jeannerets Hand in den Körper des Angreifers geschossen.

Der liegt innert zwei Sekunden entwaffnet und gefesselt auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung (Linoleum grau, sauber, abgenutzt). Der Müller hat bloss einen leichten Schnitt erwischt, es tropft rot von der Kante der linken Hand. Gugerli reicht ihm eine Verbandspatrone, Müller wickelt aus und um die Wunde, wird das nachher richtig versorgen, sofort→ hinein.

War das verhältnismässig, dieser Tasereinsatz? Müller und Jeanneret werden einen Rapport schreiben müssen, Gugerli und die andern müssen unterschreiben, das muss sein: erklären, wie es zur Festnahme kam, und alles, was hier vorgefallen ist. Was fällt weiter vor? Gugerli zerrt den ausgeknipsten Oberholzer in die Wohnung zurück, eine Kollegin schliesst die Türe und behält den Festgenommenen im Auge, ein anderer bleibt im Treppenhaus, beruhigt die Nachbarn von nebenan und unten, schickt sie in ihre Wohnungen und wünscht ihnen eine gute Nacht. Unterdessen ruft Jeanneret die Zentrale an, Zwischenstand durchgeben. Und erwähnt auch den Tasereinsatz und Müllers Verletzung.

Nach einigen Minuten stellen die Kollegin und die Kollegen vom Alarmpikett Oberholzer auf die Füsse, nehmen ihn in die Mitte, schleppen ihn das Treppenhaus hinunter, weil immer noch benommen. Die Lichtautomatik schaltet wieder aus. In der Dunkelheit entsteht ein Gerangel. Fiat lux again→ Lage wieder unter Kontrolle. Sie führen ihn zum Wagen. Blaulicht an, Horn nicht, sonst beschwert sich die Quartierbevölkerung. Ab in den Waaghof.

Der Müller, Jeanneret und Gugerli durch den Korridor (staubfrei, aufgeräumt, keine heruntergerissenen Kleider oder umhergeschleuderten Gegenstände) in die Wohnung. Links zur Strasse hin brennt Licht, ist die Küche. Auf deren Schwelle entdeckt Müller die ersten Scherben, ein Teller, wie’s aussieht. Dann mehr Scherben, ein aufgerissener Briefumschlag, ein voller Aschenbecher, Werbesendungen, ein zerbrochenes Glas, eine Küchenuhr, zerdeppert und verbogen, die Batterien auf dem Boden irgendwohin gespickt. Ein Feuerzeug und eine leere Zigarettenpackung liegen dort ebenfalls.

In Müllers Hand pocht leise der Schmerz.

Auf einem Stuhl eine Frau um die dreissig, langes braunes Haar, schmales Gesicht, schwarzer Trainingsanzug mit drei goldenen Streifen, kein blaues Auge, kein Blut, verweinte Augen, feuchte Wangen. Sie zittert.

«Frau Rossi?», fragt Simone Jeanneret, «sind Sie verletzt?»

Francesca Rossi schaut die Polizistin lange an, als begriffe sie nicht, was die fremden Menschen in der Wohnung zu suchen haben. Sie erkennt die Uniformen von Jeanneret und Gugerli. Sie schüttelt den Kopf. Physisch und äusserlich sind keine Schäden erkennbar. Doch der Mensch ist keine Porzellantasse. Die unsichtbaren Beschädigungen erkennt einzig die Fachperson und spürt das Opfer selbst, weil es merkt: Ich lebe nicht, ich funktioniere nur, gelegentlich immerhin teilweise, in mir ist etwas abgestorben, manchmal weiss ich nicht, wo mir der Kopf steht, fühle ich noch? Narben auf der Seele. Da hilft keine Salbe.

Der Hergang? Feststellen, was passiert ist. «Ein Streit, der eskaliert ist, nachdem… er… heimgekommen ist, vom Hundertsten ins Tausendste», bringen sie aus Frau Rossi heraus. Können Sie sich das vorstellen: Ein rosa Spülschwamm mit harter grüner Oberfläche zum Pfannenscheuern scheint bei der Auseinandersetzung eine Rolle gespielt zu haben. Der Schschschwamm lag im Spülbecken, mitten in der verrrrrdammmmmten Ffffffeuchtigkkkkeit. Was. Ein. Ideales. Biotop. Für. Bakterien. Und. Erreger. Aller. Art. Ist. WaseinidealesBiotopfürBakterienundErregerallerArtist! «Deshalb ist er in die Luft gegangen», erklärt sie. Sie lasse den Schwamm «immer absichtlich» und «permanent»– oder sagte er «konsequent»?