Mündigkeit und persönliche Verantwortung - Hilmar Hacker-Kohoutek - E-Book

Mündigkeit und persönliche Verantwortung E-Book

Hilmar Hacker-Kohoutek

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Beschreibung

Demokratie ohne hinreichend mündige Bürger ist undenkbar. Sind wir also alle mündig, weil unser politisches System als Demokratie gilt? Oder wird uns da was vorgemacht? Und wie sieht es mit unserer Bereitschaft zu persönlicher Verantwortung aus, zumal Verantwortung immer ein gewisses Maß an Mündigkeit bedingt? Beide Begriffe, Mündigkeit und Verantwortung, sind durch übermäßigen und falschen Gebrauch leider weitgehend sinnentleert. Da nun aber Mündigkeit nach wie vor das Prinzip einer Ethik der persönlichen Verantwortung ist, wird es im Sinne eines wahren Demokratieverständnisses höchste Zeit, beiden Begriffen wieder Sinn zu ergeben und ihren Zusammenhang verständlich zu machen. Insofern versteht sich diese Arbeit als geistigen Impuls und Versuch, unserer niedersinkenden Demokratie wieder auf die Beine zu helfen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Bewußtsein

Intelligenz und Intelligenzmessung

Über den Willensbegriff bei Schopenhauer

Willentliche Handlungen

Mündigkeit

Quellen des Begriffs Mündigkeit

'Mündigkeit', ein Rechtsbegriff

Mündigkeit bei Kant

Mündigkeit nach Kant bis 1945

Mündigkeit nach 1945

Was heißt nun Mündigkeit?

Kritik der Mündigkeit

Mündigkeit, Wissen, Bildung

Intelligenz als Mündigkeitsfaktor

“Diktatur des Man”

Zusammenfassung

Verantwortung

Semantik der Verantwortung

Elemente der Verantwortung

Das Subjekt der Verantwortung

Das Subjekt der persönlichen Verantwortung

Das Subjekt der institutionellen Verantwortung

Das Subjekt der kollektiven Verantwortung

Instanzen der Verantwortung

Verantwortung vor der Mitwelt

Mündigkeit als Bedingung für Selbstverantwortung

Verantwortungsbewußtsein

Verantwortlichkeit als Haltung

Verantwortlichkeit äußert sich in Handlungen

Verantwortungsbewußtsein als Erziehungsziel

Wissen als notwendige Voraussetzung der Fürsorge

Persönliche Verantwortung

Stufen163 persönlicher Verantwortung

Persönliche Verantwortung setzt Selbstverantwortung voraus

Das WER der Selbstverantwortung liegt im ICH

Das Wer der Selbstverantwortung zeigt sich im Willen

Das WAS der Selbstverantwortung

Das WER ist für sich selbst verantwortlich

WOVOR findet Verantwortung statt?

"Du sollst dir dein Bildnis machen!"

Das Selbstkonzept als Wegweiser zur Mündigkeit

Selbstkonzepte und Selbstverwirklichung

Selbstkonzepte gründen auf Grundselbstkonzeptionen

Die Suche nach dem Selbst

Einstellungen und Grundselbstkonzeptionen

Die Vorstellung als Wesenselement des Selbstkonzepts

Was also heißt Verantwortung?

Mündigkeit ist das Prinzip persönlicher Verantwortung

Die mündige Person ist ein potentieller Staatsfeind

Welches Wissen braucht der Mensch?

Literaturverzeichnis:

Vorwort

In den rührigen Zeiten der Endsechzigern war es ‘normal’, mündig zu sein, indes verflachte zugleich der Begriff Mündigkeit zum Schlagwort, das in keiner öffentlichen Rede fehlen durfte. Zur Phrase, zum Klischee degeneriert, verstand unter Mündigkeit von nun an jeder, was er wollte, oder besser gesagt, was er sollte, will sagen, er assoziierte Bedeutungen, die von vernünftig, kritisch, verantwortungsbewußt und entscheidungsfähig über freiheitlich, emanzipiert bis gleichberechtigt und human reichten. Während die Mündigkeit dahinsiechte, erblühte ein anderes Wort: Verantwortung. Hans Jonas Buch Das Prinzip Verantwortung fand Gehör und begann zu wirken. Wer sich nun immer dazu berufen fühlte, redete und schrieb jetzt im Allgemeinen und Besonderen über das ethisch hohe Gut der Verantwortung des Menschen. Und dies zurecht. Schließlich kommen Naturzerstörung, Müllberge, Ozonloch, Luftvergiftung, folgenschwere Unfälle durch Steuerungsfehler usw. nicht von ungefähr, es sind allemal Folgen menschlichen Handelns, die von niemand anderem als dem Menschen verursacht und deshalb von ihm zu verantworten sind. Damit aber der Mensch an seinen selbstgemachten Problemen am Ende nicht zugrunde geht, müsse er, darin herrschte Einvernehmen, dringend die Maximen seines Handelns ändern. Doch dafür müsse eine neue Ethik her: die Ethik der Verantwortung. Wie gesagt, man redete und schrieb darüber, Veröffentlichungen in Hülle und Fülle. Da lief schon was, nur, das Reden wurde schleichend zum Gerede, der Verantwortung drohte das Schicksal der ausgelaugten Mündigkeit: Verantwortungsethik wurde Mode - und wie diese kurzlebig.

Zwar scheint das Wort leer und der Begriff verdorben, doch die Idee der Verantwortung ist nach wie vor in der Welt und wird es auch bleiben und zwar keinen Tag weniger als ihr Träger, der Mensch, genauer gesagt, der einzelne konkrete Mensch, die Person.

Nun ist aber eine Bedingung der Möglichkeit, Verantwortung zu tragen, ein subjektives Bewußtsein, das die Reife und Fähigkeit besitzt, die Motive seines Handelns zu erkennen und dessen Folgen zu ermessen. Und ein solcher Bewußtseinszustand wird hier als Mündigkeit verstanden. Demnach gehören Verantwortung und Mündigkeit unlösbar zusammen. Ohne Mündigkeit keine Verantwortung, Verantwortung setzt Mündigkeit voraus.

Eine Verantwortungsethik ohne das Prinzip Mündigkeit ist gar nicht denkbar: Mündigkeit ist das Prinzip einer Verantwortungsethik. Diesen Zusammenhang zu klären sowie die praktischen Konsequenzen aufzuzeigen, die das Sorgen und Handeln des einzelnen Menschen betreffen, erscheint notwendig angesichts des akademischen Brauchs, solche Themen gewöhnlich im Elfenbeinturm abzuhandeln, wo in erster Linie die innere Geschlossenheit der Theorie zählt, jedoch ihre praktische Verwendbarkeit erst gar nicht erwogen wird.

Diese Arbeit richtet sich an den einzelnen Menschen. Sie ist ein Appell an seine moralische Souveränität, künftig sein Dasein konsequenter in die Hand seiner persönlichen Verantwortung zu nehmen.

Einleitung

"Daß die Verheißung der modernen Technik in Drohung umgeschlagen ist, oder diese sich mit jener unlösbar verbunden hat" ist Hans Jonas’ Ausgangsthese in seinem 1979 erschienenen Buches "Das Prinzip Verantwortung". Ökologische Gefahren, die in erster Linie durch kurzsichtiges menschliches Handeln verursacht werden, und einer Technologie, die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft hat, geben Anlaẞ zur Sorge für das Überleben der Menschheit, eine Sorge, die laut Jonas ins Zentrum der Ethik rücken muß, "und zwar mit Zeit- und Raumhorizonten, die denen der Taten entsprechen" (1979, S.9), womit aber der Ethik eine neu zu definierende Bedeutung zugewachsen sei, die theoretisch fundiert werden müsse. Eine solche Theorie der Verantwortung zu erstellen, ist dann auch der Anspruch des Buches von Jonas.

Obgleich Hans Jonas den entscheidenden Anstoß zur Diskussion über eine zeitgemäße "neue Ethik" mit "gänzlich neuen ethischen Prinzipien" gab, gilt er dennoch nicht als Vater des Gedankens von der Verantwortung in der Ethik. Als solcher wird Max Weber genannt, der schon 1919 in einem Vortrag die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik vorgeschlagen und dabei klar Partei für die Verantwortungsethik ergriffen hat, nämlich dafür, "daß man für die voraussehbaren Folgen seines Handelns aufzukommen hat" (zit. nach Ropohl 1989, S.154f).

Die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik gehört über die geisteswissenschaftlichen Diskussion hinaus nun auch zum Standart-Repertoire bundesdeutscher Politik-Rhetorik. Ein klares Indiz für die leichte Verfügbarkeit der Worte, womit die Ertraglosigkeit der Auseinandersetzung quasi Programm ist wie allemal ein Streit um bloße Begriffe1.

Dennoch bleibt es Hans Jonas’ Verdienst, Verantwortung als zeitbedingt dringliches Prinzip ins Zentrum ethischer Reflexion gebracht zu haben, obgleich, das sei einschränkend gesagt, es Jonas leider nicht gelingt, das Prinzip Verantwortung von religiösen Bezügen zu lösen.

Angesichts der inzwischen zahllosen Publikationen zum Thema Verantwortungsethik und dessen Bemühung für alle möglichen Lebensbereiche sowie der leichtfertigen Verwendung des Wortes Verantwortung und seiner Ableitungen entsteht das ungute Gefühl, daß diese Vokabel nicht mehr viel gilt und zum Allerweltswort2 geworden ist. Dem Übel wird hier mit der Aufgabenstellung Rechnung getragen, das mißbrauchte und hinfällig gewordene Wort Verantwortung begrifflich wieder auf die Beine zu stellen, um dann zu fragen, wie, wann und wo Verantwortung von der Person als Verantwortungsträger tatsächlich realisiert werden kann.

Bei der Lektüre über 'Verantwortung und Ethik' fällt auf, daß von der Mündigkeit des Verantwortungssubjekts nur selten, und wenn, dann nur marginal die Rede ist, in keinem Fall wird Mündigkeit thematisiert. Man könnte vermuten, es gäbe einen stillschweigenden Konsens, wonach der Träger von Verantwortung selbstverständlich immer auch über ein hinreichendes Maß an Mündigkeit verfüge, bzw. daß vom Verantwortungssubjekt eben nur dann gesprochen werden könne, wenn es überhaupt erst mündig sei. Gäbe es einen solchen Konsens, müßte er irgendwann getroffen worden und dokumentiert sein, doch davon ist mir nichts bekannt.

Vielleicht meidet so mancher den Begriff Mündigkeit ganz bewußt, weil er sich erinnert, wie der Begriff während der 70er Jahre überstrapaziert und ausgepowert wurde. Durchaus verständlich, wer traut schon Begriffen, die klischeehaft verkommen und wertneutral sind. Trotzdem ist das Phänomen Mündigkeit heute mehr denn je präsent, ja es heischt geradezu nach Beachtung. Um seiner Bedeutung gerecht zu werden, kommen wir also nicht daran vorbei, den siechen Begriff aufzugreifen und ihn gründlich zu sanieren. Wir gehen zurück zu seinen Wurzeln, bauen ihn vom Grund her wieder auf und schaffen so eine Basis, auf der eine sinnvolle Auseinandersetzung über Mündigkeit und den mündigen Bürger stattfinden kann.

Das Thema moralische Verantwortung ist seit Jahren hoch im Kurs, die Zahl einschlägiger Publikationen schießt ins Kraut und ist nicht mehr zu überschauen. Auch Ingenieursvereinigungen haben die Zeichen der Zeit erkannt und mit der Erstellung spezifizierter Ethikkodizes und Absichtserklärungen3 reagiert.

Die Notwendigkeit plausibler Richtlinien für moralisches Verhalten ist unbestritten, ergänzend ist aber noch zu fragen, ob diejenigen, die es betrifft, sich auch tatsächlich betroffen und verpflichtet fühlen, den wohlgemeinten Empfehlungen zu folgen.

Es ist doch wohl so, daß Menschen im täglichen Leben nur dann einigermaßen zuverlässig nach moralischen Regeln handeln, wenn ihnen diese Regeln gleichsam als reaktive Handlungsautomatismen ins Bewußtsein geprägt sind, denn kein Mensch ist in der Lage, jede einzelne seiner Handlungen vor der Aktion daraufhin zu überprüfen, ob sie auch moralisch einwandfrei sind. Solche ‘reaktiven Handlungsautomatismen’ oder kurz Grundeinstellungen werden aber im Erziehungs- und Sozialisationsprozeß erworben, und wer einmal auf eine bestimmte Weise "eingestellt" ist, kommt davon schlecht wieder weg. Diese Tatsache hat nun leider zur Folge, daß bloße Vernunftappelle gewöhnlich nur wenig oder nichts bewirken. Zu einer soliden verantwortungsbewußten Grundeinstellung kommt der Mensch vor allem auf dem Wege einer verantwortungs- und mithin mündigkeitsorientierten Erziehung, und das Wenige, was er noch aus eigenem Willen dazu beisteuern kann, liegt an seinen Geistesgaben und seiner bewußt erworbenen Mündigkeit. Ein verantwortungsbereiter Mensch empfindet Verantwortlichkeit, fehlt die Empfindung, dann nützen auch die bestgemeinten Kodizes nichts und die ganze schöne Moral droht in verbalen Schleifen leerzulaufen.

Grundeinstellungen oder Verhaltensdispositionen sind das Ergebnis von Sozialisation, Erziehung, ja überhaupt von sämtlichen Einflüssen auf die individuelle Entwicklung einer Person. Diese Einflüsse wirken während seiner ersten Lebensjahre besonders nachhaltig, aber auch im weiteren Verlauf des Lebens läuft der Prägungsprozeß, er ist erst mit dem Tod abgeschlossen.

Soll also das "Prinzip Verantwortung" in die Köpfe gepflanzt werden, muß bei der Person begonnen werden, denn nur sie, d.h. der einzelne lebende Mensch hat ein Bewußsein, dem so etwas wie Verantwortlichkeit eigen sein kann. Will also eine Verantwortungsethik Wirkung zeitigen, muß mit geeigneten Erziehungskonzepten bei der Person angesetzt werden und zwar unmittelbar nach ihrer Geburt. Nach meiner Meinung kann eine Ethik der Verantwortung nur dann funktionieren, wenn hinreichend persönliche Verantwortlichkeit vorausgesetzt ist. Deshalb scheint es zur Realisierung des "Prinzips Verantwortung" keine andere Möglichkeit zu geben, als den Hebel bei einer "Ethik der persönlichen Verantwortung" anzusetzen.

Verantwortungsbewußt handeln kann wohl nur ein Menschen, der die dazu erforderliche Reife hat. Und diese Reife heißt Mündigkeit. Ohne hinreichende Mündigkeit dürfte verantwortungsvolles Handeln purer Zufall sein. Verantwortung ohne Mündigkeit hat keinen Halt, Mündigkeit ohne Verantwortungsbewußtsein ist eine Nullnummer. Die Bedingung der Möglichkeit, verantwortungsbewußt zu handeln, ist allemal Mündigkeit.

Mündigkeit ist das Prinzip der Verantwortung.

Verantwortung und Mündigkeit werden gerne mit Pflicht und Vernunft in Verbindung gebracht, wobei stets ein moralischer Unterton mitschwingt, wobei beide Begriffe erstrebenswerte Eigenschaften oder Haltungen repräsentieren, die in der Regel positiv konnotiert werden. Damit kommt freilich ein Sachverhalt ins Spiel, der hauptsächlich psychologischer Natur ist. Ins Blickfeld gerät die menschliche Psyche und mit ihr wieder das Bewußtsein, und es gibt wohl keinen Zweifel, daß Verantwortlichkeit und Mündigkeit im Grunde Leistungen des Bewußtseins sind.

So enthüllt sich das Bewußtsein als Dreh- und Angelpunkt der gesamten Thematik, und es dürfte sinnvoll sein, mit einer Betrachtung des Bewußtsein zu beginnen. Das auch deshalb, weil so weitere Bewußtseinsfaktoren wie Intelligenz und Wille zutage treten, an denen man bei der Erörterung des Themas Mündigkeit und Verantwortung sowieso nicht vorbeikommt.

Um Bewußtseinsphänomene zu erkennen und begrifflich zu fassen, müssen sie irgendwie wahrnehmbar zum Ausdruck kommen. Das tun sie auch, und zwar hauptsächlich durch Verhaltensäußerungen in Form von Handlungen. So auch Mündigkeit und Verantwortlichkeit, die eigentlich nur durch Handlungen zum Ausdruck kommen können.

Um dieser Tatsache gerecht zu werden, scheint es erforderlich, vorweg einen handlungstheoretischen Rahmen abzustecken. Alsdann werden die Begriffe Mündigkeit und Verantwortung erörtert, deren Verbindungslinien nachgezeichnet, um dann im letzten Schritt deutlich zu machen, daß Mündigkeit das Prinzip einer Ethik der persönlichen Verantwortung ist,

Bei allem sollte indes der Kern meines Anliegens nicht übersehen werden. Mir geht es hauptsächlich um den Nachweis, daß sich Verantwortung immer in persönlicher Verantwortung realisiert. Verantwortung wird hier stets als eine persönliche Angelegenheit gesehen, die von der Person freiwillig wahrgenommen wird. Außerpersönlich gesetzte Verpflichtungen und Zwänge, gleich welcher Art und Herkunft, haben da keine Geltung, weil die Person im Status der Mündigkeit in punkto Verantwortung absolut souverän handelt. Aufgrund ihrer Mündigkeit ist sie qualifiziert, sich selbst zur Verantwortung zu verpflichten, und zwar ausschließlich vor sich selbst. Diesen Sachverhalt gilt es überzeugend darzustellen.

1 So hat Georg Meggle in seinem Aufsatz "Gesinnung und Verantwortung. Zur Benutzung der 'Ethik' als Mittel zum Zweck" (Meggle 1989, S. 10-16) gewissermaßen logisch klargestellt, daß die Unterscheidung beider Ethiken semantisch nicht zu rechtfertigen ist.

2 Es genügt, eine beliebige Tageszeitung aufzuschlagen, um zu sehen, wie sorglos mit dem Begriff 'Verantwortung' umgegangen wird. So werden in der Süddeutschen Zeitung vom 24.2.93 in einem relativ kurzen Kommentar zum Thema 'Brutalisierung des Fernsehens' 16 Mal Varianten des Wortes 'verantworten' verwendet.

3 u.a. Karmel-Deklaration über Technik und moralische Verantwortung von 1974; der Ethikkodex des ECPD (Engineers' Council for Professional Development von 1977); der Ethikkodex des IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers) von 1979; "VDI (Verein Deutscher Ingenieure) - Zukünftige Aufgaben" von 1980; Rahmenrichtlinien für das Verhalten im Beruf des AAES (American Association of Engineering Societies) von 1984. [ Angaben entnommen aus: Technik und Ethik, hrsg.v. Hans Lenk und Günther Ropohl, Stuttgart 1989, S.281 - 296]

Bewußtsein

Wahrnehmung, Denken und Erkenntnis sind Funktionen des Bewußtseins, das als Ganzes die Grenzen der Wahrnehmung und Erkenntnis setzt. Deshalb wundert es nicht, daß das menschliche Bewußtsein, sein Sitz, seine Entstehung, seine Leistung und vor allem seine Grenzen, seit Urzeiten ein wesentlicher Gegenstand des philosophischen Fragens4 ist, dem sich in neuerer Zeit vermehrt Evolutionstheoretiker, Anthropologen, Psychologen, Neurobiologen und Kognitionsforscher widmen und der heute vor allem in der Diskussion um das Problem der künstlichen Intelligenz aktuelle Beachtung erfährt.

Oeser/Seitelberger (1988, S.108) verstehen unter Bewußtsein "die Weise der inneren, dem Individuum privaten Erfahrung des eigenen Verhaltens in Form einer begleitenden Empfindung (auch als Mitwissen bezeichnet)..., die an allem, was bewußt wird, mehr oder minder Anteil hat und es verbindend umgreift...Die Gesamtheit der vom lebenden Subjekt "mitgewußten" Erfahrungen, sowohl aus der sinnlich vermittelten äußeren als auch der inneren (Gefühls- und Gedanken-) Welt, bildet den Bewußtseinsinhalt, der in eindimensionaler zeitlicher Abfolge als Bewußtseinsstrom5 erlebt wird".

Hoffmeister (1955, S.120 f) referiert u.a. die Sichtweise der Psychologie, wonach unter Bewußtsein "der unmittelbar vorgefundene Gesamtinhalt des seelischen und geistigen Erlebens an Sinneseindrücken, Erinnerungen, Vorstellungen, Empfindungen, Gefühlen, Willensregungen und Gedanken verstanden [wird] mit auch experimentell feststellbaren verschiedenen Graden der Klarheit im Unterschied zum Unbewußten und Unterbewußten. Kennzeichen des Bewußtseins sind Einheitlichkeit und Zusammenhang der Erlebnisse. Dabei ist der Umkreis dessen, was gleichzeitig zum vollen Bewußtsein kommen kann, beschränkt6, bei Kindern kleiner als bei Erwachsenen."

Beiden Definitionsansätzen ist gemeinsam, daß sie Bewußtsein im Sinne des lateinischen conscientia als Gesamtheit der mitgewußten Erfahrungen deuten, die den Akt der Bewußtwerdung eines Gegenstandes begleiten, der zusammen mit dieser Gesamtheit den Bewußtseinsinhalt bildet. Ferner wird gesagt, daß Bewußtsein eine "private Erfahrung" des Individuums sei, die von ihm als Bewußtseinsstrom erlebt werde, der "in eindimensionaler zeitlicher Abfolge" fließe.

Der Bewußtseinsinhalt wird vorstehend gedeutet, als Repräsentation des Wissens über das Individuum selbst und der äußeren Welt im Raster des individuellen Bewußtseins, anders gesagt, der Bewußtseinsinhalt ist die Welt, wie sie das Individuum "privat" erfährt bzw. sich vorstellt. Nun kann aufgrund seiner beschränkten Aufnahmekapazität dem vorstellenden Subjekt sein Wissen von sich und der Welt nie in seiner Gesamtheit präsent sein, sondern nur der Ausschnitt, der ihm augenblicklich bewußt ist7, also der Gegenstand oder Vorgang, den es sich gerade vorstellt. "Ich bin mir der Sache bewußt" oder "Ich weiß darum", könnte es in dem Fall sagen und würde damit auf eine ihm aktuell erscheinende Bewußtseinstatsache hinweisen.

Bewußtseinstatsachen8 können mehr und weniger anschaulich oder unanschaulich, klar oder verschwommen wahrgenommen werden. Die Skala der Klarheit reicht von konkreten Objektvorstellungen, von eindeutigen Bedeutungs-, Wert- und Willensvorstellungen, von einsichtigen Gedankengängen über unanschauliche, aber dennoch klar empfundene Regungen des Zweifelns, des Schwankens, des Zögerns, der Unsicherheit und der Sicherheit bis zu vagen Ahnungen, unbestimmbaren Gefühlen und diffusen Stimmungen.

Bewußtsein ist also kein ‘Alles oder Nichts' -Phänomen, sondern es umfaßt mehrere verschiedene, sich teilweise gegenseitig ausschließende Bewußtseinszustände und verschiedene Bewußtseinsstufen, auf denen jeweils bestimmte Inhalte aus dem Bewußtseinsstrom mehr oder minder deutlich als Bewußtseinstatsachen herausragen und damit wahrgenommen werden. Während aber im Zentrum des Bewußtseins, im Bewußtseinsfeld9, jeweils nur ein begrenzter (vom Bewußtsein intendierter) Gegenstand steht, kann vielerlei, mehr oder minder schwach wirksam, gleichzeitig am Rande des Bewußtseins aufschimmern und je nach dem Grad an Aufmerksamkeit des Subjekts den augenblicklich fokussierten Gegenstand in Bezugsverhältnisse bringen und die ursprüngliche Intention ablenken.

Was mir bewußt wird, nehme ich wahr und vice versa. Bewußtwerdung und Wahrnehmung sind einundderselbe Prozeß, dabei kann es sich um Erscheinungen der Innenwelt, wie Gedanken und Gefühle, sowie um Gegenstände und Ereignisse der Außenwelt handeln.

Wahrnehmung (lat. perceptio) heißt im ursprünglichen Sinne Hinwendung zu etwas, Beobachtung von etwas, Aufmerksamkeit auf etwas. Es stammt von mhd. warnehmen ab, wobei war sprachverwandt mit dem englischen aware und urverwandt mit dem griechieschen horáo 'sehe' ist.10 Ich nehme demnach etwas wahr, wenn ich es sehe, wenn es mir vor die Augen tritt, wenn es augenfällig wird. Augenfällig wird aber nicht alles, was sich gerade in meinem Gesichtskreis befindet, sondern nur der Ausschnitt oder Gegenstand, auf den sich meine Aufmerksamkeit richtet. Sehen als Wahrnehmung kann analog auf das Hören und die anderen Sinne übertragen werden. Zahllose Geräusche dringen gleichzeitig in mein Gehör, Fahrgeräusche, Stimmen, Musikfetzen, Uhrenschlagen, Hundegebell usw. Aber ich höre bewußt nur das, auf was sich meine Aufmerksamkeit richtet, beispielsweise jetzt auf das Ticken der Uhr und gleich darauf auf das Klappern der Schreibmaschine. Nicht anders als bei den sinnlichen Wahrnehmungen verhält es sich bei seelischen Regungen, Gedanken, Gefühlen und Empfindungen.

Doch der Akt der Wahrnehmung braucht ein Motiv, das die Aufmerksamkeit des Subjekts auf den Wahrnehmungsgegenstand lenkt. Motive können vegetative Regungen, Bedürfnisse, Neugierde, Erwartungen, Einfälle usw. ebenso sein wie äußere Reize, die auf die Reaktionsbereitschaft des Subjekts treffen. Wahrnehmung geschieht in der Regel erst dann, wenn das Wahrgenommene zuvor beim Subjekt Beachtung gefunden hat, die darin besteht, daß sich die Aufmerksamkeit auf eben das als beachtenswert Gefundene richtet, um es zu bestimmen, zu erkennen, zu verstehen, zu beurteilen.

Ist ein Bewußtsein in der Lage, sich selbst für beachtenswert zu finden und seine Aufmerksamkeit auf sich zu richten, nimmt es sich selbst wahr, d.h. es wird sich seiner selbst bewußt und besitzt somit Selbstbewußtsein.

Selbstbewußtsein entspricht der Selbstwahrnehmung und wird von Hoffmeister (1955, S.551 f ) in Erwähnung Plotins umschrieben als "das Wissen des Menschen um das eigene Ich und seine Art".

Aus psychologischer Sicht wird laut Hoffmeister (ibd.) Selbstbewußtsein definiert als "ein Wissen um unsere wechselnden Bewußtseinszustände und die sich in uns abspielenden Vorgänge, begleitet von dem Bewußtsein, daß unser Ich Träger dieser Zustände und Vorgänge ist, daß dieses Ich nur eines ist, daß es im Wechsel der Erlebnisse als etwas Selbständiges, sich nach eigenem Gesetz Entwickelndes beharrt (Kontinuität des Selbstbewußtseins) und daß es in Beziehung zu einer Außenwelt, dem Nicht-Ich, den Objekten, steht, von denen es sich als Subjekt unterscheidet, das sich selbst als solches gleich bleibt (Identität des Subjekts mit sich selbst), so sehr auch die Inhalte des Bewußtseins wechseln mögen."

Nach Oeser/Seitelberger (1988, S.l15) sei Selbstbewußtsein nicht nur dem Menschen gegeben, sondern sei generell als Grundelement des Bewußtseins von Lebewesen anzusehen. Ein Selbstbewußtsein sei immer da involviert, in welch dumpfer Form auch immer es vorhanden sein mag, wo sich im Bewußtsein Selbstempfinden und Empfundenes bzw. Erleben und Vorstellungen zu subjektiver Erfahrungseinheit verbinden, was der Scheidung einer vom Subjekt erlebbaren Innenwelt und der allen Individuen als Bewußtseinsinhalt erfahrbaren Außenwelt zugrunde liege. Nur beim Menschen habe sich Selbstbewußtsein phylogenetisch zu einer besonderen Ausprägung und Klarheit entwickelt, was sich bei der Ontogenese in den Stadien der Entwicklung gewissermaßen wiederhole, wobei das undeutliche Selbstgefühl des Kleinkindes allmählich zum Selbstbewußtsein des Erwachsenen werde.

Bewußtsein und Selbstbewußtsein sind also nicht von vorneherein da, beides bildet sich unter gewissen Bedingungen aus und ist in seiner individuellen Eigenart wesentlich ein Ergebnis der Ontogenese.

Es gilt heute als unbestreitbare Tatsache, daß Bewußtsein an die Funktion des lebenden Gehirns gebunden ist, ja daß es kein Bewußtsein ohne Gehirntätigkeit geben kann, genauer: Bewußtsein ist die Bezeichnung einer Tätigkeitsweise des Gehirns.

Die Abhängigkeit des Bewußtseins vom Gehirn als bewußtseintragendes Organ kommt offenkundig zum Ausdruck in den bewußtseinsverändernden oder -zerstörenden Wirkungen von physikalischen und chemischen Einwirkungen wie Verletzungen, Erkrankungen, Vergiftungen, Drogenwirkungen und nicht zuletzt im physiologischen Altern des Gehirns. In der klassischen Medizin werden solche Beeinträchtigungen als Bewußtseinszustände beschrieben, die vom tiefsten Koma, in dem der Patient auf keinen Reiz mehr reagiert, über verschiedene Komazustande, die durch die Reaktionen des Patienten auf verschiedene Reize (Schmerzreize, akustische oder visuelle Reize) definiert sind, bis zur vollständigen Wachheit reichen. Im Wachzustand läßt sich noch zwischen verschiedenen Zuständen der Aufmerksamkeit und Zugewandtheit unterscheiden.

Das Gehirn ist ein Körperorgan wie Herz, Leber, Niere und die übrigen Organe, wenn auch diese funktional dominierend. Die einwandfreie Funktion des Gehirns hängt vom gesundheitlichen Zustand der Einzelorgane und des Gesamtorganismus ab, darüber sind sich die Mediziner einig. Wie jedes Organ unterliegt das Gehirn den physiologischen Bedingungen des Wachstums sowie der ausreichenden Versorgung mit Vitalstoffen. Ist die Versorgung ungenügend oder schlecht, kann eine Schwächung der Hirnfunktionen eintreten, die sich als Konzentrationsstörung, Vergeßlichkeit oder ähnliches bemerkbar machen und bis zum Schwachsinn führen kann.

Die Erwähnung der empirisch-naturwissenschaftlichen Beschreibung von Bewußtseinszuständen, die die Medizin und klinische Psychologie häufig mit der Beschreibung von Geisteszuständen gleichsetzt, ist im Zusammenhang des Themas insofern wichtig, weil sie nicht zuletzt der Rechtsprechung als Parameter für Strafzumessungen, Entmündigung11, Schuldfähigkeit bzw. -Unfähigkeit12 u.a. dient und somit das Problem der rechtlichen Mündigkeit sowie der Verantwortungszuweisung bei Delikten berührt.

Phylogenetisches Erbgut in seinen Modifaktionen der Stammes- und Familiengeschichte bildet die genetisch bedingte Grundstruktur der Bewußtseinsfähigkeit, auf dem die Ontogenese des Bewußtseins aufbaut. Die Ontogenese findet statt in der Interaktion zwischen Außenwelt und Innenwelt. Die genetisch vorgegebenen und bereits individuell modifizierten Innenweltfaktoren, wie etwa Intelligenz, erfahren im Interaktionsprozeß weitere Modifikationen, die mehr oder weniger variabel bleiben. Zu den Innenweltfaktoren zählen u.a. Erfahrungen mit sich selbst, den eigenen Gefühlen, seiner Selbstwahrnehmung und -einschätzung, seinem Denken. Hinzu kommen Dispositionen aller Art, Talente und Krankheiten, wie etwa die Anlage zur Schizophrenie. Auch erworbene religiöse und moralische Grundeinstellungen gehören dazu sowie Haltungen und Vorurteile.

Die Innenweltfaktoren bilden gewissermaßen die Brille durch die ein Individuum sich selbst und die Welt interpretiert. Ihre Ausbildung erfahren sie in einem komplizierten Prozeß, bei dem die Außenweltfaktoren eine erhebliche Rolle spielen.

Zu den Außenweltfaktoren gehören alle erdenklichen Reize, die auf ein Subjekt aus den Bereichen Umwelt und Mitwelt einwirken, dabei ist es keinesfalls so, daß sich Bewußtsein (einschließlich Selbstbewußtsein) wie sein tragendes Organ, das Gehirn, anatomisch von selbst zur Reife hin entwickelt. Zwar sind die Stadien der anatomischen Hirnreifung für die Ausbildung des Bewußtseins und der mit ihm verbundenen kognitiven Fähigkeiten eine notwendige Voraussetzung, zu der aber noch spezifische Außenweltreize hinzukommen müssen, die das Gehirn als komplexes, weithin offenes System reaktiv verarbeitet und auf der bereits vorhandenen Bewußtseinsbasis in einer Art Umgestaltung des neuronalen Netzwerks einen neuen (differenzierteren) Zustand schafft. Fehlt eine entsprechende Reizsituation - etwa unter den Bedingungen einer sensorisch dürftigen Umgebung bei hospitalisierten Kindern oder in den mehrfach nachgewiesenen Kaspar-Hauser-Situationen - so unterbleibt die histogenetische Reifung, was sich u.a. durch gravierende Wahrnehmungsausfälle ausdrückt.

Abstrahiert man das Bewußtsein von seinem tragenden Organ, so kann man vereinfacht sagen: Bewußtsein entwickelt sich nur unter der Bedingung einer aktiven Auseinandersetzung mit der Welt. Mit den Worten Oeser/Seitelbergers (1988, S.166): "Das intentionale Bewußtsein kann nur in der Aktivität des Erkenntnisvorgangs selbst entstehen. Bleibt er aus, so degeneriert das kognitive System und das Bewußtsein bleibt auf niedriger Stufe."

Versteht man die Inhalte des Bewußtseins als die Gesamtheit der Wahrnehmungs- und Phantasietätigkeit einschließlich der Strebungen, Gefühle, Affekte, Stimmungen sowie die Akte des Meinens, Stellungnehmens, Wertens, Urteilens, Denkens, Wollens und nicht zuletzt als das Innewerten seiner selbst, das Selbstgefühl und Selbstwertgefühl, so geht man zwar davon aus, daß diese Inhalte grundsätzlich wahrnehmbar sind, läßt aber außer acht, daß diese Wahrnehmungen bereits auf der Basis tieferliegender Strukturen, die sich in der Regel der Wahrnehmung entziehen, präformiert sind. So werden etwa Erscheinungen wie erhöhter Puls, Schweißausbruch oder eine Stimmungslage wie die einer Depression vom Subjekt durchaus wahrgenommen, was aber nicht heißt, daß es sich deren Ursachen, die sich möglicherweise als eine Disfunktion des vegetativen Nervensystems und/oder als eine versteckte Neurose beschreiben lassen, bewußt sein muß. Auch ist es fraglich, ob dem Subjekt die eigentlichen Beweggründe seiner Strebungen, die Motive seines Wollens und die Grundmuster seiner Wertungen jemals völlig einsichtig werden. So können sich bereits bei der bloßen Vorstellung eines bestimmten Gegenstandes gleichbleibende Empfindungen einstellen, ohne den eigentlichen Grund zu kennen, der diese Reaktion auslöst.

Solche und ähnliche Fragen stellt sich die Psychologie des Unbewußten, die Analytische Psychologie im Umfeld der Freudschen Schule, für die nicht mehr das Bewußtsein, sondern das Unbewußte die eigentliche menschliche Wirklichkeit darstellt, für sie ist Bewußtsein lediglich sekundäres Produkt, Oberfläche, Überbau.13

Gesichertes Wissen darüber, welche Rolle das Unbewußte im gesamtpsychischen Geschehen tatsächlich spielt, hat die Psychoanalyse freilich noch nicht zutage gebracht. Wahrscheinlich liegt es an der Natur der Sache, die, wie das Wort schon sagt, jenseits der Wahrnehmung liegt und deshalb der Spekulation ein weites Feld bietet. Auch wenn die Existenz einer unbewußten "Seelenprovinz" kaum beweisbar ist, so gilt die Annahme der Wirkung unbewußter Prozesse auf das Wahrnehmungsvermögen dennoch als gesichert. Oeser/Seitelberger (1988, S. 111 f) räumen sogar der "nicht-bewußt bleibenden Information" ein "gewaltiges Übergewicht" ein, wobei "der bewußtseinspflichtige Anteil sich als ungemein hohe, gefilterte Informationsverdichtung darstellt. Es ist deshalb wichtig, den Stellenwert der nicht-bewußten Hirnarbeit für das Verhalten hoch genug einzuschätzen".

Überhaupt halten die beiden Autoren wenig von der Gliederung des Bewußtseins in einen rational bewußten und einen irrational unbewußten Bereich, weil Hirnarbeit "an sich weder rational noch irrational und auch nicht 'rationmorph' [ist]".

"Die im Bewußtsein erscheinende Dualität auf die neurophysiologischen Abläufe zu projizieren und womöglich in Gehirnteilen zu lokalisieren, ist nicht nur naiv, sondern als primitiv mechanistische Vorstellung falsch."14

Für eine systematische Analyse mag es wohl hilfreich sein, Bewußtsein in Bereiche zu gliedern, doch dabei darf die Tatsache nicht aus den Augen verloren werden, daß Bewußtsein ein vielschichtiger, komplizierter Prozeß ist, in dem alle Bereiche unentflechtbar zusammenwirken, und in den das Bewußtseinssubjekt zeitlebens eingebunden bleibt, ja sich gleichsam durch diesen Prozeß konstituiert, was bedeutet, daß ein individuelles Bewußtsein mit seinem Subjekt, das es trägt, identisch ist und eine Beschreibung des einen das andere charakterisiert.

Bewußtsein wird demgemäß im Folgenden als funktionale Ganzheit gesehen, die den gesamten "Seelenapparat"15umgreift: das Unbewußte, das Vorbewußte, das Bewußte, das Freudsche Es, Ich und Über-ich.

Bewußtsein entwickelt sich auf der Basis seiner artspezifischen Anlage und ist in jedem Stadium seiner Entwicklung gewissermaßen das Ergebnis der jeweils besonderen Umstände, mit denen es sich auseinanderzusetzen hatte. Die "jeweils besonderen Umstände" sind aber nichts weiter als eine Umschreibung des je besonderen Schicksals eines Individuums, was besagt, daß Bewußtsein das Resultat einer individuellen Biographie ist, in deren Verlauf sich eben all das an Erlebnissen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Wissen über die Welt und sich selbst sammelt und vom Bewußtsein zu seiner eigenen Ausbildung verarbeitet wird. Demzufolge ist Bewußtsein stets individuelles Bewußtsein und an und für sich einmalig, es ist eine individuell gewachsene Einheit, die sich selbst diese Einheit ständig neu stiftet.

4 Der Begriff 'Bewußtsein' dürfte sogar der zentrale Begriff der theoretischen Philosophie sein, insofern der wesentliche Bereich der theoretischen Philosophie die Erforschung der Vorstellung von Gegenständen ist.

5 Richtungen der heutigen Psychologie, insbesondere die Gestaltpsychologie, lehnen die Auffassung des Bewußtseins als eines abfließenden Stromes ab, da er die Mißdeutung nahelege, das Ich könne diesen Strom gleichsam als Zuschauer erleben und durch Aufmerksamkeitsakte einzelne Erlebnisse herausheben. (vgl. Hehlmann 1962, S.57)

6 Häufig als "Bewußtseinsenge" oder "Enge des Bewußtseins" bezeichnet.

7 Der Bewußseinsbegriff ist in der Psychologie keineswegs einheitlich, jede Schule hat ihre eigene Definition, so schränkt Klages (Vom Wesen des Bewußseins, 1955) den Begriff ein auf die apperzeptiven, intermittierenden Akte des Aufmerkens, Sichrechenschaftgebens, des bewußten Denkens und Wollens, währen der Bewußtseinsstrom des unreflektierten Erlebens den Inhalt des Seelenlebens ausmache, aber nicht im strengen Sinne bewußt sei.

8 Auch darüber gibt es verschiedene Ansichten. Allgemein wird jedoch unterschieden zwischen: dem unreflektierten “Haben” von Inhalten, dem bewußten Sichhinwenden zu den Inhalten und der besonderen Reflexion, z.B. über die Stellung von Subjekt und Objekt. (vgl. Hehmann 1962, S. 56)

9 ibd.

10 Hoffmeister 1955, S.658

11 BGB § 6 Entmündigung: Entmündigt kann werden 1. wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag...

12 StGB § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

13 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Spalte 894

14 Oeser/Seitelberger 1988, S. 112

15 Vgl. Siegmund Freud: Das Ich und das Es. In: Siegmund Freud, Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt 1975., Band III, S.273ff

Intelligenz und Intelligenzmessung

Intelligenz, gesehen als geistige Begabung ist ein Faktor des individuellen Bewußtseins.

Das intellektuelle Potenzial eines Menschen entwickelt sich mit seinem Bewußtsein, und zwar auf der Basis einer genetisch bedingten individuellen Intelligenzfähigkeit, an dessen Entwicklung während der Ontogenese dieselben Faktoren beteiligt sind wie bei der Entwicklung des individuellen Bewußtseins. Die Ausbildung der Intelligenz eines Menschen erfolgt zusammen mit der Ausbildung seines Bewußtseins, d.h. im Prozeß der Wechselwirkung von Anlagefaktoren und Umweltbedingungen.

Welcher Anteil dabei der Vererbbarkeit zukommt, ist umstritten. So veranschlagen einige Forscher die Vererbbarkeit der (mittels IQ-Test gemessenen) Intelligenz mit nicht weniger als 80%16. Andere Forscher, die sich auf dieselben Daten berufen, aber von anderen Voraussetzungen ausgehen, räumen der Vererbbarkeit nur einen Anteil von 0% bis 20% ein. "Die gewöhnlich zitierten Schätzungen liegen zwischen dreißig und fünfzig Prozent."17

Während die Faktoren, die die Intelligenz bestimmen, zugleich auch Bewußtseinsfaktoren sind, ist Intelligenz (im Sinne eines Sammelbegriffs für verschiedenartige Begabungen) als eigener Faktor anzusehen, der entscheidend an der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins mitwirkt.

Ein wesentliches Merkmal des individuellen Bewußtseins ist seine strukturelle Einmaligkeit. Dasselbe Merkmal charakterisiert auch den Bewußtseinsfaktor Intelligenz18.

Intelligenz äußert sich im Verhalten des Subjekts und darf deshalb als Verhaltenspotenz bzw. als Komplex von Vermögenspotentialen verstanden werden, die sich durch eine große individuellen Variabilität auszeichnen.

Es ist deshalb kein Wunder, daß man sich mit dem Intelligenzbegriff nicht weniger schwer tut als mit dem Bewußtseinsbegriff, was schon die Vielzahl der kursierenden Definitionen beweist. Das übrigens zur Vermutung Anlaß gibt, als gäbe es so viele Intelligenzdefinitionen, wie es Menschen gibt, die sich mit Fragen der Intelligenz aus beruflichen oder sonstigen Gründen beschäftigen.

Aus der Fülle der Definitionsbemühungen seien zwei herausgegriffen, zunächst die von Karl Jaspers (1948, S. 96):

"Das Ganze aller Begabungen, aller Werkzeuge, die zu irgendwelchen Leistungen in Anpassung an die Lebensaufgaben brauchbar sind und zweckmäßig verwendet werden, nennen wir Intelligenz. Von der Einschränkung der Produktivität bei lebhafter reproduktiver Intelligenz führen Reihen abnehmender Begabung über Dummheit und Beschränktheit zu tiefen Graden des Schwachsinns. Man nennt die leichten Grade Debilität, die mittleren Imbezillität, die schweren Idiotie. Es handelt sich um eine ärmliche Entwicklung des Seelenlebens in allen Richtungen, um eine Differenziertheit, die als Variation menschlicher Veranlagung nach der unterdurchschnittlichen Seite hin begriffen werden kann. Auf den tieferen Stufen ähnelt das Seelenleben immer mehr dem tierischen. Bei guter Entwicklung der zum Leben nötigen Instinkte bleibt alle Erfahrung doch im sinnlichen Einzelerlebnis stecken, es wird nichts hinzugelernt, es werden keine Begriffe erfaßt, daher kein bewußt planmäßiges Handeln ermöglicht. Bei dem Fehlen allgemeiner Gesichtspunkte sind diese Menschen erst recht unfähig zum Aufschwung von Ideen und verbringen ihr Dasein im engsten Horizont ihrer zufälligen sinnlichen Tageseindrücke. Doch zeigt sich auf der tiefsten wie auf der höchsten Stufe menschlicher Differenziertheit, daß die Begabung kein einheitliches Vermögen, sondern eine Mannigfaltigkeit vieler ungleich entwickelter Fähigkeiten ist. So fallen Imbezille oft durch Anstelligkeit in bestimmten Richtungen oder sogar durch geistige Fähigkeiten, wie Rechentalent, oder durch einseitiges Verständnis und Gedächtnis für Musik auf."

Die zweite Begriffsbestimmung stammt von Kloos (1952, S. 24) und ist ganz bewußt auf praktische Bedürfnisse abgestellt:

"Als Intelligenz (geistige Begabung) bezeichnet man die Fähigkeit zur zweckmäßigen Lösung der Lebens- und Berufsaufgaben. An der Art der Aufgaben, die ein Mensch geistig zu bewältigen vermag, ermißt man seinen Intelligenzgrad (die geistige Entwicklungshöhe) und seine Intelligenzrichtung (die Sonderbegabungen oder Talente, z.B. für Mathematik, Sprachen usw.). Das Mittel, dessen man sich zur Lösung von Aufgaben bedient, ist in erster Linie das Denken. Intelligenz ist also im wesentlichen Denkfähigkeit. Man meint damit vor allem die allgemeine geistige Leistungsfähigkeit, ungeachtet einzelner Teilbegabungen oder Begabungslücken für bestimmte Gebiete. Unter dem Denken versteht man die gesamte Verstandestätigkeit: die Erkennung des Wesentlichen (Begriffsbildung, Abstraktion), die Erfassung von Beziehungen, die Trennung (Analyse) und Verknüpfung (Synthese, Kombination) von Vorstellungen und Begriffen, das Schlußfolgern und Urteilen (Stellungnehmen).

Den Stoff, mit dem das Denken arbeitet, liefert das Gedächtnis (die Erinnerungs- und Merkfähigkeit). Ohne das bereitliegende Gedächtnisgut an Kenntnissen und Erfahrungen wäre das Denken leer, Form ohne Inhalt. Auch der Zusammenhalt mehrgliedriger Denkvorgänge ist vom Gedächtnis abhängig...Es gibt Gedächtnisleistungen ohne Intelligenz aber keine Intelligenzleistungen ohne Gedächtnis. Dieses ist also eine Vorbedingung der Intelligenz. 'Ein Kopf ohne Gedächtnis ist wie eine Festung ohne Soldaten' (Napoleon).

Die geistige Leistungsfähigkeit hängt aber nicht nur vom Denkvermögen, sondern auch von zahlreichen Gefühls- und Willenseigenschaften, also von charakterologischen Bedingungen, z.B. von der Aufmerksamkeit (Interessiertheit), Grundstimmung, Antriebslage; Ausdauer, Ermüdbarkeit, Anspruchshöhe, Ablaufgeschwindigkeit seelischer Vorgänge usw. Am Aufbau der Intelligenz sind somit, wie schon eingangs betont, nicht nur Verstandesanlagen beteiligt.

Das wichtigste 'Werkzeug' der Intelligenz ist die Sprache. Begriff und Wort, Denken und Sprechen sind so eng miteinander verbunden, daß eine scharfe Trennung überhaupt nicht gelingt. Erst das sprachlich formulierte Denken ist klar, und jede höhere Geistesentwicklung ist an die Sprachentwicklung gebunden. Mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit prüft man somit schon weitgehend die Intelligenz selbst. Die gelegentlich laut werdende Forderung, daß eine Intelligenzprüfung den Weg über die Sprache möglichst umgehen sollte, ist daher zum mindesten überspitzt und praktisch kaum durchführbar. Ein Prüfling, der sich nicht ausdrücken kann, hat gewöhnlich auch nichts auszudrücken, jedenfalls nichts klar Gedachtes."

Der Versuch einer Begriffsbestimmung der Intelligenz erfordert offensichtlich die Interpretation und Verarbeitung eines komplizierten psychologischen Sachverhalt, so daß eine kurze und prägnante Formulierung unmöglich erscheint und Definitionsversuche in der Regel voneinander abweichen. Übereinstimmung scheint jedoch in der allgemeinen Aussage zu bestehen, daß Intelligenz ein Vermögen ist, das zur Optimierung der individuellen Anpassung, insbesondere zur Erfassung und Bewältigung unvorhergesehener neuer Situationen und Umweltänderungen sowie zur Problemlösung überhaupt, verhilft.