Multiple Sklerose - Sascha Hansen - E-Book

Multiple Sklerose E-Book

Sascha Hansen

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Beschreibung

Die Multiple Sklerose (MS) gilt als die häufigste chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung des jungen Erwachsenenalters. Der Krankheitsverlauf kann sehr variabel sein und die Behandlung erfordert oft auch ein fundiertes neuropsychologisches Fachwissen. In diesem Band werden zunächst grundlegende Kenntnisse über das Störungsbild, Ätiologie, Pathogenese und Störungstheorien dargestellt. Anschließend werden grundlegende neuropsychologische Kenntnisse für die fundierte Erfassung kognitiver Beeinträchtigungen vermittelt. Als wichtige zusätzliche Aspekte wird dabei auch auf die bei MS häufig auftretenden Faktoren Fatigue und Depressivität eingegangen. Darauf aufbauend werden die Möglichkeiten neuropsychologischer Therapie bei MS diskutiert. Ein beispielhafter Aufbau einer achtsamkeitsbasierten Intervention wird vorgestellt. Schließlich wird anhand eines ausführlichen Fallbeispiels das komplexe Zusammenwirken neuropsychologischer, psychosozialer und affektiver Variablen beleuchtet.

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Sascha Hansen

Lena Wettinger

Philipp Keune

Multiple Sklerose

Fortschritte der Neuropsychologie

Band 23

Multiple Sklerose

Dr. Sascha Hansen, Lena Wettinger, Dr. habil. Philipp Keune

Die Reihe wird herausgegeben von:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Hans-Otto Karnath, Dr. Hendrik Niemann, Prof. Dr. Boris Suchan

Die Reihe wurde begründet von:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Dr. Hendrik Niemann

Dr. Sascha Hansen, geb. 1984. 2004–2011 Studium der Psychologie in Kiel und Bern. Seit 2012 klinisch-therapeutische Tätigkeit als Neuropsychologe an der Klinik für Neurologie der Klinikum Bayreuth GmbH. Seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Neurologie in Bayreuth. 2018 Promotion. Arbeitsschwerpunkte: Multiple Sklerose, Neurorehabilitation.

Lena Wettinger, geb. 1996. 2015-2019 Studium der Psychologie (B.Sc.) in Bamberg. Seit 2015 Stipendiatin des Max Weber-Programms Bayern. 2017-2019 Studentische Mitarbeiterin in der Neuropsychologie an der Klinik für Neurologie der Klinikum Bayreuth GmbH. Seit 2019 Masterstudium der Psychologie (M.Sc.) in Bamberg.

Dr. habil. Philipp Keune, geb. 1981. 2002–2008 Studium der Psychologie in Budapest und Bochum. 2008-2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen. 2011 Promotion. Seit 2011 Neuropsychologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Neurologie der Klinikum Bayreuth GmbH. 2020 Habilitation an der Universität Bamberg.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Sina-Franziska Mollenhauer, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2021

© 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2913-7; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2913-8)

ISBN 978-3-8017-2913-4

https://doi.org/10.1026/02913-000

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Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

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Inhaltsverzeichnis

1 Beschreibung der Störung

1.1 Allgemeine Einleitung

1.1.1 Definition der Störung, neurologische Diagnostik und klinisches Bild

1.2 Epidemiologische Daten

1.3 Verlaufsformen und Prognose

2 Ätiologie

2.1 Umwelteinflüsse

2.2 Genetik

3 Pathogenese, Pathophysiologie und neuropsychologische Störungstheorien

3.1 Pathogenese und Pathophysiologie

3.2 Neuropsychologische Störungstheorien

4 Neuropsychologische Diagnostik

4.1 Einflussfaktoren auf die kognitive Leistungsfähigkeit

4.2 Das neuropsychologische Defizitprofil bei MS

4.3 Die neuropsychologische Untersuchung

4.3.1 Das neuropsychologische Screening bei MS

4.3.2 Die ausführliche neuropsychologische Diagnostik

4.3.2.1 Aufmerksamkeit

4.3.2.2 Gedächtnis

4.3.2.3 Exekutivfunktionen

4.3.2.4 Visuo-räumliche Funktionen

4.3.2.5 Zusammenfassung

4.4 Weitere Aspekte neuropsychologischer Diagnostik bei MS

4.5 Neuropsychologische Diagnostik im Zusammenhang mit Fahreignung

5 Neuropsychologische Therapie bei MS

5.1 Neuropsychologische Therapie der Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisfunktionen

5.2 Neuropsychologische Therapie der Gedächtnisleistungen

5.3 Neuropsychologische Therapie von Depressivität und Fatigue

5.4 Berufliche Teilhabe als Therapieziel

5.5 Effekte pharmakologischer Behandlungen

5.6 Zusammenfassung

6 Fallbeispiel

6.1 Erläuterungen zum Fallbeispiel

7 Literatur

8 Glossar

Karten

Die Verlaufsformen Multipler Sklerose

Leitfaden für die neuropsychologische Diagnostik bei Multipler Sklerose

Konzept eines Achtsamkeitstrainings für Patientinnen mit Multipler Sklerose

|1|1 Beschreibung der Störung

1.1 Allgemeine Einleitung

Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. Bei dieser chronischen Autoimmunerkrankung führen durch das körpereigene Immunsystem hervorgerufene Entzündungsprozesse im zentralen Nervensystem (ZNS), d. h. im Gehirn und Rückenmark, zu Funktionsausfällen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Pathophysiologisch kommt es hierbei durch zentralnervöse autoinflammatorische Aktivität zur Schädigung der Myelinscheiden und Axone. Der Begriff MS beschreibt dabei, dass die Entzündungsaktivität mit resultierenden neuronalen Schäden an multiplen, also verteilten Stellen und wiederholt im ZNS vorliegt. Während zu Beginn der Erkrankung auftretende Funktionsausfälle meist reversibel sind, bzw. es zu Spontanremission kommt, entwickelt sich im Verlauf eine chronische Neurodegeneration mit bleibenden Störungen. Art und Ausprägung der Schädigungen sind dabei insgesamt unvorhersehbar und können mit motorischen, sensorischen und Störungen vegetativer Funktionen (zum Beispiel Blasenschwäche), der Balance und Koordination einhergehen. Darüber hinaus können sie auch zu diversen kognitiven Leistungseinbußen führen. Patientinnen1 mit MS sind außerdem häufig von Zuständen starker Erschöpfung (Fatigue) und von depressiver Symptomatik betroffen.

Bei der Mehrheit der Patientinnen (ca. 85 – 90 %) tritt die Entzündungsaktivität schubweise auf, sodass sich entsprechende neurologische Ausfälle relativ plötzlich manifestieren, anschließend abklingen und sich wieder zurückbilden. Im Verlauf kommt es in der Regel jedoch dazu, dass zwischen abgrenzbaren Schüben eine Restsymptomatik erkennbar bleibt, deren Ausprägung längerfristig schleichend zunimmt. Bei einem kleineren Teil der Patientinnen (ca. 10 – 15 %) entwickeln sich neurologische Ausfälle von Beginn an schleichend, wobei keine eindeutigen Schübe inflammatorischer Aktivität abgegrenzt werden können.

|2|Aufgrund der Tatsache, dass sich bei der schubförmigen MS Funktionsdefizite gerade zu Beginn der Erkrankung vollständig spontan zurückbilden können, vergehen häufig mehrere Jahre, bis es zu einer Diagnosestellung kommt. Dieser Umstand stellt eine große Herausforderung für die Behandlung dar, da immunsuppressive Medikamente möglichst früh gegeben werden müssen, um effektiv sein zu können.

Einleitend ist außerdem hervorzuheben, dass die Rückkehr einer Patientin zur normalen kognitiven bzw. körperlichen Leistungsfähigkeit nach einem Schub nicht unbedingt gleichbedeutend damit sein muss, dass sich auch die Aktivität des Immunsystems wieder im absoluten Normbereich bewegt. Vielmehr geht man nach aktuellem Kenntnisstand davon aus, dass Patientinnen mit MS eine chronisch atypische Immunaktivität aufweisen können, die von Zeit zu Zeit eine kritische Schwelle überschreitet und sich dann in Form von messbaren neurologischen Ausfällen (hierunter auch kognitive Defizite) manifestiert. Dieses Konzept eines Schwellenmodells spiegelt sich auch in aktuellen Netzwerktheorien kognitiver Störungen bei MS wider, wie in späteren Kapiteln ausgeführt wird. Aus der Tatsache, dass die Immunaktivität bei Menschen mit MS somit chronisch – wenn auch schwankend – atypisch erhöht ist, ergibt sich für medikamentöse Therapien außerdem, dass diese kontinuierlich angewandt werden müssen, um die autoreaktive Immunaktivität zu hemmen und den Prozess neuronaler Schädigung so lange wie möglich zu verzögern.

1.1.1 Definition der Störung, neurologische Diagnostik und klinisches Bild

Aktuelle diagnostische Vorgaben leiten sich aus den McDonald-Kriterien ab (McDonald et al., 2001; Polman et al., 2011; Thompson et al., 2018). Für die Diagnostik der MS werden sowohl anamnestische Informationen mit Hinweisen auf bereits stattgefundene Schübe und entsprechende neurologische Ausfälle als auch unterschiedliche objektive Parameter herangezogen. Ferner wird bei der Diagnostik berücksichtigt, ob eine zeitliche bzw. örtliche Dissemination gegeben ist, d. h. bereits mehrfach Entzündungsherde/Schübe vorgelegen haben (zeitliche Dissemination) und Läsionen mit unterschiedlicher Lokalisation im zentralen Nervensystem identifiziert werden können (örtliche Dissemination). Ein Schub ist in diesem Zusammenhang definiert als das erstmalige Auftreten oder die Reaktivierung von klinischen Ausfällen und Symptomen, die entweder subjektiv berichtet oder durch objektive Messverfahren festgestellt werden können. Dabei ist ein Schub im Rahmen der MS gegeben, wenn neurologische Symptome mindestens 24 Stunden andauern. Schübe werden mit der Vorgabe voneinander abgegrenzt, dass mindestens 30 Tage zwischen den einzelnen Episoden vergangen sind. Die diagnostischen Vorgaben nach McDonald-Kriterien werden in Tabelle 1 zusammengefasst.

|3|Tabelle 1: Diagnostikschema nach McDonald-Kriterien

Schübe

Läsionen

Weitere Kriterien, die für eine MS-Diagnose erforderlich wären

2 oder mehr

Nachweis von zwei oder mehr Läsionen oder Nachweis einer Läsion mit hinreichender Information über einen früheren Schub

Keine

2 oder mehr

Nachweis einer Läsion

Örtliche Dissemination, belegt durch:

Eine oder mehr T2 Läsionen* in mindestens zwei für MS typischen Regionen**, oder

Abwarten eines weiteren Schubes, der auf eine Läsion in einer anderen Region zurückzuführen ist

1

Nachweis von zwei oder mehr Läsionen

Zeitliche Dissemination, belegt durch:

gleichzeitiges Vorhandensein asymptomatischer Kontrastmittel aufnehmender*** und nicht aufnehmender Läsionen, oder

neue T2 und/oder Kontrastmittel aufnehmende Läsion bei nachfolgender MRT-Untersuchung, zeitunabhängig von der früheren Untersuchung, oder

Abwarten eines weiteren Schubes

1 (Klinisch isoliertes Syndrom, KIS)

Nachweis einer Läsion

Örtliche Dissemination, belegt durch:

Eine oder mehr T2 Läsionen in mindestens zwei für MS typischen Regionen**, oder

Abwarten eines weiteren Schubes, der auf eine Läsion in einer anderen Region zurückzuführen ist

und

Zeitliche Dissemination, belegt durch:

gleichzeitiges Vorhandensein asymptomatischer Kontrastmittel aufnehmender und nicht aufnehmender Läsionen, oder

neue T2 und/oder Kontrastmittel aufnehmende Läsion bei nachfolgender MRT-Untersuchung, zeitunabhängig von der früheren Untersuchung, oder

Abwarten eines weiteren Schubes

|4|0 (schleichende Progression von Beginn an, PPMS)

Prospektive oder retrospektive klinische Verschlechterung über ein Jahr und mindestens zwei der folgenden drei Kriterien:

Nachweis örtlicher Dissemination durch mindestens eine T2 Läsion in einer für MS typischen Region

Nachweis örtlicher Dissemination durch mindestens zwei T2 Läsionen im Rückenmark

oder positiver Liquorbefund (Nachweis oligoklonaler Banden, erhöhter IgG-Index)

Anmerkungen: IgG: Immunglobulin Gamma; PPMS: primär chronisch progrediente MS; *Läsionen in einer T2-gewichteten MRT-Aufnahme erscheinen in Form einer hohen Signalintensität typischerweise als ovale oder elliptische helle Flecken; **Nach McDonald-Kriterien relevante Regionen: periventrikulär, juxtakortikal, infratentoriell, Rückenmark; ***Über das intravenös verabreichte Kontrastmittel Gadolinium können aktive Entzündungen identifiziert werden.

Aufgrund der Tatsache, dass die Läsionslast im ZNS unvorhersehbar und unsystematisch auftritt, gibt es bei MS keine eindeutig definierenden, spezifischen Symptome. Auffälligkeiten in MRT-Untersuchungen können bei ca. 95 % der Patientinnen festgestellt werden, gehen jedoch nicht immer mit dem Auftreten von Symptomen einher (Compston & Coles, 2008). Dennoch können Symptomgruppen unterschiedlichen Regionen im ZNS heuristisch zugewiesen werden (siehe Tabelle 2).

Kognitive Defizite sind bei ca. 60 % der Patientinnen nachweisbar und werden in den Kapiteln 4 und 5 detailliert behandelt. Abgesehen von kognitiven Einschränkungen zählen motorische Auffälligkeiten sowie Sensibilitätsstörungen zu den häufigsten initialen Symptomen. Negative Auswirkungen der Erkrankung auf die Gehfähigkeit können bereits sehr früh erkennbar sein und werden besonders deutlich, wenn Patientinnen versuchen schnell zu gehen (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006; Comber, Galvin & Coote, 2017). Im Verlauf kann es zu einer Verkürzung der Gehstrecke kommen und motorische Fatigue-Symptomatik erkennbar werden. Letztere manifestiert sich neben einer verkürzten Gehstrecke in einer während des Gehens zunehmenden Verlangsamung, für die ein Zusammenhang mit der subjektiven Erfahrung motorischer Fatigue bei Alltagsaktivitäten berichtet wurde (Burschka et al., 2012). Die Prävalenz von Fatigue wird auf bis zu 83 % geschätzt (Giovannoni, 2006; Kluger, Krupp & Enoka, 2013). Der Begriff Fatigue beschreibt dabei im Allgemeinen das Gefühl von Ermüdung und Er|5|schöpfung, die Wahrnehmung eines Ungleichgewichts zwischen erwarteter Anstrengung und tatsächlicher Leistung oder generell ein zunehmendes Empfinden von Anstrengung (Rudroff, Kindred & Ketelhut, 2016).

Tabelle 2: Überblick betroffener Regionen und assoziierter Symptome

Region

Betroffen

Manifestation

Großhirn

Kognition

Einschränkungen der Aufmerksamkeitsleistung, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Exekutivfunktionen, Arbeits-/Kurzzeitgedächtnisleistung, planerischer Fähigkeiten, Neugedächtnisleistung

Motorik

Schwäche, Schwierigkeiten bei feinmotorischen Fertigkeiten, Hyper-/Hypotonus, Spastik

Sensorik

Parästhesien (Sensibilitätsstörungen), Taubheitsgefühle, Schmerzen, Hitze- & Kältegefühle

Affekt

Depressivität, verflachter Affekt, Euphorie

(Epilepsie)

Selten, sekundär zu potenziellen neuronalen Schäden

Sehnerv

Sehvermögen

Unscharf oder verschwommen Sehen, Gesichtsfeldausfälle

Kleinhirn

Koordination, Balance

Posturaler & Aktionstremor, Defizite im Balancevermögen, Gangataxie, Dysarthrie

Hirnstamm

Schlucken, Balance, Sehvermögen

Schluckstörungen, Schwindel, Diplopie (Doppelbilder), Nystagmus, Dysarthrie

Rückenmark

Autonome Funktionen, Motorik

Blasen- & Verdauungsstörungen, sexuelle Funktionsstörungen, Schwäche, Spastik

Anmerkung: Basierend auf Compston und Coles (2008)

Auch Einschränkungen im Bereich der Feinmotorik können beobachtet werden. Es wurde gezeigt, dass bei Patientinnen mit motorischen Defiziten eine atypische Aktivierung in motorischen kortikalen Arealen vorliegt. Ein scheinbar paradoxer Befund in funktionellen MRT-Untersuchungen ist dabei, dass Patientinnen mit eingeschränkter motorischer Leistungsfähigkeit relativ zu gesunden Vergleichspersonen eine erhöhte kortikale Aktivierung zeigen können. Diese erhöhte kortikale Aktivierung wurde als kompensatorischer Mechanismus interpretiert (Pantano et al., 2005; Pantano, Mainero & Caramia, 2006). Auch ein erhöhter Bedarf kognitiver Kontrollprozesse für motorische |6|Aufgaben konnte nachgewiesen werden (Colorado, Shukla, Zhou, Wolinsky & Narayana, 2012) und stellt eine mögliche Erklärung für das Auftreten von Fatigue-Symptomatik dar. Beim Fortschreiten der Erkrankung kommt es häufig zum Auftreten von Spastik, die unter anderem mit einer Beeinträchtigung der funktionalen Integrität des kortikospinalen Traktes in Zusammenhang steht (Hofstadt-van Oy, Keune, Muenssinger, Hagenburger & Oschmann, 2015; Patejdl & Zettl, 2017).

Sensibilitätsstörungen sind bei ca. der Hälfte der Patientinnen erkennbar und können sowohl durch Parästhesien als auch durch eine atypische Oberflächensensibilität und Schmerzen charakterisiert sein (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006; Rae-Grant, Eckert, Bartz & Reed, 1999). Entzündungen des Sehnervs (Optikusneuritis) sind ebenfalls häufig und können zum Beispiel mit verschwommenem/unscharfem Sehen und einer Einschränkung des Visus einhergehen. Darüber hinaus können Patientinnen auch von Doppelbildern berichten, wenn es zu Störungen der Okulomotorik kommt. Auch das Auftreten eines Nystagmus, d. h. unwillkürlicher, rhythmischer Bewegungen der Augen, kann ein Symptom sein (Graham & Klistorner, 2017). Auffälligkeiten im Bereich des Sehvermögens spielen gerade bei der Erstdiagnose von MS eine wichtige Rolle. Aufgrund der Salienz dieser Defizite und der deutlichen Auswirkungen auf den Alltag von Patientinnen führen sie häufig dazu, dass Spezialistinnen aufgesucht werden und so ein entsprechender diagnostischer Prozess eingeleitet werden kann.

Die aktuellen Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der MS liefern einen orientierenden Standard für entsprechende Untersuchungen (Deutsche Gesellschaft für Neurologie, 2012; Gold, Wiendl & Hemmer, 2014). Bei Verdacht auf MS gilt demnach grundsätzlich die Empfehlung, ggf. in der weiter zurückliegenden Vergangenheit aufgetretene Ereignisse, die von potenzieller Relevanz für die MS sein könnten, zu explorieren. Diese Vorgabe erscheint plausibel, da die Möglichkeit besteht, dass gerade frühe Symptome, die noch nicht zum Aufsuchen einer Neurologin geführt haben, verkannt wurden. Ferner gilt die Empfehlung, möglicherweise schon bekannte Autoimmunerkrankungen in der Familie zu explorieren und weitere potenzielle Auffälligkeiten im Alltag zu erheben, hierunter auch solche, die als „versteckte Symptome“ bezeichnet werden können, so zum Beispiel Fatigue-Symptomatik, kognitive Auffälligkeiten und Hinweise auf depressive Symptome. Außerdem wird empfohlen, weitere Symptome, die möglicherweise bis zu diesem Zeitpunkt nicht thematisiert wurden, zum Beispiel im Bereich der Sexualfunktion, zu explorieren.

Das Wichtigste auf einen Blick

Die Diagnose einer MS erfolgt auf der Grundlage der McDonald-Kriterien, wonach eine zeitliche sowie örtliche Dissemination nachgewiesen werden muss. Das heißt, dass in der Regel schon mehrfach Entzündungsherde bzw. Schübe |7|aufgetreten sind und sich Läsionen im ZNS an unterschiedlichen Orten lokalisieren lassen. In Abhängigkeit davon, welche Funktionsbereiche des zentralen Nervensystems von entzündlichen Prozessen betroffen sind, lassen sich unterschiedliche motorische, sensorische und auch vegetative Symptome beobachten. Häufig treten beispielsweise Koordinationsstörungen, Gangunsicherheit, Hyp- und Parästhesien, spastische Paresen, Visusminderungen, Doppelbilder, Dysarthrie sowie Blasen- und Sexualfunktionsstörungen auf. Ebenso zählen kognitive Beeinträchtigungen sowie Fatigue zu häufigen MS-bedingten Phänomenen.