Muppets in Moskau - Natasha Lance Rogoff - E-Book

Muppets in Moskau E-Book

Natasha Lance Rogoff

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Beschreibung

Mehr als zehn Jahre lang erreichte die russische Ausgabe der Sesamstraße Millionen von Familien. Die Vision der Sendung: eine neue Realität für die Kinder und Enkelkinder des Landes zu entwerfen – zunächst auf dem Fernsehbildschirm und dann im wirklichen Leben. Natasha Lance Rogoff, die amerikanische Produzentin der Sendung, gibt einen Einblick hinter die Kulissen und erzählt eine turbulente Geschichte von Bombenanschlägen, dem Clash der Kulturen und der zarten Hoffnung, dass es so etwas wie Annäherung zwischen zwei Welten geben kann.

Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erwartet Natasha Lance Rogoff die Aufgabe ihres Lebens: Sie soll die ur-amerikanische Sesamstraße für das russische Fernsehen adaptieren. Dass es keine Produktion wie jede andere werden wird, zeigt sich bereits im Vorfeld: Der erste Investor entgeht nur knapp einem Bombenattentat, drei Fernsehmanager werden ermordet, und als endlich ein Produktionsbüro bezogen werden kann, wird es kurz darauf vom Militär besetzt. Schließlich sind da noch die Differenzen im russisch-amerikanischen Team: Filme, in denen Männer den Abwasch machen und Patchwork-Familien fröhliche Buchstabenlieder singen, kommen bei den russischen Kreativen nicht gut an – Schwermut und klassische Musik sollen zum Einsatz kommen. Es wird beherzt gestritten, und nur langsam nähern sich beide Seiten an. Am Ende entstehen aber Kulissen und Handpuppen, Filme und Musik, die amerikanische Vorgaben und russische Tradition verbinden. Die Sendung wird ein Riesenerfolg – bis sie von Putin-treuen Fernsehmanagern abgesetzt wird.

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Seitenzahl: 537

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Cover

Titel

Natasha Lance Rogoff

Muppets in Moskau

Die völlig verrückte Geschichte, wie die Sesamstraße nach Russland kam

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Sievers

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5365.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2022 by Natasha Lance Rogoff

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Max Evry und Ian Fried

eISBN 978-3-518-77767-1

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Erster Teil. Leichen und Lizenzen

1 Back in the

USSR

 … im neuen Russland.

Frühjahr

1993

2 Wie ich zur

Sesamstraße

kam

3 Die russischen Medien – kein leichtes Terrain

4 Die Oligarchen und die Muppets

5 Keine Gangster in der

Sesamstraße

6 Wir wollen eure Püppchen nicht

7 Irina, die goldene Gans

Zweiter Teil. Die Sendung entsteht

8 R wie Rachmaninow oder R wie Rock ’n’ Roll?

9 Wenn du denkst, schlimmer kann es nicht mehr kommen …

10 Im Trainingslager mit Sergeant Elmo

11 Der Großmeister in Moskau

12 Bibos Bibel

13 Ein Engel steigt herab

14 S wie schwarze Liste

15 Elmo wird gestohlen

16 Holt die

Sesamstraße

noch die Kuh vom Eis?

17 Die Drehbuchautoren und der Groucho-Marxismus

18 In jedem Viertel ein rostiges Auto

19 Traurige Lieder aus kleiner Kinder Mündern

20 Elmo sagt auf Russisch »Gute Nacht«

21 Ein Waldgeist hebt ab

22 Püppchen in Amerika

Dritter Teil. Die Babys werden geboren

23 Das Viertel der

Uliza Sesam

24 Heißlaufen auf Bananen

25 Die Ziellinie im Treibsand

26 Geburt eines Engels und eines Senders

27 Erleuchtete Bildschirme in der ganzen ehemaligen

UdSSR

Epilog

Nachbemerkung

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Informationen zum Buch

Vorwort

Als Kind der 1960er Jahre wurde mir wie allen anderen Menschen im Westen beigebracht, dass ich mich im Falle eines Atomangriffs unter dem Tisch verkriechen oder den Weg zum nächsten Atombunker antreten sollte. In den Abendnachrichten war permanent von der Angst vor dem sowjetischen Feind die Rede, die Populärkultur war durchtränkt von destruktivem schwarzem Humor. Ab und zu gab es dann wieder einen Abrüstungsgipfel, der uns für kurze Zeit Hoffnung auf eine friedliche Zukunft machte.

Man erzählte uns vom »Reich des Bösen« mit seiner Zwangsdoktrin, die das Kollektiv über das Individuum stellte. Dafür wurde die freie Meinungsäußerung geopfert. Kreativität unterdrückt. Kritisches Denken war bei Generationen von Kindern unerwünscht. Zugleich wussten wir um den großartigen historischen Beitrag, den Russland in Kunst, Musik, Theater, Kino und Trickfilm zur westlichen Zivilisation geleistet hatte. Bedeutende Autoren wie Tolstoi, Dostojewski oder Tschechow beflügelten unsere Kultur.

Dann, am 25. Dezember 1991, wurden Hammer und Sichel der sowjetischen Flagge zum letzten Mal eingeholt und durch die drei Balken der Russischen Föderation ersetzt. Darin sahen einige beim Children’s Television Workshop, der die Sesamstraße produziert, eine große Chance. Die Sesamstraße war aus dem Geist des Kampfs gegen die Armut, der Sozialreform von Lyndon B. Johnson und der Bürgerrechtsbewegung geboren worden und hatte ihre ganz eigene, ziemlich geniale Herangehensweise ans Lernen, die von Joan Ganz Cooney erfunden worden und von Jim Henson und seinen Muppet-Puppen inspiriert war. Sie setzte die wirkungsvollen Techniken der Werbung ein, um den Kindern statt gezuckertem Müsli oder Limonade Buchstaben und Zahlen zu »verkaufen«, und bot ihnen kleine Lehrstücke in Sachen Gemeinschaft, Respekt und Toleranz. Die Sesamstraße eroberte Amerika im Sturm. Schon bald wollten auch Deutsche, Mexikaner und Spanier ihre eigene Sesamstraße haben. Dafür sollten dort auf der Grundlage der erfindungsreichen amerikanischen Sendung, die Bildung und Unterhaltung kombinierte, eigene Fassungen erstellt werden, die Sprache und Gewohnheiten, Humor und Musik des jeweiligen Landes für sich nutzten, um die Kinder und ihre Familien zu erreichen.

Der Zusammenbruch der UdSSR setzte eine Art »Goldrausch« in Gang. Alle wollten aus der Privatisierung Profit schlagen und neue Unternehmen gründen. Wir vom Children’s Television Workshop fanden jedoch, dass sich nicht gerade viele Westler bemühten, den russischen Kindern und Familien respektvoll und partnerschaftlich zu begegnen und ihnen positive, ganzheitliche Ideen aufzuzeigen. Das wollten wir durch eine russischsprachige, multikulturelle Adaption der Sesamstraße ändern, die nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine, Georgien und dem gesamten ehemaligen Sowjetreich ausgestrahlt werden sollte.

Vielleicht war das visionär. Vielleicht war es naiv. Oder beides. Auf jeden Fall trafen wir in Russland auf einige fantastische Menschen, mit denen wir über eine einst unüberbrückbare Kluft hinweg zusammenarbeiten konnten. Gemeinsam gelang es uns, die beeindruckende kreative Energie vieler Autoren und Künstlerinnen zu entfesseln und in einer Gruppe von Personen auf beiden Seiten des Atlantiks, die sich verständlicherweise skeptisch gegenüberstanden, etwas Neues zu schaffen.

Dreißig Jahre danach erzählt nun Natasha Lance Rogoff die wundersame Geschichte nach, wie wohlmeinendes Streben auf realpolitische Hürden stieß. Auf mehreren Reisen nach Moskau lernte ich Natashas Gewandtheit im Umgang mit anderen Kulturen wie auch ihre Unnachgiebigkeit kennen, die sich als die geheime Zutat für unseren Erfolg herausstellen sollten. Trotz größter Risiken und Schwierigkeiten gelang es unserem Team aus Amerikanern und Russen, für Millionen von Kindern in Russland, der Ukraine und der gesamten ehemaligen Sowjetunion etwas Bleibendes zu schaffen. Vor allen Dingen hoffe ich, dass die Leserinnen und Leser dieses Buches einen Quell der Inspiration darin entdecken werden, wie unsere Mitarbeiter in einem unsicheren Umfeld als Gruppe zusammengeschweißt wurden, um einen Beitrag zu einer besseren Welt und zur Achtung der Menschenwürde zu leisten. Wir könnten heute einen solchen Quell der Inspiration ganz sicher wieder gut gebrauchen.

Gary E. Knell

Ehemaliger President und CEO von

Children’s Television Workshop

Einleitung

1993 hat mich Sesame Workshop, das Unternehmen, das die Sesamstraße produziert, als Produktionsleiterin eingestellt, um die amerikanische Kultsendung für Russland zu adaptieren. Vier Jahre lang hatte ich das Glück und die Ehre, mit Hunderten großartiger Künstler, Autorinnen, Schauspieler und Fernsehschaffender zusammenzuarbeiten, um die Uliza Sesam – wie die Sesamstraße auf Russisch heißt – zu Millionen Kindern in der ehemaligen UdSSR zu bringen.

Das Sowjetregime endete am 26. Dezember 1991, und die Führer der westlichen Welt investierten in ihrer Freude über den Untergang des Kommunismus Milliarden, damit sich Russland in eine Demokratie westlicher Machart verwandelte. In den USA setzte sich der damalige Senator Joe Biden als einer der Ersten für eine internationale Fassung der Sesamstraße ein. Er und seine Kollegen hielten die Muppets für die idealen Botschafter, um den Kindern in der ehemaligen Sowjetunion demokratische Werte und die Vorzüge einer freien Marktwirtschaft zu vermitteln.

Was Senator Biden, der US-Kongress und Sesame Workshop jedoch allesamt verkannten, war der Widerstand, den diese Puppensendung in der postkommunistischen Nation entfesseln würde. Obwohl ich selbst einen großen Teil meiner noch jungen Karriere in Russland verbracht hatte, unterschätzte auch ich, welchen Herausforderungen wir mit den Muppets begegnen würden. Den Überschwang und Idealismus der Sesamstraße für Mütterchen Russland zu übersetzen war nicht nur unglaublich schwierig, sondern auch unglaublich gefährlich.

Als Produktionsleiterin landete ich in der surrealen Fernsehlandschaft Moskaus, in der Bombenanschläge, Mord und politische Unruhen nahezu an der Tagesordnung waren. Während unserer Produktion wurden mehrere Führungskräfte russischer Fernsehsender – enge Mitarbeiter und potenzielle Sendepartner – ermordet, und ein weiterer kam beinahe durch eine Autobombe ums Leben. An dem Tag, als russische Soldaten mit ihren AK-47 in unser Produktionsbüro eindrangen und Drehbücher, Zeichnungen und Ausrüstung beschlagnahmten – ja sogar unser geliebtes lebensgroßes Maskottchen Elmo –, meinten die meisten meiner amerikanischen Freunde, ich solle Moskau verlassen, solange mir das noch möglich sei.

Doch trotz der physischen Gewalt, die unsere Produktion bedrohte, blieb ich, weil mich die kulturellen Kämpfe fesselten, die nahezu jeden Aspekt der Sendung betrafen – vom Drehbuch über die Musik bis hin zur Entwicklung der russischen Muppets. Ich stellte fest, dass bei der Adaption der amerikanischen Kindersendung in Moskau nicht selten die progressiven Werte der Sesamstraße gegen dreihundert Jahre russischen Gedankenguts antraten. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Ansichten über Individualismus, Kapitalismus, ethnische Zugehörigkeit, Bildung und Gleichheit bot mir einen Einblick in die kulturellen Konflikte zwischen Ost und West, die bis heute deren Beziehungen dominieren.

Wenn ich mir überlege, dass ich mehr als zehn Jahre in der ehemaligen Sowjetunion gearbeitet hatte, bevor ich von der Sesamstraße engagiert wurde, hätte ich auf den erbitterten Widerstand, der uns entgegentrat, eigentlich besser vorbereitet sein müssen.

Als Jugendliche lernte ich die russische Literatur kennen und lieben und änderte sogar meinen Namen von Susan zu Natasha. Auf dem College studierte ich Russisch und mit 22 Jahren ging ich als Austauschstudentin in das damalige Leningrad. Nach einem halben Jahr konnte ich fließend Russisch und freundete mich mit vielen Künstlerinnen und Dissidenten an. Ich veröffentlichte in größeren internationalen Zeitschriften und Zeitungen Artikel über die sowjetische Subkultur, unter anderem »Gay Life in the Soviet Union« (»Schwules Leben in der Sowjetunion«), eine 1983 im San Francisco Chronicle erschienene Enthüllungsstory, die als eine der ersten von der Verfolgung der LGBTQIA*-Community in Sowjetrussland berichtete. Im selben Jahr heiratete ich einen schwulen Freund, um ihm zu helfen, dem Unterdrückungsregime zu entkommen.

Mitte der 1980er Jahre wollte ich Diplomatin werden und begann ein Studium an der School of International and Public Affairs der Columbia University, in dem ich mich vor allem mit sowjetischer Außenpolitik beschäftigte. Den Sommer über arbeitete ich als freiberufliche Fernsehjournalistin für CBS und NBC News in Moskau. Doch dann holte mich meine Zeit als Aktivistin wieder ein: In meinem zweiten Studienjahr erhielt ich ein Stipendium für eine Stelle im US-Außenministerium, für die ich eine strenge Sicherheitsüberprüfung durchlaufen musste.

Während des Gesprächs im Hauptquartier des FBI verließ ich einmal den Konferenzraum, um zur Toilette zu gehen. Als ich zurückkam, hörte ich vom Gang aus, wie der das Gespräch leitende FBI-Agent in seinem schleppenden Südstaatendialekt zu seinem Kollegen sagte: »Diese Frau können wir auf keinen Fall für die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika arbeiten lassen. Sie hat mit zwei Arten von Leuten zu tun, die bei uns tabu sind: Roten und Queeren.«

Sicherheitsüberprüfung nicht bestanden.

Nun, da ich nicht für die US-Regierung arbeiten durfte, flog ich wieder nach Moskau, wo ich das Glück hatte, eine Stelle in der Produktion der vierstündigen Fernsehserie Inside Gorbachev’s USSR(Innenansichten aus Gorbatschows UdSSR) für PBS zu bekommen. Die Serie wurde mit dem Dupont-Columbia Journalism Award ausgezeichnet. Anschließend drehte ich einen abendfüllenden Dokumentarfilm, Russia for Sale: The Rough Road to Capitalism (Russland zu verkaufen: der harte Weg zum Kapitalismus), der 1993 auf PBS ausgestrahlt wurde und breite Anerkennung erhielt.

Wegen meiner Erfahrungen bei Film und Fernsehen in Russland wurde ich sodann von Sesame Workshop für die Produktion der Uliza Sesam eingestellt, wofür ich ihnen bis heute dankbar bin. Durch die Muppets erhielt unsere kleine Gruppe amerikanischer Kinderfernsehen-Macher einen beispiellosen Einblick in das innerste Heiligtum des ehemaligen sowjetischen Staatsfernsehens und in das Verständnis der Russen von sich selbst, vom Westen und von der Zukunft ihrer Kinder, früher wie heute. Meine amerikanischen Kollegen und ich begriffen erst später, dass wir damals die schwankenden Gezeiten, die Putins repressivem Regime vorausgingen, aus nächster Nähe miterleben konnten.

Nur wenige von uns sahen zu der Zeit schon voraus, wie sehr sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nach der Jahrtausendwende verschlechtern würden. In westlichen Spielfilmen und im westlichen Fernsehen wurden Russen üblicherweise als Schläger, Verbrecher, Prostituierte oder korrupte Oligarchen dargestellt. Diese nahezu weltumspannende Karikatur wurde mir mit der Zeit immer unerträglicher, da sie nicht mit meinem Bild von Russland übereinstimmte, wo ich viele leidenschaftliche, brillante Menschen kennengelernt hatte, normale Bürger ebenso wie Künstlerinnen.

Ich hoffe, mit dieser Geschichte zeigen zu können, dass unsere beiden Kulturen trotz zahlreicher Unterschiede immer noch sehr viel gemeinsam haben. Alle Russen wünschen sich für ihre Kinder ein freieres, glücklicheres Leben. Die unglaublichen Risiken, die meine russischen Mitarbeiter auf sich nahmen, und die Opfer, die sie für die Sesamstraße bereit waren zu bringen, sind Ausweis ihres außerordentlichen Engagements, um der nächsten Generation die Hoffnung auf eine hellere, freundlichere und friedlichere Zukunft zu geben. Das ist für mich das Vermächtnis der Muppets in Moskau.

Erster Teil

Leichen und Lizenzen

»Russland hat eine lange, reiche und ehrwürdige Puppentradition, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Wir brauchen Ihre amerikanischen Püppchen in unseren Kindersendungen nicht.«

Lida Schurowa, Chefautorin der Uliza Sesam

1

Back in the USSR … im neuen Russland

Frühjahr 1993

Auf dem Nachtflug von New York nach Moskau herrscht eine Atmosphäre wie auf dem Rummel, alle wollen am neuen Russland teilhaben. Manche wollen Geld oder Sex, andere die Demokratie bringen oder verlorene Seelen retten. Und jetzt mische auch ich in dem Ränkespiel mit, das Russland in eine neue Zukunft führen soll. Aber mein Zaubertrank heißt nicht Religion oder Politik. Ich habe eine Fernsehsendung für Kinder im Gepäck.

Plötzlich, am anderen Ende meiner Sitzreihe, ein Juchzer, der die umliegenden Passagiere in der abgedunkelten Kabine aufweckt. Ich drehe den Kopf und sehe einen Typen Mitte zwanzig, massige Schultern, auf dem Sweatshirt der Schriftzug YALE BULLDOG. Über den schimmernden Laptop gebeugt grinst er seinen Sitznachbarn an und macht anzügliche Kommentare. Als ich den Kopf recke, sehe ich, dass sich die beiden gerade durch eine Fotogalerie mit dem Titel »Hot Russian Babes« scrollen. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus ist Moskau ein Magnet für junge Männer ihres Schlags: großspurige Typen frisch von der Elite-Uni, Investoren, Banker und Rechtsanwälte mit Geilheit und Dollarzeichen in den Augen. Sie werden über Nacht Millionen machen und mit bettelarmen slawischen Schönheiten ins Bett steigen, die für die Hundert-Dollar-Halskette, die sie ihnen spendieren, drei Monate schuften müssten.

Eine Stewardess bleibt neben mir stehen und bietet mir einen Drink an. Ich fliege zum ersten Mal Business-Class und kann es kaum glauben, dass jemand anders, nämlich Sesame Workshop, meinen Flug bezahlt. Ich nehme ein Glas Champagner und nippe daran. Der Passagier neben mir wedelt mit der Hand und bittet um ein Glas Wasser. Er sei Mormone und habe in Moskau eine Mission zu erfüllen. Ich schaue mich um. Überall sitzen Vertreter verschiedenster Glaubensrichtungen – Mormonen, Christen, orthodoxe Rabbis –, die vermutlich allesamt hoffen, die Menschen im postkommunistischen Russland zur Religion zu bekehren und den Atheismus zurückzudrängen.

Mein Sitznachbar ist jetzt vollends wach, reibt sich die Augen und entschuldigt sich für sein Schnarchen. Dann reicht er mir über die Armlehne hinweg die Hand und stellt sich vor. Er sei Wirtschaftswissenschaftler. »Das ist jetzt das sechste Mal in zwei Monaten, dass ich nach Moskau fliege«, sagt er, wie um seine Erschöpfung zu erklären.

Als ich ihn frage, was er dort macht, schaut er durchs Fenster und stiert in die Wolken. »Ich bin mit einigen anderen Wissenschaftlern damit betraut, den Kapitalismus dort anzukurbeln.« Er spricht vom freien Markt, der sich gerade etabliert, und redet dabei so langsam, als spräche er mit einem Kind. Das kränkt mich nicht. Ich habe mich nie ernsthaft mit Wirtschaft beschäftigt. »Wir versuchen, den Russen die Werkzeuge an die Hand zu geben«, fährt er fort, »die sie für den Übergang zur Privatwirtschaft benötigen.« Am Ende des Satzes ebbt seine Stimme ab, so als würde er selbst nicht daran glauben, dass das gelingen könnte.

Er starrt weiter aus dem Fenster und versinkt in Gedanken, dann wendet er sich mir wieder zu und sagt mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme: »Wir müssen die Planwirtschaft beenden, damit etwas Neues an ihre Stelle treten kann. Wenn wir das nicht schaffen, wird Russland wieder im Kommunismus versinken oder in etwas noch Schlimmerem.«

Ich vermute, ich soll denken, er sei einer von den Guten. Ganz überzeugt bin ich nicht, dass er es ist, aber ich nicke und denke bei mir, dass er ein bisschen wie Nostradamus klingt. Soweit ich es beurteilen kann, könnte er dennoch mit seiner Prophezeiung recht haben. Ich war zwei Jahre nicht mehr in Russland und habe keine Ahnung, inwieweit sich das Land inzwischen verändert hat.

Da kehren bei meinem Sitznachbarn die gesellschaftlichen Manieren zurück und er fragt mich mit schiefem Lächeln: »Und was machen Sie in Moskau?«

»Ich bringe die Sesamstraße nach Russland«, erwidere ich. Fühlt sich überraschend gut an, das einmal laut zu sagen. Dadurch wird es gleich greifbarer, und ich bin fast schon überzeugt, dass es auch tatsächlich gelingen könnte.

Er kichert: »Oh, verrückt.«

Für meine Begriffe sind unser beider Ansinnen in ähnlichem Maße verrückt, was ich aber lieber für mich behalte.

Drei Stunden später landet das Flugzeug auf dem heruntergekommenen Flughafen Moskau-Scheremetjewo 2. Während wir über den löchrigen Asphalt holpern, kommt mir der Beatles-Song »Back in the USSR« in den Sinn und ich singe ihn lautlos vor mich hin. Durch den Nieselregen sehe ich auf dem vertrauten Beton-Terminal die breiten Lettern »MOSKWA«. Bei dem Anblick steigen gleichermaßen Grauen und Hochgefühl in mir auf.

Ich schiebe mich mit den anderen Passagieren auf eine Gangway, die zu einem engen, mit kugelsicherem Glas verkleideten Korridor führt. An beiden Enden des Korridors stehen jeweils zwei Grenzpolizisten mit versteinerter Miene und Maschinengewehr und blicken stur geradeaus, wie ernste Statuen.

Die Masse schiebt mich weiter eine schmale Treppe hinab, bis ich den briefmarkengroßen Bereich der Grenzkontrolle erreiche. Immer mehr Passagiere kommen hinzu und drängen sich auf engstem Raum. Schweißgeruch mischt sich mit dem Rauch der Zigaretten, die sich die russischen Passagiere nach dem Flug angezündet haben, froh, endlich wieder in einem Land zu sein, in dem das Rauchen an öffentlichen Orten noch nicht verboten ist. Es hat sich nicht viel verändert. Trotz der rasanten Entwicklung des Landes tragen die Beamten immer noch die olivgrauen Uniformen der Sowjet-Ära. Ich blicke nach oben und sehe die zylindrischen Kupferröhren, die für die Olympischen Spiele 1980 installiert worden sind. Die Lampen sind nach wie vor staubverkrustet. Es hat sich offenbar nichts verändert – außer dass noch mehr Birnen durchgebrannt sind.

Die Schlange schiebt sich im Rhythmus gestempelter Dokumente voran. Nach zwanzig Minuten brausen allmählich die Gemüter auf. Als sich eine fast blinde Frau mit Brillengläsern, dick wie der Boden einer Colaflasche, an den anderen Passagieren vorbeizwängt und allen, die ihr im Wege stehen, ihren weißen Stock in die Beine rammt, schütteln mehrere Leute gereizt den Kopf. Eine Russin quäkt: »Wofür hältst du dich, Frau?«

Ich stutze. Wer schreit denn bitte eine alte, behinderte Frau an? Als ich ein paar Minuten später die Passkontrolle hinter mir lasse und zur Gepäckausgabe gehe, sehe ich die Frau wieder. Sie hat Stock und Brille abgelegt und besitzt noch Augenlicht genug, um schnurstracks zum Gepäckband zu stapfen und sich leichthändig ihren überdimensionierten Koffer zu greifen. Ich kichere. Es ist wirklich sehr lange her, dass ich zuletzt in Russland war – ich muss dringend meinen Bullshit-Peiler neu justieren.

2

Wie ich zur Sesamstraße kam

Ein russischer Gepäckabfertiger im dunklen Arbeitsanzug wirft achtlos die Koffer aufs rotierende Gepäckband. Wie in Trance schaue ich ihm zu und denke daran zurück, wie alles begann. Vor einem halben Jahr war ich in New York, um an der Columbia University, an der ich studiert habe, meinen Dokumentarfilm über Russland vorzustellen. Im Hörsaal dreihundert Menschen, darunter zwei ehrwürdige Redner: Carl Levin, der dienstälteste Senator von Michigan, und Pamela Harriman, die legendäre Grande Dame der Demokraten, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass Bill Clinton ins Weiße Haus einziehen konnte. Mit ihrem leicht stockenden britischen Akzent stellte sie meinen Film vor und lobpreiste das russische Volk: »Viele denken, die Russen seien ein passives Volk, das nur die Hand aufhält und nach unserer Hilfe schreit, aber das ist nicht wahr. Dieser Film zeigt uns, wie entschlossen die Russen sind, eine neue, offenere Gesellschaft aufzubauen.«

Nach der Podiumsdiskussion wurde ich von Gary Knell und Steve Miller angesprochen. Knell war Senior Vice President für Unternehmensfragen bei Sesame Workshop, Miller Vice President der Abteilung Internationales Fernsehen. Sie stellten sich vor und fragten mich, ob es mich interessiere, zusammen mit ihnen die Sesamstraße nach Russland zu bringen.

Ich war sprachlos. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum diese Fernsehleute meinten, ausgerechnet ich könnte ihnen bei der Produktion einer Kindersendung von Nutzen sein – nachdem sie gerade noch das düstere Bild gesehen hatten, das ich in meinem Film von Sowjetrussland zeichne. Verwirrt erklärte ich ihnen, ich hätte noch nie fürs Kinderfernsehen gearbeitet und mit echten Kindern hätte ich sogar noch weniger Erfahrung.

Aber Knell ließ sich trotz meines Stirnrunzelns nicht so schnell davon abbringen. »Ach, wir können uns doch einfach mal treffen«, sagte er augenzwinkernd. »Denn wer kann zu Elmo schon Nein sagen?«

Ich hielt mich zwar für die denkbar schlechteste Besetzung für eine Kindersendung, aber das Angebot reizte mich. Und so stimmte ich zu, ihn in der nächsten Woche in der Firmenzentrale der Sesamstraße zu einem Gespräch zu treffen – im »Workshop«, wie es unter Insidern heißt.

Der »Workshop« liegt auf der West 64th Street, Ecke Broadway. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, fand ich mich jäh in einem anderen Universum wieder – Wände in prallen Primärfarben, von denen mich riesige gerahmte Fotografien von Bibo und Elmo anstarrten. Taufrisch aussehende Twens saßen ernst an ihren Schreibtischen, die sie mit neckischem Kinderspielzeug ausstaffiert hatten – Actionhelden aus Plastik, Gummibällen, Muppetpuppen.

Als ich diese edlen Kreuzritter der Kinderfreuden sah, fühlte ich mich sofort fehl am Platz. Auch nicht besser wurde es, als mich eine elegant gekleidete und perfekt frisierte Dame in einen Konferenzraum führte. Mit Jeans, T-Shirt und Hoodie hatte ich mich nicht gerade passend gekleidet für mein Einstellungsgespräch. Ich kam mir ziemlich idiotisch vor. Aber das ließ sich jetzt auch nicht mehr ändern. Schon schritt Knell herein, begleitet von einem hochaufgeschossenen schlanken Mann.

Ich freute mich, Knell wiederzusehen. Er stellte mir den Vice President der Abteilung Internationale Produktionen vor, der mein Vorgesetzter sein würde, sollte ich die Stelle annehmen. Wir setzten uns an einen Konferenztisch und Knell erklärte mir, dass er schon seit einiger Zeit mit seinen Kollegen versuche, die Sesamstraße nach Russland zu verkaufen. So hatte der President des Unternehmens im Januar 1992 beim Senat vorgesprochen und im Haushaltsausschuss für Auswärtiges, dessen Vorsitz Senator Biden innehatte, dargelegt, die Sesamstraße könne dazu beitragen, in Russlands postkommunistischer Gesellschaft demokratische Werte zu fördern.

Ich nickte zu allem, was er sagte, konnte mir aber nach wie vor keinen Begriff davon machen, welche Rolle ich nun bei dem Ganzen spielen sollte. Offenbar würde meine erste Aufgabe darin bestehen, einen Partner in Russland zu finden, mit dem Sesame Workshop eine russische Ausgabe der Sesamstraße produzieren könnte. Knell schmeichelte mir und erklärte glaubhaft, meine Beziehungen zum Moskauer Fernsehen wären dabei von unschätzbarem Wert.

Ich fragte ihn, ob sie nur die amerikanische Fassung synchronisieren oder eine neue Sendung produzieren wollten, was sehr teuer wäre.

Knell antwortete: »Unsere Idee ist, die Hälfte der Serie in Moskau zu produzieren und die andere Hälfte aus dem internationalen Archiv der Sesamstraße zu bespielen.«

Ich hatte meine Zweifel, ob die neue russische Regierung Geld für eine solche Sendung ausgeben würde, wo es doch so viel drängendere Probleme gab. Dann fragte ich ihn, ob er erwarte, dass das russische Staatsfernsehen die Produktion bezahle.

Da griff Knell nach der Mitschrift der Anhörung im Kongress und las aus der bewegenden Einlassung der stellvertretenden russischen Unterrichtsministerin Elena Lenskaja vor: »Unser System braucht eine neue Offenheit und Eingliederung in die globale Welt um uns herum. Unsere Kinder sind sehr lange von den anderen Kindern in der Welt abgeschnitten gewesen. Aber um miteinander kommunizieren zu können, brauchen sie etwas, das sie alle gemeinsam haben … Das sollte nicht der Terminator sein oder Rambo, was gerade [im russischen Fernsehen] zu sehen ist, sondern die Sesamstraße.«

Ich war beeindruckt. »Das ist großartig als Unterstützung.«

Knell warf mir ein verschmitztes Lächeln zu. »Und genau deshalb brauchen wir Sie – braucht Russland Sie.«

Ich unterdrückte ein Grinsen und wies darauf hin, dass es jede Menge Leute gebe, die Erfahrung mit Kindersendungen hätten und sich für diese Aufgabe doch viel besser eigneten. Und dass ich für meine Dokumentarfilme immer nur mit einem kleinen Team gearbeitet hätte, weil es nicht gerade zu meinen Stärken gehöre, anderen Menschen zu vertrauen.

Aber Knell fuhr einfach mit seinen Schmeicheleien fort, die mir derart peinlich waren, dass ich fast Ja gesagt hätte, nur damit er endlich den Mund hielt.

Doch da verzog der Leiter der Abteilung Internationale Produktionen, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte, das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse und erhob die Stimme. Er sei letztes Jahr in Russland gewesen und seine Gastgeber hätten ihn in ein dreckiges Hotel gesteckt, wo es nichts zu essen gab und die Fensterscheibe in seinem Zimmer gesprungen war. Er legte den Kopf schief, nach links, nach rechts und meinte: »Kein einziger Russe, mit dem ich gesprochen habe, hat sich für die Sesamstraße interessiert. Die waren alle nur auf ausländisches Geld aus.«

Ich sah, wie Knell beim nächsten Satz meines »zukünftigen Vorgesetzten« kurz das Gesicht verzog.

»Meiner Ansicht nach ist jetzt nicht der passende Zeitpunkt, um eine große Koproduktion in Russland anzuleiern«, sagte er. Er befürworte eine andere Herangehensweise: Er wollte es in Russland erst einmal langsam angehen lassen und Open Sesame zeigen, eine internationale Version der Sesamstraße, bei der sehr viel weniger Originalmaterial benötigt wurde. Zwischen den beiden Herren lag eine spürbare Spannung.

Ich wechselte das Thema und fragte, mit welchem Budget sie planten.

Knell erklärte mir, die Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID), der für Auslandshilfe zuständige Arm der amerikanischen Regierung, werde Sesame Workshop für die Produktion der Sesamstraße in Russland in Kürze eine größere Summe zur Verfügung stellen. Zusätzliche Gelder kämen dann noch vom russischen Staatsfernsehen oder von privaten russischen Investoren, sodass das Gesamtbudget für die Uliza Sesam zwischen 6 und 10 Millionen US-Dollar betragen werde (heute umgerechnet etwa 14 bis 18 Millionen Euro). Und dabei seien Sachwerte, die das russische Fernsehen bereitstellen werde, wie die Nutzung des Fernsehstudios und der Ausrüstung, noch gar nicht mit eingerechnet.

Ich fiel fast vom Stuhl. Das Gesamtbudget für meinen Beitrag über Russland auf PBS lag weit unter einer Million. Noch dazu konnte man mit amerikanischen Dollar in Moskau zehnmal so viele kreative Köpfe und Helfer bezahlen wie im Westen.

Am Ende unseres Gesprächs versicherte mir Knell, ich sei »die ideale Person für diesen Job« und jetzt sei »genau der richtige Zeitpunkt«.

In den nächsten Tagen suchte ich die Regale meiner Stadtteilbibliothek ab und verschlang alles, was ich über Joan Ganz Cooney, die Gründerin der Sesamstraße, und Jim Henson, den legendären Erfinder der Muppets, finden konnte. Ich wusste über die Sesamstraße, was wohl jeder darüber weiß, hatte sie aber als Kind nicht gesehen, geschweige denn als Erwachsene. Jetzt schaute ich die Serie am laufenden Band und besorgte mir jede VHS-Kassette, die ich nur kriegen konnte, um alles über Format, Botschaft, Songs, den Ton und jede einzelne Figur zu erfahren.

Den Rest der Woche dachte ich über das Angebot nach. Eine Fernsehserie mit 52 halbstündigen Episoden zu produzieren war an sich schon nicht ganz leicht und in Moskau wohl noch sehr viel schwieriger. Fast unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Land in Chaos verfallen, da alle möglichen Interessengruppen um Macht rangen. Russland schien sich in einem politischen Schwebezustand zwischen seiner kommunistischen Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft zu befinden. Ein derart instabiles Land war eigentlich kein sehr fruchtbarer Boden für die Muppets – oder für einen Karrieresprung.

Auch war ich mir nicht sicher, inwieweit die Sesamstraße für Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion überhaupt interessant war. So wie ich das Land erlebt hatte, hegte ich meine Zweifel, ob russische Kinder die Mätzchen der Muppets genauso lustig finden würden wie Kinder, die in der freien Welt aufgewachsen waren. Würden sich die unbeschwerten, bekloppten Scherze, die Elmo oder das Krümelmonster machten, für die dostojewskihaft angstbeherrschten Russen übersetzen lassen?

Umgekehrt gefiel mir, dass die Figuren der Sesamstraße liberale Werte wie Toleranz, Mitgefühl und Gemeinschaft verkörperten. Seit fast hundert Jahren träumte der Westen davon, dass Russland der Völkergemeinschaft beiträte und deren demokratische Werte und Ziele übernähme. Diese Erweckung war nun zum Greifen nahe. Es lag eine Dringlichkeit in der Luft, und die Vorstellung, ich könnte zu dieser sich gerade im Gange befindlichen Wandlung etwas beitragen, wirkte auf mich verführerisch und sogar berauschend. Und wenn die Sendung ein Erfolg würde, bekäme meine Fernsehkarriere einen ungeheuren Schub.

Auch Geld spielte bei meinen Überlegungen eine Rolle. Ich hatte für den Dokumentarfilm meine kompletten Ersparnisse aufgebraucht und konnte kaum die Miete für meine winzige Souterrainwohnung im West Village aufbringen. Nach dem Studium hatte ich lange weiter wie eine Studentin gelebt, aber inzwischen war ich 32 Jahre alt und brauchte dringend etwas Festes.

Stunden bevor ich Knell meine Entscheidung verkünden musste, rief ich meine jüngere Schwester Emily an. Von meinen fünf Geschwistern ist Emily, die Mittlere, die Vermittelnde, auf die ich immer zählen kann, wenn ich einen klugen und vor allem alltagstauglichen Rat brauche. Als ich ihr erklärte, was für ein Job mir angeboten worden war, musste sie lachen. »Dir ist schon klar, dass das eine Sendung für Kinder ist – und du keine Ahnung davon hast?« Dann ging es auf dieselbe Tour weiter, Russland sei ja wohl eine ganz schlechte Idee. »Du bist gerade im besten gebärfähigen Alter. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du vielleicht niemals Kinder kriegen wirst, wenn du jetzt diesen Job annimmst? Oder hast du vielleicht vor, dich in einen Russen zu verlieben und süße kleine Russenbabys zu machen?«, scherzte sie.

Ich war es schon gewohnt, dass mein unkonventionelles Leben zur Zielscheibe familiären Humors wurde. Um ehrlich zu sein, hatte ich keinen Gedanken mehr daran verschwendet, Kinder zu bekommen, seitdem mich mein Verlobter vor drei Jahren verlassen hatte. Trotzdem versetzte es mir einen Stich. Ich wollte ihr sagen, dass ich diesen Job dringend brauchte. Ich wollte, dass das, was Knell über mich gesagt hatte, stimmte. Ich wollte glauben, dass ich die »ideale Person« für Moskau war und dass meine Schwester endlich einmal Unrecht hatte.

»Ich werde die Muppets nach Moskau bringen«, hörte ich mich sagen. Eine impulsive Entscheidung.

Am nächsten Tag rief ich Knell an und sagte zu.

Ich spüre einen Stoß, als mich ein massiger Kerl streift, der seinen Koffer vom Gepäckband nimmt. Ich erspähe meine ramponierte schwarze Tasche und schleppe mich damit zur Zollkontrolle. Als Filmemacherin hatte ich immer Bammel, wenn ich in Sowjetrussland durch den Zoll musste. Immer die Angst, meine Aufnahmen, in denen jahrelange Arbeit steckte, könnten beschlagnahmt werden oder ich verhaftet oder Schlimmeres. Zumindest habe ich diesmal kein verfängliches Material dabei – es sei denn, das neue Regime findet etwas Verbotenes daran, wenn Elmo den »Jive Five« tanzt.

3

Die russischen Medien – kein leichtes Terrain

Die erste Regel, wenn du in Russland Geschäfte machen willst: Finde einen Einheimischen, dem du vertrauen kannst. Für mich ist Leonid Sagalski diese Person. Er hat mir versprochen, mich am Flughafen abzuholen, wenn ich durch den Zoll bin.

Wir hatten uns 1988 auf dem Gipfeltreffen zwischen Reagan und Gorbatschow in Moskau kennengelernt, wo wir beide als freie Fernsehproduzenten für NBC News arbeiteten. Sobald mir Leonid den ersten von unzähligen jüdischen Witzen erzählt hatte, war uns klar, dass wir vom selben Stamm sind. Unser Sinn für schwarzen Humor einte uns.

Leonid ist ein preisgekrönter Journalist. In den 1980er Jahren erhielt er eine Auszeichnung für einen investigativen Bericht in der bekannten Zeitung Literaturnaja Gaseta über politische Gefangene, die in der Sowjetunion in die Psychiatrie gesteckt wurden. 1989 sprach ihm die Stanford University ein Stipendium zu, das es ihm ermöglichte, ein Jahr mit seiner Frau und ihrem sieben Jahre alten Sohn in Kalifornien an der Uni zu verbringen.

Nach einem Monat in der freien Welt beantragte Leonid für sich und seine Familie dauerhaftes Asyl. Doch während er noch auf die Genehmigung wartete, entschied seine Frau, dass sie noch größere Freiheit brauchte, weshalb sie sich von ihm scheiden ließ. Leonid war am Boden zerstört. Er zog zu mir in meine winzige Wohnung, wo er drei Monate lang auf einer Luftmatratze schlief. Als er schließlich eine Green Card erhielt, ging er erst einmal nach Moskau zurück. Ich probierte alles, um ihn aufzuheitern, aber die Scheidung machte ihm schwer zu schaffen, vor allem, weil er nicht wusste, wie oft er fortan seinen Sohn sehen würde.

Wir telefonierten zwar alle sechs Monate, zuletzt gesehen hatte ich Leonid jedoch vor über einem Jahr, als er auf dem Weg zu seinem Sohn einen Zwischenstopp in New York machte. Ich hätte ihn gern öfter angerufen, aber es war schlicht und einfach zu teuer.

Endlich öffnet sich die Glasschiebetür, die den Zoll von der Ankunftshalle für internationale Flüge trennt, und ich schleppe mich mitsamt Koffer hindurch. Dann sehe ich Leonid in der Menge stehen, Zigarette im Mundwinkel. Ich erinnere mich noch daran, was er vor seiner Abreise aus Amerika als Letztes zu mir gesagt hat: »Natasha, in deiner Wohnung ist kein Licht. Du wohnst unter der Erde wie eine Ratte. Wenn du glücklich sein willst, musst du überirdisch wohnen.«

Ich haste auf ihn zu. »Hey, Cookie! Endlich bist du da, Natalja!«, ruft er aus. Wir sprechen normalerweise Englisch, es sei denn, eine Russisch sprechende Person ist noch dabei, dann wechseln wir für gewöhnlich ins Russische. Wir umarmen uns eine gefühlte Ewigkeit. Als Leonid mich wieder loslässt, schnippt er die Zigarette weg, die er die ganze Zeit in der Hand hatte, und hält mich an den Schultern, um mich von oben bis unten zu mustern.

»Du hast aufs Blut geschworen, dass du nie mehr nach Russland kommst!«, neckt er mich. Dabei dehnt er das Wort »Bluuuuuht«. Wir lachen. Es überrascht mich, wie sehr es mich freut, wieder hier zu sein.

Leonid greift sich meinen Koffer und wir gehen zum Ausgang, vor dem er illegal geparkt hat. Den Autoschlüssel hat er einem jungen Mann überlassen, der aus irgendeinem Grund einen marineblauen Matrosenanzug trägt und offenbar für die zahlreichen illegal geparkten Fahrzeuge zuständig ist. Leonid steckt dem Parkplatzseemann ein Bündel Rubel zu, während er mir bedeutet, meine Dollar wieder einzustecken.

»Mit deinem amerikanischen Geld brauchst du uns hier nicht zu kommen«, scherzt er und bricht in ein ansteckend verächtliches Lachen aus. Wir rennen durch den Regen zu seinem Wagen. Natürlich stimmt das nicht, amerikanisches Geld wird überall in Russland gern genommen.

Leonid fährt einen ramponierten Lada von 1985. Ich suche den Gurt, dann fällt mir ein, dass russische Autos keine Gurte haben. Als Leonid den Motor anlässt, wird mir vom Geruch des Benzols, das in Russland als Kraftstoff benutzt wird, leicht übel. Dass Leonid über die Schlaglöcher brettert, als würde er ein Autorennen fahren, macht die Sache nicht besser. Wir rasen über die Moskauer Autobahn Leningradskoje, vorbei an sensationsheischenden Werbetafeln mit halbnackten Frauen, die Objektschutz, Westcomputer und Autos anpreisen. Leonid zeigt auf die Schilder.

»Hat sich viel verändert seit deinem letzten Besuch«, seufzt er wehmütig. »Das Geld liegt auf der Straße. Brauchst nur eine Schaufel.«

Das klingt, als wünschte er sich, dass bei dieser Entwicklung etwas mehr Geld in seiner Tasche landen würde. Aber als jemand mit gültigem Aufenthaltsstatus für die USA und einigen Ersparnissen in US-Dollar auf dem Konto kann er sich wahrlich nicht beschweren. Es geht ihm besser als den meisten Russen. Zusammen mit seiner freundlichen Art macht ihn das zu einem ziemlich guten Fang. »Ich kriege von jeder Russin, die ich will, ein Date«, prahlt er ohne Übertreibung.

Das freut mich für ihn. In New York war er nach seiner Scheidung mit einigen Frauen ausgegangen, aber aus dem amerikanischen Balzverhalten nicht schlau geworden, weshalb er meist nicht über das erste Date hinauskam. Schnee von gestern. In Moskau ist das anders.

»Erzähl mir, was in Russland gerade los ist«, sage ich zu ihm. Leonid versteht sofort, dass ich das Thema wechseln will, und lächelt mich verständnisvoll an.

»Moskau ist nicht mehr so, wie du es gekannt hast«, antwortet er traurig. »Ehrlich gesagt mache ich mir Sorgen um dich, es gibt jetzt sehr viel mehr Gewalt.« Leonid erklärt, dass keiner richtig weiß, wer gerade eigentlich im Land die Zügel in der Hand hat. Die Amerikaner sind da, um die russische Regierung bei dem hanebüchenen Versuch zu unterstützen, die staatlichen in private Unternehmen zu verwandeln und das eingenommene Geld in Form von Gutscheinen an die Bürgerinnen und Bürger zu verteilen, damit alle ein kleines Stück von diesem neuen alten Russland erhalten. Er verdreht die Augen. »Die meisten Russen haben keine Ahnung, was diese Gutscheine wert sind. Sie verkaufen sie für ein Brot oder eine Flasche Wodka.« Er nimmt beide Hände vom Steuer, wendet sich zu mir und formt mit den Armen ein V, als wollte er mir ein Angebot unterbreiten: »Das ist der Ausverkauf des Jahrhunderts! Alles kommt unter den Hammer: Sowjetfabriken, Ölraffinerien – sogar unsere wunderschönen Wälder.«

Gerade als ich sagen will, er solle bitte auf die Straße schauen, kommt der Wagen mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Leonid starrt auf den stillstehenden Verkehr. »Was für eine Sch… Stau, überall Stau«, sagt er. Seitdem die Regierung das Importverbot aufgehoben hat, hat sich die Zahl der Autos verdoppelt.

In Moskau führen die Straßen in konzentrischen Kreisen um den Kreml und sind wiederum durch Straßen miteinander verbunden, die strahlenförmig vom Kreml ausgehen. Der Flughafen liegt im Nordwesten, etwa eine Dreiviertelstunde vom Stadtzentrum entfernt, wo Sesame Workshop ein Hotelzimmer für mich reserviert hat. Ich sehe, wie heruntergekommen die Gebäude inzwischen sind. Von den kunstvoll verzierten vorrevolutionären Häusern blättert die Farbe ab, als wollten die rissigen Fassaden den Verfall des Landes darstellen.

»Ich will dir was zeigen«, verkündet Leonid und biegt plötzlich von der Hauptstraße ab. Dann parkt er – illegal – hinter der Tretjakow-Galerie.

Ich will eigentlich lieber nicht aussteigen. Es macht mich nervös, den Koffer im Wagen zu lassen.

»Kein Problem«, versichert er mir. »Wir sind in einer Minute zurück.«

Wir betreten ein offenes Gelände hinter dem Museum, einen Friedhof für Monumente, die gefallener Sowjethelden gedenken. Die Statuen aus Granit und Marmor liegen auf dem Boden aufgereiht wie ein versteinertes Defilee. Neben Lenin liegt eine Bronzestatue von Stalin, das Gesicht im Matsch, der ausgestreckte Arm zeigt in die Erde.

Leonid lacht. »Stalin zeigt uns den wahren Weg zum Kommunismus.«

Die zerbrochenen Figuren der Sowjetmacht im Dreck – dieses Bild vermittelt mir mit voller Wucht das Ende einer Ära. Ich hatte mir das Ende der Sowjetunion zwar herbeigesehnt, aber jetzt macht es mich doch auch ein bisschen traurig. Schweigend kehren wir zum Auto zurück.

Während wir weiterfahren, erzählt mir Leonid noch mehr von den Veränderungen, die Moskau in den letzten Jahren erlebt hat, und erklärt, einige seiner Freunde – »alles Juden« – hätten »ganz hübsch von den aktuellen Veränderungen im Land profitiert«.

Ich frage ihn, ob womöglich jemand darunter sei, der gern in die russische Sesamstraße investieren würde.

Leonids Antwort fällt überraschend optimistisch aus: »Ich schätze, ein oder zwei Leute könnte das schon interessieren.« Er lacht und sieht mich aus dem Augenwinkel an. »Du verschwendest keine Zeit. Du bist immer noch der unverbesserliche Workaholic, der du früher schon warst.«

Ich erläutere ihm, dass mich Sesame Workshop damit beauftragt hat, einen Koproduktionspartner und einen Sender in Russland zu finden, die mit einem Budget von mehreren Millionen umgehen und die entsprechende Sendezeit für die Sesamstraße bereitstellen können.

»Das kriegen wir schon hin.« Leonids Augen leuchten bei dem Gedanken, dass wir vielleicht bald wieder zusammenarbeiten.

Ich füge hinzu, dass ich für die beiden obersten Leiter von Sesame Workshop Termine vereinbaren soll. Sie kommen in zwei Tagen nach Moskau und erwarten, dass ich ihnen den Kontakt zu den Leitern des russischen Fernsehens und zu einigen wichtigen Leuten von der Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen in den USA vermittle, die die Fernsehserie sponsern könnten.

»Hilfst du mir, Geld für die Serie einzusammeln?«, frage ich ihn. »Darf ich dich dafür engagieren?«

Leonid lächelt und nickt. Die Vorstellung scheint ihm zu gefallen. Er mag Herausforderungen genauso gern wie ich.

»Einen Haken gibt es allerdings«, sage ich zu ihm. »Wenn du Geld dafür kriegen willst, müssen wir ein paar von deinen reichen Freunden überzeugen, dass sie die Show finanzieren.«

»Russen lieben solche Geschäfte!« Wieder das gehässige Lachen.

Meine Güte, was habe ich ihn vermisst.

Leonid parkt vor dem Palace Hotel, einem der ersten Moskauer Hotels im westlichen Stil. Am Eingang fragt ein Wachmann nach meinem Pass. Leonid erklärt mir, dass das inzwischen gang und gäbe ist, um das Gesindel abzuhalten und die Sicherheit der Gäste zu gewährleisten. Im Vergleich zu den muffigen alten Sowjethotels wirkt das Palace fast wie das Ritz, glänzende Marmorböden, teure Lüster und ziemlich gute, in schwere Goldrahmen gefasste Reproduktionen von Gustav Klimt. Die Lobby sieht aus wie im Wien der Jahrhundertwende.

Kaum habe ich den Zimmerschlüssel in der Hand, schlägt auch schon der Jetlag zu. Aber Leonid eröffnet mir, dass ich mich jetzt noch nicht hinlegen kann. Er hat nämlich ein Treffen mit Wladislaw Listjew, kurz: Wlad, einem der bedeutendsten Fernsehmacher des Landes, vereinbart. Also geht es erst einmal ab an die Hotelbar.

Wlad und Leonid haben beide die prestigeträchtige Moskauer Journalistenschule absolviert. Mit 36 Jahren hat sich Wlad bereits einen Namen gemacht und ist ein beliebter Fernsehmoderator bei Ostankino TV, der größten russischen Fernsehgesellschaft. Die von ihm moderierte investigative Sendung Wsgljad (Blick) hat das sowjetische Establishment gehörig durchgerüttelt. Wlad erwies sich als charismatischer Entertainer und moderierte auch die höchst erfolgreiche russische Kopie des Glücksrads. Inzwischen moderiert er Tschas Pik (Rushhour), ein kritisches Format, das sich mit Larry King Live vergleichen ließe. Leonid erklärt mir, dass Millionen von Menschen seine Sendungen sehen. Wlad hat dem Treffen zugestimmt, da sie beide gemeinsame Freunde haben.

Leonid meint, Wlad könne uns Kontakte zu Leuten in der Branche verschaffen, die die Fernsehserie zusammen mit uns produzieren könnten. Und wenn wir unsere Trümpfe richtig ausspielten, würde er uns womöglich sogar mit Boris Beresowski bekannt machen, dem mächtigen Oligarchen und Miteigentümer von Ostankino TV. Wir müssten allerdings extrem behutsam vorgehen, wenn wir auf Beresowski zu sprechen kommen wollten, da Wlad eine etwas komplizierte Beziehung zu dem Oligarchen unterhalte.

Während wir in der Bar auf Wlad warten, bestellen wir Cocktails bei einer Kellnerin in einer grotesk engen Livree à la Wiener Dienstmädchen, mit tief ausgeschnittenem weißem Bustier, Rüschen und Haube. Drei laut redende Geschäftsleute versuchen, sich gegen das mechanische Klavier zu behaupten, das im Restaurant nebenan in Dauerschleife vor sich hin klimpert. Ich erkenne die Melodie aus Der dritte Mann.

Wlad ist spät dran. Aus einem Drink werden mehrere. Vierzig Minuten später betritt er die Bar, zerzaustes sandfarbenes Haar, buschiger Schnauzer, braune Lederjacke, und entschuldigt sich gleich für die Verspätung. Ich finde ihn auf Anhieb sympathisch.

Unsere Zeit ist knapp, weshalb Leonid sofort zum Punkt kommt. Auf Russisch erklärt er Wlad, wobei wir seine Hilfe benötigen.

Als Wlad hört, dass es um die Sesamstraße geht, leuchten seine Augen auf. Ich bin einigermaßen überrascht, dass er die Muppets kennt, und auch, dass er unsere Meinung teilt, russische Kinder müssten neue Werte und Fertigkeiten lernen. »Die größte Herausforderung«, sagt er, »besteht für uns darin, unseren Kindern beizubringen, sich frei auszudrücken und selbstständig die Initiative zu ergreifen.« Dazu könne die Sesamstraße beitragen.

Leonid und ich sind begeistert. Und ich staune, wie schnell das alles gegangen ist, wo ich doch erst heute Morgen gelandet bin. Ich frage Wlad auf Russisch, welcher Sender sich seiner Meinung nach am besten für unser Vorhaben eignen würde.

Er antwortet: »Bei uns ist es nicht wie in Amerika, wo es viele unabhängige Fernsehgesellschaften und Kabelsender gibt. Wir haben nur zwei Sender von Bedeutung: Ostankino, das teilweise dem Staat gehört, und RTR, das ganz dem Staat gehört. Dann gibt es zwar noch ein paar kleinere private Fernsehsender, die neu hinzugekommen sind, aber deren Reichweite ist zu klein für die Sesamstraße.«

Vor dem Treffen hat mich Leonid bereits gewarnt, dass Wlad in der Szene nicht nur mächtige Freunde, sondern auch mächtige Feinde hat. In seiner Fernsehshow zeigt er sich streitlustig, er provoziert Regierungsbeamte und tritt für Gerechtigkeit und Transparenz ein. Als ich Wlad frage, mit welchen Herausforderungen wir zu rechnen haben, bin ich nicht überrascht, dass er eine ernste Miene aufsetzt.

»Die russischen Medien sind momentan kein leichtes Terrain«, sagt Wlad. »Ausländische Konzerne kaufen Werbezeit, ohne auf die Preise zu schauen, um ihre Westprodukte auf dem russischen Markt zu verkaufen. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum meine Show noch läuft. Ostankino verdient damit einfach zu viel Geld, als dass sie sie einfach absetzen könnten.« Er lacht. Dann wird er wieder ernst.

»Das ist ein echtes Problem, weil die Ressortleiter gerade ihre Sendezeit für viel Geld verkaufen können und gar nichts mehr selber produzieren müssen.«

Ich lasse einfließen, dass der oberste Leiter des Kinderstudios von Ostankino gegenüber meinen Kollegen bei Sesame Workshop das Interesse bekundet hat, mit uns die russische Sesamstraße zu produzieren.

Wlad hebt die Augenbrauen und murmelt: »Ich halte es für unwahrscheinlich, dass das Kinderstudio genug Geld hat, um eine Produktion wie die Sesamstraße zu stemmen.« Er zwingt sich zu einem Lächeln.

»Da redet ihr mit den falschen Leuten.«

Mir ist nicht ganz klar, was denn dann die nächsten Schritte sein sollen, und erzähle Wlad von den Gerüchten, die ich von meinen Freunden im Sender gehört habe: dass Boris Beresowski bei Ostankino das alleinige Sagen hat. »Stimmt das?«, frage ich.

Leonid tritt mir vors Schienbein – offenbar habe ich gerade eine Grenze überschritten.

Wlad sieht mich an und erwidert: »Nein, das ist nicht ganz richtig.«

Leonid und ich wissen, dass Beresowski die Lösung für alle unsere Probleme wäre. Er hat enorm viel Macht. Ein Fingerschnips von ihm würde dafür sorgen, dass die Sesamstraße einen Sendeplatz und einen Werbeträger kriegt. Etwas zögerlich frage ich nach: »Meinen Sie, wir sollten Beresowski fragen, ob er unsere Sendung im russischen Fernsehen zeigen würde?«

Leonid blickt missmutig drein. Wlad sieht schweigend den Tresen an.

Ich nehme all meinen Mut zusammen, atme tief ein und frage ihn: »Sie haben doch sicher mit Beresowski zu tun?«

»Ja, natürlich«, erwidert er.

Leonid durchbohrt mich mit einem Blick, aber ich weiß, dass das die einmalige Chance ist, an Beresowski heranzukommen.

»Meinen Sie, es wäre irgendwie möglich, dass Sie uns mit ihm bekannt machen, Wlad?«

Leonid ist deutlich anzusehen, dass es ihm unangenehm ist, Wlad um diesen Gefallen zu bitten, aber ich als Gast aus dem Ausland darf das.

Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: »Ich kann es versuchen, aber ich kann nichts versprechen.«

Wlad rutscht schon ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her, aber eine letzte Frage muss ich ihm doch noch stellen: Womit könnten wir Beresowski eher locken? Wenn wir ihm die Uliza Sesam als eine Geschäftsgelegenheit vorstellen oder als eine große philanthropische Geste?

Wlad hebt die Augenbrauen und sieht mich an, als wäre ich eine blutige Anfängerin, die von Russland keine Ahnung hat. Er erklärt noch einmal, dass amerikanische Megakonzerne wie Coca-Cola oder Mars Millionen bezahlen, um den Russen kohlensäurehaltige Süßgetränke, Bonbons und Zahnpasta zu verkaufen. Beresowski braucht die Sesamstraße nicht, um Werbezeit zu verkaufen.

»In der derzeitigen Lage werden Sie niemanden finden, der Ihre amerikanische Show im russischen Fernsehen zeigt, Natasha, es sei denn …« Er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. »Und wenn Sie in Moskau nach Werbekunden suchen, ist das wie gesagt gerade sehr viel schwieriger und unsicherer als in Amerika.« Er klopft zweimal auf den Tresen und lächelt. »Das sollte Ihnen unbedingt klar sein.«

Leonid nickt energisch.

Wlad rutscht von seinem Barhocker, dann sieht er mir noch einmal in die Augen. »Ich will Sie damit keinesfalls entmutigen. Aber wir stehen hier vor einer großen Herausforderung: Wir müssen unseren Kindern beibringen, was eine normale Gesellschaft ist. Ich hoffe sehr, dass uns das gelingt – und dass Sie mit der Sesamstraße Erfolg haben. Sie könnte einen großartigen Beitrag für unser Land leisten. Ich weiß nicht, ob ich viel für Sie tun kann, aber will gern versuchen, den Kontakt herzustellen.«

Als Wlad gegangen ist, nippe ich an meinem Cocktail und denke darüber nach, wie sehr sich die Fernsehlandschaft inzwischen verändert hat. »Er ist sehr mutig«, sage ich mit gedämpfter Stimme.

Leonid schiebt seine Brille hoch und nickt. »Allerdings.«

Ich bin noch keine 24 Stunden im Land und habe schon eine deutliche Ahnung davon, wie schwer es werden könnte, an den Türhütern vorbeizukommen.

Leonid und ich sitzen noch bis weit nach Mitternacht an der Bar, genug Zeit, dass er mich einmal zusammenfalten und wieder glattbügeln kann. Als ich aufstehe, kann ich kaum noch stehen. Mein werter Freund würde gern noch einen Absacker trinken, aber ich winke ab. Ich bin sogar zu müde, um ihm Gute Nacht zu sagen.

Nach köstlichem Schlaf auf der marshmallowweichen Luxusmatratze (schon was anderes als mein klobiger Futon daheim) wache ich erquickt auf. Es klopft an der Tür, und wundersamerweise steht dort ein Kellner, der ein Tablett mit einer weißen Kaffeekanne und einer Karaffe warmer Milch trägt. »Ihr Mor-gen-kaf-fee«, sagt er auf Englisch und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, als hätte er erst kürzlich das Lächeln erlernt. In Sowjetzeiten habe ich, soweit ich mich erinnere, keinen einzigen glücklichen Hotelangestellten gesehen. Für mich der schlagende Beweis, dass das Land einer kunden- und serviceorientierten Kultur entgegensteuert. Als ich ihm das Trinkgeld in Dollar gebe, da ich noch nichts in Rubel umgetauscht habe, wird sein Grinsen breiter.

Ich ziehe mich an und haste nach unten, um zu frühstücken, bevor das Restaurant schließt. Am Buffet ein Übermaß an Köstlichkeiten: Körbe voller Backwaren, Blini mit Kaviar und exotische Früchte. Leonid wohnt ganz in der Nähe. Und da kommt er auch schon ins Restaurant gerauscht und ruft mir zu: »Ich habe fa-bu-lö-se Neuigkeiten!« Er hat ein Treffen mit Igor Malaschenko vereinbart, einem bedeutenden Fernsehmacher, der gerade NTV ins Leben gerufen hat, eine neue private Fernsehgesellschaft westlicher Machart, deren Schwerpunkt auf Nachrichten und Politik liegt. Grinsend verspricht mir Leonid, dass wir von Malaschenko viel darüber erfahren werden, wie es gerade um das russische Fernsehen steht, und auch viel über Beresowski. Malaschenko sei noch bis vor ein paar Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei und stellvertretender Vorsitzender von Ostankino TV gewesen. »Inzwischen ist er Unternehmer«, sagt Leonid.

Er steuert zum Buffet und kehrt mit einem Teller zurück, auf den er zwei Portionen Eggs Benedict mit Speck und Würstchen geladen hat. Leonid isst für sein Leben gern, vor allem, wenn andere dafür bezahlen.

Wir setzen uns an einen Tisch am Fenster und verbringen den Tag damit, einen Schlachtplan für meine Kollegen von der Sesamstraße zu entwerfen, die jetzt auf dem Weg nach Moskau sind. Ich finde es schon etwas gespenstisch, als wir erörtern, wie wir in einem Land ohne verlässliches Bankensystem oder etabliertes Rechtsstaatsprinzip, dafür mit schwankender Währung am besten eine Fernsehserie finanzieren können. Eines der größten Hindernisse ist dabei, dass der US-Kongress zwar Fördermittel für die Adaption der Sesamstraße bereitgestellt hat, dass aber die USAID, die die Auslandshilfen abwickelt, die Gelder erst dann freigibt, wenn wir in Russland einen Partner und einen Sender gefunden haben. Die US-Regierung besteht darauf, dass sich Russland substantiell an dem Deal beteiligt. Hinzu kommt noch, dass wir nicht viel Zeit haben, um die Fördermittel abzurufen. Und wenn wir bis zum Ablaufdatum keinen Partner gefunden haben, kriegt Sesame Workshop keinen Cent.

Leonid ist aber optimistisch. »Wir finden schon jemanden«, sagt er. Nach dem ernüchternden Gespräch am Vorabend mit Wlad überrascht mich dieser Optimismus. Aber warum eigentlich? Leonids positives Denken ist legendär.

Am Abend fahren wir zur Wohnung von Malaschenkos Freundin in einem Moskauer Außenbezirk. Es ist schon dunkel, der Tag verging wie im Flug. Leonids Wagen schießt an den alten geziegelten Befestigungsmauern des Kreml vorbei. Als wir den Bolshoi Kamenni Most überqueren, die »Große Steinbrücke«, sehen wir den von Flutlichtern erhellten Turm des Kreml in die Dunkelheit aufsteigen. Die rot und grün schimmernden Lichter spiegeln sich auf der Oberfläche des Flusses und tanzen darauf wie ein flüssiges Feuerwerk. Ich hatte schon wieder vergessen, wie romantisch Moskau bei Nacht ist.

Dann erreichen wir eine für Parteimitglieder reservierte Apartmentanlage. Leonid parkt vor dem Eingang und tippt den Code ein, den Malaschenko ihm gegeben hat. Er braucht mehrere Anläufe, weil es zu dunkel ist, um die Ziffern auf der Anzeige zu erkennen. Als wir endlich drinnen sind, pressen wir uns in einen engen offenen Fahrstuhl, einen Eisenkäfig, der langsam zum neunten Stock hinaufknarzt.

Malaschenko öffnet uns persönlich die Tür und bittet uns hereinzukommen. Er erklärt uns, dass seine Freundin noch einmal weg musste. Er ist dünn, vorzeitig ergraut und spricht hervorragend Englisch. Er sieht eher aus wie ein Universitätsprofessor als wie ein ehemaliger Kader der Kommunistischen Partei. Malaschenko ist ungefähr so alt wie Leonid, tadellos gekleidet, ein Anzug aus dem Westen. Er schenkt uns Tee ein und stellt einen Weidenkorb mit Schwarzbrot und Käsestücken auf den Tisch.

Rasch kommt Leonid auf unser Anliegen zu sprechen und erzählt Malaschenko von der Uliza Sesam. Dann fragt er nach Beresowski.

»Sie brauchen gar nichts weiter zu sagen«, unterbricht ihn Malaschenko, »ich liebe diese Puppen!« Offenbar hat er die Sesamstraße zu der Zeit kennengelernt und lieb gewonnen, als er als Attaché für die Sowjetunion in Amerika war. Ich staune, wie viele russische Fernsehmacher die Sesamstraße in ihr Herz geschlossen haben. Das freut mich über alle Maßen.

Malaschenko lehnt sich auf seiner Couch zurück und fängt an, über die Muppets zu plaudern. Es scheint ihn mehr zu interessieren, mit uns über das Krümelmonster zu sprechen als über Beresowski. Aber wir drängen ihn trotzdem, uns etwas über den Oligarchen zu erzählen.

»Beresowski ist, wie Sie sicher wissen, sehr ehrgeizig«, erwidert er kühl. »In Sowjetzeiten hat er sich als Mathematiker schon ganz passabel eingerichtet, aber als der russische Markt liberalisiert wurde, gehörte er zu den Ersten, die begriffen haben, dass da richtig viel Geld zu holen ist.«

»Er verkauft Ladas«, unterbricht ihn Leonid, den Mund voller Essen. »Ich habe auch einen.«

Malaschenko deutet ein Lächeln an. »Ja, er hat Russlands größten Autohändler gekauft und damit einen Riesenerfolg gelandet.«

Er scheint zu überlegen, wie er den nächsten Satz formulieren soll, und nippt dabei an seinem Tee. »Beresowskis Leidenschaft gilt aber dem Fernsehen. Er hat begriffen: Wer Ostankino kontrolliert, der kontrolliert die öffentliche Meinung und damit auch das Land.«

Ich versuche, das Gespräch wieder auf unser Anliegen zu lenken: »Was glauben Sie: Besteht die Chance, dass Beresowski die Uliza Sesam in sein Programm aufnimmt?«

»Ja, die besteht«, sagt er. Dann fügt er grinsend hinzu: »Aber nur, weil es die Muppets sind.« Malaschenko ist ein vielbeschäftigter Mann, und wir merken bald, dass es Zeit für uns ist zu gehen. Als er uns zur Tür begleitet, sagt er noch: »Wenn Sie in dieser Branche Geschäfte machen wollen, müssen Sie vorsichtig sein. Gerade ist alles permanent im Wandel. Selbst wenn Sie einen Vertrag unterschrieben haben, heißt das gar nichts, und es gibt einige Leute im russischen Fernsehen, die nicht gerade vertrauenswürdig sind.«

Als wir im Aufzug nach unten rattern, frage ich Leonid, ob Malaschenko damit andeuten wollte, dass Beresowski mit der russischen Mafia in Verbindung steht.

Er lacht mich aus. Dann sagt er mit einem schiefen Lächeln: »Natasha, in Russland laufen alle Geschäfte über die Mafia. Was anderes gibt es gar nicht. Außerdem kann wahrscheinlich nur jemand wie Beresowski mit seinen zwielichtigen Kontakten eine so große Produktion überhaupt stemmen.«

Leonid setzt mich vor meinem Hotel ab. Ich taumele in mein Bett und schlafe sofort ein. In meinem Traum zieht Beresowski, der Puppenmeister, die Fäden an einem Bündel muppethaft aussehender russischer Marionetten.

4

Die Oligarchen und die Muppets

In Moskau ist es sonnig und warm. Ideales Wetter für die Ankunft der leitenden Mitarbeiter von Sesame Workshop, Gary Knell und Baxter Urist, den Leiter Produkte und Internationales Fernsehen. Beide kenne ich nur flüchtig, weshalb ich fürchte, sie könnten mehr von mir erwarten, als ich leisten kann – etwa dass ich Treffen mit hochrangigen Vertretern des russischen Fernsehens für sie vereinbare. Ich hatte ihnen schon gesagt, dass ich mit meinem alten Freund Leonid zusammenarbeite, den sie hoffentlich als Berater in Vollzeit einstellen werden, wenn sie mit den Fortschritten zufrieden sind, die wir bis zum Ende der Woche gemacht haben.

Leonid und ich begrüßen die beiden in der Lobby des Palace Hotel, nachdem sie eingecheckt haben. Mit seinen blonden Haaren und dem Dauergrinsen sieht Baxter eher aus wie ein Surfer-Boy als wie ein typischer zugeknöpfter Unternehmensleiter. Er betrachtet alles von der humorigen Seite. Selbst nach zehn Stunden Flug scheint er bester Laune zu sein und erzählt uns, dass er im Flugzeug zwei amerikanische Geschäftsleute kennengelernt hat, die »blöd genug« waren, den ganzen weiten Weg nach Moskau auf sich zu nehmen, um Zubehör für Schwimmbecken zu verkaufen. »Welcher Kommunist hat denn bitte ein eigenes Schwimmbecken?«, fragt er und bricht in Lachen aus.

Leonid lacht lauter als alle anderen und schon nach wenigen Minuten sind er und Baxter beste Freunde. Ich bin erleichtert, dass sie sich so gut verstehen.

Obwohl es schon spät ist und die beiden Neuankömmlinge noch zum Abendessen verabredet sind, schlägt Leonid vor, dass wir rasch die wichtigsten Akteure durchgehen, die meine Vorgesetzten in den nächsten Tagen treffen werden. Wir ziehen uns ins Hotelrestaurant zurück, wo Leonid ein Stück Papier hervorholt und die verwickelten Beziehungen zwischen den Leitern der russischen Fernsehsender, den für die Medien zuständigen Regierungsbeamten und Russlands neuen Werbemogulen skizziert.

Knell beugt sich vor, um sich Leonids Zeichnung genauer anzusehen. Mit den Pfeilen, Linien und überschneidenden Kreisen sieht sie aus wie ein Diagramm für eine Rube-Goldberg-Maschine.

»Leonid, wir wollen hier nicht Kennedys Ermordung aufdröseln, wir machen nur eine Kindersendung«, witzelt er. Dann zwinkert er mir zu. Zum ersten Mal auf dieser Reise wird mir klar, wie viel Spaß mir das alles macht.

Der Fahrplan für die Woche sieht vor, dass sich die Sesamstraßen-Gang in zwei Gruppen aufteilt: Baxter und Leonid werden in diversen Meetings mit Unternehmen wie Procter & Gamble, McDonald’s, American Express oder PepsiCo mögliche Sponsoren ausfindig machen, während Knell und ich Ostankino TV einen Besuch abstatten und russischen Fernsehmachern das Projekt Sesamstraße vorstellen. Außerdem fahren Baxter, Leonid und ich noch zu Mosfilm, Moskaus größtem Filmstudio, um herauszufinden, ob wir dort vielleicht drehen können.

Bevor sich meine Vorgesetzten verabschieden, erläutert Baxter Leonid noch das Standardverfahren, nach dem die internationalen Koproduktionen der Sesamstraße in die Wege geleitet werden. »Das ist wie bei einem Stativ mit drei Beinen«, sagt Baxter. Das erste Bein bestehe aus Gesprächen mit den wichtigsten Interessenvertretern im Land – Regierungsbeamten, Erziehern, Fernsehmachern –, um zu klären, ob überhaupt das Interesse und die Kapazitäten vorhanden sind, um die Sendung zu produzieren. Das zweite Bein sei das Auftreiben eines zuverlässigen Produktionspartners, eines Senders und der nötigen Gelder. Und das dritte Bein bestehe aus der eigentlichen Produktion der Serie.

Leonid nickt, und ich ringe mir ein Lächeln ab in der Hoffnung, dass niemand bemerkt, was ich denke: Es wird ungeheuer schwer, auch nur ein Bein dieses Stativs stabil aufzustellen.

Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Knell in der Hotellobby und wir nehmen ein Taxi zur Firmenzentrale von Ostankino. An guten Tagen dauert die Fahrt vom Hotel dorthin vierzig Minuten, aber der Verkehr ist derart dicht, dass wir über eine Stunde in der Limousine sitzen. Als wir auf den Gebäudekomplex zugehen, zeigt Knell auf den riesigen Fernsehturm, der wie eine Rakete mit bauchigen Geschwulsten über sechshundert Meter in die Höhe ragt.

»Er sieht zwar aus wie aus einem Science-Fiction-Film der 1960er Jahre, aber er ist eine wahre Meisterleistung sowjetischer Ingenieurskunst«, sage ich in fast stolzem Ton und füge noch hinzu: »Der Turm überträgt das Fernsehsignal immer noch über alle elf Zeitzonen der ehemaligen Sowjetunion hinweg.«

Der Fahrer setzt uns vor dem Sender ab, einem monströsen Zementbunker von der Größe von fünf Fußballfeldern, dessen Fassade mit roten, weißen, gelben und blauen Wellblechplatten verkleidet ist. Es fühlt sich seltsam an, wieder dort zu sein, wo ich vor drei Jahren die Interviews für meine Dokumentation für PBS gedreht habe.

Ein Produktionsassistent vom Kinderstudio begrüßt uns am Eingang und händigt uns Ausweise für den Sender aus: winzige Papiere mit unseren handgeschriebenen Namen und diversen offiziellen Stempeln. Nachdem wir unsere Ausweise vorgezeigt haben, öffnet uns ein Soldat das Tor und der Assistent führt uns durch einen schmalen Gang, bis wir vor einer breiten Tür stehen. Er drückt sie auf und wir betreten die Studioebene von Spokojnoj Notschi Malischi (Gute Nacht, ihr Kleinen)