Starke Mütter - starke Töchter - Luitgardis Parasie - E-Book

Starke Mütter - starke Töchter E-Book

Luitgardis Parasie

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Beschreibung

Jede Frau ist Tochter einer Mutter, und weiß damit um die Besonderheit dieser Verbindung, die zu den prägendsten Beziehungen unseres Lebens gehört. Ob es nun eine unbeschwerte Mutter-Tochter-Beziehung ist oder eine manchmal schwierige, eine eher distanzierte oder eine sehr enge, die Herausforderung ist stets die gleiche: Wie nutze ich das, was ich mitbekommen habe, und wie mache ich das Beste daraus?

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Inhalt

Vorbemerkung und Dank

Einleitung

Mütter haben eine Geschichte

Die andere Schwester

Wenn Gefühle Luxus sind

Eine verlassene Frau? – Die Perspektive wechseln

Mut zur Wahrheit

Die Tragik im Leben der Mutter erkennen

Meine Mutter, die Terroristin

Verbunden oder verunsichert

„Mutter ist halt wie eine Mutter“

Sicher gebunden

So nah und so fern

Herausfinden, was mir Rückhalt gibt

Starke Mütter – starke Töchter

Vom Mother-Blaming zur Supermama?

Mama, wehr dich!

Wie Neurosen uns motivieren können

Jetzt schwanger, das passt gar nicht. Miriam und ihre Mutter

Maria, die Mutter aller Mütter

Mut zum Spießigsein: Mütter und Mädchen in der Pubertät

Pubertät – Mädchen dürfen ihre Geheimnisse haben

Let’s talk about Sex: Wie Aufklärung gelingt

Geheime Sehnsüchte

Sex mit 14? – Eigene Werte entwickeln

Wer ist die Schönste? Konflikte erkennen und benennen

Wenn die Mutter eifersüchtig ist

Die Tür nicht durch Kritik verschließen

Ich verachte meine Mutter

Liebe braucht Grenzen

Wenn die Tochter einen Zaun zieht: Magersucht und Bulimie

Sei Königin in deinem Reich

Mutter als Spaßverderberin?

Kontakt erzwingen?

Wenn Mütter alt und pflegebedürftig werden

Zerrissen zwischen eigener Familie und Mutter

Da gehöre ich hin

Wie eine Mutter und ihre Tochter heil werden

Frieden schließen

Wie eine Freundin

Verzeihen mit Vorsicht

Und wenn sie es nicht einsieht?

Wie ich mit meiner Mutter Frieden schloss

„Eine Möhre weniger hätte es auch getan“

Brita und Nora Parasie über ihre Erziehung

Quellenverzeichnis

Impressum

Vorbemerkung und Dank

Dieses Buch haben wir zu zweit geschrieben: Luitgardis Parasie als Pastorin, systemische Familientherapeutin und Mutter von zwei Töchtern sowie Dr. Jost Wetter-Parasie als Arzt und Psychotherapeut.

Danken möchten wir:

Pastorin Ruth Stieber und der Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychotherapeutin Dr. Eileen von Lehmden für die kritische Lektüre des Manuskripts und wertvolle Tipps.

Unseren Töchtern Nora und Brita für ihre Ideen und ihre ganz spezielle Mitarbeit an diesem Buch.

Allen Töchtern und Müttern, die uns erlaubt haben, ihre Geschichte zu veröffentlichen. Die in diesem Buch dargestellten Fallbeispiele haben wir bewusst verfremdet. Namen, Alter und äußere Umstände wurden so verändert, dass niemand erkennbar ist und die ärztliche und seelsorgerliche Schweigepflicht nicht verletzt werden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Einleitung

Ihr wollt ein Buch über Mütter und Töchter schreiben?“, sagt unsere jüngste Tochter Nora, „dann müsst ihr unbedingt die Gilmore Girls gucken. Das haben wir im Studium immer gesehen und letztes Jahr gab es nach neunjähriger Pause eine Fortsetzung.“

Die Gilmore Girls also, eine amerikanische Soap-Opera mit Kultstatus unter jungen Frauen. Da ist Großmutter Emily, reich, traditionsbewusst und spießig. Ihre Tochter Lorelai hat mit 16 ein Kind bekommen. Sie schlägt sich als alleinerziehende Mutter der inzwischen 16-jährigen Rory durch, die eine Eliteschule besucht.

Wir haben Noras Rat befolgt und mehrere Sendungen angeschaut. Und fragten uns danach: Was fasziniert junge Frauen an dieser Serie?

Lorelai ist liebenswert und chaotisch, sie hat wechselnde Männerbeziehungen und ein angespanntes Verhältnis zu ihren Eltern. Sie ist rebellisch, desorientiert und irgendwie immer auf der Suche. Eine flippige Mutter, mehr Freundin als Erzieherin, mehr Anti-Heldin als Vorbild. Eigentlich erzieht sie ihre Tochter Rory nicht, sondern behandelt sie wie eine enge Vertraute. Verhaltens- und Erziehungstipps richtet eher Rory an Lorelai als umgekehrt. Mit dieser Konstellation aber sind Kinder und Jugendliche in der Regel überfordert. Rory ist denn auch im Prinzip viel zu vernünftig für ein Mädchen mitten in der Pubertät, sie ist frühreif und ein bisschen altklug. Rorys Pubertätsausreißer kommen erst sehr spät, als sie schon die Schule beendet hat. Zum Beispiel betrügt sie ihren langjährigen Freund irgendwann und ist dann mit einem anderen zusammen, doch auch diese Beziehung hält nicht lange. Wie bei Lorelai sind Rorys Beziehungen zu Männern instabil. Sie hat One-Night-Stands oder ihre Partner sind verheiratet. Mit Großmutter Emily kommt Rory gut aus und hat das richtige Händchen für den Umgang mit ihr. Auch hier zeigt Rory ein viel besonneneres Verhalten als ihre Mutter.

Nora meint: „Ich glaube, die enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter beeindruckt die Zuschauerin. Sie sind wie beste Freundinnen und immer wieder auch ähnlich verrückt. Sie teilen Leidenschaften wie unvernünftig viel Kaffee trinken, nächtelang irgendwelche Fernsehsendungen ansehen, sich chinesisches Essen bestellen. Außerdem haben sie einen ähnlichen Humor und in vielem die gleichen Ansichten. Sie machen sich über viele Gegebenheiten in ihrem kleinen Ort Stars Hollow lustig und sie können beide gleich schnell sprechen.“

Ist Rory das Leitbild junger Frauen von heute? In der Tat sind die ja oft strukturierter als ihre Mütter, die vielfach von der 68er-Generation geprägt waren. Hieß es damals etwa: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, so steht Treue heute unter Jugendlichen wieder hoch im Kurs.1 Und viele junge Frauen heute haben in der Tat eine viel engere Beziehung zu ihrer Mutter als diese zu ihren Müttern hatten. Auch darin sind die Gilmore Girls ein Spiegel unserer Zeit. Entwicklungspsychologen sagen allerdings, es brauche ein Mindestmaß an Rebellion, um erwachsen zu werden. Eine durchgehend kumpelhafte freundschaftliche Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist also aus psychologischer Sicht nicht unbedingt ratsam. Denn diese führt dazu, dass viele junge Frauen zwischen 20 und 30 Jahren „sowohl emotional als auch finanziell noch stark von den Eltern abhängig“ sind.2

Die neue Staffel der Gilmore Girls im Jahr 2016 endet damit, dass Rory, inzwischen 32, ihrer Mutter eröffnet: „Ich bin schwanger.“ Von wem, bleibt offen, denn es kommen zwei Väter infrage. Aber Rory wird es schaffen, irgendwie, da kann die Zuschauerin sicher sein. Denn auch ihre Mutter hat es geschafft, sie ist zwar chaotisch und manchmal unvernünftig, aber auch zielstrebig: Sie hat sich in ihrem Job hochgearbeitet und schließlich ein eigenes Hotel eröffnet. Und bei allem Chaos und allen erzieherischen Defiziten hat sie ihrer Tochter doch ein stabiles Fundament mitgegeben, nämlich das Gefühl: Ich finde dich großartig und bin an deiner Seite, was auch passiert. Auch wenn du Mist baust, stehe ich zu dir.

Ist es das, was junge Frauen ersehnen? Eins hat Rory ja mit allen Frauen gemein: Keine hat eine perfekte Mutter, denn die gibt es nicht. Wie können Mütter-Töchter-Beziehungen gelingen, obwohl Mütter so viele Fehler machen? Und wie können Töchter trotzdem von schwierigen Müttern profitieren? Die Serie Gilmore Girls thematisiert das auf unterhaltsame Weise.

Frauen haben heute so viele Wahlmöglichkeiten wie wohl nie zuvor. Sie können selbst entscheiden, welchen Beruf sie erlernen, wen oder ob sie heiraten, wie viele Kinder sie bekommen, ob sie Karriere machen oder sich um ihre Familie kümmern. Das war vor 50 Jahren noch ganz anders. Bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts etwa mussten Pastorinnen aus ihrem Beruf ausscheiden, wenn sie heirateten.

Nur eins können Frauen trotz aller Genderentwicklung bis heute nicht selbst bestimmen: Sie bleiben immer Tochter einer Mutter.

Die Mutter-Tochter-Beziehung ist oft kompliziert und nicht gelassen und entspannt. „Aber wie auch immer die Gefühle zwischen Mutter und Tochter aussehen mögen, beide Frauen sind zutiefst miteinander verbunden, wissen aber nicht immer, wie sie sich gegenseitig erreichen, wie sie ihrer Verbindung eine Form geben können, die beiden guttut und jeder die Freiheit lässt.“3

Von manchen Frauen wird die Mutter auf einen Sockel gestellt. „Ich liebe meine Mutter abgöttisch“, sagte mir mal eine Frau. Aber die Mutter zu idealisieren hilft nur begrenzt dabei, zu einer eigenen Identität als Frau zu finden. Ohne Ablösung funktioniert es nicht. Das Urbild der Mutter ist übrigens für viele Frauen Maria. Deshalb hat unser Freund, der Jesuitenpater Manfred Hösl, ein Kapitel über diese „Mutter aller Mütter“ für unser Buch beigesteuert.

Andere Frauen bekamen viel aufgebürdet. Ja, es gibt schreckliche Mütter. Die „böse Stiefmutter“ war denn auch in der ursprünglichen Fassung mancher Märchen die böse Mutter, das wurde erst später entschärft. Manche Frauen sind richtige Drachen. Aber – Drachenblut macht in der Sage auch unverwundbar!

Ob Sie nun eine unbeschwerte Mutter-Tochter-Beziehung haben oder eine problematische, eine sehr enge oder eine distanzierte, die Herausforderung ist die gleiche: Wie nutze ich das, was ich mitbekommen habe, und wie mache ich das Beste daraus? Wir sind überzeugt: Auch an schwierigen Müttern können Frauen stark werden. Denn „die Kindheit sagt viel über die Vergangenheit und die Gegenwart eines Menschen aus, aber nichts über seine Zukunft“4.

Mütter haben eine Geschichte

Die andere Schwester

Ach, wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass meine Mutter offen mit mir über unsere komplizierte Familiengeschichte gesprochen hätte. Aber Informationen kamen immer nur häppchenweise und bruchstückhaft. Wenn ich nachfragte, hieß es: „Lass doch diese alten Geschichten.“

Ich bin die älteste von drei Schwestern und bekam früh viel Verantwortung aufgedrückt. Meine Mutter war berufstätig und so musste ich meine jüngste Schwester zur Sehschule und zum Logopäden begleiten. Als ich 14 war, fuhren meine Eltern drei Wochen zur Kur. Ich musste mit meiner kleinsten Schwester zu Hause bleiben und auf sie aufpassen. Nachts hatte ich schreckliche Angst, wenn im Haus irgendwas knackte. Wir beide allein zu Hause, das ging auch sonst nicht besonders gut, denn meine Schwester war sehr eigensinnig. Aus Verzweiflung sperrte ich sie irgendwann ins Klo ein, aber sie trat die Tür ein. Bis zur Rückkehr meiner Eltern war ab da meine größte Sorge: Welche harmlose Geschichte erfinde ich für meine Mutter, um die kaputte Tür zu erklären? Ich fürchtete mich vor ihrem Zorn.

Dem Maß an Verantwortung entsprach in keiner Weise die Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen. Einerseits musste ich früh Erwachsenenaufgaben übernehmen, andererseits wurde ich bis zu meinem Auszug aus dem Elternhaus wie ein Kleinkind behandelt. Meine Mutter übte eine rigorose Zwangsherrschaft aus und da gab es null Verhandlungsspielraum. Kleider mussten stets das Knie bedecken – in Zeiten des Minirocks! Hosen für Mädchen: verboten. Tanzkurs gestrichen, Disco und Partys kamen schon gar nicht infrage. Ich bin sofort nach dem Abitur ausgezogen. Was für eine Erleichterung, ab jetzt selbst bestimmen zu dürfen.

Ja, sie hat es sicher gut gemeint. Wollte alles richtig machen und war zeitweise auch überfordert mit Vollzeitjob, drei Töchtern und einem zunehmend pflegebedürftigen Mann. Heute denke ich, sie hatte einfach sehr viel Angst, auch aufgrund ihrer eigenen Geschichte. Und die war in der Tat abenteuerlich.

Eines Tages lag meine Mutter mit Grippe im Bett. Ich brachte ihr das Essen, damals war ich 17, und setzte mich zu ihr. Beiläufig sagte sie irgendwann: „Du hast eine Schwester, die heißt auch Luitgardis.“ Ich fiel aus allen Wolken. „Wie bitte?“ Noch eine Luitgardis? Wo kam die auf einmal her? Ich wusste von drei Halbgeschwistern aus der ersten Ehe meines Vaters. Keine hieß Luitgardis. Mit wachsendem Erstaunen erfuhr ich nun, dass mein Vater neben dieser Ehe ein Verhältnis mit seiner Sekretärin gehabt und mit dieser zwischen 1946 und 1952 weitere vier Kinder gezeugt hatte. „Diese Adriana hat er wohl sehr geliebt“, sagte meine Mutter, „aber sie hat ihn verlassen und ist wieder in ihre Heimat, nach Belgien, gegangen.“ Ich fragte: „Aber wie konntest du zulassen, dass ich auch Luitgardis genannt wurde?“ – „Bei deiner Geburt wusste ich das noch nicht“, sagte meine Mutter, „ich hab es erst später erfahren und es war ein ganz schöner Schock für mich.“

So schnell kann sich die Familie erweitern – auf einmal bekam ich vier Halbgeschwister zusätzlich beschert, der jüngste nur zwei Jahre älter als ich. Leider kam so ein Moment der Offenheit nie wieder. Meine Mutter wollte nicht mehr über Adriana reden und meinen Vater traute ich mich damals nicht darauf anzusprechen.

Warum wird eigentlich in Familien so viel unter den Teppich gekehrt und totgeschwiegen? Die Bibel tut das nicht. Offen wird von Abrahams oder Davids Frauengeschichten berichtet. Man erfährt, dass der Priester Eli ein miserabler Vater war und Absalom ein missratener Sohn. Über Mutter-Tochter-Beziehungen allerdings schweigt sich die Bibel ziemlich aus.

Meine Mutter war eine gläubige Christin. Als jedoch mein Mann und ich das erste Mal meine älteste Halbschwester Hilde in Brügge besuchten und von ihr viel über das frühere Leben meines Vaters erfuhren, schrieb meine Mutter Hilde einen Brief, in dem sie ihr verbot, über unseren Vater „schlecht zu reden“. Dabei war Hilde drei Jahre älter als meine Mutter und völlig befremdet darüber, dass die sich anmaßte, ihr Vorschriften zu machen! In der Bibel steht übrigens nirgends, dass man die Vergangenheit verschweigen und beschönigen sollte. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, sagt Jesus, und das kann man durchaus auch auf die eigene Familie beziehen. Lügen und Geheimnisse sind nämlich oft sehr mächtig, binden Kräfte und Fantasien, wirken zerstörerisch. In der Regel ist es besser, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Dann kann man entscheiden, wie man damit umgehen möchte. Die Herausforderung dabei ist, die Mütter (und Väter) zu ehren, obwohl sie fehlerhafte und manchmal schwer schuldbeladene Menschen sind.

Als Kind habe ich den Namen Luitgardis gehasst. Jedem Lehrer musste ich ihn buchstabieren und die Mitschüler lachten. Luitgardis ist die Schutzpatronin der Flamen, hatte mir mein Vater erklärt: Luit ist das flämische Wort für Leute und gardis leitet sich ab von garder, beschützen. Leutebeschützerin also, nun ja. Nomen est omen? Mein Vater hätte sich jedenfalls nie träumen lassen, dass ich mal Pastorin werde, denn mit der Kirche hatte er nichts am Hut. Das Herz von Firmin-Peter Parasie schlug für Flandern, nicht für Gott. 1897 in Gent, Belgien, geboren, wurde er von flämischen Lehrern geprägt und hielt nichts vom belgischen Staat, der im Norden von Niederländisch sprechenden Flamen und im Süden von Französisch sprechenden Wallonen bewohnt wird. Das Miteinander war seit der Staatsgründung 1830 nicht reibungslos verlaufen, die Flamen, obschon die Mehrheit, fühlten sich von den regierenden Wallonen unterdrückt. Als Firmin-Peter studierte, spitzte sich der flämisch-wallonische Konflikt für ihn persönlich zu: 1916 schrieb er sich an der Universität Gent ein – voller Enthusiasmus, denn gerade war sie von einer wallonischen in eine flämische Universität umgewandelt worden. Zwei Jahre später jedoch folgte die Katastrophe für die Flamen: Alle seit 1916 eingeschriebenen Studenten wurden zwangsexmatrikuliert und ein Studienverbot über sie verhängt. Die Uni Gent wurde wieder wallonisch.

Kein Wunder, dass die Ex-Gandavenses, wie sich die Exmatrikulierten nannten, die schärfsten Kritiker der belgischen Regierung wurden. Mein Vater wurde Journalist, arbeitete für die Rheinisch-Westfälische Zeitung und das Deutsche Nachrichtenbüro und gründete 1930 sein eigenes flämisches Blatt, die 14-tägig erscheinende Zeitschrift Reinaert (Fuchs). Darin griff er die belgische Politik mit beißendem Sarkasmus an.

Von alledem hatte ich als Kind nur vage Ahnungen. Vieles weiß ich bis heute nicht. Mein Vater starb 1976, da war ich 22, ich kann ihn leider nicht mehr fragen. Und meine Mutter? Ich glaube, vieles wollte sie gar nicht so genau wissen. Denn mit ihrer übereilten Eheschließung hatte sie sich in etwas hineingestürzt, dessen Ausmaße sie nicht im Entferntesten ahnte.

Sie lernte meinen Vater im April 1953 kennen, drei Monate später heiratete sie den 27 Jahre Älteren. Sie wusste damals: Er war aus Belgien geflohen, am Ende des 2. Weltkriegs. Zuerst nach Prag, dann nach München. Alles hatte er zurücklassen müssen, seine Bücher und, das Schmerzlichste für den passionierten Klavierspieler, seine Noten. In Prag hatte er promoviert über „Die Presse in Belgien“. In sein geliebtes Flandern konnte er nie mehr zurück: Der belgische Staat hatte ein Todesurteil über ihn und andere politisch Gleichgesinnte verhängt. Dabei hatte er sich doch immer nur mit Leib und Seele für die Flamen eingesetzt. Nun arbeitete er in Deutschland als Lehrer für Latein, Französisch und Gemeinschaftskunde. – So stellte es sich der 28-jährigen Ruth dar. Der Mann faszinierte sie und seine tragische Geschichte erschütterte sie. Er umwarb sie stürmisch, sie hatte jedoch zwei Probleme mit seinem Heiratsantrag: Firmin-Peter war von seiner ersten Frau geschieden, sie lebte in Gent. Einen geschiedenen Mann zu heiraten, kam für Ruth nicht infrage. Doch eines Tages kam eine Postkarte. Ein Freund schrieb Firmin-Peter, die erste Frau sei gestorben. Was für ein überaus passender Zeitpunkt. Ruth jedoch wurde nicht misstrauisch oder wollte es nicht werden.

Aber es gab noch ein zweites Problem: Peter war aus der katholischen Kirche ausgetreten. Für den Glauben hatte er nur Spott übrig. Sie hingegen stammte aus einer christlichen Familie. Die Eltern waren nie in der NSDAP gewesen, die sechs Kinder nicht in den Nazi-Jugendorganisationen HJ und BdM. Sie waren in der Schule vielen Schmähungen ausgesetzt gewesen, durch Klassenkameraden wie auch nazitreue Lehrer. Ruths Vater, der sich offen zu jüdischen Mitbürgern bekannte, schrammte immer an der Grenze zur Verhaftung entlang. Ruth hatte wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ nicht ihren Traumberuf Lehrerin erlernen dürfen. Nach dem Krieg gründete sie mit ihrer älteren Schwester ein Taxiunternehmen. Mit ihrem Verdienst fütterten sie die Mutter und die vier jüngeren Geschwister durch, denn der Vater war 1947 gestorben. Ruth teilte den Glauben ihrer Eltern. Ein ungläubiger Ehepartner war keine Option. Sie hatte schon einen anderen Freund deswegen abgelehnt. Was also tun mit dem Heiratsantrag dieses interessanten, aber irgendwie auch gebrochenen Bewerbers? Ruth fragte ihren Pastor. Der sagte: „Ach, ein so verbitterter Mann, dem muss man doch helfen.“ Ehe als Seelentherapie, das klang doch wirklich christlich. Ruth war sofort überzeugt. „Der braucht mich“ – das fühlte sich richtig an. Es würde schon gut gehen. Ein Jahr später wurde ich geboren, bald kamen noch zwei jüngere Schwestern dazu.

Aber es ging nicht alles gut. Ruth hatte die Altlasten ihres Mannes vollkommen unterschätzt. Bald stellte sich heraus, dass seine erste Frau noch lebte, tatsächlich starb sie sogar erst zwei Jahre nach ihm. Sie hoffte bis an ihr Lebensende, dass Firmin-Peter zu ihr zurückkehren würde. So sagt es jedenfalls Hilde, meine 95-jährige Halbschwester in Brügge. Sie ist nicht gut auf unseren Vater zu sprechen, fand ihn tyrannisch und jähzornig. Und sie hat ihm nie verziehen, dass er damals ihre Mutter mit seiner Sekretärin betrogen hat.

Der Jähzorn war geblieben. „Das ging gleich im ersten Ehejahr los“, erinnert sich meine Tante, „da flog schon mal die Bratpfanne durchs Treppenhaus“. Als Kinder haben wir erlebt, wie unser Vater, laut auf Flämisch fluchend, Tische und Stühle im Wohnzimmer umwarf und meine Mutter an den Haaren riss. Sie flüchtete sich weinend ins Schlafzimmer, wir rannten verängstigt hinterher und baten: „Mutti, lass dich doch scheiden.“ Bei einem dieser Wutanfälle ging mein Vater mit dem Brotmesser auf mich los. Ich floh in eine Ecke, hielt schützend den Arm über den Kopf, er schlug zu – die Narbe an meinem Ellenbogen sah man über Jahre. Meine Mutter sagt, sie hätte das nicht gewusst. Sie konnte mich nicht schützen. Eher war es so, dass ich oft das Gefühl hatte, ich müsse sie schützen und mich um sie kümmern. Denn oft ging es ihr schlecht, dann nahm sie Valium, um über die Runden zu kommen.