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Der öffentliche Raum wurde in der Linguistik lange als ein Kontextfaktor („Öffentlichkeit“) betrachtet, der zu einer binären pragmatischen Charakterisierung von Kommunikaten beiträgt. Im Zuge der Linguistic Landscape-Forschung wird der öffentliche Raum jedoch als zentrale Gestaltungsressource für Sprache und Kommunikation neu definiert. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Parametrisierung von Kommunikationsformen und Textsorten; traditionelle Kommunikationsformen sowie Textsorten verändern sich, neue entstehen, neue Kommunikationskonstellationen bilden sich heraus und Kommunikate werden zunehmend multimodal komplexer. Dieser Band aus den Perspektiven Germanistischer Linguistik greift diese Aspekte auf, indem er sich Kommunikationsformen und Textsorten im öffentlichen Raum sowie unterschiedlichen Ausprägungen der Textsortenvernetzung aus verschiedenen theoretischen und empirisch-methodischen Zugängen widmet.
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Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2018
ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Multimodale Kommunikation in öffentlichen Räumen. Texte und Textsorten zwischen Tradition und Innovation (Steffen Pappert / Sascha Michel)
Annoncen an Schwarzen Brettern: Zur Bedeutung des Lektüremoments für die Text(sorten)linguistik (Wolfgang Kesselheim)
Massenbettelbriefe als Knoten in multidimensionalen Textsortennetzen (Georg Weidacher)
Text und kulturelle Institution. Einige Überlegungen zum Textsortennetz ‚Theater‛ (Tanja Škerlavaj)
Popularisieren – Visualisieren – Transkribieren. Überlegungen zu intra- und intertextuellen Verfahren der Wissenschaftsvermittlung in populärwissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln (Simone Heekeren)
Wenn Schlüsseltexte Bilder sind. Aspekte von Intertextualität in Presse und öffentlichem Raum (Nina-Maria Klug)
Im Raume lesen wir die Macht. Zeichen der Macht im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets (Ulrich Schmitz)
Diskursive Interdependenz im Abstimmungskampf. Die Plakate der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und ihre Verarbeitung in verschiedenen Kommunikationsbereichen (Martin Luginbühl/ Claudio Scarvaglieri)
Wahlplakat-Busting: Kommunikative Spuren der Aneignung von Wahlplakaten im öffentlichen Raum. Fallanalysen – Forschungsfragen – Perspektiven. (Sascha Michel / Steffen Pappert)
Osmotische Werbung im Web 2.0: Die Bewerbung jugendlicher Körper am Beispiel der multimodalen Textsorte ‚Stylingtutorial‘ (Dorothee Meer)
Autorinnen und Autoren
Perspektiven Germanistischer Linguistik
Impressum
Kommunikation wird sichtbar durch Texte bzw. Textsorten, die „als konkrete Realisationsformen komplexer Muster sprachlicher Kommunikation“ (Brinker/Cölfen/Pappert 2014: 133) Basiseinheiten im kommunikativen Haushalt einer Sprachgemeinschaft darstellen. Ihre historische Genese, ihre gesellschaftliche Verfestigung als konventionelle Problemlösungsmuster für komplexe kommunikative Aufgaben beruhen ebenso wie ihr Wandel im Wesentlichen auf kommunikativen Bedürfnissen, die – mittelbar über Kommunikationsformen – im engen Zusammenhang mit den zu einer bestimmten Zeit disponiblen technischen Möglichkeiten stehen (vgl. Pappert 2016). Die vom Informationsüberfluss geprägte hochkomplexe Kommunikationswirklichkeit unserer Zeit erfordert Problemlösungen – mithin Textsorten –, die die Selektion und die Verarbeitung der Angebotsflut unterstützen. Der mit dieser Entwicklung einhergehende Textsortenwandel ist sowohl Ursache als auch Folge veränderter Seh- und Hörgewohnheiten. Diese betreffen nicht nur den Umgang mit digitalen Medien, sondern begleiten uns vor allem in öffentlichen Situationen gleichsam auf Schritt und Tritt. Als die wohl weitreichendste Veränderung ist vielleicht die Verdrängung monomodaler schriftlicher Texte aus der medial vermittelten öffentlichen Kommunikation anzusehen. Ob in Zeitungen, Zeitschriften oder Schulbüchern, in Straßenbahnen, auf Bahnhöfen oder an beliebigen belebten öffentlichen Plätzen – der Trend zum multimodalen Text ist allgegenwärtig (vgl. Domke 2014 sowie Schmitz 2016a: 31). Neben Bildern aller Art, Grafiken, figürlichen oder kartographischen Veranschaulichungen sind es vor allem Textdesign, Layout und Typografie, die „zur Übermittlung, Gliederung und ergonomischen Rezeptionserleichterung bei immens wachsenden Informationsmengen“ (Schmitz 2016b: 328f.) beitragen. Die auf diese Weise komponierten „Sehflächen“ (Schmitz 2011) dominieren die sichtbare öffentliche Kommunikation – analog und vor allem digital. So ist insbesondere das Internet heute „[z]um Inbegriff einer multimodalen Mediengattung […] geworden, dessen digitale Grundlage es erlaubt, alle bislang bekannten Kommunikationsmodi zu kombinieren“ (Bucher 2010: 42). In Bezug auf den aktuellen Textsortenwandel rücken dabei Kategorien wie Vermischtheit, Vernetztheit, Nichtabgeschlossenheit oder Autorenvielfalt in den Fokus. Ebenso gewinnen textuelle Oberflächenphänomene an Bedeutung, so vor allem die Kodalität, die Materialität und die (Inter-)Medialität (Fix 2014). Text, Bild, Geräusch, Musik, audiovisuelle Angebote: Alles kann gleichzeitig auf dem Bildschirm erscheinen, der als wahrnehmbare Seh-Hör-Fläche die Grenzen traditioneller Textsortenauffassungen zu sprengen scheint (vgl. Pappert/Kleinheyer 2014: 160). Jenseits der virtuellen Textwelt gerät neben Multimodalität, Materialität und Medialität die Lokalität als Textualitätsdimension zunehmend in den Blick. In jüngeren Arbeiten wird dezidiert darauf abgehoben, dass sie als Kategorie der Wahrnehmbarkeit (Fix 2008) zur Erfassung von Textbedeutung und -funktion vor allem von Texten und Textsorten im öffentlichen Raum unerlässlich ist. Das heißt, dass eine Vielzahl von schriftlichen oder multimodalen Zeichen mit dem Objekt und/oder dem Ort, an dem sie sich befinden, unauflöslich verbunden sind, und zwar insofern, als der Publikationsort als konstitutive Bedeutungskomponente aufscheint, ohne die die Texte nicht verstehbar sind (Auer 2010). Die so fixierten Texte sind in ihrer Bedeutung und Funktion an den jeweiligen Ort geknüpft, der darüber hinaus nicht nur die Rezeption lenkt, sondern auch ganz spezifische Handlungsräume eröffnet. Diese Handlungsräume sind eingebettet in verschiedene Öffentlichkeiten, in denen jeweils spezifische diskursive Normen und Regeln gelten. Neben der Beschreibung ausgewählter alter und neuer (multimodaler) Textsorten aus unterschiedlichen öffentlichen Handlungsfeldern werden in den Beiträgen dieses Bandes auch verschiedene (situative, institutionelle, verfahrensbedingte, funktionale, thematische, mediale, formale, intra- und intermodale etc.) Beziehungen zwischen den Textsorten der jeweiligen Handlungsbereiche und die daraus resultierenden spezifischen Vernetzungen offengelegt und systematisiert. Präsentiert werden also Einblicke in das Inventar an Textsorten in ausgewählten öffentlichen Handlungsräumen und zugleich Einsichten in systematische Kommunikationsabläufe, die die jeweiligen Bereiche konstituieren. Das Spektrum der von den Beitragenden betrachteten Öffentlichkeiten reicht dabei von der traditionellen massenmedialen Öffentlichkeit über Formen von Gegenöffentlichkeit bis hin zu solchen Domänen, in denen Institutionen mit Privatpersonen oder Privatpersonen mit Privatpersonen in öffentlichen Räumen – zu denen auch das Internet (= digitale Öffentlichkeit) gehört – kommunizieren.
WOLFGANG KESSELHEIM geht in seinem Beitrag Annoncen an Schwarzen Brettern: Zur Bedeutung des Lektüremoments für die Text(sorten)linguistik der Frage nach, welchen Zuwachs an Erkenntnissen eine Textsortenanalyse erbringt, die die von Fix (2008) in die Diskussion gebrachten Wahrnehmbarkeitsdimensionen Materialität, Medialität und Lokalität konsequent berücksichtigt. Anhand eines Vergleichs analoger und digitaler Ausprägungen der Textsorte ‚Annonce am schwarzen Brett‘ zeigt er, dass bei traditionellen Annoncen vor allem die räumliche Situierung den Verstehensprozess leitet und somit das Funktionieren dieser spezifischen Textsorte erst ermöglicht. Dabei interagieren Momente der Lektüresituation mit Elementen der Musterhaftigkeit, ohne deren Berücksichtigung keine angemessene Beschreibung möglich ist. Darüber hinaus kann er für die digitalen Ausprägungen zeigen, inwieweit die digitalen Texte im Web, die aufgrund ihrer Virtualität immer und überall rezipiert werden können, an die Kategorie der Lokalität gebunden werden (können) bzw. die virtuellen Umgebungen als semiotische Räume begriffen werden müssen, die aufgrund ihrer situativen und technologischen Rahmenbedingungen sowie der damit verbundenen Handlungsoptionen die Kategorie der Lokalität auf bestimmte Weise kompensieren, so beispielsweise durch die Ersetzung räumlicher Suchverfahren durch semantische. Durch den Vergleich wird zudem ein Beitrag zur theoretischen Diskussion um die Relevanz von Raum und Materialität in der Text(sorten)linguistik sowie zu aktuellen textlinguistischen Forschungen zu intermedialen Beziehungen zwischen Textsorten geleistet. Paradigmatische und syntagmatische Textsortenbeziehungen exemplifiziert GEORG WEIDACHER in seinem Beitrag Massenbettelbriefe als Knoten in multidimensionalen Textsortennetzen. Er zeigt, dass die Textsorte ‚Massenbettelbrief‘ ihren kommunikativen Sinn erst durch die Einbettung in einen Zusammenhang sozialer und kommunikativer Praxen erhält. Diese zeichnen sich im vorliegenden Fall dadurch aus, dass die von karitativen oder anderweitig engagierten NGOs verschickten Massenbettelbriefe die Funktion des Bittens um (finanzielle) Unterstützung aufweisen, wobei sie als Texte zum Zweck des Spendensammelns auch immer Teil eines organisierten sozialen Engagements sind. Anhand von zwölf Dimensionen wird die multidimensionale Vernetzung der Textsorte ‚Massenbettelbrief‘ beschrieben bzw. wird dargelegt, inwiefern man diese Textsorte als Knoten in einem teils rhizomatisch teils hierarchisch strukturierten Textsortennetz verorten kann. Zwar ist nicht jede der aufgezeigten Dimensionen von gleicher Relevanz für die Konstitution dieser – und schon gar nicht jedweder – Textsorte, doch ist das Wesen dieser wie jeder anderen Textsorte nur unter Berücksichtigung ihrer Einbettung in Textsortennetze beschreib- und erklärbar. Vergleichbare Erkenntnisse – jedoch anhand eines anderen Textsortennetzes – liefert der Beitrag Text und kulturelle Institution. Einige Überlegungen zum Textsortennetz ‚Theater‛ von TANJA ŠKERLAVAJ. Sie führt unter Berücksichtigung institutioneller, kultureller aber auch lokaler und materialer Faktoren vor, wie sich Text und Institution mittels Modellierung eines Textsortennetzes ‚Theater‘ zueinander in Beziehung setzen lassen. In Anlehnung an Josef Klein (2000) werden verschiedene Textsorten rund um eine Theaterinszenierung und ihre intertextuellen Beziehungen präsentiert. Nach der Bestimmung aller zeichenhaften Komponenten einer Theaterinszenierung und ihrer Relationen, die im Zusammenspiel das Textsortennetz ‚Theater‘ formen, wird anhand wichtiger Beschreibungsdimensionen beispielhaft verdeutlicht, inwieweit die institutionelle Einbettung die Textsorte ‚Spielplan‘ prägt, aber auch, wie diese Textsorte in spezifischer Weise zur Konstitution der Institution ‚Theater‘ beiträgt.
Die zwei folgenden Beiträge legen den Schwerpunkt auf intra- und intertextuelle Verflechtungen multimodaler Texte im Bereich massenmedialer Kommunikation sowie im öffentlichen Raum. SIMONE HEEKEREN widmet sich in ihrem Artikel Popularisieren – Visualisieren – Transkribieren. Überlegungen zu intra- und intertextuellen Verfahren der Wissenschaftsvermittlung in populärwissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln einer zentralen Textsorte intertextueller Anschlussdiskurse. Da ihre Funktion darin besteht, wissenschaftliche Erkenntnisse an einen fachexternen unspezifischen Adressatenkreis zu vermitteln, liefert sie einen entscheidenden Beitrag zu dem, was in einer Gesellschaft als wissenschaftliche Erkenntnis wahrgenommen wird. Populärwissenschaftliche Zeitschriftenartikel stehen dabei in sowohl paradigmatischen Relationen zu einem oder mehreren Fach- sowie anderen Vermittlungstexten zum selben Thema als auch in syntagmatischen Relationen zu der Menge anderer Texte, mit denen sie in zeitlicher Abfolge stehen. Am Beispiel der Popularisierung neurowissenschaftlicher Forschung fokussiert die Verfasserin vor allem die nichtsprachlichen visuellen Anteile populärwissenschaftlicher Clustertexte, die mittels transkriptiver Bearbeitungsverfahren ihren ursprünglichen Status als wissenschaftliche Bilder zugunsten anderer Funktionen und Semantiken preisgeben. Im Zentrum steht demnach die Beschreibung intra- und intermodaler netzkonstituierender Transkriptionen, mit denen auch komplexe Vorgänge für Laien (visuell) lesbar gemacht werden sollen (vgl. Jäger 2002). Aus einer eher diskurslinguistischen Perspektive widmet sich auch NINA-MARIA KLUG intra- und intermodalen Vernetzungen. In ihrem Beitrag Wenn Schlüsseltexte Bilder sind. Aspekte von Intertextualität in Presse und öffentlichem Raum belegt sie anhand ausgewählter Beispiele, dass neben Texten auch Bilder zu Kristallisationskernen von Textsortennetzen bzw. Diskursen avancieren können. So können Bilder als visueller Referenzpunkt ganze Diskurse auslösen, die sich als dichtes Netz intra- und intermodaler Bezugnahmen modellieren lassen. Vorgestellt werden Praktiken der intertextuellen, über den Einzeltext hinausreichenden, impliziten und expliziten Bezugnahmen, die Referenz- und Bezugstexte unterschiedlicher Modalität zu transtextuellen multimodalen Einheiten emergenter Art formen. Im Zuge solcher diskursiven Verflechtungen können Bildern Schlüsselfunktionen zugewiesen werden, und zwar nicht nur als wiederkehrende Referenzpunkte. Vielmehr besitzen sie das Potenzial, gleichsam als Essenz des Diskurses das kollektive Gedächtnis in Form symbolifizierter „Visiotype“ (Pörksen 1997) nachhaltig zu prägen.
Mit sichtbaren öffentlichen Diskursen abseits der Massenmedien beschäftigen sich die folgenden drei Beiträge. Gegenstand sind die vielfältigen kommunikativen Zeichen im öffentlichen Raum, die als „signs in place“ (Scollon/Scollon 2003) in der Regel zwar ortsfest sind, immer aber eine Reihe diskursiver Räume eröffnen, denen man sich im täglichen Alltagsgeschäft schwerlich entziehen kann. Dabei geht es immer auch um Machtfragen. Diesen widmet sich dezidiert ULRICH SCHMITZ mit seinem Beitrag Im Raume lesen wir die Macht. Zeichen der Macht im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets. Anknüpfend an die von Scollon/Scollon (2003) eingeführten Diskurstypen (regulatorisch, infrastrukturell, kommerziell, transgressiv) untersucht der Verfasser auf der Basis der umfangreichen Datenbank des interdisziplinären Gemeinschaftsprojektes „Metropolenzeichen: Visuelle Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr“ nicht nur die quantitative Verteilung der Zeichen in verschiedenen Stadteilen des Ballungsraums Ruhrgebiet, sondern setzt diese in Beziehung zu den verschiedenen Machtkonstellationen, für die sie jeweils stehen. Gefragt wird also danach, welche Zeichen wie im öffentlichen Raum Bedeutung stiften und auf welche Weise – beispielsweise durch Ge- und Verbote – sie das soziale Handeln im öffentlichen Raum regulieren. Dieser systematisierende Blick auf das Kaleidoskop öffentlicher Betextungen zeigt, dass trotz der „Kolonialisierung des öffentlichen Raumes durch bestimmte Agenten staatlicher oder privater Art“ (Auer 2010: 295) das Ringen um Orte und Aufmerksamkeit fortwährt und immer auch Platz ist für Zeichen, die den hegemonialen Diskurs zu unterlaufen trachten. MARTIN LUGINBÜHL und CLAUDIO SCARVAGLIERI beschäftigen sich in ihrem Beitrag Diskursive Interdependenz im Abstimmungskampf. Die Plakate der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und ihre Verarbeitung in verschiedenen Kommunikationsbereichen mit einer Text-Bild-Sorte, die den öffentlichen Raum in der Schweiz in besonderem Maße nicht nur räumlich, sondern auch diskursiv prägt. Auch sie knüpfen dabei an die Linguistic-Landscape-Forschung an, verbinden diese aber vor dem Hintergrund ihres Untersuchungsinteresses mit diskurslinguistischen Ansätzen und Methoden. Anhand unterschiedlicher Vernetzungen, in deren Zentrum die allerorts gehängten Abstimmungsplakate zu verorten sind, wird in vier Schritten gezeigt, mit welchen semiotischen Ressourcen Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum generiert werden soll, wie die dort eingesetzten visuellen Mittel durch Massenmedien aufgegriffen und ausgebeutet und welche Reaktionen sie bei politischen Kontrahenten (Imitation der Plakate), aber auch bei politischen Gegnern (Verfremdung der Plakate) hervorrufen. Durch diese Herangehensweise gelingt es den Verfassern, nicht nur die symbolische und diskursive Bedeutung der Linguistic Landscapes zu erfassen und zu beschreiben, sondern auch zu zeigen, wie sich verschiedene Manifestationsformate eines öffentlichen Diskurses in unterschiedlichen Dimensionen (intermedial) und auf verschiedenen Ebenen (intertextuell, intra-/intermodal) überlagern und durchdringen. Die von Luginbühl/Scarvaglieri thematisierten Verfremdungspraktiken vermeintlicher Gegner sind Gegenstand des anschließenden Werkstattberichtes Wahlplakat-Busting: Kommunikative Spuren der Aneignung von Wahlplakaten im öffentlichen Raum. Fallanalysen – Forschungsfragen – Perspektiven von SASCHA MICHEL und STEFFEN PAPPERT. Sie nähern sichdem Phänomen Busting medienlinguistisch-empirisch und liefern am Beispiel von Wahlplakaten einen Einblick in die qualitativ-linguistische Erforschung politischer Protestkommunikation. Dabei gehen sie davon aus, dass die Verfremdung von Wahlplakaten Aufschluss geben kann über die Aneignung von Politik, indem sie (subversive) Aneignungshandlungen sichtbar und somit rekonstruierbar macht.
Abgeschlossen wird der Band durch den Beitrag Osmotische Werbung im Web 2.0: Die Bewerbung jugendlicher Körper am Beispiel der multimodalen Textsorte ‚Stylingtutorial‘ von DOROTHEE MEER. Im Unterschied zu den übrigen Beiträgen des Bandes geht es hier um eine hypermediale audiovisuelle Textsorte, die nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar und somit in gewissem Maße interaktiv ist bzw. als interaktiv inszeniert wird. Integraler Bestandteil solcher Tutorials sind Formen des Merchandisings, Sponsorings und Product Placements. So werden im konkreten Fall Styling-Empfehlungen der YouTuberin permanent und offensichtlich an konkrete Produkthinweise gekoppelt, die im Gegensatz zu herkömmlichen Werbeformen aber nicht explizit thematisiert, sondern multimodal in andere Handlungszusammenhänge eingewoben werden. Tutorials stellen somit eine Spielart osmotischer Werbung (Katheder 2008) dar, in der es wohl nur vordergründig um die öffentliche Konstruktion jugendlicher Identitätsentwürfe geht.
Literatur
Auer, Peter (2010): „Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raums durch die geschriebene Sprache“, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hgg.): Sprache intermedial – Stimme und Schrift, Bild und Ton. (= Institut für deutsche Sprache; Jahrbuch 2009). Berlin/New York: de Gruyter, 271–300.
Brinker, Klaus/Cölfen, Hermann/Pappert, Steffen (2014): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 8. neu bearb. und erw. Aufl. Berlin: Erich Schmidt (Grundlagen der Germanistik 29).
Bucher, Hans-Jürgen (2010): „Multimodalität – eine Universalie des Medienwandels. Problemstellungen und Theorien der Multimodalitätsforschung“, in: Bucher, Hans-Jürgen/Gloning, Thomas/Lehnen, Katrin (Hgg.): Neue Medien – neue Formate. Ausdifferenzierung und Konvergenz in der Medienkommunikation. Frankfurt a.M.: Campus (Interaktiva 10), 41–79.
Domke, Christine (2014): Die Betextung des öffentlichen Raumes. Eine Studie zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen. Heidelberg: Winter.
Fix, Ulla (2008): „Nichtsprachliches als Textfaktor: Medialität, Materialität, Lokalität“, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 36, 3, 343–354.
Fix, Ulla (2014): „Aktuelle Tendenzen des Textsortenwandels – Thesen“, in: Hauser, Stefan/Kleinberger, Ulla/Roth, Kersten Sven (Hgg.): Musterwandel – Sortenwandel. Aktuelle Tendenzen der diachronen Text(sorten)linguistik. Bern u.a.: Lang (= Sprache in Kommunikation und Medien 3), 15–48.
Jäger, Ludwig (2002): „Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik“, in: Jäger, Ludwig/Stanitzek, Georg (Hgg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München: Fink, 19–41.
Katheder, Doris (2008): Mädchenbilder in deutschen Jugendzeitschriften der Gegenwart. Beiträge zur Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Klein, Josef (2000): „Intertextualität, Gestaltungsmodus, Texthandlungsmuster. Drei vernachlässigte Kategorien der Textsortenforschung – exemplifiziert an politischen und medialen Textsorten“, in: Adamzik, Kirsten (Hg.): Textsorten. Reflexionen und Analysen. Tübingen: Stauffenburg (= Textsorten 1), 31–44.
Pappert, Steffen (2016): „Zur Konzeptualisierung von Kommunikationsereignissen“, in: Behrens, Ulrike/Gätje, Olaf (Hgg.): Mündliches und schriftliches Handeln im Deutschunterricht. Wie Themen entfaltet werden. Frankfurt a.M. u.a.: Lang, 15–37.
Pappert, Steffen/Kleinheyer, Marc (2014): „Neue Kommunikationsformen – neue Politik? Die Piraten im Netz“, in: Hauser, Stefan/Kleinberger, Ulla/Roth, Kersten Sven (Hgg.): Musterwandel – Sortenwandel. Aktuelle Tendenzen der diachronen Text(sorten)linguistik. Bern u.a.: Lang (= Sprache in Kommunikation und Medien 3), 157–182.
Pörksen, Uwe (1997): Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype. Stuttgart: Klett-Cotta.
Schmitz, Ulrich (2011): „Sehflächenforschung. Eine Einführung“, in: Diekmannshenke, Hajo/Klemm, Michael/Stöckl, Hartmut (Hgg.): Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin: Erich Schmidt (= Philologische Studien und Quellen 228), 21–42.
Schmitz, Ulrich (2016a): „Sehflächen. Sprache und Layout“, in: Schiewe, Jürgen (Hg.): Angemessenheit. Einsichten in Sprachgebräuche. Göttingen: Wallstein (= Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Valerio 18.), 24–37.
Schmitz, Ulrich (2016b): „Multimodale Texttypologie“, in: Klug, Nina-Maria/Stöckl, Hartmut (Hgg.): HandbuchSprache im multimodalen Kontext. Berlin/Boston: de Gruyter, 327–347.
Scollon, Ron/Scollon, Suzie Wong (2003): Discourses in place. Language in the material world. London u.a.: Routledge.
Private Annoncen an Anschlagbrettern können nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn sie von einer (gewissen) Öffentlichkeit gelesen werden können. Um die Charakteristika dieser Textsorte zu erfassen, kommt man daher nicht umhin, die räumliche Umwelt, in der die betreffenden Texte anzutreffen und zu lesen sind, in die textlinguistische Analyse einzubeziehen. Der vorliegende Beitrag illustriert mithilfe exemplarischer Analysen eines Fotokorpus von Annoncen an öffentlichen Anschlagbrettern, welcher Mehrwert sich aus einer Textsortenanalyse ergibt, die all das zu berücksichtigen versucht, was im Moment der Lektüre wahrnehmbar ist, speziell die Materialität von Text und Textträger sowie die Einbettung des Texts in eine konkrete räumliche Situation. Besonders deutlich wird dieser Mehrwert, wenn man – wie es im zweiten Teil des Beitrags geschieht – die Annoncen am Schwarzen Brett mit solchen Annoncen kontrastiert, die auf ‚Schwarzen Brettern‘ im Internet zu finden sind. Über diesen Kontrastfall wird sichtbar, dass ein Ausgehen vom Moment der Lektüre eine präzisere Bestimmung der Beziehungen zwischen Textsorten gestattet. Über den Einzelfall der privaten Annoncen an Anschlagbrettern hinaus trägt der Text bei zur theoretischen Diskussion um die Relevanz von Raum, Materialität und Medialität in Text(sorten)linguistik und Genre-Forschung sowie zur aktuellen Diskussion zur Frage, wie Beziehungen zwischen Textsorten zu bestimmen sind.
1. Materialität, Medialität, Lokalität und die Lektüresituation
In den letzten Jahren ist unter Etiketten wie „Multimodalität“ (s. etwa Kress/van Leeuwen 2001; Stöckl 2006) oder „Textsemiotik“ (Eckkrammer/Held 2006) eine breite Forschungstradition entstanden, die Texte nicht mehr nur als Ensemble von Wörtern und Sätzen begreift, sondern die gezielt die Leistung nicht-sprachlicher Zeichen in den Blick nimmt und so den Textbegriff von der traditionellen Fixiertheit auf sprachliche Kommunikationsmittel befreit. Mit der Erweiterung der Textanalyse auf Nichtsprachliches geht eine neue Aufmerksamkeit auf die Materialität, Medialität und Lokalität2 von Texten einher. So wurde die Rolle der Materialität in der Textkommunikation sowohl theoretisch reflektiert (als eine Dimension von Textualität: Fix 2008; Sandig 2006, Kap. 5.9) als auch einzelne Phänomenbereiche wie Typografie oder Textdesign empirisch durchleuchtet (s. etwa Spitzmüller 2013; Bucher 2007). Gleiches gilt für die Medialität, deren Erforschung in Medienlinguistik und innerhalb der Genre-Forschung speziell durch die Beschäftigung mit Neuen Medien Auftrieb erhielt (stellvertretend für viele: Schumacher 2009; Giltrow/Stein 2009; Berkenkotter/Luginbühl 2014) und für die Rolle der räumlichen Umwelt, in der Texte zu lesen sind (s. etwa Domke 2010; Auer 2010 oder Kesselheim 2010). Damit erhalten Phänomene Eingang in die textlinguistische und textstilistische Analyse, die zuvor als „textexterne“ Randbedingungen verstanden worden sind, die nur punktuell zur Analyse von Textexemplaren herangezogen werden, nämlich immer dann, wenn sich die Textbedeutung nicht allein aus dem Wortlaut erschließen lässt.
Diese jüngeren Entwicklungen begegnen einiger Skepsis. Entfernt man sich nicht vom eigentlichen Gegenstand der Textlinguistik, dem sprachlichen Text, wenn man Multimodalität, Medialität, Materialität und Lokalität eines Texts analysiert, bis man schließlich – wie wir es gleich tun werden – in der linguistischen Textanalyse sich mit Reißzwecken und Glasabdeckungen beschäftigt?
Im vorliegenden Beitrag möchte ich zeigen, dass der Einbezug dieser Aspekte in ein Konzept von Textualität notwendig ist, wenn wir zu einem vollen Verständnis des Funktionierens von Texten in Kommunikation gelangen wollen. Dabei werden wir sehen, dass es nicht ausreicht, Multimodalität, Materialität und Lokalität additiv zur ‚eigentlichen‘ Textanalyse hinzutreten zu lassen. Die Tatsache, dass Texte sich im Verfolg ihrer kommunikativen Zwecksetzungen mehrerer Zeichensysteme zugleich ‚bedienen‘ können, dass sie aus einem bestimmten Material bestehen, dass sie uns über bestimmte technische Speicher- und Verbreitungsmedien zugänglich werden und dass die Lektüre in konkreten räumlichen Situationen erfolgt, in denen die Wahrnehmung der Wörter eines Texts eingebettet ist in einen breiten Strom anderer, gleichzeitiger Wahrnehmungen: all dies ist mit dem Begriff des „Kontexts“ nicht zu fassen, sondern betrifft das, was den Text ausmacht, im Kern. Ich werde zeigen, dass der analytische Fokus auf die Lektüresituation genau diese notwendige Integration aller Quellen mit sich bringt, aus denen Lesende schöpfen, wenn sie sich die basale Frage der Textkommunikation stellen: „Ist das ein Text?“ und „Was für ein€ Text(sorte) ist das?“.
Wie die empirische Berücksichtigung von Multimodalität, Medialität und Lokalität eine vertiefte Einsicht in die Musterhaftigkeit einer Textsorte ermöglichen kann, soll in diesem Beitrag anhand eines Beispielfalls illustriert werden: private Annoncen an Schwarzen Brettern. Diese werden ausgehend von einem Korpus von Fotografien aus öffentlichen Gebäuden in der Stadt Zürich untersucht (Teilkorpus 1) und einem Korpus aus gespeicherten Seiten von Internetangeboten, die sich selbst als „Schwarzes Brett“ bezeichnen (Teilkorpus 2), gegenübergestellt. Dabei wird ihre Musterhaftigkeit als Textsorte herausgearbeitet (zur Methode s. Kesselheim 2011; Hausendorf/Kesselheim 2008: 171–185).
Die Arbeit mit zwei Teilkorpora erlaubt es nicht nur, die Rolle, die Materialität, Medialität und Lokalität für die Beschreibung von Textsorten spielen, auf einer breiteren Datenbasis zu studieren. Sie gestattet gleichzeitig, dem Zusammenspiel von medialen und nicht-mediatisierten Lektüresituationen einerseits und textuellen Erscheinungsformen andererseits genauer auf die Spur zu kommen und so einen Beitrag zu leisten zur Forschung zu Textsortennetzen, indem ein Weg aufgezeigt wird, wie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Textsorten innerhalb von Textsortennetzen beschrieben werden können (s. dazu Adamzik 2011; Hauser 2014; Hauser/Luginbühl 2015).
2. Private Annoncen am Schwarzen Brett (Teilkorpus 1)
Nähern wir uns der Musterhaftigkeit der privaten Annoncen am Schwarzen Brett zunächst einmal traditionell über die Analyse ihrer sprachlichen Erscheinungsformen. Abb. 1 zeigt ein beliebiges Beispiel in abgetippter Form.
Korrekturlesen (D/E)
Bachelor-/ Masterarbeit, Dissertation
Redaktorin
mit langjähriger Erfahrung
überprüft Ihr Manuskript
Tel.: 044 184 53 58
Abb. 1: ein Beispieltext
Was kann man über die Analyse des in Abb. 1 wiedergegebenen Wortlauts über den fraglichen Text erfahren? Zunächst lässt sich aus dem Wortlaut das Textthema erschließen. Die elliptische Konstruktion in der ersten Zeile gibt den Hinweis, dass es in dem Text in irgendeiner Form um das Korrigieren von Qualifikationsarbeiten geht. Der nachfolgende, vollständige Satz bestätigt die in den ersten zwei Zeilen3 geweckten Thema-Erwartungen: „überprüft Ihr Manuskript“ (als fokussiertes Element in rhematischer Position). Auch die Tatsache, dass die Verfasserin auf sich mit einer Kategorie referiert, für die das Überprüfen von Manuskripten ‚kategoriegebunden‘ ist (Sacks 1992: 40–48), bestätigt den Thema-Status des Korrekturlesens.
In gleicher Weise lässt sich die Textfunktion rekonstruieren: Zwar ist der Satz „Redaktorin mit langjähriger Erfahrung überprüft Ihr Manuskript“ nicht explizit als Angebot formuliert. Doch liegt diese Auffassung nahe: Handelt es sich doch ganz offensichtlich nicht – wie der per „Ihr Manuskript“ angesprochene aktuelle Leser bzw. die angesprochene Leserin beurteilen kann – um die Beschreibung eines Ist-Zustands. Versteht man den Satz als Beschreibung eines Angebots, das vom jeweiligen Leser bzw. von der jeweiligen Leserin in Anspruch genommen werden kann, dann lässt sich auch die Selbstkategorisierung der Verfasserin als werbendes Element verstehen. Hier kommt nun die letzte Zeile ins Spiel: Mailadresse und Telefonnummer laden ein zum Eintreten in zwei mögliche Formen von Anschlusskommunikation mit der Verfasserin.4
Untersucht man auf diese Weise alle Texte des von mir erhobenen Korpus, lässt sich die Musterhaftigkeit der Textsorte wie folgt rekonstruieren: Beim Textthema handelt es sich um den Gegenstand einer (klein-)wirtschaftlichen Transaktion: ein Objekt, eine Dienstleistung, ein Arbeitsangebot und anderes mehr („Nachmieter gesucht“, „Book sale“, „Wollen Sie beginnen, ALTGRIECHISCH zu lernen?“). Die Darstellung des betreffenden Gegenstands ist dabei auf die Transaktion hin ausgerichtet. So orientiert sich die Thematisierung von Büchern beispielsweise am Aspekt ihrer Kaufbarkeit (über die Angabe von Neupreis, Erhaltungszustand usw.). Gleiches gilt für die Thematisierung des Verfassers oder der Verfasserin, die (nur) dann erfolgt, wenn das für die Herbeiführung der Transaktion relevant ist. So finden wir bei Korrektoren die Angabe ihres akademischen Titels („lic. phil.“), bei Nachhilfeanbietern Angaben zu ihrer Lehrerfahrung oder ihrem Studium („Erfahrener Anglist & Germanist“, „Diplomierter Physiker“, „mas / she“5), und im Fall von potenziellen WG-Bewohnern werden diejenigen Eigenschaften thematisiert, die sie für ein Mitwohnen qualifizieren (z.B. positive Eigenschaften wie „aufgestellt“ oder „unkompliziert“). Gleichzeitig finden sich in den Annoncen musterhaft Verweise auf eine Semantik der Wirtschaft: Preisangaben, alltägliche Währungskürzel wie „Fr.“, Verben für Transaktionen: „verkaufe“, „zu mieten“ usw.
Im Bereich der Textfunktion finden wir die textuellen Grundfunktionen Darstellung, Steuerung und Kontakt (s. Hausendorf/Kesselheim 2008: 139–170), die so miteinander verbunden sind, dass die Darstellung der Steuerung zuarbeitet, und zwar in dem Sinne, dass Lesende zur Aufnahme einer Nachfolgekommunikation bewegt werden sollen mit dem Ziel, etwas zu kaufen bzw. eine bezahlte Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Die Kontaktaufnahme ist der kommunikative Fluchtpunkt der Annoncen am Schwarzen Brett. Häufig findet die Kontaktnützlichkeit ihren Niederschlag in expliziten Hinweisen wie „Bei Interesse bitte SMS oder WhatsApp“, „Bei Interesse kontaktieren Sie …“, „Angebote bitte an …“ oder „Bitte melde dich doch“; nie fehlen Telefonnummer, Mail- oder Internetadresse (in der sich, wie schon im Beispiel oben, oft der Gegenstand der Transaktion wiederfindet – „[email protected]“).
Die Musterhaftigkeit der intertextuellen Beziehbarkeit (vgl. Hausendorf/Kesselheim 2008: 187–201) zeigt sich schließlich in den Verben suche und biete als Hinweisen auf die Textwelt der Kleinannoncen („Gesucht an Privatschule in Zürich ab sofort“, „Wir suchen Nachhilfelehrer für unsere Tochter“, „Was bieten wir dir?“).
Ist damit die Musterhaftigkeit dieser Textsorte ausreichend beschrieben? Müsste man jetzt nicht noch etwas Kontext dazu nehmen? Sollte man nicht das typische Layout der Annoncen zur Analyse hinzuziehen? Oder Elemente der Lektüresituation wie eben das Schwarze Brett?
Dies scheint mir, wie zu Beginn des Aufsatzes bereits angedeutet, die falsche Vorstellung zu sein. Denn im Alltag unserer Lektüre kommt nicht der Kontext zum Text hinzu. Wir gelangen zum Text erst über die Lektüresituation mit all dem, was in ihr wahrnehmbar und lesbar ist. Gegenüber dieser Situation muss der Text seine Eigenständigkeit erst signalisieren (durch Abgrenzungshinweise, s. dazu u.) und er muss verdeutlichen, ob und wie er in diese Situation eingebettet ist. Und durch die Situation wird die Frage, mit was für einem Text wir es zu tun haben, oftmals schon zu einem guten Stück beantwortet (vgl. Bühlers Ausführungen zur Sprache als „Diakritikon“, Bühler 1982: 158f.).
Wie also signalisiert der Text aus Abb. 1 seine Einbettung in die räumliche Umwelt? Zur Klärung dieser Frage möchte ich den Text einmal von Ferne betrachten und dann näher ‚heranzoomen‘.
Abb. 2: Der Text aus Abb. 1 in seiner Lektüresituation
Aus Abb. 2 können wir einiges darüber in Erfahrung bringen, in welcher Lektüresituation uns der hier untersuchte Text begegnet (es ist der gelbe Text oben rechts). Es handelt sich deutlich um ein öffentliches Gebäude.6 Das heißt: Der Text kann potenziell von einer Vielzahl der Verfasserin oder dem Verfasser in der Regel persönlich nicht bekannter Rezipienten gelesen werden. Man könnte nun sagen, dass der Text auf diese Tatsache ‚reagiert‘, indem er sich einer personalisierten Ansprache enthält.7 Handkehrum gilt aber auch: Indem die Annoncen ihre Leserinnen und Leser nicht persönlich adressieren, tragen sie zur Konstruktion der räumlichen Umgebung bei, in der die Lektüre stattfindet: Zu einer Konstruktion als öffentlichen Raum (vgl. Domke 2010 zur raumkonstruierenden Wirkung von Plakatwerbung). Abb. 2 zeigt uns aber noch etwas Weiteres: Der Text wird prospektiven Leserinnen und Lesern erst einmal aus der Ferne begegnen. Um den Text lesen zu können, müssen sich potenzielle Rezipienten durch den Raum auf den Text zu bewegen. Die auffällige gelbe Farbe des Zeichenträgers und seine Art der Anbringung, die ihn über den vorgegebenen Rahmen herausragen lässt, tragen dieser Tatsache Rechnung und weisen den Text zugleich als einen aus, der von Ferne wahrgenommen werden ‚will‘ und muss.
Der in Abb. 1 abgetippte Text begegnet uns auf Abb. 2 allerdings nicht als ‚Solitär‘, sondern als Teil eines bunten Ensembles größerer und kleinerer Texte. Dies erlaubt es uns zu verstehen, dass der untersuchte Text über seine Gestaltung nicht nur das Problem bearbeitet, aus der Ferne lesbar sein zu müssen, sondern auch, die Aufmerksamkeit potenzieller Leser in Konkurrenz zu anderen Texten hervorzurufen: Die große, fettgedruckte Überschrift, die trotz der geringen Größe der Annonce ins Auge fällt, und die Beschränkung des Texts auf wenige Wörter (und Zahlen) arbeiten einer Lektüre unter diesen Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie zu, einer Lektüre im Vorbeigehen, die jederzeit beendet sein kann, wenn der Blick des Lesenden zu einem benachbarten Text weiterschweift.8
Bei aller Orientierung an der „Unikalität“ (Sandig 2000: 4–6) weist sich die Annonce über die gemeinsame Beanspruchung des grau-braunen Textträgers als Teil einer Textsammlung aus (Hausendorf/Kesselheim 2008: 44–46), in der wir unschwer das Muster des Schwarzen Bretts wiedererkennen können. Die Platzierung innerhalb dieser Textsammlung erlaubt es Lesern, noch vor dem Entziffern der Wörter des Texts, also allein aufgrund der Situation, in der ihnen der Text begegnet, auf dessen wahrscheinliche Textsortenzugehörigkeit zu schließen und damit auf die wahrscheinlich realisierte Texthandlung. Diese Leistung des Schwarzen Bretts ist für die Verfasser der betreffenden Texte offenbar das Risiko wert, ihren Text der Konkurrenz alternativer Lektüreangebote auszusetzen.
Ein genauerer Blick auf die Materialität des Schwarzen Bretts erlaubt es uns, noch mehr über die in Abb. 2 dokumentierten Texte und ihr kommunikatives Funktionieren in Erfahrung zu bringen. So können wir sehen, dass der Zugang zum fraglichen Schwarzen Brett nicht durch irgendwelche Vorrichtungen verhindert wird; im Gegensatz etwa zu dem in Abb. 3 dokumentierten Schwarzen Brett:
Abb. 3: Schwarzes Brett hinter Glas
Die Anbringung von Texten hinter Glas, wie hier in Abb. 3, verhindert ein unautorisiertes Aufhängen von Texten und weist die derart geschützten Texte als offizielle Texte der Institution aus, die den Schlüssel zur Glasabdeckung hütet.9 Umgekehrt geht von dem Fehlen einer Abdeckung in Abb. 2 die Botschaft aus, dass es sich (eher) nicht um institutionelle Texte handeln dürfte. Ebenso wenig gibt es aber in der Lektüresituation einen Hinweis darauf, dass es sich um institutionelle ‚Mitmachtexte‘ handelt, wie eine im gleichen Gebäude zu findende Geräte-Ausleihliste mit angebundenem Kugelschreiber, der als Signal verstanden werden kann, dass Lesende dort vor Ort zu Mit-Verfasserinnen und -verfassern des vorbereiteten Formulartexts werden sollen.
Nachdem wir uns nun die räumliche Wahrnehmungssituation angeschaut haben, in der wir den analysierten Text auffinden, zoomen wir nun näher heran und wenden uns der Materialität des Texts selbst zu, wobei wir andere Texte aus meinem Korpus ergänzend und kontrastierend heranziehen werden.
Wieder können wir sehen, dass zahlreiche Aspekte der Materialität der Texte in Beziehung mit der Notwendigkeit stehen, im Vorübergehen lesbar sein zu müssen. So bestehen die Annoncen in meinem Korpus – wie auch der Text aus Abb. 1 – typischerweise aus nur einem Blatt, das auch nur auf einer Seite bedruckt ist. In den seltenen Fällen, dass ein Text am Schwarzen Brett aus mehreren Blättern besteht, sind diese aufgefächert oder durchlöchert und an eine Schnur gebunden. In all diesen Fällen ermöglicht dieser Aspekt der Materialität der Texte am Schwarzen Brett, dass die Texte gelesen werden können, ohne dass man sie von der Wand nehmen müsste. Sichtbar wird in den Fotografien meines Korpus auch die Orientierung an einer Vermeidung der Überdeckung des eigenen Texts. Instruktiv ist hier auch die Art und Weise, wie die Texte aus meinem Korpus mit ihrem Textträger verbunden sind. Einerseits sind sie vorübergehend befestigt (mit Reißzwecken oder Klebestreifen), was uns in Verbindung mit ähnlich gelagerten Indizien (Datumsstempeln10 oder sprachliche Formulierungen wie „Seit … angeschlagen“) Auskunft gibt über die zeitlich begrenzte Relevanz des Inhalts der von mir untersuchten Texte. Es handelt sich, so das Signal an dieser Stelle, um ephemere Texte, nicht um Texte, deren pragmatische Nützlichkeit es ist, aufbewahrt und vorgezeigt zu werden (wie etwa die Prüfungsakten in einer anderen Textsammlung der gleichen Institution: dem Aktenschrank).
Aber auch wenn die Texte nur vorübergehend befestigt sind, sind sie doch befestigt. Ihre Befestigung garantiert eine möglichst lange Sichtbarkeit, indem sie ein Mitnehmen des Texts verhindert (wodurch die Anzahl potenzieller Rezipienten erhöht wird). Gleichzeitig können wir in der Befestigung wieder ein Hinweis auf die kommunikative Einbettung der untersuchten Texte in eine spezifische Form von Kommunikation gewinnen: Die Befestigung am Schwarzen Brett kann als Signal verstanden werden, dass sich die Texte an ortsgebundene Rezipienten wenden. Wir haben es also mit einer auf die Anwesenheit der Rezipienten an einem physischen Ort angewiesenen Eins-zu-viele-Kommunikation zu tun, für die Domke (2010) den Begriff „Mesokommunikation“ geprägt hat.11
Gleichzeitig ist die Ortsgebundenheit des Texts aber auch ein Hindernis für die erfolgreiche Etablierung der Anschlusskommunikation, die für diese Textsorte, wie oben herausgearbeitet worden ist, zentral ist. Dieses Problem hat in der Ausbildung eines musterhaften Textteils seine Lösung gefunden, der in meinem Korpus ausgesprochen häufig anzutreffen ist und dessen Form unmittelbar wiedererkennbar ist:
Abb. 4: Coupons
Der auf Abb. 4 dokumentierte Textteil besteht aus einer größeren Zahl identischer Textblöcke, die nicht nur grafisch, sondern zusätzlich durch Einschnitte mit der Schere voneinander separiert sind. Diese auffällige materielle Gliederung – die dem musterhaften Textteil seinen Namen gegeben hat (Coupon, von frz. couper ‚schneiden‘) – legt dem Rezipienten eine bestimmte Form der Nutzung nahe: ‚Reiß mich ab und nimm mich mit!‘. Dass diese Form der Nutzung die intendierte ist, dafür spricht auch die Redundanz des auf die Abreißzettel Gedruckten: Der Rezipient kann schnell sehen, dass er durch das Abreißen eines der identischen Textschnipsel den Text nicht in seiner Vollständigkeit zerstört, selbst wenn diese Nutzung nicht – wie in einem Text aus meinem Korpus – mit der Formulierung „Folgende Coupons können Sie als Interessent mitnehmen“ ausdrücklich nahegelegt wird.
Die Funktion der Coupons ist es, das Zustandekommen von Folgekommunikation wahrscheinlicher zu machen: Anstatt sich die Kontaktdaten merken zu müssen, können Lesende das Abreißsegment als Gedächtnisstütze mitnehmen und es für die spätere Kontaktaufnahme nutzen. Das Zustandekommen der Folgekommunikation ist also weder räumlich an die Lektüresituation gebunden noch durch die Gedächtnisleistung der Lesenden zeitlich beschränkt. Darüber hinaus macht die Möglichkeit, die Kontaktdaten mitnehmen zu können, das Abreißen und Mitnehmen des ganzen Texts weniger attraktiv. Die Coupons tragen so dazu bei, dass der Text länger (und damit von mehr Leserinnen und Lesern) rezipiert werden kann.
Schließlich indizieren die Coupons auch die Größenordnung der erwarteten Rezipientenschaft: Die begrenzte Anzahl von Abreißsegmenten kann (im Verein mit der Bindung der Annoncen an einen räumlich eingeschränkten Ort der Rezeption) als Hinweis darauf verstanden werden, dass es hier nicht darum geht, ‚die Massen‘ anzusprechen.
Über die Beschäftigung mit den materiellen Erscheinungsformen, in denen der Text seinen Leserinnen und Lesern in der Lektüresituation begegnet, ließ sich die Textsorte ‚Annoncen am Schwarzen Brett‘ also wesentlich präziser beschreiben, nämlich als ephemere Kommunikation, die sich an eine nicht persönlich adressierte Zahl von Rezipienten richtet, welche sich zur Lektüre an einem öffentlich zugänglichen Ort befinden müssen. Wir haben gesehen, wie der Text über das Material und die Platzierung des Textträgers, die große Schriftgröße, die ‚Einseitigkeit‘ des Drucks und die Reduktion des sprachlichen Ausdrucks die spezifische räumliche Situation in Rechnung stellt, in der er zu lesen ist, und wie diese Merkmale umgekehrt die spezifische12 Lektüresituation konstruieren, in die Lesende den Text als eingebettet verstehen sollen:
- eine Lektüresituation, die eine Rezeption des Texts aus der Ferne und im Vorübergehen erwartbar und möglich macht;
- eine Situation, in der sich der fragliche Text gegen andere alternative Lektüreangebote durchsetzen muss und
- eine Situation, in der die musterhafte Ausprägung des Textsammlung-Trägers Schwarzes Brett Erwartungen über die Textsorte und die von ihr realisierte Texthandlung sozusagen ‚vorspurt‘.
3. Private Annoncen an „Schwarzen Brettern“ im Internet (Teilkorpus 2)
Die aufgeführten Merkmale, die die untersuchten Texte auf eine ganz bestimmte Art und Weise mit der räumlichen Umwelt verbinden, in der sie zu lesen sind, unterscheiden die Annoncen am Schwarzen Brett nicht nur von Buchtexten, an denen sich die textlinguistische Theoriebildung oftmals orientiert hat und die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie die Rolle der Lektüresituation für die Textkommunikation zurückgedrängt haben (vgl. Ehlich 1994: 30; zu „lokomobile[n]“ Texten und Hausendorf/Kesselheim/Kato/Breitholz 2017: 84–88). Sie unterscheiden die bisher untersuchten Annoncen an ‚echten‘ Schwarzen Brettern auch von Annoncen auf Internetseiten, die sich selbst „Schwarze Bretter“ nennen.
Abb. 5 zeigt ein solches Beispiel, wieder zuerst abgetippt.
S: Nachhilfe Statistik
von Anja Meister (…) - Mittwoch, 7. September 2016, 21:20
Hallo! Ich beginne bald mit dem 2. TZ Semester in angewandter Psychologie und bin auf der Suche nach einer Person, die mir ca. alle 2 - 4 Wochen Nachhilfe in Statistik geben könnte. Ich bin um jeden Hinweis oder jede Kontaktaufnahme sehr dankbar! Anja
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Abb. 5: Statistiknachhilfe, <moodle.zhaw.ch/mod/forum/view.php?f=2630&page=1> [26.09.16]
Auf den ersten Blick gleicht dieses Beispiel dem oben untersuchten (s. Abb. 1). Thematisch geht es hier um eine Dienstleistung („Nachhilfe Statistik“), die von der Verfasserin nachgefragt wird („bin auf der Suche“). Wie oben ist die Thematisierung persönlicher Eigenschaften auf den Gegenstand der wirtschaftlichen Transaktion zugeschnitten („beginne bald mit dem 2. TZ Semester in angewandter Psychologie“). Erneut ist die Herstellung von Kontakt die zentrale pragmatische Nützlichkeit des Texts; explizit benannt wird sie in der Formulierung „Ich bin um jeden Hinweis oder jede Kontaktaufnahme sehr dankbar!“. Als Intertextualitätshinweis auf die Welt der Kleinannonce und deren grundlegende Unterscheidung in Texte des Suchens und solche des Bietens finden wir hier das einleitende „S“, das – einer in diesem Forum verabredeten Konvention folgend – für „Suche“ steht.
Während auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks vieles Anlass zu der Vermutung gibt, dass private Annoncen im Internet der gleichen Textsorte angehören wie solche auf Schwarzen Brettern im öffentlichen Raum, werden folgenreiche Unterschiede sichtbar, sobald wir die Annoncen im Internet wieder so betrachten, wie sie uns in der Lektüresituation begegnen und uns ihnen dann in einer hereinzoomenden Bewegung nähern.