Muttersohn - Martin Walser - E-Book

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Martin Walser

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Beschreibung

Wovon handelt dieser Roman? Es ist leichter zu sagen, wovon er nicht handelt. Er handelt von 1937 bis 2008, kommt nicht aus ohne Augustin, Seuse, Jakob Böhme und Swedenborg, handelt aber vor allem von Anton Percy Schlugen. Seine Mutter Josefine, Fini genannt, ist Schneiderin; sie lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab; sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei. Mit diesem Glauben lebt Percy. Er wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, wird gefördert von Professor Augustin Feinlein und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft fast verzweifelt. Es geht um einen Suizidpatienten, einen Motorradlehrer, der sich allen Therapieversuchen stumm widersetzt. Dieser Patient heißt: Ewald Kainz. Percy ist inzwischen berühmt, weil er keiner Weltvernunft zuliebe verzichtet auf die von der Mutter in ihn eingegangene Botschaft vom Kind ohne leiblichen Vater. Berühmt auch durch seine prinzipiell unvorbereiteten Reden. Das ist sein Thema: Ich sage nicht, was ich weiß. Ich sage, was ich bin. In «Muttersohn» fügen sich Bekenntnisse und Handlungen zu einem Roman des Lebens: empfindungsreich, ironisch und schwerelos zugleich.

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Seitenzahl: 542

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Martin Walser

Muttersohn

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Wovon handelt dieser Roman? Es ist leichter zu sagen, wovon er nicht handelt. Er handelt von 1937 bis 2008, kommt nicht aus ohne Augustin, Seuse, Jakob Böhme und Swedenborg, handelt aber vor allem von Anton Percy Schlugen.

Seine Mutter Josefine, Fini genannt, ist Schneiderin; sie lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab; sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei.

Mit diesem Glauben lebt Percy. Er wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, wird gefördert von Professor Augustin Feinlein und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft fast verzweifelt. Es geht um einen Suizidpatienten, einen Motorradlehrer, der sich allen Therapieversuchen stumm widersetzt. Dieser Patient heißt: Ewald Kainz.

Percy ist inzwischen berühmt, weil er keiner Weltvernunft zuliebe verzichtet auf die von der Mutter in ihn eingegangene Botschaft vom Kind ohne leiblichen Vater. Berühmt auch durch seine prinzipiell unvorbereiteten Reden. Das ist sein Thema: Ich sage nicht, was ich weiß. Ich sage, was ich bin.

In «Muttersohn» fügen sich Bekenntnisse und Handlungen zu einem Roman des Lebens: empfindungsreich, ironisch und schwerelos zugleich.

Vita

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schrifststeller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung nach einem Entwurf von Sascha Anderson

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01241-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für alle, die mir geholfen haben.

I Dem Leben zuliebe

1.

Ewald, ich heiße Percy. Das sagte er, als er die Tür hinter sich zugemacht hatte. Ewald hatte auf sein Klopfen nicht geantwortet. Percy sagte, das verstehe er. In der Geschlossenen Abteilung an eine Tür zu klopfen und auf ein Herein zu warten, sei heuchlerisch, da doch der Klopfende den Schlüssel habe, mit dem die Tür aufzuschließen sei.

Ewald lag auf dem gemachten Bett. Er lag auf dem Rücken. Die Augen offen. Die rechte Seite seines Gesichts war rot, vernarbt, die rechte Hand auch. Diese rechte Hand lag auf Ewalds Brust. Sie hielt ein Handy. Das konnte nur heißen, dass er auf etwas wartete, was aus dem Handy kommen musste. Percy sagte: Ich setz’ mich auf den Stuhl an deinem Tisch. Dann schwieg er. Er wartete nicht, er schwieg. Plötzlich richtete sich Ewald auf, schlüpfte in die schwarzen Schuhe, die unter seinem Bett standen, und legte sich wieder hin und schaute zur Decke. Es war klar, er wollte nicht, dass ihn jemand ohne Schuhe sähe. Schwarze Schlüpfschuhe, schwarze Socken, schwarze Hose, schwarzes, langärmliges Hemd. Als Manschettenknöpfe goldgefasste rote Steine. Karneol, dachte Percy. Das Handy hatte Ewald beim In-die-Schuhe-Schlüpfen in der Hand behalten.

So blieben sie. Stumm. Zwei Stunden lang oder drei. Dann stand Percy auf, ging zur Tür, schloss auf und sagte: Ich will nicht, dass du dich wunderst. Ich bin mit allen per du, seit ich hier in der Pflegerschule war. Der Professor hat mich Latein lernen lassen. Da gibt es kein Sie. Seit dem sag ich zu allen du. Es ist dann immer, als spräche ich Latein. So ein Gefühl halt. Bis bald, Ewald.

Als Percy draußen war, drehte er den Schlüssel so leise wie möglich im Schloss.

Zwei Empfindungen waren Percy fremd: Furcht und Ungeduld.

 

An einem solchen Maitag, der das Grün zum Leuchten brachte, waren die Waldwege im Klinik-Areal belebt. Patienten mit ihren Angehörigen, Patienten ohne Angehörige. Einmal wurde Percy sogar mit einem lauten Zuruf begrüßt von einem Pfleger, der eine Gruppe von Patienten zu einem Termin führte. Percy grüßte zurück. Ihm war noch rechtzeitig eingefallen, dass das Alfons war. Einaug Alfons. Der war mit ihm hier auf der Pflegerschule ausgebildet worden. Vielleicht sieht man sich noch, hatte Einaug Alfons gerufen. Das hoff’ ich schwer, hatte Percy zurückgerufen und hatte daran gedacht, dass Alfons inzwischen ein Auge eingebüßt hatte. In einem Kampf mit einem Tobsüchtigen. Der Professor, der ihm das erzählt hatte, hatte gesagt, Alfons habe sich nicht gewehrt. Und dass er sich nicht gewehrt habe, sei inzwischen Alfons’ Wappen. Beide hatten, was sie riefen, mit winkenden Händen begleitet.

Als Percy dann den Brunnenplatz überquerte, der dem Klinik-Areal eine Art Zentrum liefert, wurde er gestoppt. Ein junger Mann, der auf dem niederen Brunnenrand gesessen hatte, sprang auf, trat Percy in den Weg, gab aber dann den Weg, den er gerade noch gesperrt hatte, mit großer Gebärde wieder frei und sagte: Bitte! An Friedlein Vogel ist bis jetzt noch jeder vorbeigekommen, also wird der Baron Schlugen keine Ausnahme machen wollen.

Etwas, was er gemacht oder bewirkt oder gesagt hatte, zu bedauern, lag Percy nicht. Nur wenn er dem Potpourri begegnete, das mit seinem oder mit seinen Namen veranstaltet wurde, spürte er, dass er während seiner mehrjährigen Wanderschaft durch die Pfarrhäuser und Anstalten zwischen Donau und Bodensee manchmal zu mitteilsam gewesen sein musste. Wenn es nicht die Pfarrköchinnen waren, müssen es Ärzte oder Pfleger im PLK gewesen sein, die seinem Ruhm allzu farbige Kränze flochten. Baron Schlugen? Er wusste schon nicht mehr, wem er erzählt hatte, dass seine Mutter hoffe, die Schlugen seien einmal adelig gewesen. Sie betrieb Ahnenforschung.

Der sich als Friedlein Vogel vorgestellt hatte, war mindestens eins neunzig und so hager, dass er, was er als Kleidung trug, bei weitem nicht ausfüllen konnte. Ein Kinn wie ein Schiffsbug und ein Adamsapfel, der mit der auch nicht gerade unbeträchtlichen Nase konkurrieren konnte.

Feierlich langsam holte er Papiere aus seiner Jackentasche, entfaltete sie und sagte:

Noch vor zwei Wochen hätte ich nicht auf Sie lauern können. In der Geschlossenen, wenn auch nur Stufe zwei. Seit einer Woche wird mir geglaubt, dass ich weder mich noch sonst jemanden umbringen werde. Vorerst. Mein Auftrag bleibt mein Auftrag, aber ich habe dem Pharmakonisten Dr. Bruderhofer klargemacht, dass von mir, solange ich null und nichts bin, keine Tat zu erwarten ist. Politisch ambitionierter Suizidkandidat, das haben sie mir hier als Etikett verpasst. Will ein Signal setzen! Aber was denen erst sehr mühsam klargemacht werden musste: Ein Signal setzen – was für eine eisenbahnerhafte Ausdrucksweise – kann ich nur, wenn ich der berühmte Schriftsteller bin, der zu werden ich zwar jede Fähigkeit habe, aber noch keine Aussicht. Zur geistigen Elite zu zählen, reicht nicht, wenn Sie einen historischen Erleuchtungsblitz beabsichtigen. Intelligenzquotient 147 und im Sprachbereich 180. Inzwischen haben elf Verlage meine Manuskripte abgelehnt. Die Ablehnungsschreiben bewiesen mir durch ihre zum Himmel schreiende Syntax der Inkompetenz, wie gut meine Manuskripte sind. Dass ich keinen literarischen Ehrgeiz habe, sondern eine historische Mission, das geht in diese Feuilletonbirnen nicht hinein. Die amerikanische Führungsclique muss begreifen, dass man heute Frieden nicht per Krieg schafft. Und diese kriegslüsterne Clique wird nicht aufhören, wenn sich nicht ein Schriftsteller vor dem Weißen Haus verbrennt, ein Schriftsteller von säkularem Rang. Seit ich das verlautbarte, werde ich von CIA und MOSSAD verfolgt. Das Bundesinnenministerium, das ich fünfzehnmal um Personenschutz gebeten habe, reagiert nicht. Natürlich nicht. CIA und MOSSAD, das sind Komplizen. Von Krieg zu Krieg haben wir uns daran gewöhnt, dass der Krieg zum einzigen Problemlöser geworden ist. Zuerst schaffen wir Probleme, dann lösen wir sie per Krieg. Natürlich machen wir mal Witze über diesen und jenen US-Präsidenten. Einer immer noch simpler als der andere. Bald müssen wir uns für unsere Hohenzollern nicht mehr genieren. Widerstand ist in der Fernseh-Klamottenkiste verschwunden. Artikel 20,4 Grundgesetz interessiert nur noch Spinner. Wie mich, zum Beispiel. Wenn CIA und MOSSAD mich verschwinden lassen, interessiert das keinen. Wenn ich als epochemachender Autor mich vor dem Weißen Haus verbrenne, bleibt dem US-Koloss die Spucke weg. Ein Weltautor, Nobelpreiskandidat, verbrennt sich vor dem Weißen Haus. Und ich handle, mich verbrennend, so egoistisch wie alle anderen auch. Plato: Der Mensch kann sein Interesse nur dann zu seinem Wohl wahrnehmen, wenn er zugleich die Interessen seiner Mitmenschen bedenkt. Quelle, wo’s steht, wird auf Wunsch nachgereicht. Jetzt, was schreibe ich jetzt, um meine Mission zu erfüllen? Gedichte. Ich les’ Ihnen das allerneueste Gedicht vor, dass Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Und las:

Ich bin der göttliche Gedanke,

im Weltdekor die geilste Ranke.

Ohne mich wäre das Ganze

ein Blumentopf ohne Pflanze.

Dann fragte er: Soll ich noch?

Percy sagte: Ich bitte darum.

Der:

Ich habe mich getrennt von dir,

dass dir’s nicht gehe wie mir,

die Einsamkeit ist aus schwarzem Eis,

aber die Westen der Herrn strahlen weiß.

Er faltete das Papier, reichte es Percy und sagte: Wie finden Sie die Idee, dass ich es jetzt mit Gedichten versuche?

Ich beneide dich, sagte Percy.

Wissen Sie, sagte der Hagere, ich bin auf das Gedicht gekommen, als ich erkannt habe, es gibt überhaupt keine schlechten Gedichte. Ein Gedicht sagt immer schon alles. Und das auf kleinem Raum. Das hat mich angezogen. Wer glaubt, es gebe schlechte Gedichte, ist ein Halsabschneider oder Folterknecht oder Stiefellecker. Adieu. Und stoppte noch einmal. Wenn er gelogen habe, könne er nicht mehr gehen, ohne zu befürchten, dass er gleich stürze. Lügen ruiniert bei mir den Gleichgewichtssinn. Also sage ich Ihnen jetzt noch, dass ich gerade gelogen habe. Nicht aus irgendeinem im Moralischen beheimateten Reinheitsdrang gestehe ich das, sondern, weil ich eben, wenn ich gelogen habe, stolpere und stürze. Und das war die Lüge: Dass es überhaupt keine schlechten Gedichte gibt, das habe nicht ich erkannt, sondern Innozenz der Große. Wer denn sonst! Übrigens: Er will meine Gedichte unbedingt in seine Scherblinger Anthologie aufnehmen. Ich will aber erst in eine Anthologie, wenn ich ein Buch habe, ganz allein, für mich. Ein Buch, das ist eine Säule, auf der du stehen kannst, sichtbar der Welt. Adieu. Und ging und blieb noch einmal stehen und sagte: Ich brauche Zeugen. Für meinen letzten Auftritt. Kann ich mit Ihnen rechnen?

Immer, sagte Percy.

Danke, sagte der und ging.

Percy hörte, dass der jetzt summte.

Percy fühlte sich aufgenommen, ohne zu wissen, wo und von wem. Muss man auch nicht wissen, dachte er. Besonders, wenn man sich wohlfühlt. Bei ihm ging Wohlgefühl immer in die Beine. Er warf die Füße voraus, die Fußspitzen fast grotesk nach außen gedreht. Den Kopf richtig hochgereckt. Er erlebte sich als Gehenden so deutlich, dass er wusste, jeder, der ihn so gehen sah, musste denken: Was ist denn mit dem los! Und genau das war ihm recht. Er drückte aus, führte vor, wie wohl es ihm war. Seine Mutter hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er sich trotz seiner Leibesfülle wunderbar bewege. Man sehe ihm an, dass er eins sei mit seinem Körper. Jede seiner Bewegungen sei eine Energiekundgebung. Jede seiner Bewegungen drücke aus, dass er mehr Energie habe als er brauche. Und: dass er Herr seiner Energie sei. Dass seine Energie ihm diene. Und das mache alle seine Bewegungen schön. Du bist ein Engel ohne Flügel, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Und immer, dass es klang, als sei das etwas Schönes, ein Engel ohne Flügel. Wenn Mutter Fini an ihm etwas nicht gefiel, konnte sie ihn aufs gröbste herunterputzen; dann demonstrierte sie ihm, wie sehr sie leide, wenn ihr etwas an ihm nicht gefiel. Das machte ihr Lob vertrauenswürdig.

Tatsächlich fühlte sich Percy inzwischen in seinem Körper so wohl, dass er vielleicht auch ohne den andauernden hymnischen Zuspruch der Mutter ausgekommen wäre. Oder war, dass er sich in seinem Körper so wohlfühlte, die Wirkung des unaufhörlichen mütterlichen Zuspruchs? Im Augenblick fühlte er sich wohl, weil ihm dieser Kontakt zu Friedlein Vogel gelungen war. Und er wusste, Friedlein Vogel würde heute und vielleicht auch noch morgen Percy preisen. Das war das Wichtigste. Überall, wo er erschien, wollte er rühmenswert sein. Er hatte das Gefühl, alle rühmenden Sätze, irgendwo von irgendwem gesprochen, schwebten in die Höhe und sammelten sich droben in einem himmlischen Gewölbe und blieben dort als ein jederzeit abrufbares Echo. Ach, er war jetzt glücklich. Und wenn er glücklich war, dachte er an die Mutter. Ich bin geleitet, sagte die Mutter immer. Percy sagte dann: Ich auch. Am frühen Abend eines 24. Dezembers wird er zwischen Brauchlingen und Merklingen bei Schneetreiben von einem Auto angefahren, in den Straßengraben geschleudert, das Auto fährt weiter, er liegt, kann sich nicht mehr rühren, aber seinen Lederhut kann er noch mit seinem Stock in die Straße hinaushalten, also sieht der Pfarrer Studer, der von einer Kindergartenbescherung in Brauchlingen heimfahren will nach Merklingen, Stock und Hut in seinem Scheinwerferlicht. Percy wird gerettet. Von einem Pfarrer Studer. Seit dem kennt er den. Fräulein Hedwig, die Pfarrköchin, erzählt Percy, als er im Frühjahr kommt, um zu danken, der Pfarrherr habe über Percy sogar gepredigt. Eine ganze Predigt habe davon gehandelt, wie der Pfarrherr am Einnachten noch unterwegs war von Brauchlingen heimwärts, dann auf einmal einen Stock mit einem Hut im Scheinwerferlicht hat. Schräg in die Höhe, aus einem Straßengraben heraus, steht da ein Stock mit einem Hut dran. Und bremst, geht hin und findet einen Verletzten, der aber noch den Stock mit dem Lederhut in die Straße hinaushalten kann. Der Verunglückte ist bei Bewusstsein, der Pfarrherr ruft den Notdienst her und bleibt da, bis das Krankenauto kommt. Bevor er geht, will der Verunglückte noch wissen, wer ihn gerettet hat. Der Pfarrer sagt’s ihm. Und der Verunglückte sagt: Ich gratulier’! Das kommt dem Pfarrherr komisch vor. Er fragt, wie er das verstehen soll. Weihnachtsabend, sagt der Verunglückte, sagt es mühsam, weil ihm jetzt doch alles wehtut, ich gratulier’ Ihnen dazu, dass Sie mich gerettet haben. Aha, sagt der Pfarrherr. Und der Verunglückte: Überlegen Sie sich’s, dann kommen Sie drauf. Und wird in das Krankenauto geschoben. Der Pfarrherr hat sich’s überlegt und hat dann an Dreikönig darüber predigen können, dass er dankbar sei, weil er am Weihnachtsabend habe ein Leben retten dürfen.

Als die Pfarrköchin das Percy erzählte, sagte der: Und was für eins! Meins! Und beide lachten.

Fräulein Hedwig gegenüber sprach er es zum ersten Mal aus, dass er keinen Vater hatte. Sie meinte natürlich, er sei ein Halbwaise oder der Vater habe sich davongemacht. Er aber, ohne in einen rechthaberischen Ton zu verfallen: Nein. Meine Mutter hat es mir gesagt, dass sie mich geboren habe, ohne dass vorher ein Mann nötig gewesen sei. Dass Fräulein Hedwig dann kein bisschen staunte! Sondern seine beiden Hände nahm und sagte, ihr sei Percy gleich so vorgekommen, als sei er nicht wie alle anderen. Pfarrer Studer kam, als Schwester Hedwig es ihm weitergesagt hatte, geradezu fröhlich auf Percy zu und sagte: Auf so einen haben wir gewartet. Und lachte. Percy wusste nicht, was er sagen sollte, also nickte er. Auf jeden Fall, sagte der Pfarrer, sei es ein wunderbarer Einfall, und er hoffe bloß, Percy werde sich nicht drausbringen lassen.

 

Jedes Mal, wenn Percy aus dem Klinik-Wald ins Freie trat, blieb er stehen, atmete ein, was er sah. Das Kloster. Die Nordseite, die Rückseite des Baus, der auf der Vorderseite, nach Süden, mit zwei Seitenflügeln vorsprang und in dieses offene U die Stiftskirche hineinragen ließ. Das Kloster hatte es vom hohen Mittelalter bis zu seiner Aufhebung auf einen Umschwung von zwölf Hektar gebracht. Zuletzt hatte das Psychiatrische Landeskrankenhaus diese zwölf Hektar mit allem Drauf und Dran geerbt. Mindestens zwei Hektar davon gehören immer noch dem Wald. Die Klinik-Neubauten sind so im Wald verteilt, dass man nie mehr als einen Bau sieht. Nur die Klosterbauten stehen draußen, im Freien sozusagen.

Percy fühlte, wie richtig es war, dass sich diese Bauten frei präsentierten, und wie richtig es war, dass sich die Klinik-Neubauten im Wald vor einander verbargen. Er überließ sich jedes Mal diesem mit Staunen gemischten Wohlgefühl, wenn er erlebte, dass dieser Bau mit Hunderten von Fenstern kein bisschen zu groß und er, der Betrachter, kein bisschen zu klein wurde. Die Fenster waren gefasst, weiß gefasst, von Stuckreliefs, also waren sie in Bewegung, lieferten der gewaltigen Fläche Bewegungslinien. Und der Mittelteil des mächtigen Baus sprang vor, auch auf der Rückseite. Und sprang nicht nur vor, sondern hob sich auch ab in der Dachlinie. Und der Aufschwung war nicht nur eine höher hinaufreichende Dachschräge, der Aufschwung gelang zuerst nur zur Hälfte. Ruhte in einer Linie und setzte dann noch einmal an, verjüngte sich noch einmal, um ganz in die Höhe zu kommen. An diesen zwei Aufschwüngen musste sich Percy jedes Mal mitatmend sattsehen, bevor er auf das Gebäude zu- und um es herumging, zum Portal. Dieser zweifache Aufschwung, das war das Dach des Bibliotheksaals. Der Saal plus Galerie brauchte diesen zweifachen Aufschwung. Die links und rechts unerhoben weiterlaufende Dachlinie endete draußen, da, wo die Seitenflügel nach vorn entsprangen, noch einmal in Erhöhungen. Eckpavillons, hatte der Professor diese Aufschwünge genannt. Sie demonstrierten, dass sie der Symmetriebetonung dienten.

Jedes Mal, wenn Percy diesen Bau beim Anschauen förmlich einatmete, gestand er sich, dass es die Symmetrie war, die er genoss. Er war ein zur Symmetrie verurteilter Mensch. Asymmetrisches schmerzte ihn. Und er war gegen Schmerz. Er gönnte nichts und niemandem die Herrschaft über sich. Es sei denn, er unterwerfe sich freiwillig einer Herrschaft. Aber da er sich keinem Schmerz freiwillig unterwerfen konnte, war er gegen Schmerz. Es gab auch kein zweites Bauwerk in der Welt, das er so einatmete wie dieses. Im Bibliothekssaal hatte er zum ersten Mal in seinem Leben gesprochen. Öffentlich sozusagen.

Der Professor hatte am Samstag, es war ein Samstag im Mai, gesagt: Manchmal redest du wie ein Wasserfall. Man möchte sich drunterstellen. Sprich doch morgen zu den Patienten und ihren Angehörigen. Nach der Andacht.

Es ist Mai, hatte der Professor noch gesagt, der Marienmonat.

Percy hatte gelacht. Mehr grimassiert als wirklich gelacht. Mach’ ich, hatte er gesagt. Er hatte doch selber immer wieder dieses Zu-viel-Gefühl. Er wusste nicht von was, nur dass es zu viel war. Zu viel für ihn selbst. Aber vorbereiten tu ich mich nicht, hatte er gesagt. Das fänd’ ich gemein, vorbereitet zu reden zu unvorbereiteten Menschen.

Sonntagnachmittag also. Zuerst hatte er sich auf der Orgel in Stimmung gebracht. Noch waren Stühle leer. Es kamen aber immer noch Leute. Dann waren alle Stühle besetzt. Es standen schon Leute. In der ersten Reihe saß der Professor. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein. Percy wusste, dass ihm keiner so zuhören konnte wie der Professor. Er spielte, was seine Hände wollten. Nichts Bombastisches. Er würde, was er spielte, Diminutiv nennen. Wenn er den Mut hätte, müsste er es Ewig nennen. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein war aufgestanden und hatte gesagt, dass er sich freue, Percy Anton Schlugen heute hier zuhören zu können.

Als der Professor ihn mit beiden Vornamen vorstellte, war ihm eingefallen, wie ihn Luzia Meyer-Horch, als er bei ihr den Schlüssel für die Orgel abholte, wie sie, des Professors Sekretärin, ihn begrüßt hatte: Immer wenn Sie zur Tür hereinkommen, Percy, merk’ ich, dass Sie aussehen, wie wenn Sie Anton hießen. Und lachte. Ihr berühmtes Lachen, mit dem sie immer verhinderte, dass jemand mitlachte. Aber dass er ihr Lachen bewundere, sagte Percy jedes Mal.

Als Percy dann die Menschen vor sich sah, sagte er: Liebe Leute. Dem Leben zuliebe.

Dann sprach er nicht gleich weiter. Das wurde überhaupt das Wichtigste bei seinem Sprechen. Die Pausen. Die Sätze waren gerahmt von Pausen. Und die Pausen waren keine Verlegenheit.

Seine Mutter heiße Josefine, weil sie am 19. März geboren worden sei. Ihr Vater habe Josef geheißen, ohne dass er am 19. März geboren worden sei. Die Schlugen seien eine komische Familie gewesen. Die Mutter der Mutter rabiat unfromm, der Vater der Mutter kreuzbrav, erzfromm, andauernd auf Wallfahrt oder doch dabei, die nächste Wallfahrt zu planen.

Immer nur der Vater Josef und die Tochter Josefine. Nach Heiligenbronn im Schwarzwald, auf den Welschenberg an der Donau, nach Birnau am Bodensee oder auf den Bussen, den heiligen Berg Oberschwabens. Marienverehrung halt.

Seine Mutter sei immer mitgetippelt, habe natürlich alle Rosenkränze mitgebetet, aber sie habe immer gespürt, dass sie eine Zuschauerin sei. Ihr Vater sei für sie ein Altarbild geworden. Aber sie hat ihm nie sagen können, dass sie bei diesen Wallfahrtsprozeduren innen drin nicht ergriffen worden sei.

Dann ist der Vater gestorben, und er ist gestorben, als nur sie im Zimmer war, und sein letzter Satz war: Du bist geleitet. Fini, du schaffst es.

Von da an merkte sie, dass in ihr alles lebte, was sie mit ihm erlebt hatte. Jetzt war sie keine Zuschauerin mehr. Jetzt war sie die Ergriffene. Und hat nicht aufgehört, die Ergriffene zu sein. Und das hat Percy durch sie erlebt, was das ist: ergriffen sein. Ich leb’ dem Leben zuliebe, hat sie gesagt. Mehr als einmal.

Wieder eine unangestrengte Pause.

Sein Lieblingspfarrer, Pfarrer Chrysostomus Studer, habe einmal in einer Predigt gesagt, im Neuen Testament komme das Wort Reich Gottes 122-mal vor. Es sei fast immer Jesus selber, der das sage: das Reich Gottes. Und dass er selber das Reich Gottes sei. Aber in einer anderen Predigt habe Pfarrer Studer gesagt, jeder trage das Reich Gottes in sich. Er, Percy, gebe zu, dass das ein schöner Ausdruck sei: Reich Gottes. Das hat was. Aber man weiß nicht, was es hat. Auf ihn wirke es wie Musik oder wie eine Droge. Er könne aber zu anderen nicht über Musik oder Drogen sprechen.

Dann hat er gesagt, ihm wäre es unangenehm, wenn er jetzt etwas gesagt hätte, was der Erklärung bedürfe. Er erlebe, wenn er den Mund aufmache, dass er über sich selbst spreche. Ich kann nicht sagen, was ich weiß. Nur, was ich bin.

Jetzt die tolle Hoffnung, er sei anderen am nächsten, wenn er über sich selbst spreche. Jeder sei sich selbst so nah. Da könnten doch alle, die über sich selbst sprechen, einander nah sein. Dann hat er hörbar aufgeatmet, hat die Zuhörer um Entschuldigung gebeten, weil er keine Beweise hat für das, was er da sagt. Aber genau das liegt ihm nicht, etwas zu beweisen. Wenn etwas bewiesen ist, ist es für ihn erledigt. Das Unbeweisbare, das zieht ihn an.

Er ist dann so weit gegangen, den Leuten zu sagen, er habe einer Pfarrköchin namens Hedwig, Pfarrköchin in Merklingen, einmal gesagt, dass seine Mutter ihm gesagt habe, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen. Und Fräulein Hedwig habe nicht gelacht. Auf jeden Fall ihn nicht ausgelacht. Und der Pfarrer Studer habe, als er das von Fräulein Hedwig erfahren hatte, zu ihm gesagt: Auf so einen haben wir gewartet. Mehr wolle er, sagte Percy, hier heute nicht sagen. Aber ein anderes Mal mehr. Das hoffe er. Von sich.

Und sagte doch noch: Glaubwürdig sein wäre das Höchste für ihn. Glaubhaft sein zu wollen, käme ihm anmaßend vor. Wenn er euch glaubwürdig wäre, wäre er nie mehr allein. Oder, um es mit Goldrand zu sagen: nie mehr einsam.

Womit ich zugegeben habe, dass ich abhängig bin.

Und musste noch sagen: Einer, der sich unabhängig wähnte, wäre mir fürchterlich. Einer, der abhängig ist, kann einem leidtun. Ich mir aber nicht. Ich bin nicht abhängig von dem und jenem, sondern absolut. Ich bin absolut abhängig. Absolut unselbständig. Ich bin ein Echo und weiß nicht, von was. Noch nicht. Ich habe im Lauf meines Lebens immer mehr Gleichartigkeiten mit anderen erfahren. Und je mehr ich davon erfuhr, desto mehr hoffte ich, auf Einzigartigkeit verzichten zu können. Als ich sah, wie ähnlich ich anderen war, fühlte ich meine Mängel, wenn nicht entschuldigt, so doch aufgehoben in einer allgemeineren Mangelhaftigkeit. Manchmal kriegte ich deswegen sogar etwas Stolzes. Nichts übermäßig Stolzes. Etwas Bescheiden-Stolzes. Ich sah mich dann mit meinen Mängeln im Morgenrot stehen, sah meine Mängel angeleuchtet von einer mehr Licht als Wärme spendenden Morgensonne und war einverstanden mit der Deutlichkeit, in der meine Mängel jetzt erschienen, und ich sagte: Also. Und rannte davon. Der wollte ich auch nicht sein. Ich habe mich nie mit mir eins fühlen können. Jeder konnte mich aus mir vertreiben. Aber meine Mutter hat das nicht zugelassen. Sie hat mich in mir befestigt. Du bist ein Engel ohne Flügel, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Und so, dass ich’s glauben konnte. Ich habe immer mehr geglaubt als bezweifelt.

Und das auch noch: Was ich euch sage, ist gering. Nur dass ich es sage, zählt. Vielleicht.

Dann, ganz leise:

Nun habt ihr gut geschlafen

und wünscht euch fort von hier

zu Kräutern und zu Schafen,

und zwei mal zwei bleibt vier.

Einziehen, schließen, falten,

eben leben, keine Steigerung,

den Fall nicht nähren,

nur Schnüre entwirren

und sorgsam enden.

 

Und an die Orgel, und eingeleitet.

Die Leute haben mitgesungen. Heftig. Er hat den Saal so verlassen, dass er niemandem begegnen musste. Er hätte sich geniert. Das weiß er heute noch.

Als Percy jetzt die im Bogenschwung nach oben in den ersten Stock führende Treppe hinaufging, schwebte er wieder. Wenn er diese Treppe hinauf- oder hinabging, schwebte er. Er war oft genug mit dem Professor diese Zeit lassenden Stufen hinauf- oder hinabgegangen. Der hatte das gesagt, dass einen diese Treppe schweben lasse. Diese Treppe sage alles, sagte der Professor. Man schwebe doch aufwärts genau so wie abwärts. Keinesfalls dominiere das Gefühl, man gehe aufwärts oder gehe abwärts. Das hörte Percy gern, das übertrug sich auf ihn. Seit dem schwebte er, der Engel ohne Flügel, aufwärts und schwebte abwärts und spürte es förmlich, dass die den Treppenschwung begleitenden, die gemalten Äbte, die Reichsprälaten, ihn mit Sympathie betrachteten. Dann an der Gangwand, von der Fensterfront mit Licht bedient, ein Abt-Bild nach dem anderen. Alle mit Hermelin und Gold und Edelsteinen und jeder mit eigenem Wappen. Bei einem blieb er immer stehen: Eusebius Feinlein. Natürlich hatte auch er sich wie alle seine Abtskollegen ein Wappen malen lassen. Drei goldene Ringe im roten Feld. Seine Mitra war die schönste. Gold- und Silberfäden hatten alle, aber er hatte dazu noch farbige Muster erfundener Blumen. Er hatte sich mit weißen Handschuhen malen lassen und trug über diesen Handschuhen am Mittelfinger seiner rechten Hand einen Ring. Aber er war der Einzige, der mitten auf dem Rücken seiner weißen Handschuhhand die Gemme der Stigmatisation trug. Draufgenäht, hatte der Professor gesagt, als er sah, dass Percy gar nicht mehr wegschauen konnte von dem roten Mal.

Als Percy mit dem Professor vor dem Vorfahr stehen geblieben war, hatte der Professor gesagt: Wenn ich damals auf die Welt gekommen wäre, hätte ich auch Abt werden wollen in Weißenau oder Schussenried oder Obermarchtal oder Rot oder Zwiefalten oder Wieblingen oder eben, wie mein Vorfahr Eusebius, in Scherblingen. Zumindest Chorherr wäre ich geworden. Als Scherblingen 1803 aufgehoben wurde, habe der Konvent neununddreißig Chorherren gehabt. Darunter begabte Tagebuchschreiber. Er habe vor, sobald er seine Landeskrankenhauszeit hinter sich habe, in den Papieren von damals zu verschwinden.

Als vor zwölf Jahren die Klosterbauten endgültig verlassen wurden, hatte der Professor sein Sekretariat in den dafür bestimmten Neubau verlegen müssen. Aber er hatte keinen Stuhl und keine Lampe und keine Schublade mit hinübergenommen. Zu Percy: Drüben arbeite ich, hier leb’ ich, beinah hätte ich gesagt: bete ich. Das verstanden nicht alle.

Percy hätte jedes Mal viel länger stehen bleiben können. Dieser Gang. Ein Kunstwerk aus Licht und Stein. Links die Türen, rechts die Fenster. Die dicken Mauern machten aus jedem Fenster eine Nische. Eine Lichtnische. Die Decke spiegelte sich mit allem Stuck im glänzenden Boden. Die letzte Tür war die zur Prälatur. Jetzt: Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein. Wenn Percy dieses Schild vor Augen hatte, dachte er an Innozenz, der sagte, auch Namen bedürften der Aktualisierung. Der Professor Feinlein müsse längst Feinstlein heißen.

Anklopfen musste Percy nicht. Mit diesem Privileg war Percy schon ausgezeichnet worden, als er noch in der Pflegerschule war. Professor Feinlein war von allen, die die Pflegeschüler lehrten, der beliebteste Lehrer. Nach dem ersten Jahr fing er an, Percy auszuzeichnen. Zwei Auszeichnungen überragten alles andere: Der Professor wollte, dass Percy Latein lerne, und er selber wollte Percys Lateinlehrer sein. Und Percy sollte Orgel lernen. Auch da wurde er Percys Lehrer. Die Orgelstunden fanden nicht in der Stiftskirche statt, sondern auf der Orgel im Bibliothekssaal. Und die oberste Sekretärin, Frau Meyer-Horch, hatte den Schlüssel, und sie konnte zu keinem Menschen einen Satz sagen, in dem nicht eine Freundlichkeit vorkam, mit der in diesem Augenblick nicht zu rechnen gewesen war. Also wurde jedes Orgelschlüsselabholen für Percy zur reinen Ermunterung. Die Orgel war eingebaut worden, als aus dem Kloster schon eine Anstalt geworden war, damit Gottesdienste für Patienten beider Konfessionen stattfinden konnten.

Obwohl die Türen aus der Klosterzeit wuchtig und schwer waren, hörte Percy die Musik. Er trat ein und setzte sich gleich auf den gepolsterten Stuhl neben der Tür. Der Professor nickte. Eine Bass-Stimme sang gerade: Esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes.

Als das letzte Amen verklungen war, sagte der Professor: Das wurde hier gesungen: Die Bedürftigen überhäuft er mit Gütern, die Reichen kriegen nichts. Sooft er das höre, er fasse es nicht. Jubel, Innigkeit, Höhenschwung, also wenn Gott Ohren hat, muss er hin gewesen sein von dieser höchstmöglichen Musik. So haben sie sich in die Höhe musiziert, dass sie nicht haben hören müssen, wie draußen, rundherum, geschrien wurde. Vor vierhundertzweiundachtzig Jahren haben die Bauern diese Musik gestört. Fecit potentiam in brachio suo, dispersit superbos mente cordis sui. Ich habe einmal mitgezählt: Zwölf Mal nach einander lässt der Komponist singen, dass der Herrgott mit seinem Arm Gewalt ausübt und die Hochmütigen verjagt. Keine Zeile wird öfter gesungen als die. Und hat doch selber zu den Mächtigen gehört, der Komponist Betscher, der auch ein Reichsprälat war, drüben in Rot an der Rot. Könnte es sein, Percy, dass jede Zeit gleich unempfindlich ist, unempfindlich durch Sensibilität, durch Kultur, durch Schönheit gegenüber dem, was sie anrichtet? Auf jeden Fall hat jede Zeit ihre eigene Musik, dass nicht gehört werden muss, wie geschrien wird.

Weißt du, wie die Herrschaft die Erbschaftssteuer definierte? Starb der Bauer, musste das beste Ross geliefert werden, war es die Bäuerin, die starb, war die beste Kuh fällig, vor allem aber, egal ob von Mann oder Frau, der beste Mantel, und der wurde so definiert: Das ist der Mantel, den der Verstorbene oder die Verstorbene beim Kirchgang getragen hat. Komm.

Und ging zur Tür, die in den ehemaligen Kapitelsaal führte. Percy folgte.

Im Kapitelsaal hatten sich in der Klosterzeit die Chorherren versammelt, in der Krankenhauszeit war es der Sitzungssaal für die Ärzte gewesen. Der Kapitelsaal war nicht wie die Prälatur durch einen Gang von der Südwand getrennt. Der Professor ging zu einem Fenster, öffnete es. Percy stand und schaute. Über den Klosterhof hinaus, an der Stiftskirche vorbei, sah man in eine Wiese voller Ziegen. Geißen, rief Percy, so viel Geißen!

Und der Professor: Mehr als hundertfünfzig sind es im Augenblick sicher nicht.

Ich mag Geißengemecker, sagte Percy.

Dr. Bruderhofer hat für mich den Namen Vater aller Geißen in Umlauf gesetzt.

Versteh das nicht falsch, sagte Percy. Das ist eine Auszeichnung. Und wo wohnt die biblische Schar?

Ganz draußen, sagte der Professor. Hinter den Glashäusern. Was du da gleißen siehst, sind Glashäuser. Die ziehen ihre Dächer ein, sobald es den Tomaten, den Kiwis und den Pfirsichen warm genug ist. Das hat ihnen ein Patient beigebracht. Ein Erfinder, dem draußen die Patente gestohlen wurden, sogar, sagt er, vom Patentamt. Die erste automatische Presse, sagt er, ist von ihm. Und so weiter. Du kennst die Schmerzensballade unserer Patienten. Aber ein Erfinder ist er, bloß, draußen hat ihm das nichts genützt. Ich habe ihn zum Technischen Direktor ernannt. Percy, wir sind ein Wirtschaftsfaktor. Und die ganze Gegend macht mit. Statt mit Korbflechten und Scherenschnitten die Zeit totzuschlagen, arbeitet jetzt, wer kann und will, was er arbeiten kann und will. Handwerk, Landwirtschaft, Industrie, und nichts davon im Neubauteil. Alles in den alten Klosterbauten, die hundertfünfzig Jahre lang dem Verfall gewidmet waren. Die alten Stallungen voll brauchbar. Auch die für die Rösser. Meine Rösser. Auch sie warten auf deinen Besuch.

Er habe, sagte Percy, nirgends innigere Pferde gesehen als Augustins Mongolenpferde. Und seit Jahren trau’ er sich nicht zu fragen, warum Augustins Pferde Rösser seien.

Und der Professor: Vergiss nicht, ich bin aus Letzlingen. Wir haben auf dem Hof, bevor der Traktor gekommen ist, vier Rösser gehabt. Aber schon in der Letzlinger Schule war Ross nur in der Einzahl erlaubt. In der Mehrzahl nur noch Rosse oder gleich Pferde. Rösser wurde in jedem Aufsatz als Fehler gezählt. Jetzt hat Hochdeutsch auch südlich der Donau übernommen. Wenn ich sterbe, gibt es nur noch Pferde. Aber meine Mongolen-Rösser sind weder Rosse noch Pferde, Percy. Das sind Rösser. Es sind jetzt schon neun. In der Angestelltensprache würde ich sagen: Ich verbringe jede freie Minute bei ihnen. Inzwischen seien seine Rösser aber auch Lieblinge vieler Patienten. Wie die mit den Rössern umgehen, reiten ohne Sattel, und wie die Rösser zu den Patienten sind, dafür sei das Wort Therapie ein Unwort. Den Patienten so zuwider wie ihm. Heilung, Percy. Ich muss mit dir zum Teich auf der Südseite, du weißt, wo die Seerosen tun, hast du gesagt, als wüssten sie nicht, wie schön sie sind. Dort zeig’ ich dir unser erstes Weizenfeld. Die Patienten säen, ernten, mahlen, backen, dann essen sie ihr eigenes Brot. Das, Percy, ist mein Beitrag zur stationären Psychiatrie. Ich hoffe, du magst unser Brot. Gebacken in der historischen Ofenküche. Allerdings computergesteuert. Inzwischen ein Exportartikel. Wir können gar nicht so viel backen, wie wir verkaufen könnten.

Und Innozenz?, sagte Percy.

Der residiert jetzt, sagte der Professor, an höchster Stelle. Über dem Alten Tor, im Dreiecksgiebel. Extra ausgebaut für ihn. Von Freiwilligen. Da droben hat er zehnmal so viel Platz wie in der historischen Ofenküche. Er hat allerdings verlangt, dass sein hohes Quartier weiterhin Ofenküche heißen müsse. Seine Scherblinger Anthologie soll einmal den Titel Ofenküche haben. Er hält diesen Namen für attraktiv. Du musst ihn besuchen, er ist ganz hell zur Zeit. Schon länger hell als je zuvor. Dr. Bruderhofer und ich streiten wie immer, wer sich darauf etwas einbilden darf, er mit seiner ausgetüftelten Medikation oder ich mit meinen Versuchen, den Leidenden dadurch zu helfen, dass ich sie etwas tun lasse, was sie gern tun. Das habe ich von den Jesuiten gelernt: Sie sollen sein, wie sie sind, oder …

Er lud Percy ein, fortzufahren, der tat’s: Aut sint, ut sunt, aut non sint.

Percy, sagte der Professor, in dir geht nichts verloren.

Und Percy: Sie sollen sein, wie sie sind, oder sie sollen nicht sein.

Der Professor: Wenn ich hier Abt wäre, würde ich dich küssen. Wir haben Glück, Percy. Dr. Bruderhofer kann uns nicht dreinpfuschen. Er segelt zur Zeit an der türkischen Küste auf und ab.

Verheiratet mit Eva Maria von Wigolfing. Der Professor hörte auf, schwieg, wie es zwischen ihnen üblich war.

Dann sagte er: Sei froh, dass er jetzt an der türkischen Küste herumsegelt, sonst müsstest du ihm über jeden deiner Besuche bei Ewald berichten. Forensisch. Du verstehst. Er tut, als sei er, nur er, der Staatsanwaltschaft gegenüber verantwortlich. Ein Besuch bei Frau Dr. Breit ist übrigens fällig. Möglichst bald. Sie war dabei, als du gesprochen hast vor zwei Jahren, saß neben mir und war sehr bewegt von deiner Rede. Sie hat mir nur ein Wort zugeflüstert: Zauberhaft. Mehr traute sie sich nicht zu sagen. Andrea Breit … verzeih, dass ich das auch noch sage, sie liebt mich vielleicht. Vielleicht nur, weil sie, Dr. Bruderhofer direkt unterstellt, von ihm so viel gegen mich anhören muss, dass sich in ihr ein Gefühl gebildet hat für mich. Sie macht immer wieder Andeutungen, auf die ich nicht reagiere. Es könnte ein von Dr. Bruderhofer ausgeworfener Köder sein. Wenn sie abends allein drüben in Scherblingen in ihrer Wohnung sitzt, muss sie, nach allem, was der Tag gebracht hat, mehr an Dr. Bruderhofer denken als an mich. Dr. Bruderhofer ist eins neunundachtzig. Vielleicht eins neunzig. Ich eins vierundsiebzig. Ich lass dich durch Luzia bei ihr anmelden. Ewald Kainz benimmt sich bei ihr genau so wie bei mir. Aber die Mittel nimmt er. Sagt sie. Ich bin schon froh, dass Innozenz die Mittel nicht mehr nimmt. Dass Innozenz das mir gestehen konnte, halte ich für einen Erfolg. Für einen Heilungserfolg.

Sag ruhig, für deinen Heilungserfolg, sagte Percy.

Und er sei so kleinlich, sagte der Professor, so niederträchtig, dass er sich über diesen Erfolg erst freuen könne, wenn er ihn Dr. Bruderhofer habe hinreiben können.

Percy sagte: Das zeichnet dich aus.

Sei nicht so gnädig, sagte der Professor. Aber das habe ich dir nur sagen können angesichts dieses Panoramas: die Ziegen, die Glashäuser, die Ställe, die Rösser … Percy, ich glaube, ich werde mein Leben zwischen meinen Rössern beenden. Als ich die ersten zwei in der Mongolei holte, haben mir die Bauern dort erzählt, dass sie abends nach der Arbeit die Rösser freilassen, die rennen in die Steppe hinaus, rennen zwanzig oder dreißig Kilometer, fressen, saufen, schlafen, und am Morgen sind sie wieder da: zur Arbeit.

Sie gingen zurück ins Abtszimmer, der Professor setzte sich auf die gepolsterte Bank und sagte: Sede dextris meis.

Tibi gratias, Augustine, sagte Percy.

Der Professor: Dass der Pfarrer Studer hinter dir hertelefoniert, weißt du. Du seist abgehauen, als er zu einem Hausabendmahl fortmusste. Er sei nicht gekränkt. Er rufe deine Lieblingsadressen nur an, um zu hören, wo er das Gepäck hinschicken solle. Er sei froh zu wissen, dass du in Scherblingen bist. Das, sagte der Professor, habe ich als Kompliment genommen. Du bist eben ein Star.

Aber an welchem Himmel, sagte Percy.

An unserem, sagte der Professor.

Wenn Merklingen nochmal anruft, sag, sie sollen die zwei Taschen auf die Kirchbühne schaffen. Dass du mich wieder im Alten Hospiz untergebracht hast, zeigt dich auf der Höhe, Augustin. In allen Anstalten, in die ich komme, Zwiefalten hat auch noch telefoniert, ich habe gesagt, ich weiß nicht, wie lange ich in Scherblingen brauche, überall bringen sie mich bei den Pflegern unter. Wenn schon kliniknah, dann bei den Patienten.

Similia similibus, sagte der Professor. Wer nicht zu den Patienten gehört, kann ihnen auch nicht helfen. Du musst damit rechnen, dass Frau Strauch dich überfällt. Sie ist wieder da. Psychotisch dekompensiert, sagt Dr. Bruderhofer. Sobald ich eintrete, tut sie so, als höre sie Stimmen, und ist für mich nicht zu sprechen. Auch wenn ich schweige, tut sie so, als müsse sie angestrengt zuhören, dass sie, was ihr von den Stimmen gesagt wird, verstehe. Antwortet sogar mit dem Gesichtsausdruck auf das, was ihr da angeblich gesagt wird.

Und Percy: Ist das ein Unterschied, ob sie Stimmen hört oder so tut, als höre sie welche?

Der Professor sagte: Du hast recht.

Und Percy: Als ich das letzte Mal in Scherblingen war, habe ich dich gebeten, nie mehr zu sagen, dass ich recht habe.

Der Professor: Du hast vor zwei Jahren die Stimmen, von denen Frau Strauch gequält wird, zum Schweigen gebracht.

Percy: Aber jetzt sind sie wieder da.

Der Professor: Vielleicht versuchst du es noch einmal. Verzeih, wenn ich nur sage: mit dem Schlafsack. Du weißt, dass mir das Wort Therapie Mund- und Seelenschmerzen macht. Sogar Dr. Bruderhofer erwähnt gelegentlich, wenn auch nicht ohne gemütlichen Spott, Schlugens Schlafsack-Therapie.

Percy: Immer wenn ich den Schlafsack mit einem Leidenden probiere, komme ich mir nachher wie neugeboren vor.

Der Professor: Wenn es mit Dr. Bruderhofer so weitergeht, musst du den Schlafsack mit mir machen.

Percy: Das wäre das Höchste. Aber du brauchst ihn natürlich nicht.

Der Professor: In der letzten Ärzteversammlung vor seiner Abreise zitierte er, dass ein Neuzugang in der ersten Sitzung gesagt habe: Gott sei Dank ist das Arschloch endlich gestorben. So der Patient über seine Mutter. Das sagt Dr. Bruderhofer demonstrativ zu mir hin.

Schweigen.

Der Professor: Ich muss immer daran denken, als ich dich bei Studer angerufen habe und gesagt habe, es sei wieder ein Patient da, der sich vollkommen verweigert, da war dein erster Satz: Wie heißt er? Warum hast du so gefragt?

Und Percy: Ich habe wissen wollen, wie er heißt.

Der Professor: Aber als ich dir den Namen gesagt habe, hast du gesagt: Hallo.

Percy: Was sonst hätte ich denn sagen können, wenn du sagst: Ewald Kainz.

Der Professor: Dann hast du gesagt: Ich komme.

Percy: Und jetzt bin ich da.

Der Professor: Und wie reagiert er?

Percy: Ich habe mich gleich dem Schweigen überlassen. Deinem Schweigen. Noch nie habe ich erlebt, wie genau du das empfunden und erfahren und beschrieben hast. Nämlich nicht als eine Methode dem Kranken gegenüber, sondern als das, was du selber brauchst. In diesem Moment. Ich habe durch und durch empfunden, jetzt reden, unmöglich. Jetzt ist nichts anderes geboten als Schweigen. Das habe ich getan. Und Ewald Kainz hat das begriffen. Sage ich. Behaupte ich. Ein bisschen naseweis. Aber das gehört ja auch zu deinem Schweigen, dass einer dem anderen schweigend voraus ist.

Das Scherblinger Schweigen ist jetzt in der elften Auflage erschienen, sagte der Professor. Ich werde noch ein reicher Mann. Und die Belegexemplare für jede neue Auflage lege ich bei Luzia auf den Tisch, dass sie allen, die bei ihr vorbeikommen, sage, sie dürften sich bedienen. Dr. Bruderhofer hat bis jetzt von jeder neuen Auflage ein Exemplar mitgenommen, obwohl vorne drinsteht, die Auflage sei unverändert. Es ist ja ein Buch, das aus meiner Empfindungsgeschichte stammt, so etwas kann man nicht verbessern. Für Dr. Bruderhofer ist das der Beweis, dass es kein Fach- und Sachbuch ist. Frau Dr. Breit dagegen bedankt sich jedes Mal dafür, dass sie wieder eins mitnehmen kann. Als sie’s zum ersten Mal gelesen hat, hat sie gesagt: Sie machen uns mundtot!

Und Percy: Jetzt muss ich dich aber fragen, du hast Ewald Kainz von vorne gesehen, ihm ins Gesicht geschaut, zu mir hat er sich nicht ein einziges Mal hergedreht, also, Ewalds Augen. Augustin, was hat er für Augen?

Ich weiß, warum du fragst. Ich will nicht so tun, als hätte ich vergessen, dass du diesen Namen immer mit dir führst. Von dem, was du mir sagst, verliere ich nichts. Natürlich habe ich dich gerufen, weil dieser Patient Ewald Kainz heißt.

Percy: Endlich.

Der Professor: Wenn ich den treff’, dem erzähl’ ich was. Hast du gesagt. Jedes Mal, wenn du ihn erwähnt hast. Und du hast ihn oft erwähnt.

Percy: Mutter Fini kann Ewald Kainz nie erwähnen, ohne seiner türkisenen Augen zu gedenken. Sein Türkis-Blick, sagt sie immer.

Den du, massiv blauäugig, wie du bist, nicht hast, sagte der Professor.

Und Percy: Ein Beweis mehr, dass er nicht mein Vater ist. Und so morgenrote Haare wie ich hat er auch nicht. Also hab’ ich meine Bürste nicht von ihm.

Der Professor: Such weiter.

Und Percy: Suchen liegt mir nicht. Finden schon. Bei dir gelernt.

Der Professor: Code Napoléon, Artikel 340: La recherche de la paternité est interdite.

Und Percy: Drehen wir Paulus an die Korinther um: Statt Haben, als hätte man nicht, Nicht haben, als hätte man.

Dann, der Professor: Percy, da, hinter dir, auf meinem Schreibtisch, liegen die Papiere, notariell vorbereitet, du müsstest nur noch unterschreiben, wenn du es erträgst, von mir adoptiert zu werden. Ich seh’ dich erblassen. Also Papa will ich nicht genannt werden. Vater auch nicht. Alles bliebe, wie es ist, nur dass ich wüsste, du wärst mein Sohn.

Percy umarmte ihn. Dann sagte er: Ich werde es heute noch der Mutter schreiben. Sie wird sich, hoffen wir, freuen. Augustin! Und umarmte ihn noch einmal.

Längstes Schweigen.

Percy: Aber wenn die Mutter dagegen ist, lassen wir’s.

Percy, sagte der Professor, ich habe bei dir gelernt, dass etwas weder der Fall noch nicht der Fall sein muss und trotzdem existiert. Jetzt deine Predigt vorletztes Jahr, Percy, es wird immer noch nach dem Text gefragt. Dem Leben zuliebe. Dass es den Text nicht gibt, wird mir vorgeworfen.

Wenn es ihn gäbe, würde es dir auch vorgeworfen, sagte Percy.

Predigt er wieder, wird gefragt.

Wenn, was er sage, Predigt genannt werde, rede er nicht, sagte Percy. Kannst du jedem sagen, der nach dem Text fragt.

Das sag ich doch jedem, sagte der Professor. Wer einen Text verlangt, sage ich, der hat halt nichts gehört. Ich sage, dass Percy nur sagt, was der Augenblick ihm eingibt. Was er sagt, gibt es nur in dem Augenblick, in dem er es sagt. Wem es in diesem Augenblick nichts sagt, dem sagt es auch nichts, wenn er es nachher liest. So meine Rede.

Die ist vernünftiger, als ich es verdiene, sagte Percy.

Aber, sagte der Professor, jetzt das Geständnis des Heuchlers. So rede ich zu den Leuten, aber ich selber habe alles aufgeschrieben. Aus dem Gedächtnis. Dem Leben zuliebe. Ich habe das aufschreiben müssen. Mein Gedächtnis ist durch den Beruf so trainiert, dass ich eine 30-Minuten-Rede aufschreibe, ohne ein Wort auszulassen oder hinzuzufügen. Wenn du willst, geb ich dir den Text, und du machst damit, was du willst.

Führ’ mich nicht in Versuchung, sagte Percy.

Ich zeig’ ihn niemandem, sagte der Professor, glaub’ mir, obwohl drei Patienten, zwei Frauen und ein Mann, unabhängig von einander zu mir gekommen sind, um mir den Text zu geben. Alle drei sagten, es sei ihnen unmöglich gewesen, was sie gehört hatten, nicht aufzuschreiben. Ich habe ihnen gesagt, dass ich, was du gesagt hast, auswendig könne, ich bräuchte nichts Aufgeschriebenes.

Und Percy: Ich glaube, ich bin jetzt in einer Verlegenheit.

Der Professor: Es wäre wieder Mai. Wie vor zwei Jahren. Viele möchten von auswärts kommen. Der Bibliothekssaal wird dafür sorgen, dass es nicht zu viele werden. Percy, ich nötige dich zu nichts. Mit der Fraktion Dr. Bruderhofer muss ich selber fertig werden. Und werde ich selber fertig werden. Frau Dr. Breit sagt, er nenne mich jetzt in der Ärzteversammlung Alter Knabe.

Das ist doch toll, rief Percy. Wunderbar ist das. Alter Knabe! Dein zeitloses, schicksalloses, erfahrungabweisendes, Gesichtszüge vermeidendes Gesicht! Ein Hauch von Entschlossenheit, sonst nichts. Alter Knabe, genauer geht’s nicht!

Ja, ja, ja, sagte der Professor, aber in der letzten Ärztetafel, bevor er abreiste in die Ägäis, polemisierte er wieder gegen meine Patientenbeschäftigung. Die Patienten seien vor lauter Geißenmelken, Drehbänkelei und Chorgeblöke schon bald nicht mehr therapietauglich, aber ich, der Chef, wolle Scherblingen ja ohnehin zum Prämonstratenser-Kloster zurückschrauben, statt Lithium dona nobis pacem. Das zeigt, dass ich auf gutem Wege bin, Percy. Das Gelächter der versammelten Ärzte war eher dürftig. Aber dich wieder zu hören, Percy, würde mir guttun. Mir und allen, die aus Scherblingen ein Vorzimmer des Himmels machen wollen. Schluss jetzt damit. Du lässt es mich wissen, ob du sprechen willst.

Und dein Vorhaben, sagte Percy.

Als du das letzte Mal da warst, hast du nicht nach meinem Vorhaben gefragt, sagte der Professor.

Und Percy: Dann hast du gesagt: Also, von meinem Vorhaben willst du nichts mehr wissen.

Der Professor: Soll einer dem anderen sagen, wonach er gefragt werden will?

Mir käme das bürgerlich vor, sagte Percy.

Also?, sagte der Professor.

Jeder soll selber sagen, wonach er gefragt werden will, sagte Percy.

Frag mich, sagte der Professor, was die Bücher und Papiere dort auf dem Tischchen sollen?

Und Percy: Papiere und Bücher, alles sorgfältig hingelegt. Das Tischchen ist ihretwegen ins Zimmer gekommen. Der mehrfache Doktor forscht.

Der Professor: Mein Buch, entschuldige, mein Büchlein will die Reliquie verteidigen gegen ihre Erklärer. Dir gegenüber habe ich’s angedeutet, dem Innozenz lang dargelegt. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich meine Pflichten hier vernachlässige, wenn ich Auskunft gebe über ein historisches Dilemma.

Du hast Angst vor Dr. Bruderhofer, sagte Percy.

Der Professor: Er sammelt Material gegen mich. Es gibt schon ein Dossier. Wenn er das beim Regierungspräsidium einreicht …

Er hörte auf. Fing wieder an. Er habe jetzt einen Namen für sein Vorhaben gefunden, beziehungsweise der Name habe ihn gefunden, ein Name, der sein Vorhaben ganz enthalte, aber eben auf die Art, die allein diesem Vorhaben gemäß sei. Du kannst, wenn du in Zukunft wissen willst, wie es meinem Vorhaben geht, immer gleich fragen: Was macht Mein Jenseits.

Und was macht dein Jenseits, fragte Percy.

Du wirst es erfahren, sagte der Professor und stand auf. Jetzt zu den Akten. Scrutamini scripturas. Die Abhörprotokolle habe ich dir aufs Zimmer legen lassen. Ewald Kainz wird immer wieder in unregelmäßigen Abständen angerufen. Von einer Frau. Von dieser Psychotherapeutin Dr. Silvia Schall, die ihn verlassen hat, oder von einer anderen Frau, von der wir nichts wissen. Auf irgendwelche Anrufe wartet er Tag und Nacht. Wie sie mit einander reden, na ja, du wirst es selber nachlesen.

Werde ich nicht, sagte Percy. Augustin, verzeih, ich will mir ihm gegenüber keinen solchen Vorteil verschaffen. Ich habe ihm, wenn er es zulässt, etwas zu erzählen. Was dann geschieht, müssen wir nicht wissen. Vor allem: Wir müssen es nicht planen.

Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, sagte der Professor, möchte ich dein Lieblingsschüler sein.

Percy: Dann ich der deine, dass ich alles, was du von mir hättest, bei dir lernte.

Jeder sah im Gesicht des anderen das Lächeln, das er selber hatte, also sah jeder im Gesicht des anderen sich selbst. Beide verneigten sich gleichzeitig und ein bisschen parodistisch vor einander. Der Professor sagte: Tu autem.

Das war immer die Schlussformel ihrer Liturgie. Der Professor hatte sie Percy erklärt: Tu autem domine, miserere nobis. Jedes Mal, wenn der Professor mit dieser Formel aus dem kirchlichen Stundengebet ihre Unterhaltung beendete, sah Percy im Professor den Abt, dem er dann theatralisch den Ring küsste, den dunkelgrünen goldgefassten Stein. Er küsste ihn nicht wirklich, sondern theatralisch. Und beide lachten. Der Professor natürlich weniger als Percy. Sie imitierten ein Lachen. Aber die Imitation riss sie dann doch beide hin.

Als Percy schon an der Tür war, rief der Professor noch: Nicht dass du’s nötig hättest, aber wenn du Lust hast, dir die Haare schneiden zu lassen, Massimo ist noch zwei Wochen bei mir und legt im Wintergarten neue Fliesen. Als ich erwähnte, dass du wieder im Gelände bist, hat er gesagt, du seist überhaupt sein Lieblingskunde beim Haarschneiden. Und ich frag’ natürlich, warum, und er: Keiner von denen, denen er die Haare schneide, könne ihm so glaubhaft sagen wie du, dass es nichts Angenehmeres gebe, als von ihm die Haare geschnitten zu bekommen.

Das stimmt, sagte Percy.

Dann komm bald mal abends, sagte der Professor.

 

In seinem Zimmer studierte Percy die Akte Ewald Kainz. Die Abhörprotokolle überblätterte er. Er würde sie morgen Augustin zurückbringen. Die Krankengeschichte überflog er. Ewald Kainz, geboren am 1. 1. 1947, dringt nachts im Ärztehaus in der Maurus-Betz-Straße in die Praxisräume der Psychotherapeutin Dr. Silvia Schall ein. Er hat die Schlüssel zu diesen Räumen. Er trinkt eine Flasche französischen Kognaks, überschüttet sich mit Benzin, legt sich auf die mit grünem Leder überzogene Couch, zündet sich an, verbrennt aber nicht, weil die Sprinkleranlage das Feuer löscht. Die Staatsanwaltschaft verzichtet zunächst auf die Erhebung einer Anklage wegen menschengefährdender Brandstiftung. Kainz wird dem PLK Scherblingen überstellt, Abteilung Forensische Psychiatrie.

2.

Am nächsten Tag klopfte Percy wieder, öffnete wieder, ohne dass Ewald Herein gesagt hätte, und sagte diesmal: Grüß Gott, Ewald.

Ewald lag auf dem Bett wie am Tag zuvor, aber er hatte heute die Schuhe an. Damit drückte er wohl aus, dass er mit Besuch gerechnet hatte.

Wenn Percy irgendwo eintrat, dachte er oft daran, wie leicht es sein Pfarrer Studer hat. Der sagt einfach, wenn er irgendwo eintritt: Gott segne meinen Eintritt.

Bevor Percy sich setzte, öffnete er das Fenster. Es war zwar erst Mai, aber schon heiß. Jetzt, bei geöffnetem Fenster, wirkten die Gitterstäbe vor dem Fenster sehr massiv.

Ewald stand auf und schloss das Fenster. Da der Tisch, an dem Percy saß, am Fenster stand, musste sich Ewald, um das Fenster zu schließen, dicht an Percy vorbeibeugen. Percy sah, dass Ewald ein Kettchen um den Hals trug. Was an dem Kettchen hing, sah er nicht. Aber dass die Brandnarbe am Hals hinab weiterging, sah er jetzt.

Dann lag Ewald wieder. Percy schwieg wieder ohne jeden Ausdruck der Geduld oder Ungeduld.

Er wusste nachher nicht, wie lange er diesmal bei Ewald gewesen war. Er hatte auf nichts gewartet. Er hatte gespürt, dass es genügte, an diesem Tisch ohne Tischdecke auf einem Stuhl zu sitzen und zu Ewald hin- überzuschauen. Ihm war das Bild eingefallen, zu dem der Professor ihn geführt hatte, als er das letzte Mal in Scherblingen gewesen war. In der Stiftskirche. Das erste der Bilder, die das Leben des heiligen Norbert erzählen. Von überall her, aus allen Städten und Ständen kommen die Menschen zu ihm, dem Ordensgründer. Aber einer sträubt sich. Den wollte ihm der Professor zeigen und dazu zitieren, wie die Legende diese Szene ausdrückt: Der sich mit Händen und Füßen sträubende Knabe. Bisher, sagte der Professor, habe noch niemand erklären können, was damit gemeint sei. Percy hatte, als sie die Kirche verlassen hatten, gesagt: Warum auch! Das genügt doch: Der sich mit Händen und Füßen sträubende Knabe. Der Professor war stehengeblieben und hatte gesagt: Du hast recht. Und Percy: Sag das nie mehr.

Aber warum es mich zu dem sich mit Händen und Füßen sträubenden Knaben zieht, habe ich dir noch nicht gesagt.

Sag’s mir, sagte Percy.

Ich sag’s dir, weil du alles wissen sollst, was mit mir zu tun hat, sagte der Professor. Mein Vorfahr, der Abt Eusebius, er war zweiunddreißig, als ihn die Compromissarii, die Wahlkommission des Konvents, das waren sieben von den neununddreißig Priestermönchen im Jahr 1774, als die Eusebius zum Abt wählten, hat er sich auf den Boden geworfen und hat geweint und seine Brüder angefleht, ihn nicht zu wählen. Aber sie haben ihn gewählt. Der sich mit Händen und Füßen sträubende Knabe, hatte Percy gesagt. Und dann wird alles Legende, hatte der Professor gesagt.

Ach, Ewald, dachte Percy jetzt, glaub’ ja nicht, ich wolle dich fragen, warum du dich sträubst, mit mir zu sprechen. Ich weiß, du würdest, wenn du könntest, mit mir sprechen. Dass du mich als Stummen erträgst, ist schon eine Mitteilung. Das Scherblinger Schweigen.

Bevor Percy aufstand, sagte er: Bis morgen, Ewald. Ach ja, sagte er dann noch, das Haus akzeptiert, dass du dich von deinen Motorradmännern verpflegen lässt. Die müssen nicht mehr den armen Pförtner zwingen, die Schranke zu heben, es genügt, was sie für dich bringen, dem Pförtner zu übergeben, dann wird es dir sofort serviert. Bis morgen, Ewald. Und ging.

Auf dem Weg von der Burg, in der die untergebracht waren, die noch mit einem Gerichtsverfahren zu rechnen hatten, zum Brunnen wurde Percy förmlich überfallen von einem dürren langen Kerl, an dem kein Haar mehr war. Der führte ein paar tänzerische Bewegungen auf, die damit endeten, dass er sich irgendwie in sich selbst verschlungen vor Percy auf dem Boden befand. Ein einziger Körperknoten, aus dem nur noch zwei Hände herausragten, die mit einander einen Brief hielten. Ein nicht mehr sichtbarer Mund sagte: Carissimo Corte Schlugen und Sledge, cocco mio, all of us, that’s to say all inmates who have to participate in the Arbeitstherapie, have got to know, that once more Corte Schlugen und Sledge will visit the State House of Infirmity, so all signed tutte le lettere which I wrote con la stessa pazienza, e le Sozialdienst wird mich nicht bestrafen, vous pouvez vous entretenir avec lui, I mean the neonazi, Wurzelsepp. Dear sweetheart, the neonazi keeps shouting: Die Rente gehört uns, uns, uns allein, ihr habt gefaulenzt, auf dem Theater rumgehurt. You know, how the nazi-pig behaves, he still is dreaming of those fabulous times, when he could send us to Grafeneck, now he had to switch to Arbeitstherapie, lasciatemi morire, you know. Non si devono dimenticare i contributi pagati fra il 1955–1977. Auguri.

Jetzt schwieg der Mund. Percy nahm den Brief und sagte Danke. Da entwirrte sich der Körperknäuel, und wie von einer Feder geschnellt flog der Körper in die Luft, und mit rudernden Armen rannte der Hagere davon, stoppte noch einmal und schrie: Don’t listen to Dr. Bruderhofer. When I started to tell him about the neonazi’s Pensionsterror he wouldn’t even listen to me. After all, the slags from the AOK must know better. Ask them. Oui, la PENSION! Ce que je pourrais lire dans les journaux sur ce sujet sont des mensonges nudes. Adieu, Altesse, adieu. Votre Serviteur Harry Strawinski. Dann ging er langsam und mit hängendem Kopf, hängenden Armen zwischen den Bäumen davon. Percy ging ihm nach. Eigentlich ging er einfach auch vom Weg weg unter die hohen alten Bäume, die dafür sorgten, dass man vom neuesten PLK nie zwei Gebäude auf einmal sah. Percy wollte vermeiden, dass sich Harry verfolgt vorkomme. Er ging in die gleiche Richtung, aber nicht hinter ihm her. Als er etwas seitlich von Harry war, blieb er stehen und sagte: Harry.

Harry sah herüber, blieb stehen und kreuzte seine Arme vor der Brust. Percy ging hin, zog den Fünfzigeuroschein heraus, den er immer griffbereit in seiner Tasche hatte, weil Pfarrer Studer gesagt hatte, er stecke, wenn er in die Stadt gehe, immer einen Fünfzigerschein in die Tasche, man wisse ja nie, ob nicht irgendwo so ein Schein fehle. Den zog er heraus und hielt ihn Harry hin und sagte: Mir musst du nicht sagen, wie unwürdig es ist, dass Harry Strawinski um seine Rente kämpfen muss. Andererseits … Andererseits gibt es nicht, sagte Harry rasch, aber doch eher leise. Aber Percy fuhr im gleichen Ton fort: … wärst du, wenn du den Schein da nimmst, um fünfzig Euro reicher als ich. Tu mir diesen Liebesdienst. Es würde mein Weltbild kitten, wenn ich wüsste, Harry Strawinski ist um fünfzig Euro reicher als ich. Krankmachend ist die Vorstellung, ein Harry Strawinski sei um fünfzig Euro ärmer als ich.

Strawinski nahm den Schein, steckte ihn in die Tasche und sagte: Ich tu gern etwas für einen, der mir sympathisch ist. Je t’embrasse! Croyez à toutes mes sentiments. Verneigte sich tänzerisch und ging. Und blieb noch einmal stehen, kam sogar noch einen Schritt näher und sagte: Was du alles machst mit mir. Das sagte er mit einer ganz anderen Stimme.

Bitte, sagte Percy, wo ich hinkomme in Scherblingen, hör’ ich, man möchte tanzen lernen bei Harry. Harry kam rasch auf Percy zu, blieb dicht vor ihm stehen und sagte: Gelogen. Percy sagte ganz hell und hoch: Erfunden!

Harry: Das freut mich, Baron.

Percy: D’accord, Harry.

Harry verneigte sich tänzerisch und ging.

Percy zögerte nicht, sich genau so tänzerisch zu verneigen und genau so tänzerisch zu gehen. Bei ihm sah das aus, als wolle er seine Füße fortwerfen. Und es beflügelte ihn. Das wiederum durchströmte ihn, den doch die Mutter flügellos nannte, mit Wohlgefühl. So über den Platz und um den Hauptbau, den die stuckgefassten Fenster nie langweilig werden ließen, und von vorne hinein in den Mittelbau, hinauf im Bogenschwung auf der Zeit lassenden Treppe, begrüßt von den Reichsprälaten, und oben an weiteren Äbten vorbei, vorbei an Benignus, Bonaventura, Amandus, Eusebius, Tiberius, Ignatius, Benedictus, Didakus, Magnus. Und die hießen ja, da sie allesamt aus der Gegend, meist von kleinen Höfen, kamen, auch noch Ströbele, Örthle, Bauschmid, Stadler, Emele u.s.w. Vor zur Tür aller Türen, zur Prälatur, jetzt: Prof. Dr. Dr. Augustin Feinstlein. Drinnen Musik. Dem entsprechend die Tür geöffnet, auf dem Polsterstuhl Platz genommen und zugehört. Die Frauenstimme hat praktisch nur ein Wort. Mit diesem Wort fliegt sie in jede Höhe. Und landet vollkommen unmerklich, das heißt weich, und zieht, wieder nur mit dem Wort benedictus, hinauf, höher hinauf, als man es sich überhaupt vorstellen kann, man wird mitgerissen, hinaufgerissen in den Jubel dieser absoluten Höhe, ein winzig feines Tirilieren, danach kann man auch wieder atmen. Das hundertfache Benedictus endet.

Percy erstattete Bericht. Er sei weitergekommen. Das Scherblinger Schweigen erfolgreich praktiziert. Daran, dass er weitergekommen sei, gebe es keinen Zweifel. Ewald Kainz lässt mich zu.

Der Professor: Er habe gewusst, es sei richtig, für diesen Fall Percy zu rufen. Das heißt, er hätte Percy hergebeten, auch wenn der Patient nicht Ewald Kainz geheißen hätte. Aber dann hieß der auch noch Ewald Kainz. Auch wenn, wie er hundertmal erfahren habe, das Land zwischen Donau und Bodensee ein einziges Dorf sei, aber dass ihm ein Ewald Kainz in Scherblingen eingeliefert werde, der beschuldigt wird des vorsätzlichen Inbrandsetzens von Räumlichkeiten, welche zeitweise dem Aufenthalt von Menschen dienen, das sei mehr, als selbst in diesem Oberland-Dorf wahrscheinlich genannt werden dürfe.

Ich darf mich wundern, sagte Percy. Über dich, Augustine! Wahrscheinlichkeit! Seit wann gebrauchst du solche Wörter. Ich habe geahnt, dass Ewald Kainz eines Tages erscheinen werde.

Halt mir, bitte, eine Vorlesung über Ahnung und Wahrscheinlichkeit, sagte der Professor. Du warst zwei Jahre lang nicht da, Percy, bitte, bedenk das!

Dass unsere Ahnungen klüger sind als das, was wir bloß wissen, muss ich dir nicht sagen, sagte Percy.

Aber ich hör’ es so gern von dir, sagte der Professor.