MUTIG GRENZEN SETZEN  mit gutem Gewissen - Luitgardis Parasie - E-Book

MUTIG GRENZEN SETZEN mit gutem Gewissen E-Book

Luitgardis Parasie

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Beschreibung

"Immer wieder bittet meine Freundin mich um Geld. Dabei hat sie einen guten Job. Ich verstehe das nicht. In letzter Zeit nimmt das echt überhand. Mein Verstand sagt, ich muss das jetzt mal lassen. Aber mein Herz schreit: Dann bist du ein schlechter Mensch!" Grenzen ziehen und dabei ein gutes Gewissen haben – das kann ganz schön schwer sein. Dieses Buch erzählt, wie es gelingt. Manche jedoch leiden stark darunter, dass ihre Grenzen bereits rücksichtslos überschritten wurden. Sie werden hier ermutigt: Es gibt Hoffnung trotz verletzter Grenzen.

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Luitgardis ParasieJost Wetter-Parasie

MUTIGGRENZENSETZEN

mit gutem Gewissen

Luitgardis Parasie ist Pastorin und hat eine Zusatzausbildung in systemischer Familientherapie. Beim NDR ist sie in der Reihe „Zwischentöne“ zu hören. Sie ist verheiratet mit

Dr. Jost Wetter-Parasie. Er hat evangelische Theologie und Medizin studiert und arbeitet als Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut in eigener Praxis.

Das Ehepaar wohnt in Northeim und hat drei erwachsene Kinder. Beide halten auf Anfrage gerne Vorträge oder Seminare zu den Themen dieses Buches.

Ebenfalls von den Autoren im BRUNNEN Verlag erscheinen:

Laubvogel/Parasie, Wenn die Liebe Trauer trägt.

Was beim Abschiednehmen von einem lieben Menschen hilft, Gießen, 6. Aufl. 2021

Die Bibelstellen sind, soweit nicht anders angegeben, der Neuen Genfer Übersetzung entnommen.

Genesis u. Exodus. Copyright © 2020 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart; Brunnen Verlag GmbH Gießen.

Leviticus, Numeri, Deuteronomium. Copyright

© 2021 Genfer Bibelgesellschaft Romanel-sur-Lausanne, Schweiz; Brunnen Verlag GmbH Gießen. Alle Rechte vorbehalten.

Gekennzeichnete Ausnahme: BasisBibel. © 2021 Deutsche

Bibelgesellschaft, Stuttgart.

© der deutschen Ausgabe:

2022 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Projektleitung und Lektorat: Petra Hahn-Lütjen

Umschlagfoto: Dietrich Kühne

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN Buch 978-3-7655-2127-0

ISBN E-Book 978-3-7655-7644-7

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Über dieses Buch

Ulrich Giesekus und Jan von Lingen

Einleitung

Familie braucht Grenzen

„Diese Frau passt nicht zu dir“

Sich von den Eltern lösen

Die Nabelschnur kappen

Wenn der Sohn Drogen nimmt

Die Eltern ehren?

Wenn der Vater Alkoholiker ist

Zwei Mal Ja sagen

Der Körper ist unser Freund

Freundschaft braucht Grenzen

I get by with a little help from my friends

Einem Freund Geld leihen?

Wenn der Freund zu viel trinkt

Fremdgehen decken?

Das eigene Terrain schützen

„Du bist über der Grenze“

Der Beruf braucht Grenzen

Aufgehen in der Umarmung?

Das Pfarrhaus – ein spezielles Biotop

Die Haut als Schutzschild

Ein großes Grenzorgan

350 Überstunden und kein Ende

80 % – und gut

Nicht mit mir

Papa ante Portas

Erziehung braucht Grenzen

Bis hierher und nicht weiter

Das Baby kriegt alles mit

Hirnforschung und frühkindliche Entwicklung

Ich will das aber nicht!

Regeln und Rituale

Partnerschaft braucht Grenzen

Vater und Mutter verlassen

Ein eigenes Nest bauen

Ach ja, die Liebe

Von Romeo und Julia und dreckigen Windeln

Zwei Teile eines Ganzen

Eins werden mit Leib und Seele

Nähe und Freiheit

(Kein) Sex in der Ehe

Schweigen im Schlafzimmer

Pornos im Internet

Hör nicht immer „auf dein Herz“

Untreue als Chance?

Hoffnung für kaputte Ehen

Social Media brauchen Grenzen

Jugendliche und Smartphones

„Fairer als das echte Leben“

Anerkennung ist das A und O

Mutig in eine freie Zukunft

Ein kleines Trainingsprogramm zum Grenzen ziehen

Gott setzt Grenzen

Ist Jesus hartherzig?

Was hindert Menschen am Leben?

Überschlag die Kosten

Lass die Toten

Sieh nicht zurück

Ganz oder gar nicht

Hoffnung nach verletzten Grenzen

Bittere Tränen

Sexueller Missbrauch im „Bergdoktor“

Wenn Mütter weggucken

„Meine Tochter ist eine Hure“

Vergebung ist grenzenlos

Vergeben – und vergessen?

Verzeihen mit Vorsicht

Vergeben praktizieren braucht Grenzen

Grenzen des Grolls

Anmerkungen

Über dieses Buch

Ulrich Giesekus und Jan von Lingen

Frieden und Harmonie. Gemeinschaft. Nähe. Alles miteinander teilen, die eigenen Bedürfnisse unterordnen. Sich schuldig fühlen, wenn man jemanden enttäuscht. Der Klügere gibt nach.

So geht Liebe. Oder? – Nein!

Echte Beziehung und wahre Liebe brauchen gesunde Grenzen. Es gibt keinen Frieden ohne Konfliktbewältigung, keine Harmonie ohne anständigen Streit, keine Gemeinschaft auf Kosten der Identität.

Wer die eigenen Bedürfnisse automatisch unterordnet, muss sich über eine Depression nicht wundern. Wer sich selbst Schuldgefühle macht, ist ein gefundenes Fressen für manipulative Machtmenschen, aber zu echter Freundschaft kaum in der Lage. Wenn der Klügere immer nachgibt, passiert das, was die Dummen wollen.

Wie Beziehungen und Grenzen zusammenhängen, Liebe und Identität, Nähe und Selbstbestimmung – das lesen Sie in diesem Buch. Ein wichtiger Beitrag, besonders für Menschen, die Liebe manchmal mit lieb sein verwechseln.

Dr. Ulrich Giesekus

Professor für Psychologie und Beratung (Internationale Hochschule Liebenzell)

Lui Parasie und ihr Mann Jost Wetter-Parasie haben die Gabe, auch schwierige ethische Fragen mit Fingerspitzengefühl und Augenzwinkern aufzugreifen.

Jan von Lingen, Superintendent und langjähriger NDR-Radiopastor

Einleitung

Wir wohnen in einer Spielstraße. Autos dürfen also maximal 7 Kilometer pro Stunde schnell fahren. Was waren wir froh über diese Geschwindigkeitsbegrenzung, als unsere Kinder klein waren! Sie hatten Vorrang vor den Autos, waren geschützt. Heute freuen sich unsere Nachbarn darüber. Mehrere von ihnen haben kleine Kinder.

„Ohne Stützmauern geht es nicht.“ So lautete neulich eine Überschrift in unserer lokalen Zeitung. Die Stadt Northeim hatte ein neues Baugebiet erschlossen, in Hanglage. Stützmauern waren im Bebauungsplan verboten. Inzwischen sind die ersten Leute in ihre neuen Häuser eingezogen. Und mussten feststellen: Bei starkem Regen läuft der Schlamm vom Hang runter und steht bis zu einem Meter hoch an ihren Hauswänden. – Nun will die Stadt den Bebauungsplan noch einmal ändern und Stützmauern erlauben: Grenzen, ein Schutz für die neuen Häuser.

Grenzen – von Anfang an. In der Schöpfungsgeschichte der Bibel wird es poetisch beschrieben.1 Gott setzt Grenzen. Zwischen Himmel und Erde, Festland und Meer. Zwischen Licht und Finsternis, Tag und Nacht. Zwischen Arbeitstagen und Ruhetag. Auch die Lebenszeit der Menschen wird begrenzt.

Eine Grenze wurde uns von Geburt an mitgegeben: unsere Haut. Sie schützt die Organe vor eindringenden Keimen. Aber nicht nur das: Auch Haut und Seele hängen eng zusammen. Manchmal zeigt die Haut sehr deutlich, wenn die Seele Stress hat. Diese Grenze ist ein Alarmsystem.

Junge Eltern begrenzen den Konsum von Süßigkeiten bei ihren Kindern. Sie wissen: Es ist schädlich, wenn die Kleinen sich schon früh an zu viel Süßes gewöhnen. Um gesund zu bleiben, brauchen sie Grenzen.

Als 17-Jähriger war unser Sohn zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Die ganze Nacht durch spielten die Jugendlichen an Computern gegeneinander. Bis einer auf einmal einen epileptischen Anfall erlitt. Sein Kopf war einfach überfordert mit den ständig neuen Reizen am Bildschirm. Der Notarzt kam und wies ihn ins Krankenhaus ein. Unser Gehirn braucht Grenzen.

Grenzen haben kein gutes Image. Wir hatten uns – vor Corona – daran gewöhnt, dass vieles unbegrenzt verfügbar schien: Reisen, Essengehen, Theater, Kino, Besuche, „echte“ Nähe, Menschen treffen, neue Menschen kennenlernen.

Bis zu Corona schien zu gelten: Wozu Grenzen, wenn ich alles haben kann? Die engen doch ein, oder? – Ja, die Gefahr besteht. Denn auch bei Sinnvollem besteht die Gefahr der Übertreibung.

Inzwischen wird jedoch überdeutlich, dass unser Leben fragil ist. Dass die Ressourcen unserer Erde begrenzt sind. Dass wir nicht unbegrenzt konsumieren und Energie verschwenden können. Dass unsere Freiheit mit der Rücksicht auf den Nächsten und auf die eigene (äußere und innere) Gesundheit verbunden werden muss. Dass Einschränkungen nötig sind.

Klar, man kann es übertreiben mit den Grenzen: Du darfst dies nicht, du darfst jenes nicht. Zu viele Regeln und Verbote machen Kinder kirre. Zu wenige aber verunsichern sie. Wie also zieht man hilfreiche Grenzen?

Auf jeden Fall müssen sie gut dosiert sein. Auch bei Erwachsenen. Wir waren vor einiger Zeit am Tegernsee. Eine traumhafte Gegend. Da gibt es schöne Häuser in bevorzugter Lage. Sie hätten eine herrliche Sicht auf den See und die Alpen – theoretisch. Doch viele Grundstücke sind mit meterhohen blickdichten Hecken umgeben. Manche Straßenzüge sind wie eine einzige grüne Wand. Man kann beim Vorbeigehen nicht hineingucken – was ich total schade finde, denn ich sehe mir gerne schöne Gärten an. Aber die dort Wohnenden können auch nicht hinausgucken. Sie fühlen sich vielleicht beschützt – aber sie haben sich zugleich beschränkt. Sehen nichts von der wunderschönen Landschaft, dem See. Was für ein Jammer.

Ja, so ist das mit unüberwindlichen Mauern und Grenzen. Sie suggerieren Schutz, aber die vermeintlich Geschützten gucken gegen die Wand.

Unser Grundstück hat keinen Zaun und auch keine blickdichte Hecke. An der Grenze stehen blühende Sträucher und Büsche. Dazwischen kann man hindurchgucken. Das finden wir gut, denn manchmal ergeben sich nette Gespräche mit Nachbarn oder Vorbeikommenden. Unsere Grundstücksgrenzen sind also klar definiert, sind erkennbar, und zugleich sind sie durchlässig. – Dieses Bild haben wir im Kopf, wenn wir hier von Grenzen sprechen.

Wir sind überzeugt: Grenzen ermöglichen Freiheit. Geben einen Rahmen, in dem ich gestalten kann. Vor allem Grenzen, die ich mir selber setze. In diesem Buch möchten wir mit Ihnen entdecken, wie Sie Grenzen liebevoll und gekonnt ziehen.

Denn auch unser menschliches Miteinander, unsere Liebe braucht Grenzen. Grenzen, die nicht abweisen, sondern die die Liebe einfrieden. Sie beschützen, denn sie ist kostbar. „Nur etwas, was begrenzt ist, hat auch Wert“, sagt der Philosoph Wilhelm Schmidt in einem Interview.2

Und beschützt werden muss die Liebe. Fehlende Grenzen lassen sie ausbluten. Die Liebe eines Paares zum Beispiel hat Vorrang vor der Beziehung zu den Eltern. „Wir wohnen mit meinen Schwiegereltern in einem Haus“, erzählt mir eine junge Frau. „Sie wohnen unten, wir oben. Aber ihre Vorratskammer ist neben unserer Küche. Neulich kam ich nackt aus der Dusche, da stand meine Schwiegermutter im Flur. So was kommt bei uns öfter vor. Das macht mich total wütend.“ Eine Wut, die meist ihr Mann abkriegt. Der sich dann zwischen allen Stühlen fühlt. Der seine Frau verstehen kann, aber auch meint, seine Mutter verteidigen zu müssen. Das bekommt der Liebesbeziehung des Paares überhaupt nicht gut.

Der seine Frau verstehen kann, aber auch meint, seine Mutter verteidigen zu müssen. Das bekommt der Liebesbeziehung des Paares überhaupt nicht gut.

Dabei wäre die Lösung manchmal so einfach. Eine Tür einbauen, die man abschließen kann. Die muss ja nicht immer geschlossen sein. Aber eben dann, wenn das Paar oder einer der beiden für sich sein will.

In Abwandlung eines Liedes möchten wir sagen: Glücklich ist, wer ermisst, wo die eigne Grenze ist.3

Liebe und Grenzen gehören zusammen. Grenzen ohne Liebe sind brutal. Und Liebe ohne Grenzen verliert sich.

Oft wird Menschen empfohlen: Du musst Nein sagen lernen. Wir möchten Sie ermutigen, Ja zu sagen.

Und zwar zwei Mal:

•Ja sagen zu den eigenen Bedürfnissen und Grenzen. Ich darf die haben, und zwar mit gutem Gewissen. Sie sind okay, und es ist gut, dazu zu stehen.

•Ja zur Eigenart und zu den Grenzen des anderen. Er oder sie hat ein Recht auf ihre Wünsche, und ich sollte ihr die zugestehen und sie respektieren. Sie darf die haben – aber ich muss sie nicht alle erfüllen.

„Zwei Mal Ja ist das neue Nein“, kommentierte eine Freundin augenzwinkernd. Es hilft aus der Abwehrhaltung herauszukommen und konstruktiv nach Lösungen zu suchen.

Und wenn alles zu spät scheint? Wenn Grenzen schon schlimm verletzt wurden? Davon erzählen wir im letzten Kapitel. Und haben dafür auch den „Bergdoktor“ bemüht. Da werden „bittere Tränen“ vergossen. Lesen Sie selbst!

Auch unsere Liebe als Paar brauchte Grenzen, das mussten wir schon ganz am Anfang unserer Beziehung lernen. Wir erzählen davon in diesem Buch. Zugleich danken wir allen, die ihre Grenzerlebnisse mit uns teilten und uns erlaubten, hier darüber zu berichten. Bei einigen Geschichten haben wir Namen, Alter und äußere Umstände so verändert, dass niemand erkennbar ist.

Für die kritische Durchsicht des Manuskripts und hilfreiche Hinweise danken wir sehr herzlich:

•Felicitas Bärend, Eheberaterin

•Dr. Hans Martin Rothe, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Chefarzt der gleichnamigen Abteilung im Städtischen Klinikum Görlitz

•Unserer Tochter Nora Parasie, Lehrerin

Außerdem danken wir unserer Lektorin Petra Hahn-Lütjen. Liebe Petra, es macht einfach Spaß, mit dir zusammen Projekte zu entwickeln. Wie schön, dass du dich gleich fürs Thema Grenzen begeistern konntest. Danke für deine liebevoll-kritische Begleitung.

Wir sind überzeugt: Grenzen setzen macht glücklich. Wir möchten Sie ermutigen, das auszuprobieren.

Luitgardis Parasie und Dr. Jost Wetter-Parasie

Northeim im Sommer 2021

Familie braucht Grenzen

„Diese Frau passt nicht zu dir“

Ich war bis über beide Ohren verliebt. Seit einem Jahr kannte ich diese Frau. Ich wollte sie heiraten. Wir studierten Theologie in Heidelberg.

Zum ersten Mal war ich Lui im Herbst 1974 begegnet. In einer gelben Öljacke und brauner Cordhose mit Schlag kam sie ins Heidelberger theologische Institut geradelt. Flott, flott, dachte ich. Offenbar kannten viele meiner Kommilitonen sie. Mich jedoch nahm sie nicht wahr, bis mich jemand vorstellte und sagte: „Das ist der Neue aus Bonn.“ Machte offenbar keinen großen Eindruck auf sie. So verging das Wintersemester. Im März 1975 fuhr sie mit einer ganzen Gruppe Heidelberger Studenten auf eine Theologenfreizeit ins Tessin. Ich war auch dabei. Frühling, Sonne, blühende Pflanzen, schneebedeckte Berggipfel und der blaue Luganer See. Da muss man sich ja verlieben. Lui war immer gut drauf. Sie flirtete mit meinen Freunden und sah ausnehmend gut aus in ihrem kurzen Rock und engen Pulli. Ich versuchte in ihrer Nähe zu sein, sooft es ging. Sie behandelte mich wie einen guten Kumpel. Eines Tages lud ich sie zu einem Spaziergang ein. Ich fasste all meinen Mut zusammen und sagte: „Ich wollte mal fragen, wie du unsere Beziehung so einschätzt. Ich weiß ja nicht, wie es bei dir ist, aber ich bin ziemlich verliebt in dich.“ Puh, jetzt war es raus. Sie fiel aus allen Wolken. „Du bist für mich einfach ein Freund wie die anderen auch“, sagte sie. „Mehr ist da nicht.“ Eine eiskalte Dusche. Ich fühlte mich vor den Kopf gestoßen. Wie gerne hätte ich sie in die Arme genommen und ihre Nähe gespürt. Aber ich hatte mir wohl nur eingebildet, dass sie etwas für mich empfand.

Sommersemester 1975. Ich suchte immer wieder Luis Nähe und bot meine praktische Hilfe an, wo es nur ging. Sie zog in eine andere Wohnung. Ich half beim Umzug. Sie wollte ihre Patentante in Holland besuchen. Ich brachte sie mit meinem alten VW-Käfer an den Bahnhof. Dann rief ich die Tante an und informierte sie über die Ankunftszeit. Das hatte weitreichende Folgen. Diese Tante Renate war nämlich Luis enge Vertraute. Stundenlang liefen die beiden Frauen auf Walcheren am Strand entlang und führten tiefsinnige Gespräche. Tante Renate sagte: „Dieser Jost, der hat so eine warmherzige Stimme, ich glaube, das ist der Richtige für dich.“ – „Aber ich bin gar nicht in ihn verliebt“, war die Antwort, „er ist mir viel zu brav, ich finde den Philipp viel interessanter, mit dem kann ich stundenlang über philosophische Fragen diskutieren.“ Das konnte Tante Renate nicht überzeugen. Sie hatte zwar nur ein einziges Mal mit mir telefoniert, aber sie hielt mir eisern die Stange. Philosophische Fragen, was will man damit schon im Alltag? Sie sah das nicht als Qualitätsmerkmal an, wenn es um den Mann fürs Leben ging. Eines Tages kam eine Postkarte von mir in Holland an. Tante Renate und ihre Tochter Gine bastelten eine fantasievolle Konstruktion, in der sie sie über den Esstisch hängten. Beim Mittagessen entdeckte Lui sie. Mutter und Tochter lachten sich kaputt. Tante Renates Mann hatte von all dem nichts mitbekommen, er fragte irritiert: „Warum lacht ihr so? Wer ist denn dieser Jost?“ Daraufhin sagte die zehnjährige Gine: „Das ist der, von dem die Mama will, dass sie ihn heiratet, aber sie will nicht.“

Als Lui aus Holland zurückkam, richtete ich es so ein, dass ich „zufällig“ zur richtigen Ankunftszeit am Kölner Bahnhof war und sie mit nach Heidelberg nehmen konnte.

Unsere Beziehung wurde enger, wir machten mit Freunden zusammen einen Tanzkurs, gingen in die Disko und ins Kino, spazierten stundenlang am Neckar oder den Philosophenweg entlang. Wir organisierten einen Bibelkreis mit koreanischen Kommilitonen, wir joggten durch den Schlosspark und gaben uns schließlich dort auf einer Bank den ersten Kuss. Es war so viel, was uns verband. Mit der Zeit wuchs bei uns beiden das Gefühl, dass wir zusammengehörten.

Sich von den Eltern lösen

Dann können wir ja auch eine gemeinsame Wohnung suchen und heiraten, dachten wir etwa ein Jahr später. Ich rief meine Eltern an und erzählte es ihnen. Die waren vollkommen schockiert. „Bitte komm sofort nach Hause“, schrieb meine Mutter. „Das ist nicht die richtige Frau für dich. Seit du sie kennst, hast du dich so verändert. Du bist ihr nicht gewachsen. Die drängt dich zu etwas, was dir nicht guttut. Und ihre Familie erst. Diese bestimmende Mutter, und der eigensinnige Vater. Luis Mutter ist ja schon seine dritte Frau. Für den Glauben interessiert er sich gar nicht. Die passen nicht zu uns.“

Schließlich fuhr ich 500 Kilometer von Heidelberg nach Hause, um mir die Argumente anzuhören und meine Eltern von meinem Entschluss zu überzeugen. Ich hatte immer viel auf ihre Meinung gegeben. Hatte mich ja auch für den Beruf meines Vaters entschieden, der Pfarrer war. Es war mir sehr wichtig, dass meine Eltern in entscheidenden Fragen hinter mir standen. Überhaupt war ich eher der angepasste Sohn. Meine jüngere Schwester scherte viel mehr aus. Sie machte ihr eigenes Ding, traf sich heimlich mit Jungs und hatte dauernd Zoff zu Hause.

Da saß ich nun auf dem Sofa und hatte meine besorgten Eltern vor mir. „Hast du dir das gut überlegt? Mit so einer Entscheidung muss man sich Zeit lassen. Am besten, du hältst erst einmal Abstand zu Lui. Studierst an einem anderen Ort. Dann kannst du sehen, ob die Liebe hält. So wie bei uns, wir waren vier Jahre verlobt. Und wir hätten nie geheiratet gegen den Rat unserer Eltern.“

Für meine Mutter und meinen Vater ging alles zu schnell. Zu unüberlegt. Und überhaupt, diese Frau. Viel zu selbstbewusst. Zu dominant. Da würde ich total untergebuttert. Was wäre denn mit der Schwester meines Schulfreunds, der Gabi? Die sei ein Mädchen nach ihrem Herzen, meinte meine Mutter. Still und lieb. Häuslich, und sie würde sich bestimmt gut anpassen. Ich war entsetzt. „Dann gehe ich lieber ins Kloster“, platzte es aus mir heraus.

Meine Eltern waren überzeugt, dass ich in mein Unglück renne.

Ich erinnerte mich an meine älteste Cousine. Vor Jahren hatte sie mal monatelang bei uns gewohnt, mit 22 Jahren. Sie war verlobt, aber die Beziehung war nicht ganz einfach. Ihre Eltern wollten, dass sie sich trennte. Sie schickten ihre Tochter für Monate in unsere Familie. Sie sollte Abstand zu dem Mann bekommen.

„Es war eine furchtbare Zeit“, fasst sie zusammen. Die Zwangstrennung half überhaupt nicht. Meine Cousine musste ihren eigenen Weg gehen. Sie heiratete ihren Verlobten, bekam mit ihm zwei Kinder.

Den Rat der Eltern abwägen, aber den eigenen Weg gehen: Das war jetzt auch meine Aufgabe. Es fiel mir unendlich schwer. Ich wünschte mir Harmonie, Bestätigung. Aber die kam nicht. Meine Eltern fielen mit einer Fülle von Argumenten über mich her. Das Schlimme war: Es war nicht alles Quatsch, was sie sagten. Manches hatten sie ganz richtig beobachtet. Sie hatten unsere Probleme schon gut erkannt. Aber wo gibt es eine Beziehung ohne Konflikte?

„Wartet bitte noch zwei Jahre und prüft euch. Warten kann doch nie schaden“, sagten meine Eltern. „Doch, es kann schaden“, sagte ein guter Freund, dem ich mich anvertraute, „man kann nämlich den Kairos verpassen.“ Kairos, im Neuen Testament ein Ausdruck für den günstigen Augenblick, die richtige Zeit. Wenn man den verpasst, kann es für immer zu spät sein. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, so ähnlich hatte es Michael Gorbatschow 1989 ausgedrückt, und da ist durchaus etwas dran. Darum heißt es im Neuen Testament: Nutzt den Kairos.4

Ich spürte deutlich, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Schmerzlich und herausfordernd musste ich durchbuchstabieren, was es bedeutet, Vater und Mutter zu verlassen. So heißt es am Anfang der Bibel: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden. Die zwei sind dann eins mit Leib und Seele.“5 Ohne „Verlassen“, also ohne Abgrenzen, gibt es kein richtiges Sich-miteinander-Verbinden. Ohne dass man klare Grenzen zieht, keine exklusive Beziehung.

Ich wusste: Würde ich, wie es meine Eltern verlangten, die Entscheidung aufschieben, dann würde ich mein Glück verspielen. Dann wäre Lui weg. Halbherzigkeit war so gar nicht ihres und auch kein jahrelanges Hin und Her. Es würde keine zweite Chance mit dieser Frau geben, da war ich mir sicher. Ich wollte aber diese und keine andere. Also musste ich eine Trennlinie ziehen. Ich sehe meine Eltern noch vor mir, wie sie mich an den Zug brachten und ihnen die Tränen in den Augen standen. Das war hart für mich. Sie meinten es ja gut mit mir.

Ich fuhr zunächst zu einem gemeinsamen Freund nach Heidelberg und sprach mit ihm über meine Situation. Das tat gut und half mir weiter. Dann kam Lui. Sie war völlig fertig. Fuhr nach unserem Gespräch erst mal drei Wochen zu ihrer Familie in die Lüneburger Heide, damit ich Abstand bekam und in Ruhe überlegen konnte. Aber so lange brauchte ich nicht. Ich hatte mich für sie entschieden. Diese Entscheidung war zwar durch die Intervention meiner Eltern kurzzeitig ins Wanken geraten, aber sie wurde für mich durch diese Krise nur umso gewisser. Mir war sehr deutlich geworden, dass ich eine Grenze zwischen mir und meinen Eltern setzen musste, für mich persönlich, aber auch für uns als Paar.

Wir heirateten ein halbes Jahr später, Ende August 1976. Mein Vater ist nicht zur Hochzeit gekommen. Meine Mutter weinte die ganze Zeit. Aber Lui und ich hatten eine tiefe Gewissheit, dass wir das Richtige tun.

Ein Jahr später besuchten uns meine Eltern für ein Wochenende in Heidelberg. Wir tasteten uns vorsichtig wieder aneinander heran. Vor der Abreise schrieb mein Vater ins Gästebuch:

Ihr lieben Kinder beide,

Wir Eltern sind beglückt,

Nach manchen Fragen, manchen Zweifeln

euch hier zu finden, ach so froh.

Der bangen Zweifel Nebel fielen,

Als wir euch fanden froh vereint

Und sah’n, wie traute Liebe keimt.

Wir möchten ferner euch nicht quälen

Mit Sorgen und Bedenken

Und fest Vertrauen zu euch in

Unsere Herzen senken.

Das hat uns tief berührt. Bis heute rechnen Lui und ich es meinem Vater hoch an, dass er die selbstkritische Souveränität aufbrachte, diese Worte zu schreiben. Das Verhältnis zu meinen Eltern wurde über die Jahre sehr gut, mein Vater unterhielt sich gerne über theologische Fragen mit Lui, und meine Mutter sprach stets sehr wertschätzend über Luis Arbeit als Pastorin.

Sich von den Eltern abgrenzen ist eine notwendige Voraussetzung, damit sich das Selbst entwickelt und eine Beziehung gelingt. Das meinen die Paartherapeuten Hans Jellouschek und Bettina Jellouschek-Otto. Sie haben beobachtet: Viele Beziehungen scheitern daran, dass ein oder beide Partner sich nicht von den Eltern gelöst haben.