Mussolini und seine Zeit - Tomaso Mattarucco - E-Book

Mussolini und seine Zeit E-Book

Tomaso Mattarucco

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Beschreibung

Benito Mussolini (1883-1945), Revolutionär, Sozialist und faschistischer Diktator, ist für ein tragisches und folgenschweres Kapitel in der Geschichte Italiens verantwortlich. Einerseits gelang es ihm durch seine pragmatische und zugleich skrupellose Innen- und Außenpolitik, den Italienern ein Gefühl von trügerischer Größe und internationaler Bedeutung zu geben, andererseits führte er sie in einen Abgrund historischen Ausmaßes. Dieses Buch erzählt die Geschichte seines politischen Lebens, zeichnet die Entwicklung des faschistischen Italiens nach und verknüpft dies mit den dramatischen Ereignissen im Zweiten Weltkrieg. Diese gut verständliche Biographie Mussolinis zeigt, wie ein Einzelner ein ganzes Volk manipulieren und dessen Schicksal fehlleiten kann.

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Tomaso Mattarucco

Mussolini und seine Zeit

Betrachtungen über den italienischen Faschismus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2017 by Verlag Ludwig

Holtenauer Straße 141

24118 Kiel

Tel.: 0431-85464

Fax: 0431-8058305

[email protected]

www.verlag-ludwig.de

ISBN: 978-3-86935-317-3

ISBN der Printausgabe: 978-3-86935-297-8

Für Anne, Paul und Julius

Einleitung

Wenige Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts haben die Geschichte nicht nur Italiens, sondern auch Europas dermaßen geprägt und mitgestaltet wie Benito Mussolini. Wenige Persönlichkeiten wurden so verehrt und mythisiert und später so gehasst und dämonisiert wie der italienische Diktator.

Dieses Buch verfolgt das freilich ehrgeizige Ziel, einige Aspekte des Lebens von Mussolini zu beleuchten und kritisch zu analysieren. Hierzu werden die neuesten Ergebnisse der Forschung herangezogen, um ein unvoreingenommenes Bild jener politischen Bewegung zu zeichnen, die sich an einer Philosophie der Aktion orientierte, um ein verarmtes und anachronistisches Italien erst umzuwandeln und dann in ein neues, faschistisches Europa zu katapultieren.

Das vorliegende Buch ist das Ergebnis langjähriger Recherchen und eines komparativen Studiums der Fachliteratur über das Phänomen des Faschismus. Es ist jedoch zugleich eine Arbeit, die aufgrund Mangel an zuverlässigen Quellen einige Fragen unbeantwortet lassen muss. Besonders viel Raum wird der komplexen Persönlichkeit Mussolinis eingeräumt, seiner psychologischen Entwicklung und dem Verhältnis zu Hitler. Dies gilt auch für den historischen Hintergrund jener Zeit. Grundsätzlich versteht sich diese Arbeit als Einführung in die Thematik Faschismus. Dabei werden einige Aspekte ausgeblendet; zum Beispiel die Darstellung der Persönlichkeit und der Rolle der Berater Mussolinis und der Faschisten der ersten Stunde. Es ist folglich nicht das Ziel, die Biografie Mussolinis vollständig, lückenlos und detailreich zu rekonstruieren, sondern einige ihrer weniger bekannten Aspekte kritisch zu analysieren. Folglich erhebt dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es begnügt sich mit der Interpretation von Fakten, die Spezialisten durchaus bekannt sind, im deutschen Sprachraum jedoch nur unzureichend wahrgenommen wurden.

In Italien werden seit vielen Jahren exzellente Werke über den italienischen Faschismus publiziert. Der Faschismus-Experte Renzo De Felice (1929–1996) hat beispielsweise eine monumentale Biografie veröffentlicht, die aus acht Bänden besteht und praktisch alle Aspekte Mussolinis beleuchtet. Warum sollte es also notwendig sein, ein neues Buch über den Diktator zu verfassen? Persönliche Erfahrungen haben gezeigt, wie wenig man in Deutschland jenseits der Fachwissenschaft über Mussolini weiß, der oft einfach als gefährlicher Psychopath abgestempelt wird, und wie oberflächlich die Kenntnisse über seine psychologische und politische Entwicklung sind. Das vorliegende Buch wendet sich an Fachstudierende und geschichtlich Interessierte; es möchte einige Facetten des Faschismus aufhellen und eine Persönlichkeit erklären, die zwar in die Geschichte eingegangen ist, die jedoch weiterhin beunruhigt und zahlreiche Rätsel aufgibt.

Mahatma Gandhi (1869–1948) sagte einmal: »Ich bin unglücklicherweise kein Übermensch wie Mussolini.« Die Faszination, die dieser Mann ausübte, kann man sich heute, wo man sich vergleichbarer Tyrannen mit Mühe entledigt hat, kaum realistisch vorstellen. Nach der Meinung des deutschen Journalisten und Schriftstellers jüdischer Abstammung Emil Ludwig (1881–1948) war er beispielsweise ein großer Staatsmann. Mussolini gründete eine politische Bewegung, die sich primär nicht durch die freilich zentrale Rolle der Gewalt, sondern, wie der Historiker Arrigo Petacco (*1929) schreibt, durch den ungenierten und taktisch versierten Pragmatismus ihres Führers auszeichnete. Während sich Revolutionäre und Erneuerer wie Stalin, Hitler und zum Beispiel später Pol Pot statisch und monolithisch einer präkonstruierten Ideologie bedienten und unfähig waren, sich außerhalb dieses prädefinierten politischen Rahmens zu bewegen, betrieb Mussolini eine an die vorhandene Kontingenz anpassungsfähige Politik, die sogar in die Lage versetzt wurde, sich selber zu negieren und mit Bravour zu überwinden.1 Die politischen Ziele Mussolinis wurden mit Härte und Rücksichtslosigkeit verfolgt und durchgesetzt, jedoch wäre es falsch, diese als vorgefertigt und einer bestimmten Ideologie zugehörend zu betrachten. Nur auf diese Art und Weise konnte sich Mussolini so lange behaupten und die vielen Krisen überwinden, die im Laufe der Geschichte der Bewegung deren innere Stabilität gefährdeten.

Mussolini instrumentalisierte in der Anfangsphase seines Aufstiegs die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene historische Konstellation und die damit einhergehende Unzufriedenheit zu seinen Zwecken. Die Auflösung der vier großen Reiche – dem osmanischen, dem russischen, dem habsburgischen und dem deutschen (das jedoch formell, in Form der Weimarer Republik, weiter bestand) – hinterließ im damaligen Europa eine politische Lücke, die zu einer bemerkenswerten Krise des Parlamentarismus führte und das Aufkommen totalitärer Entwicklungen stark begünstigte. Europa wurde von einer dermaßen destabilisierenden Nachkriegszeit erschüttert, dass die Gefahr des Kommunismus und damit des Endes der Zivilisation mehr als ein bloßes Hirngespinst war.2 Ehemalige Frontkämpfer und Arditi, Verstümmelte, Industrielle, Politiker, fast alle gesellschaftlichen Kategorien also, sahen sich der Gefahr eines kommunistischen Vormarsches ausgesetzt. Italienische Kommunisten drohten, die immensen Probleme des Landes »auf sowjetische Art« zu lösen, plädierten für die Abschaffung des Privateigentums und scheuten nicht vor Gewaltanwendung zurück. Die beiden Jahre unmittelbar nach dem Krieg – 1919/20 – wurden als »die roten Jahre« (il biennio rosso) bezeichnet, in denen eine linksgerichtete Gewaltwelle das Land erschütterte und die traditionelle, auf religiöser und weltlicher Autorität basierende Ordnung in Frage stellte. Mussolini präsentierte sich insofern als der Heilsbringer, als soter der Nation, als er die Überwindung eines ebenso reaktionären wie starren Kapitalismus und des bolschewistischen Kommunismus in Form eines sozialen Kompromisses anstrebte und den damals sogenannten »dritten Weg« als wichtigstes Ziel seiner Politik proklamierte. Er gründete eine politische Bewegung, deren Programm derart vage und unpräzise war, dass sich das Identifikationspotenzial für Nationalisten, ehemalige Irredentisten und Linksorientierte als überraschend groß erwies. Zweifelsohne ist der Faschismus als europäisches Phänomen ohne Mussolini undenkbar. Der Diktator prägte und formte eine sich an stark symbolhaften und heidnischen Ritualen orientierende Bewegung, welche vor allem Jugendliche in ihren Bann zu ziehen vermochte, nicht zuletzt aufgrund ihrer meritokratischen Grundsätze und erneuernden Zielsetzung. Bis zum Ausbruch des Krieges konnte Mussolini auf einen weit verbreiteten Konsens zählen, der ihm propagandistisch wirkungsvolle Taten auf ökonomischem und politischem Gebiet erlaubte. Selbst das kulturelle (verblendete) Leben hielt das Banner des Faschismus hoch und es wäre sicher falsch, von zwanghafter Gleichschaltung oder skrupelloser Knechtung der Intellektuellen zu sprechen.

Der bereits erwähnte Pragmatismus Mussolinis brachte ihn dazu, sich der Philosophie zu bedienen. Vom Philosophen des aktualen Idealismus Giovanni Gentile (1875–1944) bezog er die Grundsätze, die er für die Legitimierung seiner Entscheidungen und seiner Programme brauchte und verwerten konnte.3 Auch die für Mussolini wegweisende Philosophie von Oswald Spengler (1880–1936) stellte teilweise nur einen Vorwand dar, um die faschistische Bewegung zu nobilitieren und ihr eine vorgeblich solide kulturell-philosophische Grundlage zu geben, die bei Bedarf jederzeit negiert bzw. modifiziert werden konnte. Im Rahmen dieses Pragmatismus ist die antisemitische Wende der Regierung ab 1938 zu verstehen, auf die später noch eingegangen wird.

Zwei Ereignisse markieren den Höhepunkt des Ventennio: das Konkordat mit der katholischen Kirche am 11. Februar 1929 und die Gründung des Imperiums am 9. Mai 1936. Das Konkordat setzte der sabotierenden und beschämenden non expedit-Politik des Vatikans ein Ende, so dass jeder gute Katholik zugleich engagierter Faschist sein durfte. Mit der Gründung des Imperiums positionierte sich das faschistische Italien endlich in das Konzert der europäischen Großmächte. Was eigentlich beim Volk noch mehr Begeisterung hervorrief, war der Umstand, dass der Duce als der Erste betrachtet werden konnte, der die Hügel Roms zu ihrem vergangenen Ruhm zurückgeführt hatte. Nun konnte Italien wieder eine Position in Europa einnehmen, die seiner würdig war und ihm gebührte. Auch die kulturellen Errungenschaften der Zeit, von den Littorialien bis zu den waghalsigen Unternehmen Balbos, verstärkten die Aura eines Mannes, der das provinzielle kleine Italien radikal veränderte.

Der Krieg repräsentierte eine Fehlentscheidung, die den Mythos Mussolini neu dimensionierte und in seinen Spätfolgen zu einer politischen und moralischen Verurteilung führte. Diese kann jedoch dem damaligen Enthusiasmus für seine Person unmöglich gerecht und historiographisch insofern nur als irreführend kategorisiert werden, als diese moralische Verurteilung des politischen und militärischen Agierens des Duce eher ein Phänomen der letzten Kriegsjahre bzw. der Nachkriegsjahre ist und seine menschlich-politische Entwicklung nicht realistisch abbildet. Mussolini war der erste moderne Diktator, der dem Führerkult viel Platz einräumte und konsequent für eine suggestive Imprägnierung dieses Kultes im politischen Leben des Landes sorgte.

Es wäre zweifellos ein müßiges Unterfangen, eine Geschichte des Faschismus zu verfassen, ohne auf die komplexe und teilweise paradoxe Persönlichkeit des Duce einzugehen. Seine frühen Erlebnisse, seine Lektüren, seine jugendliche Verzweiflung und seine Kriegserfahrung sind mit der Entstehung des Faschismus eng verflochten. Entsprechend viel Raum beansprucht jede detaillierte Erörterung, die alle Phasen im Leben Mussolinis verfolgen und darlegen möchte, wie sich der zuvor meistgeliebte italienische Politiker in einen gewissenlosen Kriminellen verwandelte.

1 Vgl. Arrigo Petacco, L'uomo della provvidenza. Mussolini, ascesa e caduta di un mito, Milano, Mondadori 2006, S. 4–5.

2 Vgl. Arrigo Petacco: »Dopo gli sconquassi della prima guerra mondiale, il crollo dei grandi imperi e la vittoria dei bolscevichi in Russia (che avevano dato vita alla III Internazionale, cui avevano aderito tutti i partiti comunisti europei ponendosi agli ordini di Mosca) una grande inquietudine si era diffusa in Europa e in America. Inquietudine aggravata dalla crisi delle democrazie parlamentari, che ora parevano esaurite e incapaci di comporre i contrasti fra le classi sociali, nonché di affrontare gli enormi problemi economici del dopoguerra. […] Di conseguenza, quando nel 1922 Mussolini conquistò il potere con la violenza, ma anche il consenso popolare, molti tirarono un sospiro di sollievo. La rivoluzione fascista e la creazione dello stato corporativo furono infatti salutati da molti intellettuali e da molti uomini politici come la scoperta della mitica »terza via« fra capitalismo e comunismo che da molto tempo molti andavano invano cercando.« Vgl. ebd., S. 5.

3 Diese Ansicht wird auch in Aurelio Lepre, Mussolini l'Italiano, Milano, Mondadori 1995, S. 170, vertreten: »In questa chiave si comprende anche il rapporto che [Mussolini] ha con le ideologie, e lo si è già visto per gli anni della giovinezza. Mussolini reclama ripetutamente la sua avversione a esse, ma, in realtà ne accoglie tutti gli elementi che gli possono essere utili: anche per le ideologie si può dire che non le serve, ma se ne serve.«

Die Jugend

Mussolini wurde am 29. Juli 1883 in Dovia (Predappio) geboren. Seine Mutter Rosa Maltoni war von Beruf Grundschullehrerin, sein Vater Alessandro war Schmied und überzeugter Sozialist. Die familiären Verhältnisse waren kleinbürgerlich, wobei die Familie nicht zu den ärmsten gehörte. Häufig wird vermutet, dass Alessandro einen großen Einfluss auf seinen Sohn ausübte, was später dazu führte, dass auch der zukünftige Duce dessen Glauben an eine bessere Weltordnung teilte und sich als Revolutionär ansah. Dies kann jedoch nur zum Teil zutreffen, da Alessandro über wenig Bildung verfügte und die sozialistischen Grundansätze zur Lösung der sozialen Frage nur teilweise verstand. Der Einfluss reduzierte sich auf charakterliche Merkmale und den Umgang mit anderen. Mussolini war von Natur aus ein unruhiges Kind, welches ein sehr lebhaftes Temperament besaß, zur Gewalt neigte und bei seinen Altersgenossen mehr den Konflikt oder ihre Unterwerfung suchte als deren Freundschaft. Die häufigen Auseinandersetzungen endeten fast immer in Streit; wenn er nach Hause kam, stiftete sein Vater Alessandro ihn zudem zur Rache an.

In der 1926 zu hagiographischen Zwecken verfassten Biografie Dux von Margherita Sarfatti (1880–1961) liest man folgende Passage, nachdem der junge Benito seinem Vater von einer Schlägerei mit einem älteren Jugendlichen erzählt hatte:

»Ti ha picchiato? Chi? Uno più grande? E l’hai lasciato scappare? […] Impara a difenderti da uomo, invece di piangere come una femmina« e gli lasciò andare un solenne ceffone. Le lacrime si asciugarono di colpo e il bimbo meditò. Trascorse la giornata ad aguzzare un sasso, e prima di cena ricercò il grande, che aveva dimenticato l’episodio.

»Mi hai dato il carretto sulla testa: adesso tieni.« E gli martellò il capo col sasso puntuto, due, tre volte, sinché vide sangue.4

»Er hat dich geschlagen? Wer? Ein älteres Kind? Und du hast ihn gehen lassen? […] Lerne, dich wie ein Mann zu verteidigen, statt wie ein Mädchen zu weinen«, und verpasste ihm eine laute Ohrfeige. Die Tränen trockneten gleich und das Kind dachte nach. Es verbrachte den Tag, indem es einen Stein spitzte, und vor dem Abendessen suchte es den älteren Jungen auf, der den Vorfall bereits vergessen hatte.

»Du hast mir das Spielzeug auf den Kopf gehauen: jetzt nimm das.« Und er schlug den zugespitzten Stein auf den Kopf des anderen, zweimal, dreimal, bis er Blut sah.

Mussolinis Hang zum Antiklerikalismus dürfte auch auf den Einfluss des Vaters zurückgehen, welcher in den örtlichen Zeitungen schrieb, dass die Priester irgendwann aufhören würden, Aposteln einer falschen Religion zu sein.

Schon als Jugendlicher zeigte er Interesse für die soziale Frage und las die Meisterwerke der französischen Literatur. Mit neun Jahren wurde er von seinen Eltern in einem Internat in Faenza untergebracht, wo nicht nur sein rebellisches Temperament durch die dort herrschende Disziplin verschärft wurde, sondern auch eine direkte Konfrontation mit den Klassenunterschieden erfolgte. In einer späteren Autobiografie erzählte der zukünftige Diktator, dass das katholische Internat dreierlei Tische für die Kinder hatte, nämlich für die wohlhabenden, die ärmeren und die ganz armen, zu denen er natürlich gehörte. Entsprechend mager waren die Essportionen für diese dritte Kategorie. Diese in seinen Augen ungerechte Einteilung war nach eigenen Angaben für seine späteren, äußerst bescheidenen Essgewohnheiten verantwortlich: »Ich habe vollgedeckte Tische immer gehasst, vor allem aus moralischen Gründen«, und als es während des Krieges England, das »perfide Albione«, zu dämonisieren galt, sprach er von dessen Bewohnern als dem »Volk der drei täglichen Mahlzeiten«. Es besteht folglich kein Zweifel darüber, dass der priesterliche Umgang mit den armen Kindern im Internat seine Abneigung gegenüber Autorität und seinen vom Elternhaus schon vorhandenen Antiklerikalismus intensivierte. Diese geistige, noch unreife pubertierende Haltung darf im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner widersprüchlichen Persönlichkeit nicht unterschätzt werden. Mussolinis späteres demiurgisches Klassenbewusstsein gilt als fester und genuiner Bestandteil seines politischen Denkens und Agierens, ohne den die niedrigen gesellschaftlichen Schichten des Volkes, für das der Duce »einer der ihren« war, kaum zu begeistern gewesen wären. Nach der Gründung des Imperiums bot ihm König Vittorio Emanuele III. (1869–1947) an, ihn zum Fürsten zu erheben, ein Angebot, das mit den Worten abgelehnt wurde, dass er, der Duce, nur Mussolini sein wollte. Ganz abgesehen von der apotheotischen Tendenz, sein Leben zu idealisieren, wird die Absicht deutlich, die eigenen früheren innerlichen und sozialen Leiden verantwortlich für jenen Impuls zu machen, der ihn in seinen jüngeren Jahren in den Kampf gestürzt und sein ganzes Wesen mitgeprägt hatte. In den hier gezeichneten Rahmen scheint Mussolinis Antwort zu gehören, die er im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Autofabrik Fiat und dem Industriellen Giovanni Agnelli (1866–1945) der Gewerkschaftsdelegation der Metallarbeiter lieferte, als diese aufgrund der Entlassung von 2.000 Arbeitern aus Protest den Verhandlungstisch verlassen und die Mediation des Diktators gesucht hatte: Agnelli möge sich aus dem Kopf schlagen, dass die faschistische Revolution gemacht worden sei, damit Magnaten der Großindustrie das von Mussolini protegierte Proletariat unterdrücken können. Stattdessen würden die Arbeiter Nutznießer seiner Unterstützung werden.5

Die spätere Intensivierung der Polemik gegenüber dem Kapital lässt sich unter anderem auf frühe Traumata im Internat zurückführen bzw. auf das Bewusstwerden, ja die Konkretisierung eines Klassenproblems, das der zukünftige Duce bisher nur von den sozialistischen Tiraden seines Vaters kannte. Die Rolle dieser Erfahrungen für die Reifung seines politischen Denkens und für eine spätere ideologische Etikettierung seines Handelns darf jedoch in dem Maße nicht überschätzt und unkritisch gesehen werden, als Mussolini im Grunde eine klare politische Positionierung um der Macht willen brauchte. Die fragile Prämisse seines ideologischen Konstrukts sozialistischer Prägung kommt bei seiner Reaktion auf die Philosophie Nietzsches klar zum Vorschein. Der junge Mussolini behauptete, dass die Lektüre der nihilistisch tingierten Werke des Übermensch-Philosophen ihn von seinem Sozialismus geheilt hätte. Die kaum zu apologetisierende Flexibilität des ersten Faschismus zeugt also von einem soliden Machtwillen, der in mehreren Situationen konstatierbar ist. So antwortete er einmal einigen Journalisten, die sich über sein politisches Programm informieren wollten: »Me a voi cmandè!« (»Ich will befehlen«), eine Behauptung, die seine Grundeinstellung zur Politik zusammenfasste. Seiner Jugendfreundin Leda Rafanelli (1880–1971) gestand er 1912: »Ich brauche es, jemand zu sein, verstehen Sie mich? Als ich jung war, wollte ich ein großer Schriftsteller oder Musiker werden, aber ich begriff, dass ich ein mediokrer Mensch bleiben würde.« Selbst die Rückkehr zu den sozialisierenden Anfängen der Bewegung im Rahmen deren Neugeburt in Form der Salò-Republik darf nicht über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, die Strukturen des Königreiches abzuschwächen und den von externen Faktoren unabhängigen Geltungsanspruch der Bewegung zu behaupten.

Bei Streitigkeiten mit den Gleichaltrigen kam es häufig vor, dass er sie mit dem Messer bedrohte und die körperliche Auseinandersetzung nicht scheute. Nach einem erneuten Streit mit einem Mitschüler, der mit einem Messer verletzt wurde, wurde Mussolini der Schule verwiesen und kehrte zu den Eltern zurück. Da er einen Schulabschluss brauchte, wurde er in einem Internat in Forlimpopoli untergebracht, welches einen gewissen Ruf genoss, weil es von Valfredo Carducci, dem Bruder des berühmten Dichters Giosuè Carducci (1835–1907), geleitet wurde. Überliefert sind Mussolinis nunmehr verschärfte antiklerikale Sprüche und nonkonformistische Entgleisungen. Mehrere Quellen berichten von respektlosem Verhalten gegenüber den Lehrern. Diese sind mehr als Auswüchse eines problematischen bzw. demotivierten Schülers, sondern zeigen sowohl sein nunmehr als Charaktermerkmal feststehendes Geltungsbedürfnis als auch eine teilweise zum Radikalismus tendierende Individualität. Beide Eigenschaften bilden den Kern von Mussolinis Persönlichkeit in seinen Jugendjahren. Im Jahre 1901 erwarb er am Ende seiner Ausbildung den Grundschullehrerabschluss, aber die Aussicht auf den damit verbundenen Arbeitsalltag destabilisierte ihn seelisch dermaßen, dass er ständig auf der Suche nach Alternativen war und einige Jahre später endgültig auf diesen Beruf verzichtete. Offensichtlich sprach ihn diese Tätigkeit nicht an; seine häufig abfälligen Kommentare über die von ihm unterrichteten Schüler zeugen von einem totalen Desinteresse an pädagogischen und didaktischen Fragen. Mussolini war zu dieser Zeit ein junger Mann, der krampfhaft seinen Lebensweg suchte und für sich in dem provinziellen Italien von damals wenige Aussichten sah. Es ist weitgehend bekannt, dass die für seine Bildung und seine Formation folgenschwere Entscheidung zur Emigration in die Schweiz zweierlei Ziele verfolgte: Zum einen wollte er der Konskription entkommen und zum anderen hielt er diese Erfahrung für einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu sich selbst. Der Akt der Auswanderung darf insofern nicht unterschätzt werden, als der zukünftige Duce zum ersten Mal in seinem Leben niedrige Arbeiten zu verrichten hatte und im Umgang mit den Zirkeln der italienischen Emigranten das Bewusstsein seiner intellektuellen Überlegenheit gewann.6 Schon in seiner Heimatstadt hatte er sich auf lokaler Ebene politisch engagiert, jedoch scheinen die eigentlichen Anfänge eines ernst genommenen Engagements auf die Schweizer Periode zurückführen zu sein. Die Mussolini-Forschung hat diese Phase genau untersucht. Seine Bewegungen und Aktivitäten sind recht gut dokumentiert. Bekannt ist auch seine Tätigkeit als Journalist bei mehreren Zeitungen.7 Viele Historiker weisen immer wieder darauf hin, dass der junge Mussolini mehrmals, mehr oder weniger ernsthaft, eine eventuelle Auswanderung in die USA in Erwägung zog. Aufgrund fehlender Quellen ist eine eindeutige Antwort auf die Frage, warum dieses Projekt nicht verwirklicht wurde, nicht möglich. Manche sehen den Schlüssel zum Verständnis dieser Entscheidung in dem widersprüchlichen Charakter Mussolinis. Der Faschismus-Experte Giordano Bruno Guerri (*1950) wagt die These, dass die paradoxe Persönlichkeit des Duce und seine Ängste vor dem Ungewissen und einer definitiven Entscheidung eine Rolle gespielt haben mögen.8 Für Benito Mussolini war das eine von Unsicherheit über seine Zukunft und Unschlüssigkeit über seine wahre Berufung gekennzeichnete Phase, so dass er sich ständig mehrere Optionen offenhielt. Es waren die Jahre der massiven italienischen Emigration in die USA.9 Der Persönlichkeit Mussolinis widersprüchliche Merkmale zu bescheinigen, bedarf jedoch der Ergänzung, dass der Duce möglicherweise in der Öffentlichkeit damit kokettierte und sich auf Kontraktverhandlungen mit amerikanischen Zeitungen einließ, in Wahrheit aber nie ernsthaft den erwähnten Schritt wagen wollte. Er war des Englischen nicht mächtig und hätte alle heimatlichen Verbindungen kappen müssen, ohne über eine konkrete Perspektive für die Zukunft zu verfügen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestand zwar das explizite Ziel der meisten Auswanderer darin, ins Vaterland zurückzukehren; für die meisten bedeutete die Emigration folglich eine temporäre Lösung, damit genug Geld verdient und in Italien ein besseres Leben geführt werden konnte.10 Es ist jedoch anzunehmen, dass Mussolini andere (zunächst freilich vage, aber auf jeden Fall ehrgeizige) Ziele verfolgte als die ebenso provisorische wie materialistische Anhäufung von Geld. Vielleicht ließ er sich anfangs von diesem Amerikatrend anstecken, um das Projekt bald wieder fallenzulassen.11 Die Gründe hierfür scheinen nicht kryptisch, unbewusst oder rein charakterlicher Natur zu sein, es handelte sich vielmehr um eine klare und kalkulierte Entscheidung. Mussolini wusste, dass er als Emigrant geringe Aufstiegschancen hatte. Der Umstand, dass er die erste Gelegenheit zur Rückkehr aus der Schweiz nutzte, scheint diese These indirekt zu untermauern.

Mussolini verband seine Erfahrung als einfacher Arbeiter mit philosophischen Lektüren und dem Besuch der Vorlesungen des Soziologen Vilfredo Pareto (1848–1923). Ob und inwiefern die politische Philosophie Paretos mit ihren elitären Theorien oder die Thesen von Georges Sorel (frz. Sozialphilosoph, 1847–1922) und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (russ. Anarchist, 1842–1921) den jungen Mussolini inspirierten, ist in der Forschung bereits debattiert worden.12 Über seine Freundschaft mit Angelica Balabanova (1878–1965) ist auch viel geschrieben worden; ebenso über Mussolinis kurzfristige Festnahme als sozialistischer Agitator. Zur Entschlüsselung der Persönlichkeitsentwicklung des Duce sind einige Fakten erwähnenswert, die in der Historiographie teilweise ignoriert werden und auch Spezialisten wenig geläufig sind. Im Jahr 1904 kehrte Mussolini nach Italien zurück. Er profitierte von einer Amnestie für Deserteure (im April 1904 war Mussolini wegen Desertion zu einem Jahr Haft verurteilt worden), deren Anlass darin bestand, dass Königin Margarethe von Italien (1851–1926) ihrem Ehegatten ein Erbe schenkte. Die mit der Amnestie verknüpfte Bedingung bestand darin, dass der bereits verurteilte Deserteur die Bereitschaft zur Erfüllung der Wehrpflicht signalisierte. Von der anschließenden Phase der opportunistischen Anpassung des zukünftigen Diktators als junger bersagliere in Verona sind Historiker gut unterrichtet: Die Mussolini-Forschung zitiert systematisch einen Brief, der am 26. Februar 1905 vom jungen Soldaten im Zusammenhang mit dem Tod seiner Mutter Rosa an seinen Kapitän Simonotti geschrieben wurde und an dieser Stelle vollständig wiedergegeben und übersetzt wird:13

Stimatissimo signor Capitano,

a nome di mio padre, di mia sorella e di mio fratello, La ringrazio di cuore e con Lei i signori Ufficiali e i miei compagni delle buone espressioni a mio riguardo. Delle decine di lettere che ho ricevuto in questi giorni, molte passeranno al fuoco perché non ripetevano che le solite e banali frasi di convenienza, ma conserverò invece la Sua, signor Capitano, fra le più care memorie della mia vita. Ora, come Lei dice, non mi resta che seguire i consigli di mia madre e onorarne la memoria compiendo tutti i doveri di soldato e di cittadino. A femmine s’addicono lunghi gemiti e pianti – gli uomini forti, soffrire e morire – in silenzio – piuttosto che lacrimare – operare e operare sulla via del bene – onorare le memorie domestiche e quelle più sacre della Patria, non con le lamentazioni sterili, ma con opere egregie. È bene ricordare, commemorare gli eroi che col loro sangue han cementato l’unità della Patria, ma è meglio ancora prepararci onde non essere discendenti ignavi e opporre invece valido baluardo di petti qualora i barbari del Nord tentassero di ridurre l’Italia »un’espressione geografica«. Questi i miei sentimenti.

Si compiaccia di aggradire, signor Capitano, i miei rispettosi saluti.

Suo devotissimo

Benito Mussolini

Übersetzung:

Sehr geehrter Herr Kapitän,